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Tor der Träume

Ein Roman von

Dana Müller & Jenny Müller

Wald und Wasser


Von rauschenden Wasserfällen und ausufernder Flora hatte Kaskadian lange Zeit nur gehört. Die Alten erzählten tagein tagaus dieselben Geschichten aus vergangener Zeit.

Kas konnte sie kaum glauben, bis sich eines Tages die Erzählungen in Realität verwandelt hatten.

Wie so oft war er auf der Suche nach einem abgeschiedenen Ort gewesen, an dem er allein mit sich und seinen inneren Dämonen sein konnte – und davon besaß er einige. Er hatte den Hügel erklommen und war in den Wald der toten Bäume gelaufen. Dass sich ausgerechnet darin eine Oase befand, hätte er nie für möglich gehalten. Offenbar lag dieser winzige Fleck auf der Erde so günstig, dass er von der zweimonatigen Regenzeit mehr als andere Orte profitierte.

 
So stand Kaskadian vor einer der letzten Wasserstellen der Erde.

In den Kaskaden des majestätisch anmutenden Wasserfalls funkelte das Licht. Das Rauschen des Wassers umwarb sein Gehör. Er schloss die Augen und ließ sich vom Klang der Natur tragen. Unzählige Male war er schon hier gewesen, sodass er jeden Stein, jedes Sandkorn wiedererkannte. Er näherte sich dem Ufer. Kaltes Wasser umschmeichelte seine Beine. Es empfing ihn sehnsüchtig, umgarnte ihn und bat ihn tiefer herein. Für einen Moment fühlte er die Gnade, die Mutter Natur in ihrem Herzen trug.

Nässe kletterte seine schlanken Fesseln zu den muskulösen Schenkeln hinauf. Der See nahm ihm die Last des getränkten Fells unmittelbar ab. Kaskadian schritt noch tiefer in das klare Wasser, dessen Ruf weit in seine Seele drang. Er schüttelte das mächtige Geweih. Zwölf Enden wuchsen daraus empor, doch er trug es nicht mit Stolz. Wer wollte schon gerne ein Hirsch sein? Es war sein Schicksal, das er hinnehmen musste. Deshalb prahlte er auch nicht damit.

Schnaufend tauchte Kas die Nase in das Wasser, sodass unzählige Blubberblasen seine Nüstern kitzelten. Als er den kräftigen Hals aufrichtete, perlten große und kleine Tropfen daran herunter. Ein weiteres Schütteln entfesselte einen feinen Nebel, der ihn wie eine Aura umgab. Sonnenstrahlen verfingen sich darin und brachten einen zarten Regenbogen hervor. Dies war einer der kurzen und seltenen Augenblicke, in denen sich Kas verzaubert fühlte. Eine undurchdringliche Kraft schien ihn zu umgeben, hinter der er das sein konnte, was er war. Er tat dies nicht, weil er so gerne in diesem Körper steckte. Er befreite den Hirsch nur, weil es ihn unglaublich viel Kraft kostete, das Tier in seinem Inneren zurückzuhalten.

Hätte er eine Wahl gehabt, wäre Kas ein Tiger oder ein Wolf – wendig und jeder Gefahr trotzend. Doch allein der Hirsch schlummerte in seinen Genen und brach immer öfter aus ihm hervor.

Die Kieselsteine auf dem Grund glitzerten wie kleine Diamanten. Dieser Anblick ließ ihn all das Leid beinahe vergessen, dem seine Generation ausgesetzt war. Traumhaft schön ergoss sich ebenfalls der kleine, seitlich gelegene Wasserfall. Dahinter hatte er oftmals Stunden verbracht. Spielerisch schob er das Geweih zwischen die Fäden und teilte sie, was ein zartes Kribbeln im Nacken verursachte. Winzige Fischlein streiften seine Haarspitzen. Es war, als hießen sie ihn in ihrem Reich willkommen. An keinem anderen Ort empfand er so viel Geborgenheit wie hier. Gehüllt in das Glück des Moments ließ er sich von der Seele des Wasserfalls locken und trat durch den kräftigen Vorhang.

Das Wasser raste ungestüm herunter. Trotzdem vernahm er durch die überwältigende Akustik ein leises Rufen, das den Zauber kurzerhand unterbrach. Jemand näherte sich und das missfiel ihm, denn so geborgen er sich hier auch fühlte, im Wasser war er angreifbar. War das ein Jäger, der es auf sein Fleisch abgesehen hatte? Einen winzigen Augenblick ließ er den Gedanken zu, dass dieser Mensch lediglich die Orientierung verloren haben könnte. Doch als ihn das Rascheln von Laub erreichte, richteten sich all seine Sinne auf die Gestalt aus.

Das Geschöpf schien ganz nah am Ufer zu verharren. Erstarrt stand er im See und rasterte die Umgebung mit Argusaugen. Jegliche Bewegung vermeidend versuchte Kaskadian das Umfeld in sich aufzunehmen. Einige Tropfen fielen von seinem wassergetränkten Geweih herab. Mit größter Vorsicht sah er sich um. Hier stand er wie auf einem Präsentierteller. Die Kugeln eines Jägers würden mit Leichtigkeit ihr Ziel erreichen, ebenso die Betäubungspfeile einer Drohne.

Er konnte hier nicht bleiben. Vor allem nicht in dieser Gestalt. Kas musste sich sofort in seinen menschlichen Körper zurückverwandeln. Hochkonzentriert rief er seine Gene dazu auf, in Gang zu kommen. Das einsetzende Reißen seiner Gliedmaßen kannte er zu Genüge, aber er würde sich niemals daran gewöhnen. Der Schmerz war kaum auszuhalten. Es kostete ihn unheimlich viel Energie, nicht zu schreien. Diese Qual war mit nichts gleichzusetzen, am ehesten aber mit dem Sturz von einem Berg zu vergleichen. Mit den Jahren hatte er gelernt, ihn in Energie umzuwandeln, die er nutzte, um die Tortur zu überstehen. Kaskadian spürte die Verwandlung seiner Füße. Die Zehen drückten sich Knochen für Knochen durch die Hufe. Das erste Reißen war das Schlimmste. Er hielt den Atem an. Die Ferse arbeitete sich voran und Finger stoben aus den vorderen Zehenhufen. Wie ein Ungetüm brach der Mensch aus seinem Körper hervor und verschluckte das Fell. Er fühlte die Neuanordnung seiner Organe, die ihren Platz wieder beanspruchten. Kas stieß den Atem aus und mit ihm die Pein. Zwischen den Zehen spürte er feinen Sand und kleine Steinchen, die er mit den Füßen im Grund des Sees aufgewühlt hatte.

Doch im Vergleich mit der darauf einsetzenden Leere erschien ihm die körperliche Verwandlung wie ein Spaziergang. Das schwarze Nichts, das sich in seiner Brust ausbreitete, hielt für gewöhnlich einige Stunden an, was ihn mit wiederkehrender Ausdauer in eine Spirale der Haltlosigkeit riss. Dem musste er entgegenwirken. Zumindest so lange, bis sich herausstellte, wer ihn hier aufsuchte. Er beugte die Knie ein wenig, sodass nur noch sein Kopf oberhalb der Lippen aus dem Wasser ragte. Vorsichtig bewegte er sich zum Seeufer.

»Kas?«

Diese liebreizende Honigstimme kannte er. Erleichterung nahm die grauenvolle Erwartung mit sich. Es war kein Jäger und auch keine Drohne, kein Fremder und kein Feind. Es war Leandra, Freundin und der bessere Teil von ihm, wie er fand. Er warf sich nach hinten und tauchte hinter den Wasserfall. So sehr er sie auch mochte, er wollte seine Ruhe haben. Wenn sie ihn nicht entdeckte, würde sie weiterziehen, hoffte er.

»Komm raus, ich weiß, dass du da drin bist«, rief sie über den See.

Hatte sie ihn gesehen oder war das nur ein Trick, um ihn hervorzulocken? Er schmulte an dem Wasserfall vorbei. Tatsächlich stand sie am Ufer und hielt etwas hoch. Ehe er erkennen konnte, was es war, klärte sie ihn auf.

»Ich habe hier deine Sachen. Also komm raus oder du musst nackt zurücklaufen.«

Mit der Handkante schlug er so heftig auf die Wasseroberfläche, dass es zu allen Seiten spritzte. »So ein Mist!«

Sie stand mit einem frechen Grinsen da. Ein leichtes Lüftchen erfasste ihr rotblondes Haar und legte es über ihr Gesicht. Sie schob die Strähne hinters Ohr und stemmte eine Hand in die Hüfte.

»Wie oft soll ich dir sagen, dass du deine Klamotten verstecken musst, wenn du ins Wasser gehst?«

Kas wollte nicht, dass Leandra etwas von seiner Sorge mitbekam, die Oase könnte entdeckt werden. »Sehr witzig. Außer dir kommt keiner hier vorbei.«

Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war dieser Ort noch nicht von dem Konzern P-Tree aufgespürt worden. Dabei gediehen hier die verschiedensten Pflanzen.

»Was willst du hier?«, fragte Kaskadian, während er Leandra mit einer gleitenden Handbewegung andeutete, dass sie ihren Blick senken sollte. Immerhin war er unterhalb der Wasserlinie, wie Gott ihn geschaffen hatte, splitterfasernackt. Sie bedeckte folgsam ihren Blick mit der freien Hand und reichte ihm seine Kleidung. Rasch griff er die Sachen und wandte ihr den Rücken zu.

»Adam sucht dich«, sagte sie.

Ihr Blick kitzelte in seinem Nacken. Es war ihr einfach nicht auszutreiben, ihn mit ihren Augen zu verschlingen. Er hatte es mehrmals versucht, aber all seine Bemühungen waren in einem bodenlosen Loch verschwunden. Deshalb unterließ er weitere Appelle an ihre Moral und schlüpfte hastig in seine Kleidung. Das erwies sich als Fehler, denn je mehr er sich eilte, umso schwerer bekam er die enge Hose über die nassen Beine. Leandras Seufzen überschritt das Maß seiner Geduld, was ihn dazu veranlasste, sein Schweigen zu brechen.

»Ich weiß, so einen kraftstrotzenden Körper hast du bei niemandem gesehen, aber so langsam fühle ich mich verpflichtet, dich zu bremsen, bevor sich unerfüllbare Sehnsüchte in dir regen.« Kas schloss die Knöpfe seiner Hose und drehte sich Leandra zu.

Er hatte erwartet, dass sie peinlich berührt wäre. Aber das schien sie nicht zu sein. Mit einem Schulterzucken senkte sie die Hand und griente ihn frech an.

»Wer sagt das denn? Nichts bleibt unerfüllbar, man muss es nur wollen.«

Kas wollte widersprechen, denn das Leben hatte ihn eines anderen belehrt. Fast die ganze Menschheit litt unter einer unstillbaren Sehnsucht, die für alle Zeit unerfüllbar bleiben würde. Eine tiefe Sehnsucht, die vornehmlich junge Frauen in den Suizid trieb.

»Okay«, lenkte sie ein. »Für unseresgleichen ist keine Sehnsucht unerfüllbar.«

Manchmal fragte er sich, wie es sein konnte, dass zwischen ihnen lediglich zwanzig Tage lagen. Wie auch bei ihm jährte sich in diesem Monat Leandras Tag der Geburt zum neunzehnten Mal. Dabei verhielt sie sich nicht selten wie ein Kind. Ganz anders stand es um ihre äußeren Werte, denn Leandras Rundungen waren längst allem Kindlichen entwachsen. Ihre Wendigkeit verdankte sie wohl dem Fuchs in ihr, dem Menschen die robuste, griffige Seite.

Hätte er sie nicht schon vor langer Zeit kennengelernt; hätte er nicht gesehen, wie aus dem kleinen Mädchen ein großes geworden war, könnte er vielleicht Gefühle für sie zulassen. Aber das hielt er angesichts der Tatsache, dass sie mit ihrer Schutzbedürftigkeit eher zu der Kategorie kleine Schwester zählte, für falsch. Wie sollte er also mit einer jungen Frau umgehen, die ihn mit einem Wimpernschlag ihrer großen grünen Augen bezirzen könnte, wenn er es zuließe?

»Was will Adam von mir?« Er wechselte rasch das Thema, um nicht in Bedrängnis zu geraten.

»Ich weiß nicht.«

Die Art, wie sie dabei seinem Blick auswich, entlarvte die Lüge. Es war nicht zu übersehen, dass die Wahrheit aus ihr herauspreschen wollte. Doch sie hielt sie gefangen. Dieses Spiel kannte er bereits und wusste, dass sie nun erwartete, ausgefragt zu werden. Danach war ihm aber ganz und gar nicht zumute. Wortlos streifte er sein Shirt über und fuhr sich durch das dunkelbraune Haar. Ebenso stumm trat er den Heimweg an, dicht gefolgt von Leandra.

»Hey, bist du denn gar nicht neugierig?«

»Worauf?«

»Auf ... Na, auf ...« Sie stammelte und stutzte, als Kas an einer Weggabelung stehen blieb und rasch überschlug, welche Richtung er einschlagen sollte. Einerseits wartete Adam auf ihn. Das bedeutete, dass er seinem Ruf folgen musste, wenn er sich keinen unnötigen Ärger einhandeln wollte. Doch andererseits brauchte er etwas, mit dem er dieses Vakuum in seiner Brust füllen konnte, ehe er im Camp auftauchte. Der rechte Waldweg führte direkt zu Adam – der linke nach Erimol, dem Vorort der Kuppelstadt Asklepios. Er blieb stehen.

»Hast du vergessen, welcher Weg nach Hause führt?«

Sein Blick schwenkte langsam zu Leandra. »Hast du dich jemals gefragt, wie es wohl in Erimol ist?«

Sie hob die Brauen. »Der Handel mit Medizin jeglicher Art floriert dort unten und es gibt allerhand Möglichkeiten sein Leben zu verwirken. Warum sollte ich über Erimol nachdenken. Adam weiß schon, warum er uns beide niemals dorthin mitnimmt.«

»Manchmal träume ich von diesem Ort«, gestand Kas. »Ich meine Asklepios.«

Ihre großen Augen wurden noch größer. »Wie kannst du wissen, dass es die Kuppelstadt ist, wenn du nie dort warst?«

Leandras Worte trugen so viel Wahrheit in sich, dass sie schmerzten. Nach Asklepios gelangte nur, wer genetisch rein war und seinen Beitrag im Sinne der Gemeinschaft zu leisten vermochte. Es war eine Forscherstadt, ein Ort der Gelehrten, eine Festung der Ehemaligen, wie seine Mutter stets zu sagen gepflegt hatte. Eine menschliche Rasse, die sich den Todesschuss gesetzt hatte und nun mit allen Mitteln ihren Fehler auszugleichen versuchte. Er war einer dieser Fehler. Er gehörte zu den anderen – er war ein Wandler. Genau wie Leandra und Adam. Alle in dem Camp trugen das defekte Gen in sich. Insgeheim bezeichnete Kas sich und alle, die waren wie er, als verurteilt. Doch seine Mom hatte einen schöneren Namen für die Wandler: die Beschenkten. In allem hatte sie das Gute gesehen. Die vom Menschen herbeigeführte Veränderung war für sie nichts anderes als beschleunigte Evolution.

Sie fehlte ihm so sehr. Eine Träne stahl sich aus seinem Auge. Rasch wischte er sie fort.

»Lass uns weiter gehen«, sagte Leandra und schob ihre Hand in die seine.

»Weißt du, dass Adam mich in Erimol gefunden hat?«

»Als du klein warst«, erwiderte sie und drängte ihn zum Gehen.

Kas gab nach und trat einige Schritte in Richtung des Camps, blieb aber abrupt stehen. »Verstehst du nicht? Ich bin aus Erimol. Wie kannst du mir dann trauen?«

Sie trat an ihn heran. Ihr Atem traf sein Gesicht. »Du meinst, weil dieser Slumring um Asklepios von Halunken, Mördern und Menschenhändlern bewohnt wird?«

»Was ist, wenn ich auch so bin und es nicht weiß. Was, wenn in mir nichts Gutes schlummert?«

»Kas«, hauchte sie und nahm auch seine andere Hand. »Ich weiß, dass das nicht so ist. Du warst ein Kind, als Adam dich gefunden hat. Er hat dich geprägt. Was auch immer vorher war, hat er mit seinem positiven Einfluss ausradiert.«

Er nickte, auch wenn er es besser wusste. Adam hatte einen Jungen aufgegabelt, der miterleben musste, wie seine Mutter von den Heerscharen des weißen Königs ermordet worden war.

Dieser König trug eine blutige Krone aus Hoffnungen und Träumen der Menschheit. Dieses Bild vom gekrönten Marcus Tree hatte sich in seinem Gehirn eingebrannt. Er war der Enkel des Monsters, das das Ende der Menschheit eingeleitet hatte und mindestens genauso gefährlich wie sein Vorfahre, wenn nicht noch schlimmer, denn Marcus Tree hatte sein Reich, seine Macht auf den Trümmern des Scheusals aufgebaut.

»Darf ich dich daran erinnern, dass Adam auf dich wartet?«, unterbrach sie seine Überlegung.

Es war eine Unheil versprechende Sehnsucht, die Kas nach Erimol zog. Das Schlimmste daran war, dass er keinen Drang verspürte, sich gegen sie zu wehren. »Ich muss erst was erledigen«, erwiderte er knapp.

Sie schnaufte leise und sagte voller Ehrfurcht: »Aber es ist wichtig. Es ist was Großes.«

Er warf ihr einen Schulterblick zu. »Und? Das kann warten!«

»Kann es nicht. Wenn du zu lange wartest, verlässt sie uns vielleicht wieder und das darf sie nicht. Sie hat hierhergefunden und könnte ...« Ihre Stimme klang plötzlich belegt und in ihrem hübschen runden Gesicht erkannte er den Anflug von Furcht.

»Wer? Von wem redest du denn?«

»Keine Ahnung, sie ist was Besonderes, meint Adam.«

Damals hatte Adam dasselbe von ihm behauptet. Bei seiner Ankunft im Camp hatte er einige Bruchstücke eines Gesprächs zwischen Adam und jemand anderem aufgeschnappt. Damals hatte er Kas als ein großes Glück für den Untergrund beschrieben. Allerdings erschloss sich Kaskadian bis heute nicht, warum.

»Bitte«, sagte sie flehentlich.

Er sah sie eindringlich an. »Aber ich verspreche nichts.«

Offenbar bedeutete ihr sein Erscheinen bei Adam viel. Sie jauchzte, warf sich ihm an den Hals und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Das hatte zur Folge, dass sie ihn mit großen Augen ansah, ihre Arme senkte und mit einschießender Gesichtsröte einen Schritt zurücktrat. »Sorry«, warf sie rasch hinterher und biss sich auf die Lippe. »Ich will nur nicht, dass du Ärger bekommst.«

Kaskadian war angesichts der unerwarteten Situation verwirrt, aber er verbarg es. Ja, es war ein Kuss. Doch er hatte nichts dabei empfunden, was ihn beschämte. Deshalb schenkte er ihr ein Lächeln und ein: »Schon gut.«

Schließlich gingen sie wortlos nebeneinander her. Währenddessen dachte Kaskadian darüber nach, was sie dazu veranlasst hatte, und ob er vielleicht unbewusst falsche Signale sendete.

Tara


Vor ihnen erstreckte sich das Tal Eden, in dem die Ruinen einer alten Siedlung standen. Sie waren nicht bewohnbar, denn außer einigen Betonpfählen und Fundamenten gab es nur noch vereinzelte Mauerstücke und hier und da den Teil eines Flachdachs. Die Natur hatte ihren Beitrag geleistet und überwucherte das meiste, was von der Zivilisation hier übrig geblieben war.

»Hör mal«, sprengte Leandra die Stille zwischen ihnen. »Wäre nett, wenn du niemandem was von dem Kuss erzählen würdest.«

Daran hatte er gar nicht mehr gedacht. Dennoch gab er ihr sein Wort. »Ich schweige wie ein Grab.«

Schlagartig verwandelte sich ihr ernster Ton. »Wer zuerst unten ist«, rief sie ungezwungen und rannte los.

»Hey, warte!« Nein, er folgte ihr nicht. Der Abstieg ins Tal war steil und er hatte keine Lust, über herausragende Wurzeln zu stolpern. Immer wieder fragte er sich, wie ihr das unbeschadet gelang.

Kas ließ sich Zeit und die nutzte er, um sich auf ein Treffen mit einem neuen Gesicht einzustellen. Es gab nicht viele, die so waren wie die Leute des Untergrunds, die so waren wie er: anders. Aufkommende Sorge verdrängte beinahe die Leere.

Fragen schoben sich in den Vordergrund, die er selbst nicht beantworten konnte: Was will sie hier? Wie hat sie die Höhlen gefunden, in denen sie lebten? Was, wenn sie eine Normale ist? In dem Fall wäre sie ein Klon, aber von wem? Wie war der Mensch, dem sie ihre Gene verdankt?

»Soll ich dir im Gehen die Schuhe besohlen?«, hörte er Leandra drängeln.

»Was?«

Schulterzuckend klärte sie ihn auf. »Hab ich in einem alten Buch gelesen. Das hat man früher so gesagt.«

Neben dem Zugang zur Höhle stand Kassandra weinend da. Sie wurde von zwei Frauen aus dem Camp getröstet.

»Was hat sie?«, fragte er.

»Jana ist verschwunden.«

»Verschwunden wie: Sie hat sich verlaufen?«, hakte Kas nach.

»Sie haben im Wald einen Schuh gefunden. Von der Kleinen fehlt jede Spur.«

»Im Wald am See oder meinst du die andere Seite?«

»Nein Kas, nicht am See.«

»Oh«, war alles, was er darauf zu antworten vermochte. Die andere Seite war Kas nie geheuer gewesen. Dort hatte er das eine oder andere Mal Drohnen gesehen. Zwar aus sicherer Entfernung, aber ihm war trotzdem das Herz in die Hose gerutscht. Außerdem waren die Tiere auf dieser Seite des Waldes entstellt. »Was hat sie da nur gemacht?«

Verunsichert sah Kas die junge Frau an. Ein Kind zu verlieren, stellte er sich genauso schlimm vor, wie eine Mutter zu verlieren.

»Wenn du mich fragst, wurde sie verschleppt«, sagte Leandra.

Ihre Aussage traf Kas mitten ins Herz. Das konnte nur bedeuten, dass das Kind zu Forschungszwecken geholt worden war, aber das wiederum setzte voraus, dass man das Camp entdeckt hatte. Mit gemischten Gefühlen betrat er den vorderen Bereich der Höhle. Wie ein Omen jagte plötzlich ein Beben durch seinen Köper.

So etwas hatte er an dem Morgen des Tages gespürt, an dem seine Mutter getötet worden war. Kas hielt inne, atmete tief durch und schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. In Gedanken an jenen schicksalsträchtigen Tag begab er sich in das verästelte Höhlensystem und erreichte einige Gabelungen und Markierungen später die große Haupthöhle, von der aus ein Gang zu Adams Raum führte.

Die Haupthöhle war ein Gemeinschaftsraum, in dem zusammen gegessen und geplant wurde. Adam hatte diesen Ort damals mit seiner Frau Jasmond gefunden und zu einer Zufluchtsstätte für Wandler gemacht. Seitdem hatten sich viele von ihnen in der neuen Heimat eingefunden. Früher dachte Kas, die Wandler wären ein vereinzelt auftretendes Phänomen, doch die Jahre hatten ihn eines Besseren belehrt.

Er ging an den Tischen vorbei und hielt auf den Gang zu, als sich hinter ihm Leandra meldete. »Er ist da nicht.«

Schwungvoll drehte er sich um. »Wo ist er dann?«

Sie verschränkte die Arme und deutete mit dem Kopf zum mittleren von drei Zugängen. »Trainingsraum. Ich hab ihm gesagt, dass das keine gute Idee ist. Wenn sie eine Spionin ist, kann das nach hinten losgehen, aber auf mich hört er ja nie.«

»Okay«, erwiderte er knapp und wollte weitergehen, da drängte ihn eine Frage und er wandte sich erneut an Leandra. »Warum hältst du sie für eine Spionin?«

Schulterzuckend verdrehte sie die Augen. »Ist so ein Gefühl.«

Er nickte langsam und seufzte. »Wir werden sehen.«

»Ja, aber verscheuch sie nicht gleich. Adam meinte, sie ist ...«

»Schon klar, sie ist wichtig.«

Mitunter verwirrte ihn Leandras Meinung, die manchmal widersprüchlicher nicht sein konnte. Trotzdem behielt er ihre Sorge im Hinterkopf. Bei dem Anblick des Mädchens wischte er seine Bedenken jedoch beiseite. Sie war noch ein Kind, vielleicht zehn oder elf Jahre alt. Noch dazu sah das Mädchen sehr mitgenommen aus. Die Kleine war in eine Wolldecke gewickelt, die sie bis zu den Zähnen hochgezogen hatte. Sie zitterte wie Espenlaub.

Hinter ihr lehnte Killian im Halbdunkeln an der Wand.

In dem gedimmten Licht konnte Kas den Raum nicht richtig überblicken. In den dunklen Ecken konnte sich jemand verbergen. Das jagte ihm einen Schauer über den Rücken. So sehr er Adam auch vertraute, gingen ihm manchmal erschreckende Bilder durch den Kopf. Sie entsprangen alle seiner Vorstellungskraft, dennoch fühlte er sich dadurch verunsichert. Außerdem hasste Kas Überraschungen.

Killian trat hervor. Der schlaksige junge Mann fuhr sich durch das ungepflegte Haar. Es stand ihm vom Kopf ab, aber sein Äußeres störte ihn nicht, das wusste Kas. So chaotisch er nach außen wirkte, war er doch im Inneren auf eine gewisse Geradlinigkeit angewiesen. Er hasste Unpünktlichkeit und fremde Gerüche. Was aber weniger schlimm war, als ihn aufzuregen. Geriet Killians Seelenfrieden durcheinander, spielten seine Kräfte verrückt und in dem Fall war es besser, den Kopf einzuziehen, denn was nicht festgemacht war, flog einem dann um die Ohren. Killian beherrschte hin und wieder Telekinese, meist aber beherrschte diese Gabe ihn.

Einzig das Mädchen saß im vollen Schein der Deckenbeleuchtung. Dieses Bild erinnerte mehr an einen Verhörraum als an einen Trainingsort. Adam selbst verschmolz nahezu mit den an die Wände geworfenen Schatten. Seine dunkle Haut und der schwarze Ledermantel, den er fast nie ablegte, tarnten seine Anwesenheit. Wenn er sich bewegte, waren die glänzenden Stellen der glatten Oberfläche seines Mantels zu erkennen. Diese Reflexionen erwachten regelrecht zum Leben, was einem einen ganz schönen Schrecken einjagen konnte, wenn man Adam zum ersten Mal im Halbdunkel begegnete.

»Ah, da bist du ja. Wo ist Leandra?«, wollte Adam wissen. Er hatte auf einem Kubus Platz genommen, den sie sonst zum Trainieren von Telekinese nutzten.

»Sie war dicht hinter mir«, antwortete er und spürte bereits ihre Anwesenheit, ehe sie zum Vorschein trat. Das war so eine seltsame Verbindung zwischen ihnen. Sie nannte es Seelenliebe, er hatte einen weniger schwulstigen Begriff dafür: Sensibilität.

»Bin hier«, ertönte ihre Stimme hinter Kaskadian.

»Dann können wir ja anfangen«, sagte Adam und legte seine Hand auf die des Kindes. »Bist du bereit?«

Der Blick des Mädchens wanderte über die erwartungsvollen Gesichter, dann nickte sie verhalten. »Also«, sagte sie und füllte den Raum mit ihrer Unsicherheit. »Mein Name ist Tara und ich ...«

»Bin nicht das, was ich vorgebe zu sein«, flüsterte Leandra Kaskadian so leise ins Ohr, dass die Möglichkeit verschwindend gering war, von dem Mädchen gehört zu werden. Umso wundersamer erschien es, als Taras Blick Kas und Leandra mit unausweichlicher Schärfe traf.

»Sie kann mich unmöglich gehört haben«, wisperte sie nun so leise, dass selbst Kas Schwierigkeiten hatte, jedes Wort zu verstehen.

»Tara, und weiter? Was willst du hier?«, schmetterte Kas ihr unverblümt entgegen. »Woher kennst du diesen Ort?«

Leandras Ellenbogen stieß unsanft in seine Seite und sie hauchte ihm zu: »Hör auf damit. Adam wird dich bestrafen.«

Das Kind sah ihn mit einer Verwirrung an, die ihn verunsicherte. »Verzeihung. Ich wollte nicht ...«

»Schon gut«, antwortete Tara. »Ich brauche eure Hilfe.«

Ein dumpfes Raunen ging durch den Raum.

Sie senkte den Kopf und fuhr leise fort. »Meine Schwester wird gefangen gehalten und ich kann sie nicht alleine befreien.«

»Wer hält sie gefangen?«, fragte Killian und trat näher an sie heran.

Einen kurzen Moment hob Tara ihren Kopf und sah jeden einzelnen von ihnen an. Dann sagte sie mit brechender Stimme: »P-Tree.« Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und glitt über die Wange.

Alles andere hatte Kas erwartet. Eine andere Gruppe von Wandlern, die sich nehmen, was ihnen gefällt. Oder im schlimmsten Fall Erimol. Aber das Mädchen hatte seine Erwartungen zerschmettert. Er musste sich vergewissern, vielleicht hatte er sie auch falsch verstanden. »Warte! Du meinst den Konzern P-Tree?«

Sie sah Kas an, als hätte er mit seiner Frage all ihre Hoffnungen im Keim erstickt. Mit brechender Stimme antwortete sie: »Ja« und wischte sich Tränen aus dem Gesicht. Killian murmelte etwas, das Kas nicht verstehen konnte und auch Adam wirkte nervös.

»Tut uns leid, aber du verschwendest hier deine Zeit«, sagte Leandra trocken und wandte sich zum Gehen, da wurde sie ziemlich harsch von Adam angesprochen. »Leandra, das war nicht in Ordnung.« Er sprang auf und packte ihren Arm. »Du wirst hierbleiben und dich entschuldigen. So gehen wir nicht mit Hilfesuchenden um. Verstanden?«

In ihrem Gesicht sammelte sich Wut. Die Brauen schoben sich zusammen und sie fuhr ihn an: »Lass mich los. Was willst du tun?« Ruckartig entzog sie sich ihm, richtete ihre verschobene Kleidung und sah ihn an. »Ich glaube nicht, dass du einfach nach Asklepios gehen und um Befreiung der Schwester einer Fremden bitten kannst.«

Leandras Worte hatten eine Mauer der Stille zwischen Adam und ihr gezogen. Kaskadian bemerkte, wie Adam die Worte im Hals stecken blieben. Er konnte nicht nachvollziehen, was genau dazu beigetragen hatte. Adam blickte nervös zu Tara, die ebenfalls aussah, als wäre sie bei einer Heimlichkeit ertappt worden.

»Warte!«, sagte Leandra plötzlich und schnaufte kopfschüttelnd. »Du willst gar nicht selbst gehen. Du willst, dass wir gehen!«

Darauf antwortete er mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfzucken, dass er womöglich selbst nicht bemerkte.

Impulsiv, wie Leandra nun einmal war, schnaufte sie erneut und stampfte mit dem Fuß auf, während sie die Fäuste ballte und Adam mit einem Blick versah, dem er nicht standhalten konnte. Dass der alte Mann ihren Augen auswich, erlebte Kas zum ersten Mal.

Ehe er dazwischen gehen oder sie beiseitenehmen konnte, kehrte sie auf dem Absatz um und lief in den Gang hinaus. Er eilte ihr hinterher, doch von ihr selbst sah er nur noch den buschigen Fuchsschwanz, der mit all ihrem Zorn geladen, kerzengerade hochragte und in den Gemeinschaftsraum einbog. Ihre Kleidung lag mitten im Gang verstreut. Ein leichtes Erdbeben folgte. Er wusste, dass das die Entladung ihres Zorns war.

»Es hat jetzt keinen Sinn, ihr zu folgen«, sagte Adam und legte seine Hand auf Kaskadians Schulter.

Kas hielt kurz inne. »Du hast recht«, erwiderte er und ließ sich von Adam zu dem Kubus begleiten, auf dem er vorher gesessen hatte.

»Nimm Platz«, sagte er.

Doch Kas zögerte, denn ihn beschlich ein ungutes Gefühl. »Ich stehe lieber.«

»Wie du willst«, meinte Adam und wandte sich nun auch an Killian. »Es bahnt sich ein Problem an, das größere Kreise ziehen wird, als wir bewältigen können.«

»Wird das jetzt ’ne Rede? Soll ich alle zusammentrommeln?«, warf Killian ein.

»Bitte, mach keine Scherze. Die Lage ist ernst und Taras Schwester ist der Schlüssel.«

»Der Schlüssel wozu?« Kas hasste dieses Anschneiden, das Um-den- Brei-Herumreden. Warum konnten die Menschen nicht einfach direkt und geradeaus sagen, was sie meinten?

»Hat Leandra recht? Willst du, dass wir in diese Festung einbrechen und das Mädchen befreien?«, fragte er, denn es brannte ihm auf der Seele. Kas wusste, dass Adam seine Schützlinge niemals unnötigen Gefahren aussetzte, deshalb wurmte es ihn regelrecht, dass er auf Leandras Aussage nicht reagiert hatte. Andererseits benahm sich sein Mentor seltsam.

»Marcus Tree will die Welt über Träume regieren«, warf Tara ein.

Kas traute seinen Ohren nicht. Gab es etwa einen Zweiten, der so war wie er? Bis jetzt war er davon ausgegangen, dass nur er das Geheimnis zum Portal der Träume kannte. »Was? Wie will er das tun?«

»Mit Alycias Gabe«, antwortete sie traurig. »Wenn wir schlafen, dann träumen wir. Aber wenn meine Schwester die Augen schließt, dann ist da mehr. Sie ist die Herrscherin der Traumwelt. Und er hält sie gefangen.«

Adam stellte sich vor Tara, den Blick auf Kas gerichtet. »Verstehst du jetzt, warum es wichtig ist, das Mädchen zu befreien?«

»Ehrlich gesagt bin ich ein wenig verwirrt«, sagte Kas leise und winkte den alten Mann herbei, um mit ihm unter vier Augen zu reden. Dieser folgte dem Wunsch nach einem kurzen Austausch und kam auf ihn zu.

»Adam, sie hat uns noch immer nicht gesagt, wie sie uns gefunden hat.«

Sein Blick wich aus.

Das verunsicherte Kas. »Wo hast du sie aufgegabelt? Was, wenn sie nur hier ist, um uns auszuspionieren? Wir wissen nichts über sie. Leandra hat gemeint ...«

»Leandra ist impulsiv. Das hat nichts zu sagen«, unterbrach er ihn. »Frag sie, und wenn sie dir eine Antwort gibt, musst du ihr glauben, bis du das Gegenteil beweisen kannst.« Er untermalte seine Worte mit einem Fingerzeig auf Tara.

Kas nickte, obwohl seine Intuition ihn mahnte, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Der alte Mann war wie immer diplomatisch, doch in manchen Situationen fand er diesen Schachzug nicht angebracht – so wie jetzt.

Fragen sollte er sie also. Er schluckte und wandte sich dem Mädchen zu, um ihm in die Augen zu sehen, während er sprach: »Tara, wir leben hier an der Grenze zur Zone. Ich glaube nicht, dass du zufällig über uns gestolpert bist. Also, die Wahrheit. Wer hat dir von diesem Ort erzählt?«

Sie wich seinem Blick aus und sah Adam an. Als würden sie wortlos miteinander kommunizieren, nickte Adam ihr zu. Schließlich nannte sie einen Namen: »Alycia«.

»Ich dachte, sie wäre in Asklepios.« Killian klang verwirrt.

Das Kind sah ihn mit großen Augen an. »Ist sie auch. Aber in der Welt der Träume ist sie einem Portalmeister begegnet. Sie träumt immerzu von Eden.«

Jetzt kannte dieses Kind auch noch den Namen seines Zuhauses. Etwas stimmte nicht mit ihr. Dessen war er sich sicher und früher oder später würde er ihr irgendetwas nachweisen können, was Adam von ihrer Unaufrichtigkeit überzeugte. Ihr Blick erfasste Kaskadian kurz, doch lange genug, dass er ihn bemerkte. »Sie hat mir gesagt, dass es hier Menschen gibt, die uns helfen können und wo ich sie finde.«

In den Tiefen seiner Gehirnwindungen suchte er nach dem Fetzen einer Erinnerung an ein Mädchen, mit dem er in der Welt der Träume geredet haben könnte. Er war jedoch nicht einmal einem begegnet. »Ich weiß von nichts«, antwortete er deshalb und untermalte seine Unwissenheit mit einem Schulterzucken.

Auf seine Antwort ging sie nicht ein, stattdessen warf sie ihnen allen eine Krume hin, die sie nicht ignorieren, geschweige denn ablehnen konnten: »Bitte, ich kann euch Medikamente besorgen.«

Adam legte einen Blick auf, den Kaskadian zu genüge kannte. Und das schürte seine Sorge. Einige Male schon durfte er ihn bei Nacht und Nebelaktionen begleiten, die Kas nicht geheuer gewesen waren. All diese Unternehmungen hatten eines gemeinsam gehabt: diesen Blick.

»Wie viele Medikamente?«, fragte er mit weit aufgerissenen Augen. Er sah sie so intensiv an, dass sie nervös auf ihrem Sitz umherrutschte und hilfesuchend zu Kaskadian sah.

»Was?« Es bereitete ihm Unbehagen, wie ihre Augen ihn erfassten.

Es war, als hätte sie alle anderen in dem Raum ausgeblendet, als stünden sich nur sie und Kas gegenüber. »Wirst du es tun?«, fragte sie leise.

Es reichte. Das war Kas eindeutig zu scheinheilig. Er wollte nur noch weg hier. Sollte Adam sie doch irgendwo aussetzen. Sollte er sie ruhig in den Zwinger stecken. Kas wollte mit ihr nichts zu tun haben. Er glaubte ihr kein Wort. Doch dann waren da Adam und dessen Erwartung. Kas verdankte ihm sein Leben. Dieser Umstand formte Worte in seinem Kopf, die er sich plötzlich fragen hörte: »Warum ausgerechnet ich?«

Sie schwieg.

Aus dem Dunkeln trat Adam hervor. »Antworte!« In seiner Stimme schwang ein wütender Ton mit, der ihr Angst einzujagen schien. Hatte Kas ihn mit seiner Skepsis überzeugt?

Sie zuckte zusammen, als er seine Hand hob und ihren Arm packte. Es war ein harsches Anfassen, vor dem wohl jeder junge Mensch zurückgeschreckt wäre. Kas versuchte sich zu erinnern, was er oder sie gesagt haben könnten, das Adam dermaßen die Fassung raubte.

Ihre Angst erinnerte ihn an seine eigene Kindheit, deshalb griff er ein und packte Adams Handgelenk. »Du vergisst dich.«

Er blinzelte Kaskadian an und seufzte, zog sich dann mit verhaltenem Nicken zurück und überließ ihm das nun verängstigte Mädchen.

Mit einigen tiefen Atemzügen fand er sein inneres Gleichgewicht wieder und trat an sie heran. »Weißt du, wir sind Selbstversorger. Dennoch kann es vorkommen, dass einer von uns erkrankt und Medizin benötigt.«

Ihr starrer Blick bohrte sich in Kaskadians Kopf, sodass seine Selbstbeherrschung zu schwinden drohte. Er knetete die Hände. Wie sollte er ihr nur klarmachen, dass sie reden musste? »Hör zu. Adam wird dich so lange festhalten, bis du ihm Antworten lieferst. Wenn du klug bist, kann das hier für beide Seiten eine Win-win-Situation sein.«

»Ich kann das nicht sagen. Aber ich weiß, wo Medizin ist. Ich könnte euch hinführen.«

Sie konnte nur den Schwarzmarkt meinen. »Redest du von Erimol? Kennst du den Händler persönlich?«

Ein Zucken in ihrem Gesicht verriet Kas, dass er auf der richtigen Spur war. Doch sie senkte den Kopf. »Ich kann es nicht sagen.«

»Sie wird nicht reden«, mischte sich Killian ein und ging auf sie zu. »Stimmt doch!«

»Aber ich kann es euch zeigen«, wisperte Tara.

Adam kam mit einer Entschlossenheit im Blick auf sie zu, die Kas einen kalten Schauer über den Rücken jagte. So sah er aus, wenn er Blut geleckt hatte. »Du entschuldigst uns?«, sagte er trocken und packte Killian und Kaskadian an den Oberarmen, um sie vor den Trainingsraum zu zerren.

Mit einem raschen Schulterblick versicherte er sich, dass sie weit genug von dem Kind entfernt waren, und flüsterte: »Wir müssen ihre Schwester holen. Durch das Mädchen können wir eine neue Medizinquelle ausmachen. Versteht ihr?«

Killian verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich weiß nicht, Mann. Woher sollen wir wissen, dass sie uns nicht hintergeht? Vielleicht wäre es schlauer, sie fortzuschicken und ihr zu folgen.«

»Ja«, pflichtete Kas Killian bei, denn die Idee hätte von ihm stammen können. »Vielleicht führt sie uns zu dem Typen mit den Medis.«

»Oder sie lockt uns ins Verderben«, fuhr Killian fort und schloss damit den Kreis der Bedenken, die durch Kaskadians Kopf jagten.

Adam schien belustigt. Er senkte mit einem leisen Kichern den Kopf und presste mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand auf seine Nasenwurzel. »Ihr seid gut. Sie kann hier nicht einfach rausspazieren.«

»Warum nicht? Wir verfolgen sie.« Killian hielt inne und kehrte einige Schritte zurück, um einen vorsichtigen Blick in den Raum zu werfen. Dann sah er Adam mit einem schiefen Grinsen an. »Sie ist nicht einmal jetzt aufgestanden«, stellte er fest. »Jeder andere hätte sich wenigstens umgesehen. Aber sie sitzt einfach nur so da und wartet, dass wir zurückkommen.«

»Das ist ja das Problem.« Adam rieb sich die Stirn. »Ihre Beine sind gelähmt. Sie kann nicht laufen und hat auch keinen Rollstuhl dabei gehabt.«

»Und wie ist sie dann hier hergekommen?«, fragte Kaskadian, dem die ganze Sache immer seltsamer erschien.

»Ich habe keine Ahnung. Sie lag mitten auf der Hauptstraße. Als ich kam, wollte sie davonrobben.«

»Ist sie da vielleicht abgelegt worden?«

»Killian, du kannst mir glauben, dass genau dies mein erster Gedanke war. Aber weit und breit war niemand zu sehen. Ich weiß nur, dass es brenzlich werden kann, wenn dieser Mistkerl über Träume an Menschen herankommt.«

»Klar«, meinte Kas. »Genauso brenzlich wie in eine Falle zu laufen.«

Er legte die Hände auf die Schultern der Jungs. »Die Möglichkeit besteht, aber mein Gefühl sagt mir, dass wir helfen müssen. Seid ihr dabei?«

»Die Kleine will, dass wir nach Asklepios gehen. Das ist ein Himmelfahrtskommando. Ohne mich«, sagte er entschieden und schob Adams Hand weg. »Hast du vergessen, dass ich ebenfalls was mit Träumen zu tun habe? Wenn das eine Falle ist ...«

»Das habe ich abgewogen. Er hat dieses Mädchen, was dich uninteressant für ihn machen sollte. Und wenn doch etwas passieren würde, glaubst du wirklich, wir würden dich nicht befreien? Vielleicht ist das ein Risiko, das wir eingehen müssen. Diese neue Medizinquelle könnte so viele Leben retten. Denk doch mal an die Möglichkeiten«, entgegnete Adam mit so einer Selbstverständlichkeit, dass es Kaskadian eiskalt den Rücken hinunter rieselte. Adam schien vollkommen aus der Realität gefallen zu sein. Kas schüttelte den Kopf, drehte sich um und ließ ihn einfach stehen. »Anscheinend hörst du dir selber nicht zu.«

»Junge, bleib hier. Lass uns darüber reden.«

»Diesmal nicht«, war alles, was er dazu zu sagen hatte. Er eilte durch den Gang und hastete im Gemeinschaftsraum nach rechts, von dem aus er erneut rechts in den Gang einschlug, der zum Schlafsaal B führte. Hier schliefen die Jungs und von hier aus hatte er einen geheimen Schacht zum Feld entdeckt, den er hinter seinem Bett mit einem Tuch vor den Blicken anderer versteckte.

Ein Ort des Lebens


Dieser Ort war wie ein verzaubertes Königreich. Zumindest solange das Wasser von den Böden gespeichert werden konnte. Doch Kas wusste, dass dieser Zustand nur einige Wochen und nur, solange die Vorräte eine Bewässerung erlaubten, anhielt. In der sengenden Sonne verdunstete das rettende Nass viel zu schnell.

Er atmete tief durch die Nase ein, um in den Genuss des Duftes frischen Grüns zu kommen. In diesen Zeiten gehörte dies zu jenen Raritäten, für die manche sogar töten oder sie mit dem Leben beschützen würden. Frischer Tau benetzte die Halme und zarter Nebel hüllte Kaskadian ein. Die Luft glitzerte in sanften, einem Regenbogen entspringenden Farben, die sich über dem Feld gebildet hatten.

Es wäre vermessen gewesen, diesen Ort als unendlich zu bezeichnen, denn das war er nicht. Er war begrenzt, genauso wie die Erträge, die er ihm und seinen Leuten darbot. Ohne die vier großen Zisternen und unzählige kleinere Regenauffangbehälter wäre das Feld wie alles andere auch der Dürre zum Opfer gefallen. Es befand sich in einer großen, fast kreisrunden Höhle, deren Decke vor einigen Jahren größtenteils eingestürzt war.

Tiefes Grollen hatte sie damals alle aus den Betten gejagt und hierher beordert. Hinter der gewaltigen Staubwolke, die in nahezu jeder Ritze ihres Zuhauses Zuflucht gesucht hatte, war etwas entstanden, das ihnen das Überleben auf wundervolle Weise erleichtern sollte.

Bis dahin waren sie Erimols treuesten Kunden gewesen. Gerne dachte Kaskadian an die Tage zurück, an denen sie die Trümmer hinausgeschafft und den Weg für etwas Magisches geebnet hatten. Woher die Muttererde gekommen war, die Adam besorgt hatte, wusste keiner von ihnen, aber er hatte es getan und sie in dieser Höhle auf einer guten Kiesdrainage verteilt. Tage und Nächte hatte der dunkelhäutige Mann damit zugebracht, den Boden nutzbar zu machen, um schließlich die Saat in die Erde zu bringen. Hafer und Weizen, Beeren, Gurken, Kartoffeln und Tomaten.

Hier folgte alles dem Saisonplan, den Adam aufgestellt hatte, um den Boden zu schonen. Manchmal, so wusste er aus Erfahrung, überlebten die Pflanzen nicht einmal bis zur Ernte. Oft boten sie nur wenig Ertrag. Dennoch hielt Adam an seiner Idee fest. Dieser Ort gehörte zu Edens Errungenschaften und kam auf der Beliebtheitsskala gleich nach den vier Generatoren. Sie wurden mit Energie aus Sonnenkollektoren gespeist und lieferten ausreichend Strom.

Kaskadian schritt voller Ehrfurcht mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen Augen die schmale Schneise zwischen dem Korn entlang. Seine Fingerspitzen berührten die Pflanzen kaum, dennoch hatte er das Gefühl, mit ihnen zu verschmelzen, während warme Sonnenstrahlen seiner Haut schmeichelten. Der Wind tanzte leichtfüßig über das Feld und entlockte ihm ein Wispern, das Kaskadians Seele umwarb. Er ehrte diesen Ort und würde ihn mit seinem Blut verteidigen.

»Kas, warum muss ich immer nach dir suchen?«

Er hielt inne. »Leandra, hast du dich wieder beruhigt? Was willst du?«

»Ich will mit dir reden.«

»Warum? Schickt dich Adam?«

»Nein«, sagte sie, doch die leichte, ihre Stimme tragende Vibration enttarnte die Lüge.

»Sei ehrlich oder geh.«

»Okay, ja. Er bat mich ...«

»Nein!«, unterbrach er sie. »Sag ihm: Auf keinen Fall. Und wenn er schlau ist, steckt er sie in einen Kerker und vergisst sie dort.«

»Kas! Sie ist noch ein Kind und sie hat dir nichts getan.«

»Noch nicht«, erwiderte er harsch. »Erst hattest du Bedenken, dann bist du wie ein bockiges Kind weggelaufen und jetzt traust du ihr? Aus dir soll mal einer schlau werden.«

»Ja, schon«, antwortete sie leise. »Aber ich glaube, ich habe da ein bisschen überreagiert. Sie ist nur ein Kind, das unsere Hilfe braucht. Nicht mehr.«

Er drehte sich um. »Und das weißt du, weil ...?«

In ihr brodelte es, das konnte er sehen, dennoch wollte Kas nicht nachgeben. »Dachte ich es mir doch. Du kannst nicht sagen, dass von ihr keine Gefahr ausgeht.«

Schweigen baute sich zwischen ihnen wie eine Mauer auf.

»Dann werde ich das hier nicht riskieren«, setzte er nach und breitete erneut die Arme aus.

Sie schnaufte. »Verstehst du denn nicht? Wenn sie das ist, wofür ich sie zuerst gehalten habe, dann ist es zu spät. Dann werden die Heerscharen von Asklepios hier sowieso aufschlagen und alles vernichten, was wir aufgebaut haben.«

»Dann kämpfen wir eben.« So leicht diese Worte auch klangen, sie kamen direkt aus seinem Herzen. Natürlich würde er für sein Zuhause kämpfen. Aber was sie gesagt hatte, verursachte einen Knoten in seinem Herzen. Alleine die Vorstellung, Marcus Tree könnte sich Eden unter den Nagel reißen, erschütterte ihn bis ins Mark.

»Du verstehst es nicht, oder? Wir müssen ihm zuvorkommen!« Sie wandte sich zum Gehen und blieb stehen. »Ach ja: Du wirst auf der Krankenstation erwartet.«

»Weshalb?«

Ohne ein weiteres Wort oder einen Blick verließ sie ihn.

»Mist!« Kas war nicht gerade erfreut über ihre Versuche, ihn zu überzeugen, diesem Mädchen zu helfen. Es war nicht seine Art, sich in Angelegenheiten anderer einzumischen, doch wenn die Krankenstation Hilfe benötigte, war er immer zur Stelle.

Also setzte er sich in Bewegung und eilte wie der Wind durch die Gänge. Dabei musste er achtgeben, nicht auf Adam zu treffen, denn der Zugang zur Krankenstation befand sich in Adams Trakt. Während ihn die Beine seinem Ziel näherbrachten, dachte er über das Mädchen nach. Wie war sie nur hierhergekommen? Woher kannte sie solche Halunken, die mit Medikamenten handelten, und warum war sie wirklich hier? Er konnte ihr die Geschichte mit der verlorenen Schwester einfach nicht glauben.

Außerdem hatte sie etwas getan, das ihm das Ausmaß des Betrugs offenbarte. Sie hatte ihn Portalmeister genannt und dabei angesehen, er konnte sich nicht geirrt haben. Zwar war ihr Blick kurz wie der Hauch eines Moments gewesen, aber er hatte in ihm etwas bemerkt, das sein Geheimnis in Wohlgefallen auflöste. Sie wusste es. Sie wusste, was er war. Aber sie konnte es nicht wissen, denn er war immer vorsichtig gewesen. Niemals hatte er das Portal geöffnet, wenn er

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Dana Müller
Bildmaterialien: pexels.com, Dana Müller
Cover: Dana Müller
Korrektorat: Wortschatz - Berliner Autorenzirkel, A. Müller
Tag der Veröffentlichung: 26.03.2021
ISBN: 978-3-7487-7828-8

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Geschichte entspringt der Fantasy der Autorinnen. Eventuelle Ähnlichkeiten mit Ereignissen oder Situationen sind nicht gewollt und reiner Zufall. Die Story entstand bereits 2018 und wurde 2020 neu aufgelegt.

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