Das Zwillingsspiel
von
Dana Müller
Nicht zur Nachahmung!
Die Legenden basieren meist auf mündlichen Überlieferungen.
Es ist nicht ratsam, die darin enthaltenen Rituale nachzumachen.
Es könnten Türen geöffnet werden, die lieber verschlossen bleiben sollten.
Der Super-8-Film zeigt die verschwundenen Kinder, die ihre Familien auf bestialische Art ermordet haben. Plötzlich drehen sie sich weg und laufen aus dem Bild. Bughuul taucht hinter Ashley auf. Er nimmt sie auf den Arm und trägt sie davon – in eine unbekannte Welt.
»Das Ende ist ja wirklich ziemlich lahm«, beschwerte sich Ron und stellte seine Coladose auf dem Tisch ab.
»Findest du? Also, wenn mich dieser Dämon wegtragen würde, wäre ich einfach vor Angst gestorben«, widersprach Stacy. Dass sie in Sachen Horrorfilm nicht mit ihrem besten Freund mithalten konnte, war klar. Aber dass Ron dermaßen abgestumpft war, missfiel ihr.
»Ich weiß nicht«, meldete sich Robert zu Wort. »Ich meine, abgesehen davon, dass es solche Wesen wie diesen Boogie-Man nicht gibt, hätte niemand so lange gebraucht, um zu erkennen, dass der Dämon es auf ihn und seine Familie abgesehen hat.«
»Ich sehe das so«, warf Stacy ein. »Von außen betrachtet ist man immer schlauer, aber versetz dich doch mal in die Lage dieses Familienvaters. Wie sollte er darauf kommen, dass seine Tochter ihn, seine Frau und ihren Bruder kaltblütig ermorden könnte. Sicher, er hat die Morde recherchiert, aber wärst du auf die Idee gekommen, dass dahinter dieses uralte Wesen steckt, das Kinder zu seinen Killersklaven macht?« Sie liebte es, über Filme zu diskutieren. Deshalb legte sie auch gleich nach: »Robert, ich bin sicher, du hättest auch viel zu spät geschaltet, weil du immer für alles nach einer logischen Erklärung suchst.« Sie grinste, aber das kam bei ihrem Gegenüber nicht gut an.
»Sehr witzig«, maulte dieser. »Dann ist da noch die Sache mit den verschwundenen Kindern. Wo sind ihre Leichen? Ich meine, wenn man mal bedenkt, dass dieses Wesen körperlos ist, müssten die Körper der Kinder irgendwo verwesen. Ich verstehe nicht, wie sich Materie zwischen den Realitäten bewegen soll. Das ist nicht möglich – Filmfehler«, sagte er und nippte an seiner Bierflasche, setzte sie ab und warf hinterher: »Film ist Film und Leben ist Leben.«
»Oh, wie philosophisch«, foppte Brandon, der sich bis jetzt sehr zurückgehalten hatte. Unauffällig wie ein Schatten hing er breitbeinig in seinem Sessel. Die Bierflasche stand in einer dafür vorgesehenen Ausbuchtung in der Lehne. Ab und an nahm er einen kleinen Schluck daraus, stellte sie wieder zurück und beobachtete die anderen. Mitunter fand Stacy ihn gruselig. Nicht sein Äußeres, darüber konnte sie sich gewiss nicht beklagen. Mit geschätzten 1,80 Metern, etwa 80 Kilo und einem herzlichen Lächeln, das seine braunen Augen erreichte, war der Dunkelhaarige genau ihr Typ. Doch die Art, wie er tief in seine Gedankenwelt abzutauchen vermochte und die Blicke, mit denen er sie und die anderen bedachte, offenbarten Stacy, dass er mit Dämonen kämpfte, über die er partout nicht sprechen wollte. Zumindest nicht mit ihr. Oft beschlich sie das Gefühl, er würde in diesen Momenten einen gemeinen Plan aushecken. Einen, in dem Stacy nicht sonderlich gut wegkam.
Er neigte sich nach vorne, stützte sich auf die Knie und betrachtete Robert eingehend. »Wer sagt dir denn, dass es solche Dinge nicht wirklich gibt?«
»Meine logische Betrachtung«, erwiderte Robert und hielt Brandons Blick stand – eine Weile, dann senkte er ihn und schüttelte den Kopf. »Deine Frage kann nicht ernst gemeint sein.«
»Warum?«, mischte sich nun auch Ron ein.
Stacy deutete ihm mit dem Finger auf den Lippen an, er solle schweigen, denn diese Art von Diskussion war in der Vergangenheit im Streit geendet. Zumindest seit sie Brandon kannten und mit ihm abhingen. Robert polarisierte auf seine eigene Art, was in der Gruppe nicht immer gut war. Viel zu sehr hielt er an seinen Überzeugungen fest und machte dicht, sobald jemand näher auf diese einging. Doch Ron überging sie geflissentlich.
»Nehmen wir mal die Berichte über paranormale Aktivitäten. Die können nicht alle gestellt sein. Der Mensch glaubt an das, was er anfassen kann, und trotzdem glaubt er auch an Liebe.«
Robert blickte auf. »Liebe ist ein chemischer Prozess, der im Körper stattfindet.«
In Rons Augen blitzte ein Funke auf. Er hatte Feuer gefangen. »Was, wenn Geister auch auf solchen Prozessen basieren?«
»Blödsinn!«, widersprach Robert. »Allerdings, wenn du das Licht meinst, welches viele während des Sterbeprozesses wahrnehmen, muss ich dir beipflichten. Das ist sogar nachgewiesen. Leider nicht so, wie du es dir wünschst, denn es ist eine Art Energieentladung im Gehirn.« Er unterstrich seine Aussage mit einem vor Überlegenheit nur so strotzenden Grinsen.
Ron biss die Zähne so fest aufeinander, dass seine Kiefermuskeln zuckten. »Mann! Dachte, du bis 19 und nicht 90. Was ist los mit dir?«
»Bitte, streitet euch nicht«, flehte Stacy. »Robert hat seine eigene Meinung und die solltest du zumindest tolerieren, Ron.«
»Sie hat recht. Streit bringt euch keine Erkenntnis«, warf Brandon ein. »Vielleicht sollten wir ein kleines Experiment wagen. Was denkt ihr?«
Rons Brauen schnellten hoch. Sein Blick wanderte zu Brandon. »Und was schlägst du vor?«
»Ein Spiel.«
Kopfschüttelnd lehnte sich Robert in seinem Sessel zurück und legte die Handflächen auf die Knie »Brandon, ich weiß wirklich nicht, was ein Spiel an meiner Überzeugung ändern könnte.«
»Jungs, ich wäre lieber für noch einen Film«, sagte Stacy. Sie fand es nicht gut, in Dingen herumzustochern, von denen sie keine Ahnung hatten. Aber auf sie hörte ja keiner.
»Noch ein Film und noch mehr vermeintliche Bestätigung? Von mir aus können wir hundert Horrorfilme gucken, aber ich bin nicht dumm. Meint ihr wirklich, dass ich auf diesen Zug der Massenpanik aufspringe?«, erwiderte Robert.
»Massenpanik?« Ron zog den Beanie vom Kopf und schob die Finger durch sein rotbraunes Haar. »Warum kannst du nicht einfach mal zugeben, dass man nicht alles mit Logik erklären kann?«
Er reagierte nicht darauf und wandte sich Brandon zu. »Deine Eltern kommen doch bestimmt bald wieder. Wir sollten gehen.«
»Meine Eltern verbringen das Wochenende in London«, antwortete er und drückte sich aus dem Sessel. »Robert, noch ein Bier?«
»Klar.«
»Bekomme ich auch eins?«, meldete sich Stacy zu Wort. »Das scheint eine lange Nacht zu werden.«
Brandon lächelte. »So viel du willst.« Er sah Ron fragend an, aber der schüttelte den Kopf und hob die Coladose. »Kein Bier. Cola, wenn du hast.«
»Gut. Nicht weglaufen. Wenn ich wieder da bin, erzähle ich euch von dem Spiel«, versprach Brandon und verließ das Wohnzimmer.
Stacy wartete, bis sie seine Schritte nicht mehr hören konnte. »Geht es nur mir so oder findet ihr ihn auch seltsam?«, flüsterte sie.
»Seltsam? Wieso?«, antworteten die Jungs fast gleichzeitig.
»Ich weiß nicht. Er sieht nicht aus, als wäre er mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden. Trotzdem wohnt er mit seinen Eltern in diesem riesigen Kasten. Hat einer von euch mal seine Eltern gesehen?«
Robert und Ron sahen sich mit fragenden Blicken an.
»Ich meine, was wird das wohl für ein Spiel sein, das er uns vorschlagen will? Das einzige Spiel, das mir einfällt, ist Ouija.«
»Dieses Geisterbrett?«, fragte Ron mit angespanntem Gesichtsausdruck.
Sie nickte. »Genau das.«
»Okay, das mache ich nicht. Ich habe keinen Bock, irgendwas heraufzubeschwören, was mir dann auch noch folgt.« Ron stand auf und ging zum Fenster. Er schmulte zwischen den Schals der schweren Vorhänge hindurch. »Schon gar nicht hier, in diesem einsam gelegenen Haus. Niemand würde uns hier schreien hören.«
»Jetzt hört aber auf«, widersprach Robert. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass so ein Spiel irgendwas anderes heraufbeschwört als Ängste. Schon mal was von selbsterfüllenden Prophezeiungen gehört?«
Schritte hallten aus dem granitgefliesten Flur.
»Er kommt«, flüsterte Stacy und bereitete sich darauf vor, sich so natürlich wie möglich zu benehmen.
Ron blieb an einem Sideboard stehen und betrachtete die Bilder, die in Reih und Glied feinsäuberlich nebeneinander aufgestellt waren, als Brandon zurückkam.
»Hey, was machen deine Eltern beruflich?«, fragte er.
Diese Frage schien Brandon unangenehm zu sein. Er hielt inne, reichte Robert und Stacy je eine Flasche und wich aus. »Wollen wir uns doch mal den interessanten Themen widmen.«
»Du hast seine Frage nicht beantwortet«, warf Stacy ein. Sie spürte, dass er nicht darüber reden wollte, das weckte ihre Neugier. Jetzt wollte sie erst recht wissen, womit Brandons Eltern ihr Geld verdienten.
»Das ist doch unwichtig.«
»Wieso denn?«, bohrte sie weiter. »Ihr lebt hier in einem Palast. Vielleicht will ich auch mal so viel verdienen, dass ich mir so was leisten kann.«
»Abgesehen davon«, mischte sich Ron ein. »Die Bilder hier sind echt krass. Sind sie Missionare?«
Verdutzt sah Stacy ihren Freund an. »Wie kommst du darauf?«
Er zuckte mit den Schultern. »Na ja, sie verbringen wohl viel Zeit unter indigenen Völkern.«
Er schwieg und sah aus, als suchte er in den hintersten Windungen seines Gehirns nach einer passenden Antwort. Schließlich sagte er: »Sie sind Mediziner.«
»Wow, Ärzte in Afrika?« Roberts Betonung ließ keinen Zweifel. Er glaubte ihm nicht.
»Und in Indien, in Guatemala, in Italien«, ergänzte Ron.
Brandon schluckte. »Ja, sie helfen, wo sie können. Und jetzt lasst uns nicht über meine Eltern reden. Sie sind nicht hier.«
»Hey, warum hast du nicht erwähnt, dass deine Eltern Ärzte sind? Das ist doch cool.« Stacy konnte sich nicht vorstellen, warum er das verschwiegen hatte. Ihre Eltern waren einfache Arbeiter in der ansässigen Fleischfabrik.
»Behaltet das für euch, okay? Manche Leute denken sonst, bei mir wäre was zu holen.«
»Versprochen«, antwortete sie und warf Ron einen drängenden Blick zu.
»Verstehe. Ich schweige wie ein Fisch«, beteuerte er, Robert schloss sich ihm an.
»Wenn das jetzt geklärt wäre, widmen wir uns bedeutsameren Dingen«, sagte Brandon und reichte Ron eine Coladose, die so kalt war, dass sich Kondenswasser daran gebildet hatte. Ein Tropfen schob sich durch die Feuchtigkeit hinunter und landete auf dem Holztisch.
Sofort wischte Stacy ihn mit dem Ärmel weg. »Das gibt hässliche Flecken auf dem Holz.«
Brandon schien das egal zu sein. Stacy erklärte sich seine Haltung mit der offensichtlichen Tatsache, dass er sich hundert neue kaufen könnte, wenn er wollte. Er setzte sich in seinen Sessel und neigte sich nach vorne. »Kennt jemand das Zwillingsspiel?«
Stacy schüttelte erleichtert den Kopf. Sie hatte so etwas wie Gläserrücken erwartet. Mit Ritualen kannte sie sich ganz gut aus, aber von diesem Spiel hörte sie zum ersten Mal.
»Klär uns auf, was ist das?«
Brandon betrachtete jeden von ihnen eingehend. Die Luft knisterte vor Erwartung. Schließlich sagte er: »Es geht darum, in den Körper des anderen zu gleiten.«
Unerwartet lachte Ron. Er lachte so heftig, dass er sich kaum halten konnte. In einem Moment der Kontrolle presste er nur ein Wort heraus: »Sex.«
»Was?«, Stacy gefiel diese Andeutung nicht. Da keiner von ihnen sich zu Männern bekannt hatte, konnte sie sich gut vorstellen, in wen dieser Kerl gleiten wollte. »Brandon, ist das wahr?«
Er verdrehte die Augen. »Was soll das? Warum dreht sich bei euch immer alles um Sex? Hier geht es um Körperwechsel. Stacy, wäre es nicht interessant, die Welt mal durch Rons Augen zu sehen?«, sagte er und drehte sich zu Robert. »Und du – willst du nicht wissen, ob du daneben liegst? Ich meine, wenn deine Seele in meinen Körper wechselt, wäre das ein Beweis für Paranormales, oder etwa nicht?«
Robert blickte ihn an wie ein Schuljunge, der beim Abschreiben ertappt worden war. »So was geht nicht.«
Raubkatzenartig schlich Brandon um ihn herum. »Was, wenn du dich irrst? Bist du kein bisschen neugierig?«
»Es ist unmöglich, das weiß ich genau.«
Abrupt blieb Brandon vor ihm stehen und nickte langsam. »Verstehe, du hast Angst, es könnte doch funktionieren. Dann würdest du ganz schön blöd dastehen.«
Robert brauchte einen Moment, um zu antworten. Er sammelte sich offensichtlich. Sein linkes Auge zuckte, so wie immer, wenn er nervös wurde. »Also gut. Spielen wir dieses bescheuerte Spiel. Starten wir einen unnützen Versuch, etwas zu beweisen, das es nicht gibt.«
Ob Stacy es gut finden sollte, wusste sie nicht. In ihrem Bauch rumorte es. War es eine Ahnung, die sie warnen wollte oder einfach nur Hunger? Sie war so durcheinander, dass sie keinen Unterschied erkannte. Dennoch stimmte sie zu, mitzuspielen.
Brandon griente in sich hinein, das konnte Stacy in seinen Augen erkennen. Schließlich hielt er das vermeintliche Pokerface nicht länger aus und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem überlegenen Grinsen, das Stacy Gänsehaut bereitete. Für einen winzigen Moment wirkte Brandon auf sie wie Norman Bates. Schnell wischte sie diesen Gedanken fort und rügte sich dafür. Im Stillen sagte sie sich: »Er ist in Ordnung – etwas schräg vielleicht, aber verlässlich.«
»Okay, also wir brauchen einige Dinge, um das Spiel vorzubereiten«, sagte Brandon und stand auf. Er ging zum Sideboard und zog eine Schublade auf, der er einen Zettel entnahm. »Ich lese mal vor«, kündigte er an und betrachtete die Gesichter jedes Einzelnen. »Das Spiel muss in einem großen Haus mit zwei Stockwerken und einer großen Küche stattfinden. Mein Haus eignet sich also dafür.«
»Es ist nur ein Spiel, kein Ritual oder so was?«, vergewisserte sich Stacy.
»Was macht das für einen Unterschied?«, warf Ron ein.
»Na ja, ich will keine fremden Wesen einladen. Bei einem Ritual öffnet man ein Tor in andere Realitäten. Das wäre nicht so toll.«
»Stimmt. Das wäre äußerst dumm«, bestätigte Ron.
»Ihr seid so verblendet von diesem Zeug. Es wird gar nichts passieren«, mischte sich Robert ein.
Brandon neigte sich zum Tisch hinunter und klopfte. »Kann ich fortfahren oder wollt ihr das noch eine Weile ausdiskutieren?«
»Ups«, meinte Stacy.
»Gut, dann weiter: Wir brauchen zwei feuerfeste Gläser. Die finden sich in der Küche.«
»Warum denn feuerfest?«, wollte Stacy wissen.
»Weil darin Wasser auf dem Herd erhitzt werden muss«, erwiderte er.
Robert blickte auf. »Solange das keiner von uns trinken muss.«
Brandon wirkte genervt. Er seufzte und presste die Lippen aufeinander.
Stacy wollte keine schlechte Stimmung aufkommen lassen, also bat sie ihn, weiterzulesen.
»Lass mal, ich glaube, dass das keine gute Idee war«, sagte Brandon und legte den Zettel zurück in die Schublade.
»Was soll das denn jetzt?«, beschwerte sich Ron. »Erst machst du uns neugierig, dann ziehst du den Schwanz ein.«
»Ihr nehmt
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Dana Müller
Bildmaterialien: pixabay.com , Dana Müller
Cover: Dana Müller
Lektorat: Korrektorat: Monika Schoppenhorst
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2020
ISBN: 978-3-7487-6602-5
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
WARNUNG!
Die Legenden basieren meist auf mündlichen Überlieferungen. Es ist nicht ratsam, die darin enthaltenen Rituale nachzuahmen. Es könnten Türen geöffnet werden, die besser verschlossen blieben!