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Das 11-Meilen-Ritual

 

Legenden 11

 

Ein Roman von

 

Dana Müller

 

 

 

WARNUNG!

Nicht zur Nachahmung!
Die Legenden basieren meist auf mündlichen Überlieferungen.
Es ist nicht ratsam, die darin enthaltenen Rituale nachzumachen.
Es könnten Türen geöffnet werden, die lieber verschlossen bleiben sollten.

Meile 1 – Flucht nach vorne

Auf leisen Sohlen schlich Tom durch den Flur. Die vierte Diele knarrte, das tat sie immer. Deshalb achtete er darauf, sie nicht zu betreten. Mit der Jacke in der Hand und angehaltenem Atem hatte er fast die Tür erreicht. Wenn er jetzt den Arm ausstrecken würde, könnte er sie berühren. Doch Tom wollte kein Risiko eingehen und trat etwas näher heran. Dabei hatte er völlig vergessen, dass die erste Diele bei feuchtem Wetter ebenso knarrte, wenn nicht noch lauter, als die anderen. Das gellende Geräusch erfüllte den Flur. Augenblicklich verwandelte sich Tom in eine Statue. Mit ein bisschen Glück hatte Emba ihn nicht bemerkt. Sie war 24, aufmerksamer als jeder Wachhund und besaß ein so feuriges Temperament, dass er manchmal glaubte, in ihren Adern kreiste Drachenblut.

»Tom? Bist du das?«, ertönte die helle Stimme seiner Freundin.

»Ich komme gleich wieder«, antwortete er.

Doch so einfach hatte sich Emba noch nie abschütteln lassen. »Wo willst du denn so spät am Abend noch hin?«

»Zur Tanke. Hab doch gesagt, dass ich gleich wiederkomme«, erwiderte er und öffnete die Tür.

Ohne Vorwarnung stand sie hinter ihm. »Also, wenn du Kippen holen willst, brauchst du nicht. Habe dir vorhin welche mitgebracht.«

Da ging sie hin, die Hoffnung und nahm gleich seinen akribisch erarbeiteten Plan mit sich. Vorsichtig drehte er sich um. Sie stand in seinem weißen Hemd vor ihm, das ihr viel zu groß war. In der Hand hielt sie eine Schachtel Marlboro. Untenherum trug sie nichts als dicke Wollsocken, die bis zu den Knöcheln heruntergerutscht waren. Ihr blondes Haar umschmeichelte das kindliche Gesicht.

Wer Emba nicht kannte, hätte meinen können, Tom wäre der glücklichste Mann der Stadt. Aber das war ein Irrtum. Wie eine Hexe verzauberte sie ihn mit ihren großen dunkelblauen Augen, raubte ihm den Atem, saß auf seiner Brust wie ein Sukkubus und nährte sich von der Energie, die kaum noch für ihn selbst reichte.

»Na komm, lass uns ins Bett gehen. Es ist spät«, sagte sie.

Jegliche Widerrede war zwecklos, das hatte er in den vergangenen sechs Jahren auf die eine oder andere schmerzhafte Weise festgestellt. Davon zeugte auch die sternförmige Narbe auf seiner Stirn, die von einer Rauferei mit Emba stammte. So schön und herzlich diese Frau auch sein konnte, in ihr steckte der Teufel höchstpersönlich.

Gegen seinen Willen hängte er die Jacke an den Haken und schlüpfte aus den Schuhen. »Ich muss noch ins Bad, geh du schon mal vor.«

Sie warf ihm einen Blick zu, der vor Skepsis nur so triefte, und legte die Zigarettenschachtel auf die Flurkommode. »Okay, aber lass mich nicht zu lange warten.«

Tom nickte und ging ins Badezimmer, denn er wusste, dass sie ganz genau darauf achten würde, was er tat. Diese Frau hatte ihn so fest im Griff, dass er seinen eigenen Willen fast verloren hatte. Immer seltener hörte er diesen rufen, in letzter Zeit jedoch so laut, dass er ihm kaum zu widerstehen vermochte. Er drehte den Wasserhahn der Dusche auf. Das Plätschern übertönte sämtliche Geräusche, vor allem jene, die er beim Hinausschleichen machen würde.

Einige Sekunden verharrte er im Bad, blickte sein Spiegelbild an und atmete tief durch. Der Rest eigener Wille, der noch in ihm existierte, hatte ihn getrieben, einen Plan zu schmieden, der ihn befreien sollte. Was er vorhatte, erforderte Mut. Er würde sich damit außerhalb der menschlichen Realität bewegen. Sein Glaube an übernatürliche Phänomene barg unabsehbare Risiken. Und sollte das Ritual keine Wirkung zeigen, würde ihm Emba sein restliches Leben zur Hölle machen.

Dieses Risiko ging er ein. Schon lange lebte er eigentlich Embas Leben. Sie formte es nach ihren eigenen Vorstellungen und verbannte alles, was Tom ausmachte. Er erinnerte sich kaum noch, wer er eigentlich war.

Tom drehte zur Sicherheit das Wasser wieder aus. Wenn sie eingeschlafen war, würde es eine Überschwemmung geben. Das wollte er nicht riskieren. Er ging zur Tür und öffnete sie einen winzigen Spalt, um sich zu vergewissern, dass die Luft rein war. Deshalb wartete er einen Moment.

Auf Zehenspitzen schlich er hinaus. Im Vorbeigleiten an der Kommode nahm er die Zigarettenschachtel an sich und schob sie in die hintere Gesäßtasche. Mit jedem Schritt trommelte sein Herz wilder. Schließlich erreichte Tom die Haustür. Er schnappte sich die Jacke vom Haken und griff nach den Schuhen. Tom gab sich alle Mühe, die Haustür so leise wie möglich zuzuziehen. Um das Klacken des Schlosses kam er jedoch nicht herum, denn dieses Schloss hatte sich offenbar gegen ihn verschworen. Oft schon hatte Tom versucht, sich hinauszuschleichen, und wurde von dem Ding verraten. Auf der Fußmatte schlüpfte er in die Schuhe und hielt auf den Wagen zu. Mit beschleunigtem Puls stieg er ein und atmete ein paarmal tief durch.

Sein Blick wanderte zum Haus, in dem nur zwei Fenster beleuchtet waren. Im Schlafzimmer war das Licht zwar gedimmt, aber es versicherte ihm, dass Emba im Bett lag und auf ihn wartete. Sie hatte offenbar nicht bemerkt, dass Tom bereits das Haus verlassen hatte. Das war gut. Er rieb sich die Hände.

Sorge beschlich ihn, dass sie doch noch aus der Tür stürmen würde. Vor Toms innerem Auge atmete Emba wie ein entfesselter Drache tief ein und versengte ihn mit feurigem Atem. Dies stand ihm auch bevor, falls er unverrichteter Dinge nach Hause zurückkehrte.

Machte er womöglich einen schweren Fehler? Einen Augenblick lang sammelte er sich und wisperte: »Es ist das Richtige.« Schließlich startete er den Motor und fuhr los. Je kleiner das Haus im Seitenspiegel wurde, umso greifbarer erschien die Freiheit, die er sich so sehr wünschte. Er bog auf die Hauptstraße ein. Sein Herz machte einen Freudensprung. »Scheiße, ja!«, rief er und entließ einen Schrei aus den Tiefen seiner Kehle.

Jetzt musste er nur noch auf die richtige Straße kommen. Ein eindeutiges Zeichen sollte ihm diese verraten. Dummerweise kannte kein Navi diese Straße. Sie führte nämlich zu einem verborgenen Ort zwischen der menschlichen Realität und der Anderswelt. Unerschütterlich glaubte er an seine Existenz.

Tom fuhr solange, bis er auf eine Nebenstraße kam, die wenig befahren und nur zart auf der Karte verzeichnet war. Mit Argusaugen beobachtete er die vorbeiziehende Umgebung. Links und rechts gab es kaum Gebäude. Vereinzelt zogen eine Tankstelle und einige Ruinen an ihm vorbei.

Danach tauchten Baumherden auf, deren Kronen sich zum Himmel streckten, der sich in schönstem Purpur zeigte. Ab und an ging eine schmale Straße zur Seite ab. Tom war zufrieden. Diese Reise hatte er so lange geplant, dass sie ihm stets in weiter Ferne erschienen war und nun hatte er sie tatsächlich angetreten.

Vor ihm löste sich ein Vogelschwarm aus den Baumwipfeln und zog wie ein Teppich davon. Die gefiederten Freunde flogen geradeaus und als hätten sie ein Kommando erhalten, bogen sie nach links ein.

War das jenes Zeichen, nach dem er Ausschau hielt? »Vogelfrei«, wisperte er und trat aufs Gas, denn etwas sagte ihm, dass er ihnen folgen musste. War es ein Bauchgefühl? Ganz gleich, sie würden ihn auf den richtigen Weg führen, dessen war sich Tom sicher.

Er fuhr so schnell, dass er einige Minuten später das Gefühl hatte, dem Punkt ganz nahe zu sein, über dem der Schwarm die Richtung gewechselt hatte. Deshalb ging er etwas vom Gas und betrachtete genau, was um ihn herum geschah.

Ein Wagen näherte sich von vorne, es war der erste, den er auf dieser Straße bemerkte. Seine Lichter blendeten ihn und er zog die Hand schützend vor die Augen. In diesem Moment der Unachtsamkeit verzog er das Lenkrad und das Auto geriet ins Schleudern. Im letzten Augenblick erlangte er die Kontrolle zurück, packte das Lenkrad mit beiden Händen und zwang das Auto in die Gerade. Das kostete ihn Schweiß und Nerven, dennoch war er erleichtert, als das Fahrzeug wieder ruhig über die Straße glitt.

Er hätte schwören können, dass sein Wagen nach diesem Ereignis stöhnte. Leise und gequält. Sicher spielte ihm der Kopf einen Streich. Bei seinem Vorhaben war das nicht verwunderlich. So lange hatte den Plan für sich behalten. Niemandem hatte er sich anvertraut. Natürlich war sein Gehirn überlastet und das äußerte sich nun in Visionen wie einem stöhnenden Auto. Er atmete durch und sammelte seinen Geist.

Schließlich ließ Tom Revue passieren, was gerade geschehen war und fluchte: »Verdammter Idiot! Ich hätte von der Straße abkommen können!« Dabei war er sich nicht ganz sicher, ob er den Fahrer des anderen Wagens oder sich selbst meinte.

In der Nähe entdeckte er einen Raben. Er stand auf der Straße und als sich Toms Wagen näherte, erhob er sich, blieb aber in der Nähe. Wie ein stiller Begleiter flog er immer ein Stück vor und wenn Tom ihn einholte, setzte er sich erneut vor den Wagen. Das wiederholte der schwarze Vogel solange, bis er nach links abbog. Toms Blick wurde von einer regenschwangeren Wolke gefesselt, die von einem Licht gerahmt war. Offenbar verbarg sich dahinter der Mond. Sie hob sich durch das Leuchten vom nächtlichen Himmel ab und sah aus wie ein Pfeil, dessen Spitze in dieselbe Richtung zeigte, die der Rabe eingeschlagen hatte. Das musste der Weg sein, nach dem Tom suchte. Es war eindeutig.

Sein Herz bebte, als er dem Vogel folgte. Tatsächlich bog er in eine asphaltierte Straße ein, die offensichtlich durch einen dichten Wald führte. Wenn er sich richtig erinnerte, war diese nicht auf der Karte verzeichnet, die Tom in den letzten Monaten fast auswendig gelernt hatte. Mittlerweile hatte sich das Bild der Straßen und Wälder von Portland im US-Bundesstaat Oregon in sein Gehirn gebrannt. Er behielt den Tacho im Blick, denn das 11-Meilen Ritual erlaubte eine maximale Geschwindigkeit von 30 Meilen pro Stunde. Nervös sah er sich um. Hier gab es nichts außer Bäumen und je weiter er vordrang, umso dichter standen sie beieinander. Es wurde kühl, also schaltete Tom die Heizung ein. Es kostete ihn einige Mühe, Ruhe zu bewahren. Seine Gedanken ließen sich kaum bändigen, immer wieder kreisten sie um die ersehnte Freiheit.

 

Meile 2 - Böse Überraschung

Der Untergrund wurde immer schlechter. Der Asphalt war nun rissig und bot das eine oder andere Schlagloch. Tom gab sich Mühe, sie zu umfahren, aber nach kurzer Zeit lagen die Löcher einfach zu dicht beieinander.

Je weiter er kam, umso kälter wurde es in dem Auto. Tom fragte sich, ob sich die Temperaturen draußen genauso verhielten. War womöglich seine Heizung kaputt? Er hielt die Hand vor die Klimaanlage. Die herausgeblasene Luft fühlte sich warm an, aber auf dem Fahrersitz war davon nicht viel zu spüren.

Vor ihm sah es aus, als wäre die Straße plötzlich abgeschnitten. Tom ging vom Gas, sodass der Tacho auf 12 Meilen pro Stunde absank. Als er näherkam, krümmte sich vor ihm eine scharfe Kurve, der er vorsichtig folgte und einem Stein von der Größe einer Kokosnuss auswich, der mitten auf der Fahrbahn lag.

»So ein Mist!«, fluchte Tom leise vor sich hin und strich sich Gänsehaut vom Unterarm. Es wurde immer kälter. Seine dünne Jacke wärmte ihn nicht. Auf dem Rücksitz lag eine Decke, aber während der Fahrt auf dieser verdammt kaputten Straße nach hinten zu greifen, hielt er nicht für sonderlich klug. Anhalten konnte er auch nicht, damit wäre das Ritual beendet.

Würde er sich ein zweites Mal trauen, seinen Plan zu verwirklichen? Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie Emba reagieren würde, käme er nach Stunden ohne gute Erklärung für sein Wegbleiben nach Hause. Also hielt er die Kälte aus. Was war schon ein bisschen Frieren gegen die Ewigkeit mit Emba. Das rechte Vorderrad seines Wagens tauchte in einem

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Dana Müller
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Dana Müller
Lektorat: M. Schoppenhorst
Korrektorat: A.Müller,
Tag der Veröffentlichung: 25.08.2020
ISBN: 978-3-7487-5492-3

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
WARNUNG! Die Legenden basieren meist auf mündlichen Überlieferungen. Es ist nicht ratsam, die darin enthaltenen Rituale nachzuahmen. Es könnten Türen geöffnet werden, die besser verschlossen blieben!

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