Stranger
Ein Roman von Dana Müller
Nicht zur Nachahmung!
Die Legenden basieren meist auf mündlichen Überlieferungen.
Es ist nicht ratsam, die darin enthaltenen Rituale nachzumachen.
Es könnten Türen geöffnet werden, die lieber verschlossen bleiben sollten.
Nicks Blut rauschte durch die Venen. Auf diese Nacht hatte er sich lange vorbereitet. Sorgfältig zog er die staubbeladenen Vorhänge im ehemaligen Partykeller zu. In seiner Vorstellung hatte er es bereits hinter sich gebracht.
Nick gefiel die Aussicht auf eine neue Position innerhalb der Clique. Sandro ging ihm schon lange auf den Zünder. Mit seiner letzten Bemerkung war der entscheidende Funke übergesprungen. »Leute wie du dürfen immer nur zugucken, wie andere im Erfolg baden«, hatte dieser schmierige Typ in seinen Markenklamotten gesagt und sich offenbar nicht einmal schlecht dabei gefühlt. Nick war es leid, immer die zweite Geige zu spielen.
Er überprüfte den Spiegel, den er mit einem schwarzen Laken abgedeckt hatte. Es gehörte zu den Regeln, alle spiegelnden Flächen zu verbergen. Nicht auszumalen, was passieren konnte, wenn er eine dieser Regeln nicht ernst genug nahm. Deshalb suchte er akribisch nach allem, was eine spiegelnde Oberfläche besaß. Nachdem er den Raum doppelt und dreifach überprüft hatte, beschloss Nick, dass es an der Zeit war. Bis Mitternacht sollte das Ritual sein Ende gefunden haben.
Die Kreide in seiner schwitzigen Hand war fast durchgeweicht. Er schluckte und betrachtete das alte Holz der Tür, die in den Bereich des Kellers führte, in dem sich die Versorgungsanlage befand. Für einen Moment schloss er die Augen und atmete tief durch. Das Beben seines Herzens weitete sich auf die Knie aus. Jetzt oder nie!
Er hob die Hand mit der Kreide und drückte diese auf das Türblatt. Nick hatte sich alles so einfach vorgestellt, aber nun, da er das Ritual begonnen hatte, fühlte es sich irgendwie nicht richtig an. »Tu es!«, forderte er sich auf und zog die Kreide über die tiefe Maserung des Türblatts. Wie in Trance schrieb er STRANGER auf das Holz und trat zurück.
Beklemmung machte sich in Nicks Brust breit. Eine Weile stand er nur so da und betrachtete den Schriftzug. War es richtig, es zu tun? Bestimmt würde seine Seele dafür ewig in der Hölle brennen. Nick schluckte die Bedenken hinunter und ging in die Hocke.
Er holte das Feuerzeug aus seiner Hosentasche und entfachte die Dochte einer schwarzen und einer weißen Kerze, die die Tür flankierten, durch die Es in diese Welt eintreten sollte. Unter keinen Umständen durfte er einen Blick auf das Wesen erhaschen, ganz egal, wie groß die Versuchung auch sein mochte. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf das Geschenk. Er hatte eine Tüte Gummibärchen gewählt. Dazu hatte er keinen Bezug und das war wichtig. Er legte das Geschenk vor die Tür auf den Boden und achtete akribisch darauf, dass es von ihr beim Öffnen nicht erfasst wurde. Er stand auf und ließ einen prüfenden Blick über die vorbereiteten Dinge schweifen. Nick sah zum verhüllten Fenster.
Nicht einmal ein winziger Streifen zwischen den Stoffbahnen lag offen. Das wusste er, denn andernfalls wäre das grelle Laternenlicht durchgedrungen. Die Kerzen brannten und die Tür war beschrieben. Außerdem konnte er keine spiegelnden Flächen entdecken. Soweit, so gut. Jetzt aber musste er das Licht löschen.
Mit einem mulmigen Gefühl legte er die Hand auf den Lichtschalter und rief sich noch einmal ins Gedächtnis, warum er das tat. Sandro zu beseitigen war ein guter Grund für dieses Ritual. Nick atmete tief durch und gab sich einen Ruck. Das Klicken des Schalters hüllte den Raum in Dunkelheit. Einzig die Tür wurde von den Flammen der Kerzen erleuchtet. Das war nicht gut, denn Nick selbst stand im Dunkeln und Dunkelheit konnte er nicht ausstehen. Nick hatte weniger Angst vor dem, was durch die Tür kommen konnte, als vor dem, was womöglich blieb.
Beinahe hätte Nick das Wichtigste vergessen. Das Foto. Er griff an seine Gesäßtasche und zog das Bild heraus. Letzte Woche hatte er es selbst geschossen, als Sandro mit seinem Elektroroller angegeben hatte. Hätte der Kerl geahnt, was Nick damit tun würde, hätte er ihn garantiert nicht darum gebeten, ihn zu fotografieren. »Pech, du Blödmann«, murmelte Nick und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
Er drehte sich der Tür zu und hob die Faust. Alles, was er jetzt noch tun musste, war klopfen. Er winkelte den Zeigefinger an und hielt inne. Sein Gewissen meldete sich. Dieses bescheuerte Gewissen hatte sich die ganze Zeit über still verhalten und nur darauf gewartet, dass er dem Ziel so nahe war. Und nun schrie es ihn förmlich an. Er ballte die Fäuste und zog einige Kreise um das auf dem Boden liegende Geschenk.
»Verschwinde aus meinem Kopf!«, sagte er.
»Bist du sicher, dass ich verschwinden sollte?«, hörte er das Gewissen in gehässigem Ton reden, sobald seine Worte verstummten.
»Dich gibt es nicht wirklich. Du bist nur in meinem Kopf«, antwortete er.
»Und in deinem Herzen«, erwiderte das Gewissen.
»Jetzt rede ich schon mit mir selbst«, stellte Nick fest und rieb sich die Nasenwurzel. Schließlich trat er wieder vor die Tür und sammelte seine Gedanken.
Da ertönte die Stimme von Neuem: »Das solltest du nicht tun.«
»Verdammt! Halt die Klappe!«, schrie er und schlug sich gegen die Stirn. »Ruhe da drin!«
Es dauerte einige Augenblicke, bis Nick sich so weit beruhigt hatte, dass er sich auf das Ritual konzentrieren konnte. Er schluckte und hob die Faust mit dem angewinkelten Zeigefinger. Sein Herz schlug schneller. Ein kurzes Zögern, dann klopfte er drei Mal. Ehe Nick die Hand wieder senkte und sich von der Tür entfernte, schien sein Körper für einen winzigen Moment mit dem Fußboden verwachsen zu sein. Zeit, in der das Wesen durch die Tür kommen könnte, und er starrte genau dort hin. Das durfte er nicht tun, er durfte es keinesfalls ansehen. Seine seltsame Starre löste sich und Nick drehte sich mit dem Rücken zur Tür.
Vorsichtig trat er am Geschenk vorbei und setzte sich im Schneidersitz zwischen den abgedeckten Standspiegel und das Präsent. Sollte etwas an diesem Stranger-Ritual dran sein, dann hatte er soeben den Weg für eine unbekannte Existenz in seine Welt geebnet. Nicht sicher, worauf er sich eigentlich vorbereiten sollte, wartete Nick.
Die Zeit schien sich in unendliche Weite zu dehnen. Nick wurde mit jedem Wimpernschlag nervöser. In seinem Gehör nistete sich ein Rauschen ein, das ihn schier wahnsinnig machte. Es verlieh der Stille eine grausame Note. Jedes Einzelne seiner Nackenhärchen stellte sich auf. Ungewissheit, was kommen würde, ob es überhaupt funktioniert hatte, nagte an seiner Seele. Nichts wünschte er sich mehr und nichts fürchtete er mehr als den Erfolg dieses Rituals. Fest drückte er das Bild an seine Brust und schloss die Augen. Sein Flehen machte sich wispernd auf den Weg. »Bitte lass mich nicht im Stich.«
Die kleinen Flammen der beiden Kerzen hinter ihm brannten ruhig. Sie zuckten nicht ein bisschen, was ihm versicherte, dass nichts passierte. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte die Tür selbst geöffnet. Nur für den Fall, dass das Wesen dazu nicht in der Lage war. Er wollte ihm helfen, in diese, seine Welt einzutreten. Doch das bedeutete einen Regelbruch und den wollte er keinesfalls riskieren.
Er wischte sich mit dem Handrücken über die schweißbenetzte Stirn. Die Luft war geladen und verbraucht. Die Kerzen taten ihr Übriges. Jeder weitere Atemzug brannte wie Feuer in seiner Brust. Nick spürte den Sauerstoffmangel. Hätte er doch lieber einen anderen Raum gewählt! Einen, der nicht unter der Erde lag. Das Atmen fiel ihm schwer. Angst kroch Nicks Rücken hinauf und legte ihre Pranke um seinen Hals. Sie drückte mit jedem Gedanken fester zu. Wenn er doch nur eines der kleinen Kellerfenster öffnen könnte, nur um sich einige Atemzüge der frischen nächtlichen Herbstluft zu gönnen. Warum bekam er keine Antwort auf sein Klopfen? Sollte er sich erneut bemerkbar machen? Wie viel Zeit war bereits verstrichen? Diese Warterei fütterte zunehmend das Tier der Ungeduld in seinem Inneren. Länger hielt er es nicht aus. Nick beugte sich zur Seite und entnahm der Jeanstasche die Anleitung für das Ritual. Das Licht reichte gerade so, dass er die Worte mit einiger Anstrengung entziffern konnte. Er hatte die Anleitung unzählige Male intensiv gelesen, hatte sie sogar auswendig aufgesagt. Jetzt war alles weg. Als hätte jemand die Festplatte in seinem Kopf formatiert. Deshalb konzentrierte er sich umso mehr und las aufmerksam:
Stell dich vor die Tür und klopfe drei Mal.
Nicht mehr – nicht weniger.
Warte, bis es klopft.
Falls kein Klopfen als Antwort zu hören ist, bleibe vor der Tür stehen und warte bis sechs Uhr am Morgen.
War das der Fehler? Nick hatte der Tür den Rücken gekehrt und sich im Schneidersitz hingesetzt. »Mist, alles falsch«, murmelte er entnervt und wusste jetzt nicht, ob er das Ritual einfach wiederholen sollte. Vielleicht genügte es ja, wenn er zu dem Punkt zurückkehrte, an dem er die Tür verlassen hatte. Zur Sicherheit las er weiter, um nicht noch einen Fehler zu machen.
Sollte auch dann nichts passieren, war das Ritual nicht erfolgreich.
Wenn du aber drei Schläge von der anderen Seite der Tür hörst, öffne die Tür einen Spalt.
Riskiere auf keinen Fall einen Blick hinter die Tür.
Dreh dich um und stell dich mit dem Rücken zur Tür hinter dein Geschenk.
»Blödmann«, schimpfte er sich und stand auf. Er faltete die Anleitung wieder zusammen und behielt sie in der linken Hand. Vorsichtig machte er einen Schritt über die Tüte mit den Gummibärchen. Nun befand er sich genau vor der Tür, flankiert von den beiden Kerzen. Der Kreideschriftzug wirkte in dem Kerzenschein irgendwie lebendig. Nicht unbedingt beruhigend. Nicks Herz trommelte. Er drückte sanft seine Handfläche auf das Türblatt. Auf diese Weise wollte er spüren, ob sich etwas tat. Schließlich wagte er, sein Ohr auf das Holz zu legen. Nach einer Weile gestand sich Nick ein, dass das alles keinen Sinn ergab. Er hatte das Ritual versaut. In der Anleitung stand eindeutig, dass er nicht mehr als drei Mal klopfen sollte. Das hatte er getan. Sein Blick wanderte zu den Kerzen. Sie waren bereits zur Hälfte niedergebrannt. Lange Wachstränen waren hinuntergelaufen und bildeten skurrile Skulpturen. »Das war`s«, sagte er voller Enttäuschung. Entschlossen, dem ganzen ein Ende zu setzen und es morgen erneut zu versuchen, neigte er sich zu der linken Kerze hinunter und holte tief Luft, um seine Wangen damit zu füllen. Nick hielt inne. Wenn er jetzt die Kerzen ausblies, wäre das ein Regelverstoß. Also richtete er sich wieder auf und entließ die Luft durch einen schmalen Spalt zwischen seinen Lippen.
»Verdammt!« Er musste hier stehenbleiben, bis der Morgen anbrach. Da hatte er sich was eingebrockt.
Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Anhand der Kerzengröße konnte er erkennen, dass sich nichts tat. Es schien, als wolle ihn die Zeitgöttin ärgern. Nick wagte es nicht, einen Blick auf sein Handy zu werfen, und eine Armbanduhr besaß er nicht. Nirgendwo war erwähnt worden, ob das Handy als zusätzliche Lichtquelle erlaubt war. So ließ er das lieber bleiben. Zunächst zählte er in Gedanken von eins bis zehn, dann rückwärts. Danach begann er seine Atemzüge zu zählen. Irgendwo zwischen neunzig und hundert kam er ins Straucheln. Er ging dazu über, jede einzelne Fingerspitze mit dem Daumen zu berühren, erst die der rechten Hand, dann schob er die Anleitung in die Hosentasche und fuhr mit der linken Hand fort. Einige Durchgänge später stellte er fest, dass all seine Bemühungen, die Zeit irgendwie totzuschlagen, nur zur Folge hatten, dass sie noch langsamer zu laufen schien.
»Hättest du mal auf mich gehört«, meldete sich die Stimme in seinem Kopf wieder.
»Sei still!«, erwiderte er.
»Jetzt musst du dir die Beine in den Bauch stehen und kannst nichts dagegen tun.«
»Es wird bald hell«, antwortete Nick.
»Tick-tack, -tick-tack«, machte die dumme Stimme seines Gewissens.
»Und wenn schon«, sagt er. »Das Ritual ist noch nicht zu Ende.«
»Aber niemand antwortet auf dein Klopfzeichen«, hörte er die Stimme sagen.
Darauf gab er nichts zurück. Immerhin redete er im Grunde mit sich selbst, das war ihm bewusst. Wenn er also nicht antwortete, würde die Stimme verstummen.
Allerdings hatte er nicht mit ihrer Hartnäckigkeit gerechnet. Provokativ erklangen die Worte in seinem Kopf: »Armer Nikolas, glaubt auch jeden Blödsinn. So naiv, der Junge.«
Das war es wohl. Er war offenbar einem Schwindel aufgesessen. Wie hatte er auch daran glauben können, dass es so einfach sein sollte, sich eines ungeliebten Menschen zu entledigen. Dieser Erkenntnis folgte ein tiefer Seufzer. Wenn also nichts an alledem dran war, dann konnte er jetzt einfach das Licht einschalten und die Kerzen löschen. Seine Zeit hätte er auch mit anderen Dingen verbringen können. Stattdessen war er so verblendet von dem Wunsch, Sandro zu zerstören, dass er sogar an Geisterwelten und andere Dimensionen glaubte. Ganz zu schweigen von Wesen, die nur dafür da waren, ihm diesen Wunsch zu erfüllen und nichts weiter verlangten, als eine Tüte Gummibärchen. »Du bist
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Dana Müller
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Dana Müller
Lektorat: M.D. Schoppenhorst
Tag der Veröffentlichung: 30.04.2020
ISBN: 978-3-7487-3875-6
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
ACHTUNG!
Nicht zur Nachahmung!
Die Legenden basieren meist auf mündlichen Überlieferungen.
Es ist nicht ratsam, die darin enthaltenen Rituale nachzumachen.
Es könnten Türen geöffnet werden, die lieber verschlossen bleiben sollten.