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SWETAS SEELE

 

 

 

 

 

Ava Garlin / Dana Müller

 

 

 

Widmung

 

Für alle, die sich zu glauben trauen

Und für jene, deren Mut verschlossene Türen öffnet.

Das Amulett

»Okay, zieh dich aus. Ich bin gleich bei dir«, sagte Giorgio und ließ mich allein.

Hier wirkte alles recht steril. Wäre das mein erstes Mal, könnte ich eine gewisse Verunsicherung nicht überspielen.

Giorgio war Fotograf und Designer. Er bezeichnete sich lieber als Künstler. Dabei war er selbst sein größtes Kunstwerk. Er legte nicht nur viel Wert auf sein Äußeres, er lebte es. Das haselnussbraune Haar trug er im Sidecut unter einem Hut. Es ragte auf der rechten Seite schulterlang heraus. Auf der linken Seite hatte er sich einen Tunnel ins Ohrläppchen stanzen lassen. Ein akkurat gestutzter Vollbart, einige Tätowierungen und jede Menge Lederschmuck waren seine Markenzeichen. Dazu trug er oft weiße Hemden aus fließendem Stoff mit weiten Puffärmeln und enge Hosen. Ein bisschen erinnerte er mich an einen Musketier. Aber das sagte ich ihm natürlich nicht, ich wollte keinesfalls seinen Stolz verletzen. Es klirrte, wenn er ging, denn Giorgio begnügte sich nicht mit einem Gürtel. Er verzierte diesen mit Ketten und Anhängern. Außerdem besaß er eine Vorliebe für spitze Schuhe, deren Absätze hart auf den Boden knallten. Giorgio war eben unverwechselbar.

 

Ich sah mich um, entdeckte aber keinen Fummel, mit dem ich meine Blöße bedecken könnte. Also wartete ich angezogen auf seine Rückkehr. Es dauerte nicht lange, da stürmte er den Raum. In der einen Hand hielt er ein weißes Kleid, in der anderen eine Sektflasche.

Doch als er mich sah, zog Unzufriedenheit in seinem Gesicht ein. »Mädchen, was soll das denn? Zeit ist Geld«, beschwerte er sich und reichte mir das Kleid. »Los, rein da.«

Sein Ton missfiel mir, war aber nicht neu für mich. So war er nun mal. Trotzdem musste ich mir meine Kommentare verkneifen. Die Vergangenheit hatte mich nämlich gelehrt, dass man Giorgio lieber nicht widersprach. Das konnte einem den Ruf versauen. Zu meinem persönlichen Vorteil hatte ich Lehren aus den Fehltritten meiner Kolleginnen gezogen.

Während ich mich meines Shirts entledigte und in das Kleid schlüpfte, hörte ich, dass Giorgio den Sekt öffnete. Der Fummel saß locker, obwohl ich meine Jeans noch darunter trug. Rasch zog ich sie aus und zupfte an dem seidigen Stoff herum.

Er sah mich mit hochgezogenen Brauen an. »So geht das nicht. Hast du etwa schon wieder abgenommen?«

»Ähm, nein«, log ich, denn ich wusste genau, dass mich zwei Tage des Fastens mindestens zwei Kilo gekostet hatten. Das war schon immer so und das würde sich auch nicht ändern.

»Wie oft soll ich es dir denn noch sagen? Ich verabscheue Magerkrücken. Sowohl für meine Kollektion als auch für meine Kunden brauche ich echte Frauen.«

»Vielleicht kann man es irgendwie feststecken?«

Giorgio sah mich an, als hätte ich ihm eine Schreckensnachricht überbracht.

»Feststecken?« Doch er lenkte ein und sagte entschlossen: »Feststecken! Uns wird ja nichts anderes übrig bleiben, als es festzustecken. Es flattert an dir wie ein Kartoffelsack.«

Bei jedem anderen wäre ich beleidigt gewesen. Nicht bei Giorgio. Als ich ihn kennenlernte, war ich vierzehn und stand das erste Mal vor einer Kamera. Bis heute, fast auf den Tag genau fünf Jahre später, hatte er sich nicht verändert. Im Gegensatz zu mir, denn ich hatte mir ein dickeres Fell zugelegt.

Damals hatte ich so geweint, dass er das Shooting abbrechen musste. Und das nur, weil er über meine zerzausten Haare gemeckert hatte. Immer, wenn ich daran zurückdachte, verkniff ich mir ein Schmunzeln. Zu jener Zeit war ich eben noch sehr kindlich.

Erneut verließ er den Raum und kehrte wenige Augenblicke darauf zurück. In der Hand hielt er eine lange Kette mit einem Amulett daran.

»Hier«, sagte er und reichte mir den Schmuck. Das wird die Blicke von dem Schlabberlook ablenken.«

Ich nahm das Teil entgegen und betrachtet es. Es handelte sich um ein Amulett mit drei Bernsteineinlagen in Form von Katzenaugen. Sie saßen mandelförmig eingefasst in drei Ecken. Mich faszinierte, wie sich das Licht darin brach. Während Georgio an mir herumzupfte und am Rücken das Kleid enger steckte, zog ich die Kette über den Kopf und richtete den Anhänger aus. Die Farbähnlichkeit zu meinem Haar gefiel mir. Er harmonierte perfekt mit ihm.

»Du musst mehr essen, Bella«, sagte er und zog, zupfte und zerrte so an dem Kleid herum, dass mir ganz anders wurde.

Wahrscheinlich hatte den Stoff zu eng gesteckt, denn plötzlich drehte sich alles in meinem Kopf und ich sah Sternchen, vor den Augen tanzen.

»Mir ist übel, Giorgio. Ich muss mich setzen«, sagte ich und spürte seinen Arm. Er stützte mich und brachte mich zu dem Sofa hinter den Kameras.

»Bella, mach mir keinen Ärger. Ich sagte doch, du musst mehr essen.«

Es klang weniger vorwurfsvoll als besorgt. Dennoch fühlte ich mich in die Ecke gedrängt. Was sollte ich denn noch tun? Ich war weiß Gott kein Hungermodel. Hier und da hatte ich die eine oder andere Problemzone. Mit meinen Klamotten kaschierte ich sie ganz gut. Giorgio stand auf fülligere Models. Ich gehörte da mit meinen 1,68 m und 58 kg zu den ausgehungerten Mädchen in dieser Kategorie. Mein Gewicht zu halten, war manchmal ziemlich schwer. Hatte ich ein wenig mehr zu tun, kam ich kaum zum Essen und nahm sofort ab. Das missfiel ihm natürlich. Aber ich konnte es nicht ändern.

Er reichte mir einen Schokoriegel und ein Glas Cola. »Hier, das bringt deinen Zuckerhaushalt wieder in Form.«

»Danke«, sagte ich und empfand die Kette plötzlich als sehr schwer. Sie zog meinen Nacken regelrecht hinab. Deshalb befreite ich mich davon und legte sie auf die Sofalehne.

Ich nahm einige Schlucke von der Cola. Sie prickelte auf der Zunge und ihre Süße hätte Tote wiederbelebt.

»Besser?«, wollte er wissen.

Ich nickte.

»Iss«, forderte er mich auf. Mir fiel auf, dass ich überhaupt nicht gefrühstückt hatte. Schokolade auf nüchternen Magen war nicht unbedingt das, was ich sonst zu mir nahm. Aber Giorgio hatte recht. Mein Zuckerhaushalt war wohl vollkommen durcheinandergeraten. Deshalb tat ich ihm den Gefallen und öffnete die knisternde Folie des Schokoriegels.

»Sweta, ich würde das Shooting verschieben. Aber der Kunde braucht die Bilder morgen früh. Das schaffe ich mit dem heutigen Shooting gerade so. Das wird jetzt schon sehr knapp. Meinst du, du hältst durch?«

Eigentlich sollte man nach einem klassischen Schwächeanfall das Bett hüten. Trotzdem nickte ich, denn ich wollte ihn nicht im Stich lassen. Er hatte so viel für mich und meine Karriere getan. Ohne Giorgio säße ich wahrscheinlich hinter der Kasse eines Supermarkts und verdiente mir ein paar Euro. Er wusste gar nicht, wie dankbar ich ihm war, jeden Morgen in meinem wundervollen Apartment am Rande New Yorks wach zu werden. Ich führte ein Leben, das nur wenige führen durften. Eines, das kaum einem Kind von Auswanderern zu Teil wurde.

Erstaunlicherweise waren frauliche Modelle gefragter denn je. Mir gefiel diese Entwicklung, denn sie nahm mir den Druck. Noch vor einigen Jahren sah die Branche ganz anders aus. Mädchen, die Watte aßen, nur um nicht zuzunehmen, waren an der Tagesordnung. Es war Pionieren wie Giorgio zu verdanken, dass weibliche Rundungen und die Natürlichkeit der Frau immer mehr Beliebtheit erfuhren. Er rückte unsere Pfunde ins rechte Licht.

Ich sah ihn an und nahm seine Hand. »Giorgio, ich bin Profi, schon vergessen?«

»Bella Mia«, sagte er und warf mir einen Flugkuss zu. »Du bist mein großer Schatz. Profi durch und durch«, erwiderte er und half mir hoch.

Mittlerweile fühlte ich mich wieder gut, allerdings musste ich in die Maske, denn mein Make-up war ein wenig durcheinandergeraten. Die Pause störte mich kaum, denn so hatte ich etwas Zeit zum Durchatmen, ehe ich gefordert wurde.

»Maria«, rief er seine rechte Hand herbei. Mach doch Sweta bitte ein romantisches Make-up.«

Die 1,50 m kleine und gedrungene Mittvierzigerin mit kastanienfarbenen Locken nickte ihm zu und lächelte mich an. Ihr Augen leuchteten immerzu, wenn sie mich sah. Maria strahlte Geborgenheit aus. Ihre Kleidung passte so gar nicht zu Giorgio. Optisch fiel sie mit ihren Bundfaltenhosen und bestickten Busen aus der Rolle. Die Brille im Sechziger-Jahre-Stil mit den spitz zulaufenden Enden und der Brillenkette rundete ihr Outfit ab. Es war nicht so, dass sie sich nichts aus ihrem Äußeren machte. Vielmehr pflegte Maria ihren eigenen Stil. Auch, wenn sie dafür so manches Mal mit ihrem Boss aneinandergeriet. Wer sie kannte, wusste, wie wertvoll sie für jeden Betrieb war.

Sie war mir mit der Zeit zu einer guten Freundin geworden. Mit ihr teilte ich das eine oder andere Geheimnis und sie hörte einfach nur zu, gab mir Kraft und bestärkte mich in meinem Tun. Zudem hatte sie ein Gespür dafür, wenn es mir nicht gut ging.

Maria zog die Brille zur Nasenspitze und sah mich mit einer Mischung aus Vorwurf und Mitleid an. »Du arbeitest zu viel«, sagte sie. »Außerdem ist dein Säure-Basen-Haushalt komplett durcheinander.«

»Was?«

Sie betrachtete mich kurz und eindringlich, dann sagte sie: »Man sieht es an deiner Haut. Du bist übersäuert.«

»Ach herrje, so schlimm?«

Sie lachte herzhaft. »An dir ist nichts schlimm. Trotzdem ginge es dir besser, wenn deine Ernährung ausgewogener wäre.«

»Ich weiß, wem sagst du das? Aber ich habe manchmal so viel um die Ohren, dass ich ganz vergesse zu essen. Und dann muss was Schnelles her, so was wie Pizza.«

»Pizza. Das ist auf Dauer Gift für dich. Ich sagte doch, du musst weniger arbeiten.«

Sie hatte ja recht, das wusste ich selbst. Aber ich war noch nicht so weit, Aufträge abzulehnen. Wenn sich mir eine Chance bot, nahm ich sie wahr. Vielleicht würde sich das nie ändern, aber so war ich eben . Ich hatte ein Ziel und dafür arbeitete ich hart.

Sie komplimentierte mich zum Schminkplatz und drückte meine Schultern sanft nach unten, sodass ich mich setzen musste. Der große Spiegel und das Neonlicht waren unbarmherzig. Jeden Makel erkannte man sofort und jetzt konnte ich selbst sehen, was Maria meinte, als sie sagte, ich müsste weniger arbeiten.

»Urlaub,« sagte ich. »Urlaub wäre nicht verkehrt.«

Sie nickte mit einem herzhaften Lächeln, das auf ihre Augen überging. Für mich gehörte Maria einfach zu den Guten dieser Welt.

»Wollen wir nach dem Shooting zusammen etwas essen gehen?«, fragte ich.

Sie hob entschuldigend die Schultern. »Tut mir leid, Giorgio hat dieses furchtbare Weibsbild reingeschoben. Die war gestern schon da und wollte ganz spezielle Fotos«, sagte sie und verdrehte die Augen. Erst dachte ich, ich wüsste genau, was sie mit ganz speziellen Fotos meinte. Doch dann klärte sie mich auf.

»Sie wollte nicht nur erotische Bilder. Sie wollte Nacktbilder haben mit ihrem beigefarbenen Katzenvieh.«

Ich musste eine Gesichtsentgleisung unterdrücken. »Oh«, war das Einzige, was ich mich zu sagen traute. Hätte ich nur ein Wort hinzugefügt, wäre ein Damm gebrochen, der mich lautstark hätte lachen lassen. Ob ich mich dann so schnell wieder eingekriegt hätte, war fraglich.

»Nur ein Oh?« Sie musterte mich über den Spiegel von oben nach unten und wieder hinauf. »Also die Dame wirkte, als hätte sie eine Affäre mit ihrer Katze. Wenn du das gesehen hättest«, sagte sie und schüttelte angewidert den Kopf. »Ich sag’s dir, die ist so was von sodomostisch, oder wie das heißt.«

»Ich glaube, du meinst sodomitisch«, verbesserte ich sie.

Sie hielt inne und sah mich an. »Oder so. Woher soll ich denn wissen, wie man sowas Abscheuliches bezeichnet?«

Erst musste ich kichern, aber bei näherer Betrachtung löste die Erzählung eine seltsame Unsicherheit bei mir aus. Immerhin ging es um ein Wesen, das sich nicht wehren konnte. Eine Katze, die auf die Gunst ihres Frauchens angewiesen war. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was die Frau mit dem armen Tier anstellte, wenn sie alleine waren. »Meinst du wirklich? Sollte man so was nicht melden?«

»Nee, kann man nicht«, erwiderte sie und puderte mein Gesicht.

Ich schloss intuitiv die Augen und lehnte mich zurück. Dabei schwirrte mir dieses widerliche Bild durch den Kopf. »Warum hat Giorgio den Termin nicht abgesagt? Ich meine, er muss doch nicht jeden Auftrag annehmen, oder?«

»Nein Schatz, das muss er nicht. Aber er ist so versessen darauf, Karriere zu machen, dass er sich keinen Auftrag entgehen lässt. Außerdem ist er mit ihr irgendwie verbandelt. Freunde oder nur Bekannte, ich weiß es nicht«, erwiderte sie. »Geht mich im Grunde genommen auch nichts an. Ich wollte nur sagen, die Frau war gestern Abend nicht meine Lieblingskundin und wird es heute auch nicht sein.«

»Ich habe heute Nachmittag frei«, sagte ich. In Wirklichkeit hatte ich einen Zahnarzttermin, aber Maria war immer für mich da gewesen, also wollte ich sie heute nach diesem furchtbaren Termin auffangen. Es kostete mich einen Anruf, den Termin zu verschieben. »Wir machen es so, ich warte einfach auf dich, wenn du fertig bist, gehen wir schick essen. Was meinst du, italienisch, griechisch oder doch lieber mexikanisch?«

»Das würdest du tun?«, sagte sie, ruderte aber sofort wieder zurück. »Oh nein, das kann ich nicht von dir verlangen.«

War das etwa gerade ein Korb? »Maria, wie lange kennen wir uns jetzt schon?«

»Ich glaube fünf Jahre.«

»Auf den Tag genau fünf Jahre. Erstens würde ich diesen Tag gerne mit dir feiern. Zweitens bist du in den fünf Jahren immer für mich da gewesen. Du hast dir meine Wehwehchen angehört und warst mein Fels in der Brandung. Ich möchte gerne mit dir essen gehen. Du bist für mich zu einer sehr wichtigen Person geworden, zu einer Freundin«, setzte ich sanft nach, denn das war sie wirklich.

Sie war meine Freundin. Auch wenn wir außerhalb der Arbeit bis jetzt nichts gemeinsam unternommen hatten, war sie doch ein wichtiger Teil meines Lebens. Ich öffnete die Augen, um zu sehen, warum sie nicht antwortete. Maria wischte sich klammheimlich eine Träne aus dem Auge. Ich drehte mich auf dem Stuhl um, nahm ihre Hand und sah zu ihr auf. »Hey, meine liebe Maria, warum weinst du denn? Habe ich was Falsches gesagt?«

»Nein Schatz«, erwiderte sie und bedachte mich mit einem Blick, der mich dahinschmelzen ließ. In ihm lagen Aufopferung und Mütterlichkeit, Geborgenheit und Liebe.

»Einverstanden«, gab sie nach. »Nach der furchtbaren Monsterfrau mit Ihrer Katze gehen wir uns auf andere Gedanken bringen.«

»Wo bleibt ihr denn? Husch, husch«, rief Giorgio und betrat den Raum. »Zeit ist Geld, mein Engel.«

»Du darfst das Mädchen nicht so umherscheuchen, hörst du?«, beschwerte sich Maria zu meinen Gunsten.

»Das Business ist hart, das versteht keine so gut wie Sweta«, erwiderte er angesäuert. »Kümmere du dich lieber mal um die Kostüme. Die schreien nach einem Bügeleisen.«

 

Kaum hatte ich das Set betreten, fummelte Giorgio an dem Kleid herum und streifte mir die Kette mit dem schweren Amulett wieder über den Kopf. Das tat er sehr vorsichtig, um die Frisur nicht zu zerzausen.

Ein seltsames Unwohlsein überkam mich. Etwas wie ein Schwächeanfall und doch war es anders. Ich spürte ein Kribbeln in der Brust, ein Knistern vor den Augen und das Gefühl tausender Feuerameisen auf der Haut. Mein Hals trocknete in Sekunden aus und der Mund verwandelte sich in eine Wüste. Ebenso erging es meinem Bewusstsein. Gerade noch hatte ich gewusst, warum ich hier stand und die brennenden Lampen über mich ergehen ließ, und nun war das Wissen darum verdampft. Wo war ich hier? Was sollte das alles? Warum musste ich in dieser Hitze schmoren?

»Sweta, geht es dir nicht gut?«

War ich das? War das mein Name? In meinem Kopf setzte ein Karussell ein, das immer mehr an Fahrt gewann. Und wer hatte da nur gesprochen? Alles verwischte ineinander. Ein Reißen und Ziehen setzte ein.

So muss sich ein Astronaut in einer Zentrifuge fühlen. Dieser Gedanke hüllte mich ein, er erfüllte mich und drang durch jede einzelne Pore wieder hinaus. Jede Muskelfaser gab der seltsamen Kraft nach. Der Boden unter meinen Füßen geriet ins Wanken. Was stimmte nur nicht mit mir?

 

Perspektive

 Ich wollte schreien, aber meine Stimme gehorchte mir nicht. Ich wollte davonlaufen, doch meine Beine bewegten sich nicht. Mein Geist strampelte, wehrte sich gegen das skurrile Empfinden. Je mehr er das tat, umso verlorener erschien der Kampf.

Just in dem Moment, als ich dies verinnerlichte, erfasste mich ein anderes Gefühl, eines, das mich mit derartiger Leichtigkeit flutete, dass ich glaubte, ich hätte die Schwerkraft nie gekannt. Fernab von Kummer und Sorge schwebte ich, wie der Samen einer Pusteblume, der von der Luft zu seinem Zielort getragen wurde. Doch, wo lag mein Ziel?

Dieses wundervoll leichte, sorglose Empfinden endete abrupt mit dem Blick hinab. Ich erstarrte.

Das konnte nur ein bescheuerter Traum sein, denn unter meinen frei schwingenden Füßen lag ich. Mein in sich zusammengesackter Körper lag in einem Meer aus weißem Stoff. Giorgio beugte sich über mein Gesicht.

Was geschah hier nur? Hin und hergerissen zwischen Verwirrung und Angst starrte ich hinab. Was, wenn das gar kein Traum war? Was, wenn ich gestorben war? Vielleicht war es noch nicht zu spät, mich zurück ins Leben zu bringen. Giorgio sah traurig und verängstigt zugleich aus. Er musste mir helfen. Wenn er mich nur schütteln würde. Vielleicht brauchte mein Herz nur eine kleine Starthilfe.

Warum lag ich da unten? Was hatte mich in diesen Zustand versetzt? Ich musste es unbedingt herausfinden, um die Ordnung wieder herzustellen.

Und ich musste mich bemerkbar machen. Ein weiteres Mal startete ich den Versuch, zu schreien. Ich konzentrierte mich, holte tief Luft und presste sie durch meine Stimmbänder.

Wie befürchtet gelang mir nicht der leiseste Ton. So, als hätte ich nie gerufen, nie geschrien oder gesprochen. Das verunsicherte mich umso mehr.

Offenbar dachte Giorgio in den gleichen Zügen und Windungen wie ich. Er packte meine Schultern und schüttelte mich so stark, dass ich aus der tiefsten Ohnmacht erwacht wäre, hätte ich gekonnt. Plötzlich sah ich Maria herbeilaufen.

Ehe ich auf mein Dasein hier oben aufmerksam machen konnte, setzte eine Zugkraft ein, die mir jeglichen Halt nahm. Ich wurde fortgerissen.

Mit einem Mal fand ich mich in gleißendem Licht wieder. Es schien an mir vorbeizuziehen. Doch ich empfand mich als Teil davon. Als gehörte ich zu einem Wesen aus Licht. Es war wie eine Symbiose, die zwar erzwungen, doch auf seltsame Art angenehm war.

Unzählige kleine Lichtblitze und -punkte zischten an mir vorbei. Ich befand mich in einem gleißenden Tunnel. So rasant wie ich hereingezogen worden war, spuckte mich das Lichtwesen wieder aus und ich landete in einer Gegend, die ich sofort wiedererkannte. Es dauerte einige Augenblicke, bis ich mich auch fühlte, dort zu sein. Die Geräusche vernahm ich zunächst nur dumpf was sich mit den Atemzügen auflöste. Ich war wirklich hier. Nur war ich offenbar geschrumpft. An mir gingen Menschen vorbei, die mich traten. Was war hier nur los? Ich fühlte mich wie ein Stück weggeworfenen Fleisches. Niemand beachtete mich, obwohl ich auf der Straße lag.

Lag ich wirklich auf der Straße? Ich spürte den Asphalt unter meinen Füßen. Und auch meine Hände fühlten sich so an, als würden sie die Straße berühren. Ich traute mich gar nicht, an meinen Armen hinabzublicken.

Mit Sicherheit träumte ich. Was ich erlebte, war bestimmt nicht real. Selbst, wenn ich gestorben wäre, könnte ich nicht auf der Straße knien und den Asphalt untersuchen. Wozu auch? Ich schluckte und kniff die Augen zusammen. Ich musste mir nur fest vorstellen aufzuwachen, um in die Realität zurückzukehren. Vielleicht sollte ich mich kneifen.

Kaum zu Ende gedacht, hob ich meine Hand, um den Gedanken auszuführen. Doch irgendetwas stimmte nicht. Es funktionierte nicht. Ich berührte etwas Pelziges, jedoch hatte ich keine Gewalt über meine Finger. Besaß ich überhaupt noch welche? Mich erfüllte eine schreckliche Ahnung, ich musste unbedingt nachsehen, was mit mir geschehen war. Also öffnete ich die Augen und blickte an mir herab.

Wow, ich trug Pelz, dicken, schwarzen Pelz. Es war Sommer. Warum trug ich Pelz? Ich betrachtete meine Hand und erkannte Ballen. Sie war nicht mehr menschlich, bestand aus einem großen und vier kleinen Pfotenballen. Ich wollte sie zu einer Faust schließen und entdeckte messerscharfe Krallen, die sich hervorschoben. Mit gekrümmtem Rücken schreckte ich zurück.

Ich musste hier weg, unbedingt. Hier ging etwas ganz und gar nicht mit rechten Dingen zu. Wie war es möglich, dass ich in einem Katzenkörper steckte? Das war völlig undenkbar. Verwirrt blickte ich mich um. Unkontrolliert ging meine Atmung in kurzen, flachen Stößen. Mein Herz schlug wie wild gegen die Brust. Im Bauch jagten sich Krämpfe und meine Glieder schienen zu Stein erstarrt. Dennoch kämpfte ich gegen die Starre an und bewegte mich vorsichtig vorwärts.

Dabei stolperte ich über meine Vorderpfoten. Beinahe wäre ich auf dem Gesicht gelandet, konnte mich aber in letzter Sekunde irgendwie retten. Ehe ich einen sicheren Stand wiedererlangte, schlitterte ich ein Stück, was meine Haut an den Pfoten wie in Feuer aufgehen ließ. »Autsch, autsch, autsch«, schrie ich und leckte die zerschundenen Stellen. Hm, das tat gut. Ich versuchte das eben Erlebte zu verdrängen und die wirren Gedanken zu ordnen. Abschütteln wollte ich sie. Dabei bemerkte ich, dass ich mich tatsächlich schüttelte. Das Fell schwang locker an meinem Körper entlang. Es fühlte sich seltsam an. Und doch hatte es etwas Befreiendes, etwas magisch Anmutendes.

Mich ereilte der Gedanke an Lucy.

Lucy war eine gewöhnliche Hauskatze, die auf dem Bauernhof von Rita, der Freundin meiner Eltern, gelebt hatte. In meiner Kindheit waren wir oft auf dem Hof zu Besuch gewesen. Ich glaube, es gab keine Ferien, die wir nicht dort verbracht hatten. Am liebsten beobachtete ich die tierischen Bewohner. Davon gab es eine Menge auf dem Bauernhof. Dabei galt meine größte Aufmerksamkeit Lucy. Obwohl sie durch etliche Revierkämpfe ganz schön in Mitleidenschaft gezogen worden war, bewegte sie sich wie eine Königin. Ihr graziler Gang war unverwechselbar. Generell wirkten Katzen in all ihren Bewegungen mehr als nur elegant.

Wie anders fühlte ich mich heute in dem Katzenkörper. Ich hatte Mühe, vier statt zwei Beine zu koordinieren. Als Mensch war ich einfach nicht dafür geschaffen, auf vier Beinen zu gehen. Mir wurde bewusst, was für ein schönes Leben ich gehabt hatte. Das wollte ich wiederhaben.

Okay, erst einmal musste ich erneut versuchen zu laufen. Mit größtem Bedacht setzte ich einen Fuß vor den anderen. Je stärker ich mich konzentrierte, umso leichter funktionierte das Gehen. Es dauerte einen Moment, bis ich einen Schrittrhythmus entwickelte. Dann ging es ganz automatisch. So, als wäre ich nie auf zwei Beinen gegangen. Noch traute ich mich nicht zu rennen, Schritttempo reichte mir vollkommen aus. Obwohl mein Innerstes danach schrie, einfach wegzulaufen.

Um mich herum wuselten Schuhe, Füße in Sandalen oder Flipflops und Beine - unheimlich viele Beine. Bis jetzt war mir nie aufgefallen, wie hässlich der menschliche Fuß sein konnte. Es gab unter ihnen durchaus annehmbare Exemplare, das aber sehr selten. Bei der Vorstellung, von diesen Füßen zertreten zu werden, rieselte mir eiskalter Schauer über den Rücken.

Die Leute waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie überhaupt nicht zu interessieren schien, was um sie herum geschah. Das empfand ich als erschreckend, den es spiegelte unsere Gesellschaft wieder.

Vor mir lag eine Seitenstraße, in die ich einbog. Hier ging es etwas ruhiger zu. Ich suchte mir einen geschützten Platz dicht an der Hauswand und setzte mich, um zu verschnaufen. Dabei bemerkte ich, dass ich meine Pfote leckte und mit dieser über mein Gesicht fuhr.

Als mir das bewusst wurde, überkam mich ein gewaltiger Ekel. Ich hatte soeben den gesamten Straßendreck von meiner Pfote geschlabbert. Dieser saß nun in allen Geschmacksrichtungen auf den Zungenknospen. Angewidert schüttelte ich mich bis in den Schwanz hinein und schleuderte das Ekelgefühl über die letzten Wirbel von der Schwanzspitze.

Rasche Schritte näherten sich. Pfennigabsätze knallten hart auf die Gehwegplatten. Doch etwas anderes mischte sich dazwischen. Es war das Geräusch von Krallen auf Stein. Und dann zog ein widerlicher Gestank in meine Nase. Er brannte und reizte die Schleimhäute. Den Geruch kannte ich. Er war herb und irgendwie feucht. Und dann fiel es mir wieder ein: Nasser Hund! Es roch nach nassem Hund.

Ich sah mich um. Bekanntermaßen vertragen sich Katzen nicht sonderlich gut mit Hunden und umgekehrt. Ich hatte keine Lust, mich vor einem tollwütigen Köter retten zu müssen. Also begab ich mich zur Gehwegmitte und blickte nach links. Doch von hier aus war kein Hund zu sehen. Es war einfach niemand zu sehen, der die Seitenstraße benutzte. Ich hatte einen guten Einblick auf die Hauptstraße. Wie ein entfesselter Fluss bewegten sich die Menschenmassen an der schmalen Straße vorbei. Auch mein Blick nach rechts blieb erfolglos. Etwas weiter hinten liefen zwei Kinder dicht gefolgt von zwei Erwachsenen, offenbar ihren Eltern. Mir wurde klar, dass ich einfach zu weit unten war, um einen richtigen Überblick zu erhalten. Deshalb musste ich mich in die Höhe begeben. Mindestens auf Augenhöhe mit einem Menschen. Die dicht am Bürgersteig parkende Autoreihe bot sich dafür an. Ich überlegte kurz, wie ich auf die Motorhaube käme. Doch plötzlich schaltete sich mein Kopf aus und die Beine übernahmen. Intuitiv machte ich einen gewaltigen Satz und landete geschmeidig auf allen vieren auf der Motorhaube. Das klappte erstaunlich gut. Also traute ich mich, von hier aus auf das Autodach des roten Wagens zu springen. Die Sonne hatte es ein wenig aufgeheizt, aber es war zu ertragen. Das warme Metall unter meinen Pfoten war sogar recht angenehm. Ich blickte mich um und entdeckte die Frau mit ihren Absätzen.

Klack, klack, klack, klack, klack, klack, klack, klack, machte es noch immer. Dass sie eine Leine in der Hand hielt, räumte den letzten Zweifel aus. Sie war es und aus ihrer Richtung kam auch dieser furchtbare Gestank. Von dem Hund gab es aber keine Spur, zumindest nicht auf den ersten Blick. Doch dann ertönte ein bedrohliches Bellen, und ein Knurren setzte ein. Erschrocken schrie ich den Köter an. »Hau ab, verpiss dich!«

Doch alles, was aus meinem Mund heraus kam, waren ein helles zischendes Fauchen und ein tiefes Grummeln, das seinen Ursprung irgendwo unterhalb meiner Kehle hatte. Den Hund interessierten meine Bemühungen nicht. Er sprang den Wagen an und kratzte an dem Lack herum, sodass seine Krallen auf der Fläche quietschten. Ein furchtbar fieses Geräusch, das sich wie Fingernägel auf einer Tafel anhörte. Es war so widerlich, dass es sprichwörtlich Zähne zog.

Sein Frauchen eilte die Arme wedelnd und rufend über die Straße. Doch der blöde Köter interessierte sich nur für mich. Er konnte seinen Blick einfach nicht von mir abwenden. Ich suchte indes irgendeinen Ausweg. Der Hund hüpfte auf seinen Hinterpfoten und versuchte offensichtlich, zu mir aufs Auto zu kommen. Es gelang ihm nicht, was ihn umso wütender machte. Er kläffte und knurrte nicht nur, weißer Schaum bildete sich vor seinem Maul. Die gierigen Augen drohten ihm auszufallen. Sein Frauchen hatte ähnliche Emotionsentgleisungen in ihrem Gesicht.

Sie schnaufte, schimpfte und zischte mir entgegen: »Verschwinde du blödes Vieh.« Und dann zog sie auch noch einen ihrer Stöckelschuhe aus und warf ihn nach mir. Ich duckte mich, um dem Schuh auszuweichen, und verlor den Halt auf dem rutschigen Autodach. In letzter Sekunde versuchte ich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Dana Müller /Ava Garlin
Bildmaterialien: Dana Müller, Nevanthi,
Cover: Dana Müller, pixabay
Lektorat: Lektorat M.D. Schoppenhorst
Tag der Veröffentlichung: 21.02.2019
ISBN: 978-3-7438-9728-1

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