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Pandoras Buch

Eine Kurzgeschichten-Sammlung 

von 

Dana Mülelr

Das Buch der Wünsche

 
Unter Melanies Schuhen knirschte der Kies und die Sonne kitzelte ihre Haut während des Spaziergangs durch den Park. Es war der erste sonnige Tag in diesem Jahr, der die Herrschaft des Winters zu verdrängen vermochte. Fast hatten sie die tristen Wintermonate vergessen lassen, wie gut die Sonnenstrahlen taten. Heute nahm sie die Ankunft des Frühlings besonders wahr. Die Luft hatte sich verändert und die Frische kribbelte in Melanies Nase. All ihre Sinne wurden angeregt. Sie genoss das Gefühl der alljährlichen Wiedergeburt.

Eine Parkbank lud zum Verweilen ein. Melanie hielt auf die Sitzgelegenheit zu. Mit einem Seufzer setzte sie sich und ließ ihre Gedanken schweifen. Es war nicht zu übersehen: Der Park erwachte zum Leben, wo auch immer sie hinsah, ihr Blick erfasste Regung.

Melanie streckte ihre Beine aus. Sie blickte sich um und bemerkte ein Buch, das verlassen auf dem Rand der Bank lag. Sie reckte den Hals nach allen Seiten auf der Suche nach dem Besitzer. Nach jemandem, der aussah, als suche er etwas. Doch sie konnte niemanden entdecken. Alle Parkbesucher genossen offensichtlich diese herbeigesehnten Sonnenstunden.

Sie nahm das Buch und legte es auf ihren Schoß. Es war schwer, von einem seltenen Format und in weichem, braunen Leder eingebunden. Sie wagte kaum, es zu öffnen. Zögerlich hob sie den Buchdeckel und blätterte darin. Die Seiten waren leer. Offensichtlich war es ein Notizbuch, ein sehr wertvolles Notizbuch. Gerade, als sie es schließen wollte, bemerkte sie eine verspielte, geschwungene Schreibschrift auf der ersten Seite:

Ich bin das Tor zu Deinen Wünschen. Schreibe sie nieder und siehe, was geschieht.

Melanie klappte das Buch zu und überlegte, ob sie nicht einem gemeinen Scherz aufsaß. Vielleicht beobachtete sie jemand, nur um aus seinem Versteck aufzuspringen und sie bloßzustellen, wenn sie es mit sich nahm. Deshalb legte sie die Jacke über ihren Schoß, auf dem das Buch lag. Sicherheitshalber blieb Melanie noch eine Weile sitzen. Die Sonne wanderte in dieser Zeit ein kleines Stück und die Parkbesucher kamen und gingen. Sie schaute sich in alle Richtungen um und stand auf. Schnellen Schrittes steuerte sie auf den Parkausgang zu und stieg in den nächsten Bus, der an der Haltestelle gegenüber hielt. Melanie fuhr einige Stationen mit. Immer wieder schaute sie sich um, ob ihr jemand folgte. Straße um Straße rannte sie, ging und blieb gelegentlich stehen, um zu verschnaufen.

Nicht mehr weit, sagte sie sich stets. Ist nur ein Notizbuch. Du hast es nicht geklaut, nur sichergestellt.

Wie James Bond eilte sie, in Begleitung eines Schulterblicks den Treppenaufgang zu ihrer Wohnung hinauf. Mit zittriger Hand, teils durch die Anstrengung, teils durch ihr schlechtes Gewissen, das Buch mitgenommen zu haben, schloss sie die Haustür auf und schlängelte sich durch einen schmalen Spalt, um sie dann von innen mit einem Knall zufallen zu lassen. Das Herz trommelte wild gegen ihr Brustbein, sie atmete flach. Einige Minuten blieb sie mit dem Rücken an der Tür gelehnt stehen, während sie das Buch mit beiden Händen fest umklammerte. Erst als sich ihre Atmung verlangsamt und ihr Herz seinen Rhythmus wiedererlangt hatte, setzte sie sich an den Schreibtisch, legte das Buch vor sich hin und öffnete es.

»Wollen wir mal sehen, ob du Wort hältst«, flüsterte sie. Melanie nahm einen Kugelschreiber aus der Stiftebox und klickte ihn mehrmals. Das Klicken half ihr beim Nachdenken.

Ich wünsche mir eine blaue Vase, schrieb sie und wartete. Und wartete. Nichts. Keine blaue Vase. Enttäuscht schlug sie das Buch zu und stöhnte: »Ich bin so naiv. Wie konnte ich nur auf so was reinfallen. Irgendjemand sitzt bestimmt immer noch im Park und kommt aus dem Lachen gar nicht mehr raus.« Kopfschüttelnd stand sie auf und ging zum Fenster, um es zu öffnen. Und dann traute sie ihren Augen nicht. Auf der Kommode neben dem Fenster stand eine blaue Vase. Das Seltsame daran war, dass sie gar keine blaue Vase besaß. Um sicherzugehen, führte sie weitere Versuche durch. Sie wünschte sich gekringelte Socken, gerade Bananen, eine Rose, ein Dutzend Rosen und einen lila Apfel. Immer wieder hatte Melanie sich in den Arm gekniffen, um sicherzustellen, dass sie nicht träumte. Es funktionierte und das veränderte alles. Sie musste genau überlegen, was sie sich wünschte. Um den Kopf frei zu bekommen, schaltete sie den Fernseher ein.

»So ein Potenzial. Was fang ich mit dir nur an? Denk nach Mel, denk nach.«

Aus dem Fernseher ertönten die gewohnten Schreckensnachrichten. Von Flutopfern war die Rede, von hungernden Kindern und Sachschäden. Melanie ertrug die Not nicht. Wie gerne hätte sie geholfen, die Not gelindert. Aber was konnte sie schon ausrichten? Sie schnappte sich die Fernbedienung und zappte durch die Kanäle, bis ihr einfiel: »Das Buch! Ich kann euch allen helfen.«

Sie öffnete voller Vorfreude ihren Fund und begann zu schreiben.

Ich wünsche mir genug Essen für die Flutopfer. Ich wünsche mir, dass jeder, der kein Dach über dem Kopf hat, ein wunderschönes Haus besitzt und ich wünsche mir, dass alle Opfer schöne Kleidung besitzen…

Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sich Melanie wie eine gute Fee. Sie schrieb und schrieb und legte den Stift erst beiseite, als sie den Eindruck hatte, niemanden vergessen zu haben. Selbst der verarmten Frau von gegenüber hatte sie das verrostete Fahrrad in ein nagelneues verwandelt. Nur sich selbst hatte sie noch keinen persönlichen Wunsch erfüllt. Sie wusste nicht, ob ihr Wunsch sich so einfach herbeizaubern ließe. Melanie war nicht durch materielle Güter glücklich zu machen. Bei ihr war es etwas komplizierter. Sie wünschte sich, geliebt zu werden. Nicht von irgendjemandem. Nein. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als die Liebe ihres Nachbarn. Seit fünf Jahren wohnten sie nun Tür an Tür und das einzige Wort, das sie miteinander gewechselt hatten, war Hallo. Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr. So konnte das nicht weitergehen. Melanie haderte mit sich selbst. Doch letztendlich war ihr Herz stärker als die Moral und so notierte sie ihren Wunsch.

Erwartungsvoll suchte sie nach einem Nachrichtensender. Eine warme Glückseligkeit erfüllte sie, als sie die Liveübertragung der Flutopfer sah. Während sie vor einigen Minuten noch vor den Ruinen ihrer Existenzen gestanden hatten, glaubten sie nun an ein Wunder. Nicht eine Spur von Verwüstung. Als hätte es sie nie gegeben. Sie schaltete den Fernseher aus und griff nach dem Telefon, um ihre Freundin anzurufen. Schnell legte sie es bei Seite. Sollte sie mit Maya darüber reden? Sie war materialistischer als Melanie. Nie hätte Maya das Buch für andere eingesetzt. Wenn sie davon erfahren würde, neigte sie möglicherweise zu unüberlegten Handlungen. Nein. Es musste ein Geheimnis bleiben. Melanies Geheimnis. Sie war zum Samariter geboren.

Die Türklingel holte Melanie unsanft aus ihren Gedanken.

»Oh Gott, wer ist das denn?«

Sie suchte hastig das Zimmer nach einem geeigneten Versteck ab.

»Du musst verschwinden. Wohin nur?« Melanie schob das Buch in ihre Tasche. Es klingelte erneut. Schnell verfrachtete sie die Tasche unter die Couch und eilte zur Tür. Die Hand an der Klinke atmete sie noch einmal tief durch und öffnete die Tür nur einen schmalen Spalt. Da stand er, der Mann ihrer Träume.

»Hey. Entschuldige, dass ich dich so überfalle. In den Nachrichten läuft so eine schräge Sache, und mein Fernseher ist hin. Kurz gesagt, kann ich mir das bei dir ansehen? Du hast doch einen?« Melanie bekam keinen Ton heraus. Wie oft hatte sie sich ausgemalt, wie er vor ihrer Tür stünde. Sie wollte es so sehr. Und jetzt, jetzt bekam sie weiche Knie.

»Ja, klar. Komm rein«, sagte sie unsicher.

»Cool. Ich bin Jan.«

Ja, ich weiß, dachte sie. Ich habe deinen Namen schon gehört, als du mit deinen Freunden im Hausflur geredet hast. Du hast mich nicht bemerkt, weil ich mich hinter meiner Tür ganz ruhig verhalten habe, um nicht auszufallen, dachte sie weiter und beinahe hätten sich die Gedanken selbständig über ihre Lippen geschlichen. Stattdessen sagte sie: »Melanie. Ich, ähm…, der Fernseher läuft schon.«

Jan setzte sich und winkte Melanie zu sich heran. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie befürchtete, er könnte ihre Aufregung hören. Den ganzen Abend lief auf allen Sendern dasselbe. Keine Hiobsbotschaften, keine Gewalt, kein Hunger, keine Katastrophen. Es liefen die besten Nachrichten aller Zeiten, fast zu schön, um wahr zu sein. Melanie kniff sich wieder, nur um ganz sicher zu gehen, dass sie nicht träumte. Es war tatsächlich real.

Melanie und Jan verbrachten einen schönen Abend. Sie redeten, aßen, diskutierten über die aktuellen Geschehnisse und küssten sich. Ja, sie küssten sich. Melanies Glück schien komplett. Jan wich nicht von ihrer Seite. Die nächsten Tage verbrachten sie gemeinsam, ebenso die Nächte. Lange Spaziergänge wechselten mit romantischen Stunden einsamer Zweisamkeit. Das Buch war in den Hintergrund geraten und lag immer noch unter der Couch, bis …

Ja, bis Melanie auf der Kommode, wo die blaue Vase stehen sollte, eine schwarze zähflüssige Masse entdeckte. Ein widerlicher Gestank ging von ihr aus. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und eilte zum Fenster, um es zu öffnen. Melanie glaubte nicht, was sie sah. Das Zeug war überall. Die Straße war damit überzogen, einer Frau rann es von den Haaren die Schultern hinunter. Ein Mann lehnte am Baum. Ihm quoll die Pampe aus dem Mund. Melanie schloss das Fenster und drückte auf der Fernbedienung rum.

Was vor sechs Tagen noch als Wunder gepriesen wurde, hat heute in den frühen Morgenstunden sein wahres Gesicht offenbart. Sie schaltete weiter. Die Welt versinkt in stinkendem Brei… Sie zog den Stecker.

»Nein. Nein. Nein. Das darf nicht wahr sein. Was habe ich nur getan.«

Melanies Körper bebte. Sie spürte ihr Herz rasen und gleichzeitig stehenbleiben. Das Zimmer begann sich zu drehen und dann schossen ihr die Tränen in die Augen und rannen unaufhaltsam über die Wangen. Sie schluchzte.

Jan kam zur Tür herein und ließ die Papiertüte mit warmen Brötchen fallen. Er nahm sie in den Arm, versuchte sie zu beruhigen. Doch Melanie war nicht ansprechbar. Er packte ihre Schultern und schüttelte sie. Melanie reagierte nicht. Schließlich holte er aus und seine Handfläche traf ihre Wange mit einer Wucht, dass sie zur Seite gefallen wäre, hätte er sie nicht gehalten. Sie blinzelte ihn an, warf ihr Gesicht in seine Brust und umklammerte ihn. Jan versuchte sich sanft aus ihrem Griff zu lösen, doch Melanie gab nicht nach.

»Verdammt noch mal, was ist los?« Er schüttelte sie, als würde eine Antwort aus ihr rausfallen.

Sie sah ihn durch verquollene Augenlider an.

»Das … ist alles … meine Schuld«, wieder begann sie zu schluchzen.

»Was? Was ist deine Schuld? Was meinst du? Melanie!«

Melanie streckte ihren Arm aus und zeigte zur Pampe auf der Kommode.

»Was, hier auch? Verdammt, was ist das? Draußen ist das auch überall.«

»Das…, das ist…, es ist das Buch«, jammerte Melanie.

»Was für ein Buch? Melanie, was ist hier los?«

Wortlos ging sie zur Couch und zog die Tasche hervor. Sie hielt ihm die Tasche hin. Jan öffnete sie und holte das Buch hervor. »Was ist das?« Er blätterte darin. Die Seiten waren leer. Leer, bis auf die erste Seite.

»Da steht doch gar nichts drin. Doch warte mal. Ich bin das Tor zu Deinen Wünschen. Schreibe sie nieder und siehe, was geschieht«, zitierte er.

Melanie sprang auf und riss ihm das Buch aus der Hand. All die Wünsche, die sie geschrieben hatte. Alles weg, als hätte es sie nie gegeben.

»Wo sind sie?« Sie blätterte wild und suchte nach ihren Einträgen. Die Wünsche waren verschwunden. Doch statt ihrer geschriebenen Worte fand sie auf der letzten Seite fünf große Buchstaben, die wirkten, als wären sie wahllos hingeworfen. Die waren ihr vorher nicht aufgefallen. Sie starrte auf den Buchstabenhaufen und versuchte, eine Verbindung zwischen ihnen zu entdecken. Irgendetwas, das Sinn ergab. Plötzlich begannen sich die Zeichen zu bewegen und fügten sich in eine Reihe: SATAN.

Mit stockendem Atem, von Hysterie gepackt, riss sie die Seiten aus und warf ein angezündetes Streichholz in den Papierhaufen.

»Bist du verrückt?« Jan warf eine Decke auf das Feuer und klopfte es aus.

»Willst du das Haus abfackeln? Beruhig dich mal!« Er sammelte die verkohlten Überreste des Buches auf und stopfte sie in einen Topf. »Wo ist dein Telefon?«

»Auf dem Schreibtisch«, antwortete sie.

»Ich werde mal rumtelefonieren, vielleicht weiß ja jemand, was hier los ist. Ich meine, die Pampe ist ja wohl

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Dana Müller
Bildmaterialien: Dana Müller / pixabay.com
Cover: Dana Müller
Lektorat: A.Müller
Korrektorat: A. Müller, R. Schwartz
Tag der Veröffentlichung: 14.08.2016
ISBN: 978-3-7396-6907-6

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Die Geschichten basieren auf der Fantasie der Autorin und sind frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Handlungen sind rein zufällig und nicht gewollt. Jegliche Vervielfältigung ist untersagt und wird strafrechtlich verfolgt.

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