Ein Roman
von
Dana Müller
Mein Blick wanderte aufgeregt zur Uhr. Nur noch zwei Minuten, dann war es endlich so weit. Mr. Bakers Stimme drang nur noch gedämpft an mein Ohr, denn meine Gedanken waren schon längst bei Jasper. Vermutlich quälte er sich ebenso wie ich durch die letzten Minuten, bis wir uns endlich in die Arme fallen konnten. Meine Tischnachbarin Chloe rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum.
»Dass er aber auch immer auf die Sekunde genau Schluss machen muss«, flüsterte sie mir zu.
»Bevor ich euch in die Ferien entlasse, möchte ich ein Lob aussprechen«, sagte Mr. Baker und ließ seinen Blick über unsere Köpfe hinweggleiten. Schließlich hielt er inne. »Rachel Harper, ein tolles Jahr, kaum zu übertreffen. Weiter so, Miss Harper.«
»Oh Gott, mir wird schlecht. Was ist das zwischen denen? Steigt die mit ihm etwa ins Bett? Bestimmt treiben die es im Lehrerzimmer«, beschwerte sich Chloe.
Ich nickte und verdrehte die Augen. »Ekelhafte Vorstellung. Der hat wohl kein Leben außerhalb dieser Mauern, da leidet die Männlichkeit schon mal«, erwiderte ich leise und dachte bei mir, dass damit wohl seine Blässe zu erklären wäre.
Aber leider war ich nicht leise genug, denn einige Köpfe drehten sich zu uns um. Mr. Baker trug dieses typische Lehrersacko mit ovalen Aufnähern an den Ellenbogen. Er zog die Drahtbrille tief auf die Nase und blickte mich über die Gläser hinweg streng an. Doch ehe er mir eine Standpauke über Respekt den Lehrern gegenüber halten konnte, schellte auch schon die Schulglocke und die Klasse setzte sich in Bewegung. Einige räumten noch ihre Sachen in gewohnter Trägheit ein, während andere bereits fluchtartig aus dem Klassenzimmer eilten. Ich gehörte zu denen, die es eilig hatten, und war froh, dass mich Mr. Baker nicht aufhielt.
Ich stürmte auf den Flur und wurde von Chloe abgefangen. Wie aus dem Nichts lief sie plötzlich neben mir.
»Und? Heute ist wohl der Tag aller Tage?«
Ich mochte sie, aber manchmal konnte sie ziemlich aufdringlich sein. Ihre helle Stimme gab mir in solchen Momenten den Rest.
»Ja«, erwiderte ich knapp und hoffte, sie würde es dabei belassen.
Fehlanzeige. Sie stellte sich vor mich und versperrte mir den Weg.
»Bist du aufgeregt?«, wollte sie wissen.
Lächerlich, als würde man das nicht sehen. »Ein bisschen«, antwortet ich und schob sie beiseite, aber Chloe ließ sich nicht abwimmeln. Erneut versperrte sie mir den Weg zu Jasper, den ich am anderen Ende des Flurs entdeckte. Mein Herz machte einen Freudenhüpfer und die Schmetterlinge in meinem Bauch flatterten wild herum.
»Hast du mal daran gedacht, was du machst, wenn dein Dad ihn nicht ausstehen kann?« Während sie mir mit ihren Worten einen Stich ins Herz jagte und die Schmetterlinge vertrieb, band sie entspannt ihr schulterlanges, braunes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen.
Ich starrte in ihre tiefblauen Augen und wusste keine Antwort darauf. Darüber hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht. Andererseits, warum sollte Dad ihn nicht mögen?
»Wenn er Jasper sieht, wird er ihn schon mögen«, antwortete ich und schob sie zum wiederholten Mal beiseite.
»Sei dir da mal nicht so sicher«, rief sie mir hinterher, aber ich reagierte nicht mehr auf sie und eilte Jasper entgegen.
Er schenkte mir ein sanftes Lächeln, als unsere Blicke sich trafen, und wirbelte die Schmetterlinge wieder auf.
Seit acht Wochen gingen wir nun schon miteinander, und jedes Mal, wenn wir uns sahen, war es wie am ersten Tag. Er nahm meine Hand und begrüßte mich mit einem Kuss, der mich erst vollständig machte.
»Baker hat wohl wieder jede Sekunde ausgekostet«, scherzte er und ich verdrehte die Augen.
»Du sagst es. Manchmal denke ich, der wohnt hier irgendwo im Schulgebäude. Ein bisschen tut er mir ja leid«, erwiderte ich.
»Warum das denn?«
»Naja, er muss ziemlich einsam sein, dass er krampfhaft die Gesellschaft seiner Schüler auskostet.«
Jasper lachte und ich liebte sein Lachen, ich liebte sein dunkelblondes, lockiges Haar und die wasserblauen Augen. Ich liebte seine kleinen Ohrmuscheln und die feine Nase. Und ich liebte es, wie er mich liebte. Er tat es auf eine sanfte und zugleich unumstößliche Art.
»Ich wette, er hatte wieder einmal seine Freude an dir«, meinte er, hielt einen Moment inne und äffte Mr. Baker nach. »Miss Wayne, ich muss doch sehr bitten. Ein wenig Respekt den Lehrkräften gegenüber ist wirklich nicht zu viel verlangt.«
Nun war ich es, die ihr Lachen nicht unterdrücken konnte.
»Das kannst du aber gut, warst du im vorherigen Leben vielleicht mal Lehrer?«, scherzte ich, aber er schien das gar nicht lustig zu finden und verstummte.
»Was ist? Hab ich was Falsches gesagt?«
»Nein. Nein, alles in Ordnung, ich hab nur gerade an die Schlachtbank gedacht, zu der du mich heute verdammt hast«, erwiderte er.
»Komm, so schlimm wird das schon nicht. Ich hab den besten und verständnisvollsten Dad auf der Welt. Er wird dich schon mögen«, erwiderte ich und ärgerte mich insgeheim darüber, dass er nun auch so anfing, wie Chloe.
»Vielleicht sollten wir damit noch warten«, sagte er, als wir aus dem Gebäude traten.
Abrupt blieb ich stehen. »Auf keinen Fall. Ich hab genug von dem Versteckspiel. Es nervt langsam, ihn immer wieder anzulügen. Er glaubt, ich fahre mit Chloe zur Schule und zurück. Er fragt schon die ganze Zeit, warum sie denn nicht mit reinkommt und er ihren Wagen nirgends sehen kann. Langsam gehen mir die Ausreden aus«, klärte ich ihn auf und schmiegte mich an seinen Körper. »Ich will dich der ganzen Welt zeigen. Ich will mich auf den höchsten Gipfel stellen und es herausbrüllen: Ich gehe mit Jasper Grey und wir lieben uns.«
Er legte seine Arme um meinen Rücken und zog mich fester an sich heran, um mich zu küssen.
Vom Parkplatz her ertönte Beifall. So waren sie nun mal, Jaspers Freunde. Sie nutzten jede sich bietende Gelegenheit zum Feiern. Ein ausgelassenes Grüppchen, aber aus einigen von ihnen wurde ich einfach nicht schlau. Liam beispielsweise. Seit Jasper mit mir zusammen war, ging Liam uns weitestgehend aus dem Weg. Er grüßte zwar, aber irgendetwas beschäftigte ihn und er beließ es bei einem knappen Hallo. Anfangs dachte ich, er sei eifersüchtig. Aber er hatte selbst eine Freundin. Ausgerechnet Rachel Harper hatte ihn sich gekrallt und sich damit in Jaspers Freundeskreis gedrängt, der nun auch meiner war. Die anderen machten den Eindruck, als freuten sie sich für uns. Einige von ihnen so sehr, dass es manchmal peinlich war. So, wie jetzt. Ich hätte auf den Beifall gerne verzichtet und ein bisschen Privatsphäre mit Jasper genossen. Wahrscheinlich war das Schulgelände einfach der falsche Ort für Diskretion.
»Dann fahren wir heute also vor und ich halte direkt vor eurem Haus?«, schlussfolgerte er und ich freute mich über sein Verständnis.
»Er wird dich lieben, du wirst sehen«, erwiderte ich, während wir zum Auto gingen.
Der alte Dodge hatte bestimmt schon bessere Zeiten gesehen, aber er tat, was ein Auto tun musste. Er brachte uns von einem Ort zum anderen.
Die ganze Fahrt über schwieg er, was sehr ungewöhnlich war. Aber ich störte ihn nicht. Wahrscheinlich bereitete er sich seelisch auf das Zusammentreffen mit meinem Dad vor. An der Kreuzung unterhalb meiner Straße hielt er an.
»Noch kannst du es dir überlegen«, sagte er und sah mich eindringlich an.
Ich schüttelte den Kopf. »Jetzt oder nie«, erwiderte ich.
»Vielleicht wäre nie die bessere Alternative. Du hast es so gewollt«, antwortete er und trat aufs Gas.
»Du tust gerade so, als würde dich mein Dad fressen. Würdest du ihn kennen, hättest du nicht solchen Schiss vor ihm«, sagte ich und war angesichts seiner Weigerung ein bisschen eingeschnappt.
»Ich hab keinen Schiss. Ich will nur keine schlafenden Hunde wecken«, erwiderte er schroff und fuhr rechts ran, als mein Zuhause neben uns auftauchte.
Jetzt regte sich auch mein Bauchgefühl, das mich offensichtlich daran hindern wollte, auszusteigen. Mein Herz pochte vor Aufregung und meine Knie verwandelten sich in Pudding. Trotzdem öffnete ich etwas unbeholfen die Beifahrertür und stieg aus. Jasper ging um den Wagen herum und nahm meine Hand.
»Sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt«, sagte er.
Er sah richtig niedlich aus, wenn er sich Sorgen machte. Zwischen seinen geraden Brauen bildete sich eine feine Furche und seine Augen bekamen diesen verführerischen Schlafzimmerblick.
Ich atmete tief durch und schritt voran, während er dicht hinter mir blieb. Vorsichtig öffnete ich das weiße Gartentor und hoffte, Dad würde nicht zufällig einen Blick aus dem Fenster werfen. Ich wollte ihn unvorbereitet antreffen. Also führte ich Jasper leise an dem Anbau vorbei zur Haustür und wandte mich ihm zu.
»Ganz egal, wie du ankommst, ich werde dich immer lieben und niemand kann sich zwischen uns stellen«, versuchte ich ihm die Angst zu nehmen und versiegelte meine Worte mit einem Kuss, den er sanft erwiderte.
In meiner Tasche ertastete ich die kleine gehäkelte Eule, die an meinem Schlüsselbund befestigt war und mich jeden Tag an Mom erinnerte. Sie hatte sie mir kurz vor dem Unfall gehäkelt, weil ich meinen Schlüssel verlegt hatte und wir Stunden damit verbrachten, nach ihm zu suchen. Meine Kindheit war vollkommen ausgelöscht, denn seit dem Unfall litt ich an Amnesie. Ich konnte mich ja kaum noch an ihr Gesicht erinnern und am schlimmsten waren die Momente, in denen sich andere über ihre Mütter aufregten. Ich schlich mich dann immer fort. Kurz ordnete ich meine Gedanken und schob den Schlüssel entschlossen ins Schloss. Mein Herz schlug heftig gegen die Brust und ich drückte Jaspers Hand fest.
Dad saß in seinem Fernsehsessel und verfolgte das Baseball-Spiel. Sein lockiges Haar ragte über die Lehne. Mom hatte mal gesagt, ein Mädchen würde sich oft in einen Jungen verlieben, der ihrem Dad ähnelte. So genau war mir das noch nie aufgefallen, aber auf eine unheimliche Art behielt sie Recht. Beide hatten dieselbe Haarfarbe. Beide hatten Locken, nur Dads Haar war insgesamt länger als Jaspers. Sie hatten eine ähnlich muskulöse Statur und Jasper war einen Kopf größer, als ich, genau wie Dad. Nur die Augenfarbe hatten sie nicht gemeinsam. Aber ich fand Jaspers Wasserblau viel schöner als Dads Braun.
Dad war ein großer Fan der Boston Red Sox und vertieft genug, nicht zu bemerken, dass ich Besuch mitgebracht hatte. Leise schloss ich die Tür hinter uns und räusperte mich.
»Hallo Engel. Hast du Hunger?«, fragte er beiläufig, während seine Augen am Fernseher klebten.
»Ähm, Dad«, sagte ich und machte eine kurze Pause. Er reagierte nicht. »Könntest du vielleicht fünf Minuten deiner kostbaren Zeit opfern?«, versuchte ich es erneut.
»Was?«
»Dad, ich möchte dir gerne jemanden vorstellen.« Das hatte genau die erwünschte Wirkung und er schaltete die Flimmerkiste aus.
Sein Blick glitt an mir vorbei zu Jasper. In Dads Gesicht spielte sich etwas ab, das ich überhaupt nicht einordnen konnte. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen und er presste die Lippen aufeinander. Was machte ihn nur so wütend? Dann stand er langsam aus seinem Sessel auf, während sein Blick zu mir wanderte.
So kannte ich ihn nicht. Noch nie hatte er so auf meine Freunde reagiert. Er schuldete mir eine Erklärung, aber erst, wenn wir alleine wären.
»Dad, das ist Jasper«, sagte ich mit gespielter Freude. »Jasper, mein Dad. Der liebevollste und verständnisvollste Dad der Welt«, ergänzte ich und hoffte, meine Worte würden ihn aus seiner unbegründeten, doch offensichtlichen Wut holen.
»Freut mich, Mr. Wayne«, sagte Jasper leise.
Dad nickte. »Ist das was Ernstes mit euch?«
Was sollte diese Frage? Dachte mein eigener Vater von mir, ich wäre eine von den Zicken, die jede Woche einen anderen haben?
»Selbstverständlich, Mr. Wayne«, erwiderte Jasper.
Ich fühlte mich verraten. Zwischen Dad und dem Mann, dem mein Herz gehörte, war die Eiszeit ausgebrochen. Ich verstand nur nicht, was der Auslöser gewesen war.
»Wir werden dann mal in mein Zimmer gehen«, sprengte ich die Situation, aber Dad fiel mir ins Wort.
»Das wirst du nicht«, sagte er schroff.
Ich verstummte. Das war nicht der Mann, von dem ich mich heute früh verabschiedet hatte.
»Was ist denn los? Hattest du einen schlechten Tag?«, wollte ich wissen, während Jasper betreten zu Boden sah und wirkte, als wolle er sich am liebsten in Luft auflösen.
»Mein Tag war gut, bis eben«, erwiderte er, legte die Fernbedienung auf den Tisch und kam auf uns zu. »Wie war noch mal dein Name, Junge?«
Junge? Warum machte er das?
»Jasper, Sir. Jasper Grey«, antwortete er respektvoll.
»Grey«, wiederholte Dad und ging einen Moment in sich. »Jasper Grey, ich halte es für besser, wenn du jetzt gehst«, sagte er unvermittelt und packte Jasper unsanft am Arm, um ihn aus der Tür zu schieben.
»Dad! Lass ihn los«, schrie ich ihn an, aber er hatte eine Mauer um sich gebaut, die nichts durchdrang, nicht einmal meine Stimme.
Jasper wehrte sich nicht. Mit gesenktem Blick ließ er sich aus dem Haus werfen und richtete vor der Tür seine Lederjacke. Mein Blick folgte ihm, bis ich mich auf dem Absatz zu meinem Vater drehte, um ihm den Kopf abzureißen.
»Verdammt, Dad. Kannst du mir das Mal erklären? Was sollte das?«
»Das verstehst du nicht. Ich will nicht, dass du diesen Jungen noch mal wiedersiehst«, sagte er mit unumstößlicher Bestimmtheit und sah mir dabei tief in die Augen, als wolle er meine Seele einschüchtern.
»Das kommt überhaupt nicht infrage«, erwiderte ich trotzig und rannte Jasper hinterher.
Die Rufe meines Vaters hallten mir nach, aber ich überhörte sie geflissentlich und eilte zu Jasper. Dieser war gerade im Begriff, die Fahrertür zu öffnen, als er mich bemerkte.
»Da hast du es. Ich hab dich gewarnt«, sagte er mit Tränen in der Stimme, die er zu unterdrücken versuchte. Um mein Herz schloss sich eine Klaue.
»Was war da gerade los?«, verlangte ich nach einer Erklärung.
»Was weiß denn ich? Keine Ahnung. Frag deinen Dad«, erwiderte er schroff und öffnete die Fahrertür. Nun drückte die Klaue fester zu.
»Jasper, bitte.« Die Welt stand still und ich wusste, wenn sie sich wieder drehen würde, läge mein Leben in Trümmern.
Er hielt inne, drückte die Tür wieder zu und näherte sich mir. Dann legte er die Arme auf meine Schultern und blickte mir in die Augen. »Vielleicht ist er einfach nur mit dem linken Fuß aufgestanden. Ich würde es verstehen, wenn du mich jetzt aus deinem Leben verbannen willst.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das will ich nicht. Ich will dich nicht verlieren.«
Er musterte mich, dann huschte ein seichtes Lächeln über sein Gesicht. Dann ist ja gut«, sagte er und küsste mich sanft. Die Welt begann sich wieder zu drehen und die Klaue lockerte sich ein wenig.
»Du solltest lieber wieder reingehen. Ich will nicht, dass du Ärger bekommst«, wisperte er und hielt mich noch immer fest.
»Nein, ich will nicht nach Hause. Lass und irgendwo hinfahren. Ich brauche ein bisschen Abstand«, erwiderte ich und entlockte ihm ein weiteres Lächeln, dieses war sanfter und schenkte mir die Zuversicht, dass Dads Ausfall nichts zwischen uns zerstört hatte.
»Ich wäre beruhigter, wenn du ihn nicht noch mehr reizt.«
Na klasse, er wollte mich nicht bei sich haben. Das hatte mein Vater ja gut hinbekommen. »Ich wäre aber lieber bei dir«, machte ich unmissverständlich deutlich, aber Jasper blieb stur.
»Wir sehen uns morgen früh. Es ist besser, wenn ich wieder unten an der Kreuzung warte.« Mit einem feuchten Kuss besiegelte er seine Worte und gab mich aus seiner Umarmung frei. »Ich liebe dich und daran ändert dein Dad nichts«, verdeutlichte er und stieg ein.
»Ich liebe dich auch«, erwiderte ich und wartete, dass er losfuhr. Wie gerne säße ich jetzt neben ihm.
»Daran ändert niemand was«, rief er aus dem offenen Fenster und gab Gas.
Wehmütig blickte ich ihm noch so lange hinterher, bis er an der Ecke einbog. Erst dann machte ich mich auf den Weg ins Haus.
Ich traute meinen Augen nicht, als ich das Haus betrat. Dad wirbelte herum und stopfte einige im Vorbeigehen wahllos gegriffene Gegenstände in eine leere Kiste.
»Was machst du da?«
»Pack deine Sachen, wir verschwinden hier«, erwiderte er mit monotoner Stimme und mied den Blickkontakt zu mir.
Mir fehlten die Worte. Ich wollte nicht weg von hier. Das würde bedeuten, dass ich Jasper nicht wiedersehen würde. Außerdem sah ich überhaupt keine Veranlassung dazu.
»Nein, ich bleibe hier. Und außerdem habe ich morgen Schule«, erwiderte ich etwas lauter, als gewollt, was zur Folge hatte, dass er zu mir aufblickte. »Nein Dad, hörst du? Nein!«, warf ich ihm erneut entgegen.
Er legte die Bücher und einige Kerzen, die er im Arm hielt, in der Kiste ab und näherte sich mir. »Misty, wir haben keine Wahl«, sagte er leise und fasste meine Schultern an.
Ich schüttelte seine Hände ab. »Wovon redest du da?« Ich war außer mir. Er hatte nicht nur Jasper vergrault, sondern war gerade im Begriff, mein Leben zu zerstören.
»Misty, ich wurde versetzt. Wir müssen nach Utah. Das verstehst du doch?«, wollte er mir weiß machen, aber ich glaubte ihm kein einziges Wort.
»Manchmal glaube ich, dass deine dubiose Arbeit immer nur ein Vorwand war, die Zelte abzubrechen. Wie oft sind wir seit Moms Unfall umgezogen? Zwei Mal, drei Mal? Dad, drei Mal innerhalb von achtzehn Monaten. Das ist nicht normal. Und warum nimmst du mich nie mit zu deiner Arbeit? Warum nicht, Dad?« Ich schrie, ich tobte und in meinem Kopf setzten sich die losen Teile wie ein Puzzle zusammen.
»Du weißt, dass ich das nicht kann«, erwiderte er und wandte sich wieder der Kiste zu, in die er den kleinen Bilderrahmen mit Moms Foto legte.
»Was ist das für eine dumme Arbeit, von der du nicht einmal deiner eigenen Tochter erzählen kannst? Bist du kriminell?«, schoss es über meine Lippen. Erst, als sich die Worte in meinem Kopf wiederholten, begriff ich ihren Sinn. »Oh mein Gott«, rief ich aus und beobachtete ihn. Er hatte gar nicht darauf reagiert, sich nicht verteidigt und auch sonst nichts zu meiner Vermutung gesagt. »Das ist es? Wir ziehen nicht um, weil du versetzt wurdest, wir fliehen. Wir fliehen vor der Polizei, weil du irgendein krummes Ding gedreht hast«, schlussfolgerte ich.
Er schien bewegt, setzte sich in den Sessel, beugte sich vor und rieb zwischen zwei Fingern seinen Nasenrücken.
»Du liegst falsch. Ich bin kein Gangster. Ich kann mit dir nicht darüber reden«, sagte er und seufzte.
Wenn er kein Gangster war und ich trotzdem nicht wissen durfte, womit er uns über Wasser hielt, konnte das nur eins bedeuten. »Du arbeitest für die Regierung.«
Schweigend drückte er sich aus seinem Sessel auf und verschloss die Kiste.
»Geheimdienst?«, bohrte ich weiter, aber Dad reagierte nicht mehr auf mich. »Dad! Das ist kein Leben. Ich kann nicht einmal Freundschaften knüpfen, da brechen wir schon wieder alles ab und ziehen weiter, wie Zigeuner. Ich will nicht so weitermachen.«
Unvermittelt setzte ein leichtes Erdbeben ein und erschütterte das Haus. Er starrte mich für einen winzigen Augenblick an. In seinem Gesicht spiegelte sich die Überraschung wider. »Unter den Tisch«, rief er mir zu.
Bücher stürzten aus den Regalen und ich krabbelte schnell unter die schwere Tischplatte im Wohnzimmer, während sich Dad schützend vor den Fernseher stellte.
Ein weiteres Beben setzte ein, rüttelte das Haus durch und warf die Porzellanvase am Fenster um. Diese ging berstend zu Boden. Einige Alarmanlagen der naheparkenden Autos sprangen an und Fensterscheiben gingen zu Bruch. Genauso plötzlich, wie das Beben gekommen war, verschwand es auch wieder. Ich blieb einige Minuten länger unter dem Tisch, bis auch Dad Entwarnung gab und ins Freie eilte. Ich folgte ihm.
»Wo kam das denn her?«, sagte ich eher zu mir selbst, als dass ich eine Antwort von ihm erwartet hätte.
»Es hat begonnen«, murmelte er und eilte zurück ins Haus, ich folgte ihm. Er rannte die Treppe hinauf, dabei übersprang er einige Stufen. Was war nur los? Ich versuchte, mit ihm Schritt zu halten, was gar nicht so einfach war. Schließlich zog er die Leiter zum Dachboden herunter.
»Dad! Was zum Teufel ist hier los?« Es nutzte nichts. Ganz egal, ob ich ihn anschrie oder nicht, er nahm mich überhaupt nicht mehr wahr. Stattdessen eilte er wie besessen hinauf und polterte über den Dachboden. Vorsichtig stieg ich ebenfalls die Leiter nach oben. Er hatte die alte Truhe geöffnet, in der er die Erinnerungstücke an Mom aufbewahrte. Ein dickes Schloss schützte sie für gewöhnlich vor neugierigen Blicken, vor meinen Blicken, wenn man es genau nahm. Nun stand sie offen und er holte einige zusammengerollte Pergamente hervor. Auf leisen Sohlen näherte ich mich ihm und versuchte einen Blick in die Truhe zu werfen. Er bemerkte mich und warf den Deckel mit einem lauten Knall zu.
»Dad, du machst mir Angst«, räumte ich ein.
»Es ist besser, wenn du Angst hast. Das wird deinen Überlebenstrieb wecken«, erwiderte er, ging auf die Knie und breitete das Pergament vor sich aus.
»Was ist das?«, wollte ich wissen. Ich konnte den Text nicht lesen, aber er sah sehr alt aus. Außerdem war er in einer Schrift geschrieben, die ich nicht kannte. Sie ähnelte den ägyptischen Hieroglyphen und war doch anders. Ich hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. »Was steht da?«
»Das verstehst du nicht«, erwiderte er schroff und rollte das Pergament wieder zusammen. Dann legte er es zurück in die Truhe, verschloss diese und zerrte sie hervor. »Hilf mir mal«, blaffte er mich an.
»Weißt du was?«, entgegnete ich wütend. »Das kannst du schön alleine machen. Ich bin weg«, warf ich ihm entgegen und drehte mich auf dem Absatz um.
So schnell ich konnte, stieg ich die wackelige Leiter wieder hinunter, rannte die Treppe abwärts, schnappte mir meine Jacke und verließ das Haus mit einem lauten Türknall. Sollte er doch in seinem Wahn ersticken. Ich hatte die Nase voll von seiner miserablen Laune und wollte nur noch zu Jasper.
»Misty, komm zurück«, rief er mir aus dem Dachfenster hinterher.
In der Jackentasche fand ich mein Handy und wählte Jaspers Nummer. Tränen bahnten sich ihren Weg und rannen meine Wangen hinunter. Doch ein plötzlicher Regen setzte ein und wusch sie fort.
Ein Freizeichen. Jaspers Stimme.
»Jasper«, schluchzte ich. »Du musst mich abholen.«
»Wo bist du?«
»Gleich an unserer Kreuzung«, erwiderte ich weinend.
Er fragte nicht, was passiert sei, er versuchte auch nicht, mich zu beruhigen, was ich ihm sehr hoch anrechnete. Ich hörte durchs Telefon eine Tür zuschlagen und dann sagte er: »Warte dort. Ich bin gleich da.« Er klang besorgt und auch ein bisschen wütend. Wahrscheinlich nahm er an, Dad hätte mir etwas angetan. Das war ja auch kein Wunder, so wie er sich Jasper gegenüber benommen hatte.
Während der Regen immer stärker wurde, stand ich mit verschränkten Armen an unserer Ecke und hielt nach Jaspers Dodge Ausschau. Es dauerte nicht lange, da näherte sich ein Wagen, den ich durch den Regenschleier kaum erkannte. Er fuhr rechts ran und eine Tür sprang auf.
»Misty«, hörte ich Jaspers Stimme.
Hastig stieg ich ein und schlug die Tür zu. Er sah mich an, neigte sich zu mir herüber und küsste mich. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und hielt ihn fest. »Darf ich ihm wehtun?«, fragte er frei heraus. Ich wusste, wen er meinte und wehrte sofort ab.
»Nein, das darfst du nicht. Er ist irgendwie verwirrt. Das Beben vorhin hat ihm den letzten Rest gegeben«, sagte ich.
Er betrachtete mich eingehend. »Bist du sicher, dass es nur das ist?«
»Keine Ahnung, was er hat. Aber ich mache bei seinem dummen Spiel nicht mehr mit«, erwiderte ich und wischte mit dem ohnehin schon nassen Ärmel den Regen aus meinem Gesicht.
»Ich bin mir sicher, er meint es nicht so. Er liebt dich«, erwiderte er und gab Gas. »Die Jungs warten. Ein bisschen Ablenkung wird dir ganz gut tun, danach fahren wir zu mir. Bis morgen hat er sich wieder beruhigt.«
»Das hat er nicht, außerdem will er morgen schon gar nicht mehr in Montana sein«, sagte ich und klappte den Sonnenschutz herunter, um meinen Kajal zu überprüfen.
Plötzlich bremste er stark ab und versetzte meinem Oberkörper einen massiven Ruck nach vorne. Beinahe wäre ich auf dem Armaturenbrett aufgeschlagen. »Aber du bist morgen noch hier, oder?«
Tränen schossen in meine Augen. Ich schüttelte verhalten den Kopf. »Er packt gerade«, erwiderte ich und weinte.
Behutsam nahm er mich in den Arm und streichelte meinen Kopf. Ein aufdringliches Hupen unterbrach uns und Jasper fuhr weiter. Er hielt auf dem Parkplatz eines Supermarktes. Dann wandte er sich mir zu.
»Jetzt mal ganz von vorne«, sagte er und ich konnte die Trauer in seiner Seele heraushören.
»Er meint, er wäre nach Utah versetzt worden und jetzt muss ich hier weg. Jasper, was soll ich nur tun? Ich will nicht fort. Ich will dich nicht verlieren«, sagte ich und verlor mich in unkontrollierbarem Schluchzen.
Jasper zog mich an sich und hielt mich fest, während ich unaufhörlich weinte und meine Hände unter seiner Jacke hinter seinem Rücken verschränkte.
»Das wird nicht passieren. Ganz egal, wo du bist, mein Herz wird dich finden«, tröstete er mich, aber ich konnte einfach nicht aufhören.
Irgendwann fragte er nach Dads Beruf und ich konnte ihm keine Antwort darauf geben. »Er redet nicht darüber. Ich weiß nicht einmal, ob er nicht vielleicht kriminell ist. Er macht ein riesen Geheimnis daraus«, war alles, das ich ihm dazu sagen konnte.
Eine Weile schwieg er und hielt mich einfach nur fest. Der Regen prasselte auf die Scheibe und ließ alles so unwirklich erscheinen, wie einen Traum.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, wisperte ich in seine Jacke hinein. »Ich liebe dich, aber ich liebe auch ihn. Dich liebe ich anders.«
Er seufzte und schmunzelte. »Natürlich tust du das. Er ist dein Dad und deine ganze Familie.«
Langsam löste ich mich von ihm und blickte ihn fragend an. Als hätte er meine Gedanken aufgefangen, antwortete er: »Du wirst mit ihm gehen und ich finde dich. Er wird seine Gründe haben, aber er kann mich nicht von dir fernhalten.«
»Wie willst du mich denn finden? Ich weiß doch selber nicht, wo ich morgen sein werde«, erwiderte ich und verlor durch meine eigenen Worte den kleinen Funken Hoffnung, den er mir geschenkt hatte.
Wortlos griff er in seine Jackentasche und beförderte sein Handy heraus. Dann hielt er es mir grinsend vor die Nase. »Wir leben im Zeitalter der unbegrenzten Möglichkeiten.«
»Aber dein Dad wird dich nicht gehen lassen«, stellte ich klar.
Kopfschüttelnd schmunzelte er. »Mein Dad ist da ein bisschen anders.«
Er strich mir eine feuchte Strähne aus dem Gesicht und betrachtete meine verquollenen Augen. »Nichts kann sich je zwischen uns stellen.«
Ein zarter Kuss besiegelte seine Worte und wischte die Zweifel zum großen Teil fort. »Und nun fahren wir zu den Jungs und heute Abend bringe ich dich zurück. Aber ich werde vorfahren, damit er genau sieht, in wessen Arme er dich getrieben hat«, antwortete er und grinste frech, ehe er den Scheibenwischer anschaltete.
Seine Jungs warteten vor dem überdachten Kino und unterhielten sich ausgelassen mit einigen Mädels. Ich kannte sie nicht und wollte mich auch nicht mit meinem verheulten Gesicht in die Menge stürzen, aber Jasper duldete keine Widerrede. »Wir feiern deinen Abschied von Missoula, da bist du der Ehrengast und darfst nicht fehlen«, sagte er und stieg aus.
Abschied ist ein schreckliches Wort, aber er hatte ja recht. Missoula würde ich wie all die anderen Städte, aus denen wir schlagartig weggezogen waren, nicht mehr wiedersehen. Kein Wunder, dass ich mich an sie nicht mehr erinnern konnte. Durch die Scheibe konnte ich Liam erkennen. Er stand mit Rachel etwas abseits der Jungs und unterhielt sich angeregt. Er hatte die Arme verschränkt und wich ihr offensichtlich aus. Alles sah nach einem Streit zwischen ihnen aus. Genau das, was ich jetzt nicht brauchte. Doch ehe ich den Gedanken zu Ende denken konnte, rannte Rachel los. Erst, als sie an uns vorbeieilte, erkannte ich ihr verheultes Gesicht. Nun tat sie mir schon ein bisschen leid. Ich stieg ebenfalls aus und rief ihr nach, aber sie reagierte nicht. Stattdessen wurde ich gleich von Liam in Empfang genommen, als hätte er auf diesen Augenblick gewartet.
»Lass sie. Sie kommt schon klar«, murmelte Liam vor sich hin, als er mein Interesse an Rachel bemerkte. Es regnete noch immer, nein - es goss in Strömen und Liam war vollkommen durchnässt. Dennoch blickte ich ihr hinterher.
»Habt ihr euch gestritten?«
»Wir haben uns getrennt. Einvernehmlich«, erwiderte er trocken.
Verwundert blickte ich in seine grüngrauen Augen.
»Das sah nicht nach einvernehmlich aus«, stellte ich fest.
Er fuhr sich durch das nasse schwarze Haar und blickte etwas betreten drein. »Lassen wir das. Komm lieber her«, sagte er und riss mich an seine Brust.
Da klemmte ich nun ziemlich unbeholfen und völlig unerwartet in den Armen eines Typen, der sich sonst so kalt mir gegenüber verhalten hatte.
»Tut mir leid«, sagte er knapp und entließ mich wieder aus seiner Umarmung.
»Okay, was war das?«, stammelte ich verwirrt.
»Ich war nicht immer ganz fair zu dir«, erwiderte er und in seinem Gesicht spiegelte sich tatsächlich Reue wieder.
»Schon gut«, meinte ich und war froh, als Jasper mich aus der peinlichen Situation rettete.
Er nahm meine Hand und zog mich zu den anderen auf den gegenüberliegenden Gehweg. Ehe wir seine Freunde erreichten, entfernten sich die Mädels. Die Jungs pfiffen und riefen ihnen nach, aber sie reagierten nur mit Kichern und verschwanden im Regen. Ein Donner grollte und Blitze zuckten am Himmel. Es wurde richtig ungemütlich. Jasper legte seinen Arm um meine Schulter.
»Hey Leute. Ähm, kleine Planänderung. Kino fällt für mich heute aus«, sagte er. Ein Raunen ging durch die Gruppe. »Meine bessere Hälfte zieht weiter und wir feiern ihren Abschied von Missoula.«
Sie verstummten. Schließlich meldete sich Lucas zu Wort. »So plötzlich?«
Ich nickte und griff Dads Lüge auf. »Mein Dad wurde versetzt.«
»So plötzlich?«, mischte sich Mike ein. »Wohin?«
»Utah«, erwiderte ich knapp.
»Scheiße sowas. Warst immer ‘ne Liebe. War ja klar, in Missoula bleibt niemand länger als nötig«, meinte er und hielt mir eine Flasche entgegen. »Hier, weil ich dich mag.«
Ohne zu zögern, ergriff ich diese und nahm einen Schluck. »Das ist Bier«, stellte ich ernüchtert fest und entlockte den Jungs ein Lachen.
»Was hattest du denn erwartet?«, foppte Mike mich. »Wo das herkommt, gibt es noch viel mehr.«
»Dein Bruder hat wohl wieder Schicht in der Videothek?«, schlussfolgerte Jasper und nahm mir die Flasche weg. »Du solltest das nicht trinken.«
Vielleicht wollte ich es aber, vielleicht wollte ich mich bis zur Besinnungslosigkeit betrinken, um dem Schmerz zu entfliehen. Mit ein bisschen Glück würde ich ins Koma fallen und hierbleiben müssen. Daher freute ich mich sogar ein bisschen, als wir zur Videothek aufbrachen. Heute Abend feierte ich Abschied, dabei wollte ich nichts sehnlicher, als bleiben. Wer könnte mir da einen kleinen Rausch schon verübeln?
Wir hatten uns ein Plätzchen etwas abseits der Innenstadt gesucht und standen nun vor dem Stadtpark. Unter den überdachten Fahrradständern bekamen wir den Regen nicht ab und waren ungestört. Aber Jasper passte genau auf, dass ich nicht zu viel trank. Ich betrachtete die einkehrende Dämmerung und deren Farbenspiel am Horizont. Dieses wundervolle Bild war ebenso seinem Ende geweiht, kaum war es erschaffen, genau wie unsere Liebe. Das machte mich nicht nur traurig, sondern wütend. Denn es musste nicht sein, dennoch wollte Dad mich gnadenlos aus Jaspers Armen reißen.
»Dein Dad bringt mich um, wenn ich dich betrunken zurückbringe«, rechtfertigte er sich und so hatte ich gerade mein zweites Bier in der Hand, als ein Wagen dicht neben uns stehen blieb und aufdringlich hupte. Der Regen erschwerte mir die Sicht, aber als Dads Stimme ertönte, zerbrach meine Seele in tausend Scherben. Jetzt war es so weit und ich spielte die möglichen Folgen kurz im Kopf ab, wenn ich mich weigerte mitzufahren, und kam zu dem Schluss, dass mein Herz auf vielerlei Arten sterben könnte.
»Es ist soweit«, raunte Jasper traurig und nahm mein Gesicht in seine Hände. »Ja«, wisperte ich mit Tränen in den Augen. »Wir könnten durchbrennen.«
Er lächelte, aber es wirkte aufgesetzt. Ich wusste, wie es tief in ihm aussah, kannte die Trümmer seiner Seele, denn es waren dieselben, in denen meine lag. Seine weichen Lippen lagen auf meinen und ich öffnete den Mund ein wenig, um seiner Zunge Einlass zu gewähren. Es hupte erneut, aber wir ließen uns diesen innigen Moment nicht zerstören. Dieser Kuss würde für eine lange Zeit der Letzte sein, also erwiderte ich ihn und ließ mich von Jaspers Liebe in einen schützenden Mantel hüllen.
»Misty Wayne! Los, steig ein«, brüllte Dad mich an. Er war ausgestiegen und packte meinen Oberarm. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Dann mischte sich auch noch Liam ein: »Hey, das würde ich lieber lassen«, sagte er und baute sich bedrohlich vor Dad auf.
»Liam, es ist schon gut«, versuchte ich ihn zu besänftigen, aber dann trat zu allem Überfluss Mike neben ihn.
»Sie tun ihr weh und merken es nicht einmal.«
Dad schob mich hinter sich. Ich wollte zur Seite ausbrechen, aber seine Arme schnellten nach hinten, während er Mike eindringlich in die Augen blickte. Was tat er da nur? Plötzlich riss Mike die Hände an die Augen und schrie: »Ich kann nichts mehr sehen.«
»Was hast du gemacht?«, schrie ich Dad an. Er wandte sich mir zu, packte meinen Arm erneut und schubste mich zum Wagen.
Mikes schmerzerfülltes Klagen hörte ich noch immer und ich hatte keine Erklärung dafür. Dad öffnete die Beifahrertür und drückte meinen Kopf hinunter, dabei schob er mich ins Auto und warf die Tür lautstark zu. Durch die Scheibe konnte ich nur die Konturen von Jasper erkennen. Er war nähergekommen und stand im Regen. Nur ein letztes Mal wollte ich ihn berühren, ihn spüren, und legte meine Hand an die kalte Scheibe. Er lief los, näherte sich dem Wagen, in dem ich wie eine Geisel festsaß, und streckte seine Hand nach der Scheibe aus. Doch eher er sie auch nur berühren konnte, trat Dad aufs Gas und Jasper verlor sich in der verregneten Ferne.
In mir tobte unbändige Wut. »Warum hast du das gemacht?«, schrie ich meinen Vater an, aber er schwieg und starrte auf die Straße.
An uns zogen die Lichter der Geschäfte vorbei. Orte, an denen ich mit Jasper gewesen war.
»Das verzeihe ich dir nie«, keifte ich und kramte in meiner Jackentasche nach meinem Handy.
Wortlos schaltete er das Radio ein und zappte durch die Kanäle, warf einen kurzen Blick auf mein Mobiltelefon und atmete tief durch.
»Das solltest du nicht tun«, brummte er.
»Das sagt genau der Richtige. Du solltest mein Leben nicht ruinieren und trotzdem hast du es getan«, erwiderte ich trotzig und öffnete den SMS-Editor.
Ich vermisse dich, tippte ich und schickte die Nachricht an Jasper.
»Ich erwarte nicht, dass du es jetzt verstehst«, sagte er und stellte den Sender richtig ein.
Nach einigen Versuchen gelang es ihm, das Rauschen zu umgehen, dann lauschte er gespannt dem Moderator.
Währenddessen wartete ich ungeduldig auf Jaspers Antwort.
Grelle Blitze erleuchteten den Himmel und ein Grollen setzte ein. Ich betrachtete die Lichter der Stadt. Nun regnete es nicht mehr so stark, aber die Temperaturen waren schlagartig gesunken und die Scheiben beschlugen. Die kleinen Lichter sahen aus wie tanzende Feen. Sie waren verschwommen und wirkten wie eine andere Welt. Wir entfernten uns immer weiter von ihnen. Ich versuchte mir das Bild einzuprägen. Eine weitere Erinnerung an einen Ort, an den ich nie wieder zurückkehren würde.
Im Radio war die Rede von unserem Sonnensystem und einem ungewöhnlichen Ereignis, das sich alle vier Jahrtausende wiederholte. Aber, als es interessant zu werden schien, schaltete Dad das Radio unerwartet aus.
»Ist dir kalt?«, fragte er über die Kluft hinweg, die sich zwischen uns gebildet hatte.
Ich schwieg und starrte die Fensterscheibe an. In meiner Hand hielt ich das Handy und hoffte auf eine Vibration. Aber es geschah nichts. Hatte er mich bereits vergessen? Vielleicht hatte er mich schon ersetzt? Meine Gedanken sprangen wirr umher und mein Herz lag im Sterben. Aber das kümmerte Dad nicht im Geringsten. Er schaltete die Heizung an. Dabei verrutschte sein Jackenärmel und ein kleines spiralförmiges Tattoo lachte mich an. Ein Tattoo? Seit wann er
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Dana Müller
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Dana Müller 2019
Lektorat: Andreas Müller
Tag der Veröffentlichung: 15.05.2016
ISBN: 978-3-7396-5526-0
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Die Geschichte basiert auf der Fantasie der Autorin und ist frei erfunden.
Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Handlungen sind rein zufällig und nicht gewollt.
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