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Lupus Amoris

Dana Müller & Jennifer Müller

 

 

 

 

 

 

 

Roman

 

LIEBE



 

DAS LIED DER LIEBE

SO LIEBLICH, SO FEIN

 

DOCH WIRD DAS SCHICKSAL

EUCH ENTZWEIEN

 

© Dana Müller 2019

VERFLUCHT

Liebe und Zorn


Ein letztes Mal spielte die Musik in dieser Nacht auf und lockte die Paare auf die Tanzfläche, um das Fest eng umschlungen ausklingen zu lassen.

Soraja blickte sich um. Nur noch wenige Paare genossen zu dieser späten Stunde ihre Zweisamkeit und ließen sich von den Klängen der Musiker unter dem vollen Mond tragen. Sie hätte ihrem Linus gerne den letzten Tanz geschenkt, aber er ließ sich nicht dazu bewegen.

»Was ist los? Hast du bereits genug von mir?«, neckte sie ihn und schwenkte ihre Hüften hin und her. Dabei badachte sie ihn mit einem lustvollen Blick, während sie auf ihre Unterlippe biss.

Linus sah sich nervös um und hob eine der umstehenden Öllampen auf. Sie säumten die Tanzfläche und legten diese in ein seichtes Licht.

»Tanzen können wir unser restliches Leben noch. Komm mit, ich will dir was zeigen«, antwortete er und zog an Sorajas Hand.

 
Vor ihnen erstreckte sich eine dunkle Wand. Die Baumkronen ragten aus der finsteren Masse in den Horizont, dessen Sterne funkelten wie die Augen ihres Geliebten. Sie vertraute Linus wie niemand anderem. So ließ sie sich auch von ihm in den nächtlichen Wald führen. Das Mondlicht brach durch die Kronen hindurch und legte einen zauberhaften Schimmer über die feuchten, den schmalen Weg einfassenden Steine, auf dem sie immer tiefer in den Wald drangen.

Das entfernte Heulen einiger Wölfe ließ die junge Frau zusammenfahren, es jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Sie zog die Stola enger um die Schultern und verknotete deren Enden vor der Brust.

»Keine Angst, ich beschütze dich«, erklärte Linus und beugte sich hinunter, um einen dicken Stock aufzuheben, den er mit seinen Fingern fest umschloss.

Soraja hakte sich bei ihm unter, denn nun hatte Linus keine Hand mehr frei, und sie wollte keinesfalls zurückfallen.


An einem moosüberzogenen Findling verließen sie den kleinen Weg und liefen an einigen alten Eichen vorbei, die Linus zählend hinter ihnen ließ. Am zehnten Baum blieb er plötzlich stehen, und hob die Öllampe hinauf.

Nervosität stieg in Soraja hoch, als sie ein Herz und die Initialen darin entdeckte. S+L. Linus hatte es tief in die Borke geschnitzt, ohne ihr vorher auch nur ein Sterbenswörtchen davon zu sagen. Klammheimlich - ebenso, wie sie hierhergeraten waren.

»Linus, das ist wundervoll«, sagte sie überwältigt. »Wann hast du das gemacht?«

Er blickte betreten zu Boden, schabte mit dem Fuß das Laub hin und her, bis die Erde aufgewühlt war, und antwortete schließlich: »Seit du das erste Mal deine Zöpfe offen trugst.«

Die junge Frau überlegte einen Moment. Ihr unbändiges Haar glich der Mähne eines Löwen. Nur selten hatte sie es nicht in taudicke Zöpfe geflochten. Aber niemals trug sie ihr Haar in der Öffentlichkeit ungebändigt. Plötzlich konnte sie sich gut an den Augenblick erinnern, als sie unüberlegt hinausgelaufen war. Ihre Füße waren in kaltem Schnee versunken, und der Schal hatte locker über ihren Schultern gelegen. Es war der Tag der Wiederkehr ihres geliebten Vaters. Damals waren schwere Zeiten angebrochen, in denen ein Handelsreisender vielen Gefahren ausgesetzt war. Räuber trieben sich in den Wäldern herum und überfielen ahnungslose Reisende, um diese um einige Taler und ihre Leben zu erleichtern. Nun war ihr Vater nach wochenlanger Sorge endlich heimgekehrt.

 
Soraja war hinausgerannt, ohne ihr Kleid angelegt, oder sich um ihr Haar gekümmert zu haben. Sie hatte im Nachthemd und mit zerzaustem Haar mitten im Hof gestanden und war ihrem Vater um den Hals gefallen. Nichts war wichtiger in diesem Moment, als die Liebe zu ihm. Diese hatte alles um sie herum zu einer zähen Masse verschwinden lassen. Alles, nur nicht den Stalljungen, der aus dem Grau herausgestochen war und sie von einem Stützpfosten aus beobachtet hatte.

 »Aber da waren wir ja noch Kinder«, erkannte Soraja und drehte mit dem Zeigefinger an dem Ende ihres Zopfes.

Linus schabte noch immer recht verlegen mit dem Fuß. Er hatte sich eine neue Stelle gesucht, an der noch genug Laub lag.

»Ich weiß«, gab er peinlich berührt zu.

Soraja schmeichelte der Gedanke, dass er bereits ein halbes Leben lang starke Gefühle für sie hegte. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und drückte ihre weichen Lippen sanft auf die seinen.

»Es gibt einen Grund, warum ich dir das jetzt zeige«, sagte er und plusterte seine Wangen. Dann entließ er die Luft durch gespitzte Lippen und fuhr fort: »Ich habe die Blicke von Farid aufgefangen. Ausgezogen hat er dich mit ihnen. Beinahe hat er sich eine eingefangen.«

Soraja musste schmunzeln. »Ach, der! Ich hab ihn gar nicht gesehen. Du weißt doch, dass ich nur Augen für dich habe, Linus.«

Doch, den jungen Mann betrübte etwas Schwerwiegenderes als Blicke. Er sorgte sich darum, dass dieser bei Sorajas Vater um ihre Hand anhalten könnte. Und, weil er dem zuvorkommen wollte, hatte er seiner Liebsten den Baum gezeigt, der das Zeichen seiner Liebe trug. Linus wusste nur nicht so recht, wie er anfangen sollte, und schob mit dem Fuß nervös das Laub auseinander, das der Herbst den Bäumen geraubt hatte.

»Was hast du nur?«, fragte Soraja besorgt, denn ihr war seine Unruhe nicht entgangen.

»Wie sehr liebst du mich? Reicht es um ein ganzes Leben an meiner Seite zu verbringen?«, schoss es über seine Lippen, nachdem er seinen gesamten Mut zusammengesucht hatte.

Sie antwortete nicht, hob den Arm und zog mit dem Finger das Herz in der Rinde nach.

»Es reicht für die Ewigkeit«, erwiderte sie mit so viel Liebe in der Stimme, dass Linus ganz schwindelig wurde.

»Dann hättest du keine Einwände, wenn ich bei deinem Vater um deine Hand anhalten würde?«, vergewisserte er sich.

»Das würdest du wahrhaftig tun?«

»Für dich täte ich weitaus mehr. Ich würde mein Leben für dich geben«, antwortete Linus aus vollster Überzeugung.

 
Die Musik war verstummt und hatte der Stille der Nacht Raum geschenkt. Linus wollte nicht länger warten und beschloss, gleich an jenem Abend mit Sorajas Vater zu reden.

Doch, kaum hatten sie das Haus betreten, sprangen ihnen die Herzen nahezu aus der Brust. Sorajas Vater saß mit Farid am Tisch und besiegelte mit dessen Mutter offensichtlich einen Handel mit dem Handschlag. Das konnte nichts Gutes bedeuten, denn die kleine Frau hatte weder Reichtümer, noch Waren, mit denen sie handeln könnte. Aber sie hatte eines: ihren Sohn.

Farid hingegen empfing Soraja mit einem, wie Linus fand, schmierigen Lächeln, das er dem Schwarzhaarigen liebend gerne aus dem kantigen Gesicht geschlagen hätte.

»Soraja, du kommst passend. Begrüße deinen Bräutigam, wie es sich gehört«, ertönte die gegerbte Stimme ihres Vaters, dessen Worte dem Mädchen einen Dolch ins Herz rammten. Salziges Nass sammelte sich und brannte in ihren Augen. War sie doch in dem Glauben in die Stube getreten, Linus um ihre Hand anhalten zu lassen.

»Vater, nein! Ich werde Farid nicht heiraten«, platzte es aus ihr heraus, ehe sie über die Schwere ihrer Worte nachdenken konnte. »Ich liebe einen Anderen!«

 
Der alte Mann schlug mit der Handfläche auf den Tisch, dass sich dessen Balken bogen, und die Becher kippten. Rotwein verteilte sich über die Tischplatte und sickerte in die Fugen, um schließlich tropfend auf dem Boden aufzukommen.

»Rot wie Blut«, schoss es ihr durch die Gedanken. »Ebenso rot wie Blut!«

»Und ob du ihn heiraten wirst! Es ist bereits alles beschlossen«, erwiderte ihr Vater. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden, aus denen ihr Wut und Enttäuschung gleichermaßen entgegenschlugen. Niemals hatte sie ihn verärgern wollen, sie war immer ein gehorsames Mädchen gewesen. Aber dieses Mal war er zu weit gegangen. Zu Lebzeiten ihrer Mutter hätte er niemals solch einen hässlichen Weg beschritten, sein eigenes Fleisch und Blut mit dem Sohn der Dorfhexe zu vermählen.

»Wenn Mutter noch leben würde ...«

Sein Blick wurde schlagartig von Hass erfüllt. »Schweig! Besudle nicht den Namen deiner Mutter, sonst ...«, sagte er mit bebender Stimme, und hob die Hand gegen sie.

Soraja zuckte zusammen. Das brachte sie jedoch nicht davon ab, sich mutig ihrem Vater zu stellen. Linus hielt ihr Handgelenk fest, doch keine Macht der Welt hätte das Mädchen daran hindern können, das zu tun, was ihr Innerstes ihr riet. Sie riss sich los und wischte die Tränen aus dem Gesicht.

»Schlag zu! Schlag so lange, und so fest zu, bis ich meinen letzten Lebensfunken ausgehaucht habe. Erlöse mich von dem Leid, das du mir auferlegen willst.«

»Kind, sei doch vernünftig«, meldete sich die alte Frau zu Wort. »Mein Farid ist ein guter Mann. Du wirst sehen, es wird dir an nichts mangeln.«

»Ich will aber Farid nicht heiraten«, sagte Soraja, und wunderte sich selbst über die Kraft, mit der sie Farids Mutter entgegentrat. Dann wandte sie sich ihrem Linus zu, nahm seine Hand und fuhr mit der Sanftheit eines Kätzchens fort: »Mein Herz gehört Linus. Selbst Gott könnte dies nicht ändern!«

»Schweig, törichtes Kind! Niemals werde ich deine Hand einem Stalljungen überlassen!«, machte der Vater lautstark kund, während die Adern an seinem Hals anschwollen, und sein Gesicht sich tiefrot verfärbte.

»Ich bin kein Kind mehr!«, erwiderte Soraja. Sie stand auf der Schwelle zwischen Mädchen und junger Frau und hasste es, gesagt zu bekommen, sie wäre noch ein Kind.

Farids Mutter trat hervor. Sie neigte ihren Kopf und betrachtete das verliebte Paar eingehend, warf ihrem Sohn einen raschen Blick zu und widmete sich Soraja.

»Du liebst also diesen Jungen?«, fragte sie mit warmer, fast mütterlicher Stimme, die in der jungen Frau einen Funken Hoffnung schürte, es könnte sich doch noch alles zum Guten wenden.

»Bei meiner Seele, das tue ich«, erwiderte sie wahrheitsgemäß.

»Und, was ist mit dir? Ist deine Liebe für das Mädchen ebenso gewaltig?«, wollte sie von Linus wissen.

»Ich würde den letzten Atem für sie geben«, antwortete Linus sofort, und drückte die Hand seiner Liebsten fester.

»Nein!«, schrie Sorajas Vater auf.

Doch, es reichte nur ein kurzer Blick der alten Frau, und er verstummte. Wie ein nasser Sack ließ er sich auf den Stuhl fallen. Fern jeder Hoffnung, den Blick starr nach vorne gerichtet, ließ er die Arme baumeln.

 Farid fesselte mit gierigen Augen das Geschehen. Er war voller Vorfreude, denn er wusste genau, was jetzt passieren würde.

 »Nun denn! Ich will mich nicht zwischen zwei Liebende stellen«, sagte Farids Mutter und streckte ihre Arme aus, um die Handflächen auf die Schultern des Paares zu legen. »Bis in alle Ewigkeit sollt ihr, Seite an Seite leben.«

Soraja verstand nicht, was vor sich ging. Farids Mutter war im Dorf als gefährliche Hexe verschrien. Sie hatte einem Mann den Brunnen verdorren lassen, nur weil dieser ihr keinen Becher Wasser schenkte, als sie durstig an seine Tür geklopft hatte.

»Und euch niemals näherkommen, als in diesem Moment«, ergänzte sie, während ihre Augen lebendig wurden, und feine Schlieren ihre Iris benetzten. Blitze entluden sich aus ihren Händen und fuhren in die Körper der Liebenden. Farid lachte laut auf, während der alte Mann auf dem Tisch zusammensackte und zu schluchzen begann.

»Das habt ihr nun davon«, spottete Farid und wartete auf die besiegelnden Worte seiner Mutter.

»Osculum lupus in aeternum«, rief die Alte aus, und entließ einen hellen Blitz aus ihren Händen, der Soraja und Linus blendete.

Das Mädchen drückte die Hand ihres Liebsten fest. Ihre Herzen schlugen gemeinsam im Allegro. Ein Kribbeln jagte unter Sorajas Haut und verteilte sich über den Körper. Rasch machte es Platz für einen reißenden Schmerz, der all ihre Zellen zu ergreifen schien. Sie hatte den Eindruck, als wolle sich etwas, das größer sein musste als sie selbst, gewaltsam aus ihr befreien. Es drückte sich durch jede einzelne Pore und sie konnte fühlen, wie diese langsam aufrissen. Dieser Schmerz war so gewaltig, dass er sie ihrer Sinne beraubte.

 
Linus starrte seine Soraja mit offenem Mund an. Er konnte nicht fassen, was sich ihm darbot.

Aus ihrem lieblichen Gesicht wuchsen Nase und Mund unaufhörlich nach vorn und verschmolzen schließlich zu einer Schnauze. Zeitgleich verformte sich ihr Rücken, jeder einzelne Wirbel trat hervor und positionierte sich mit einem lauten Knacken neu. Sie fiel auf den Boden, und schrie vor Schmerz laut auf. Linus wollte ebenfalls schreien, die Alte daran hindern, seiner Liebsten dieses Leid zuzufügen, aber er konnte nicht. Wie versteinert stand er da und war verdammt dazu, das Unglück regungslos zu erleben. Seine Seele bäumte sich auf, sein Innerstes sprang in unendlich viele Teile. Er konnte doch nicht einfach zuschauen, wie aus dem wunderschönen Mädchen eine Bestie wurde. Aber gegen die Macht der Alten war er unterlegen.

Aus der zarten Haut sprossen Haare wie die Pilze aus dem Waldboden, während sich Arme und Beine zu schlanken Vorder- und Hinterläufen verformten. Die einst menschlichen Ohren wurden spitz, stellten sich auf und fanden ihren Platz weiter oben am Kopf. Soraja blickte in einem kurzen Moment des Stillstands der Verwandlung an sich hinunter und stellte erschrocken fest, dass sich der Haarwuchs mittlerweile stark genug verdichtet hatte, um sie in einem hellen beigefarbenen Fell zu verhüllen. Das Kleid war in kleine Fetzen gerissen und lag auf dem Boden, nur der weiße Träger baumelte um ihre Schulter. Sie war zu einem Tier geworden, einer Bestie. Ihr Blick fing Linus ein, und sie erstarrte. Der Schmerz war nichts im Vergleich zu der Scham ihm gegenüber. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, der sie zu Atem kommen ließ, dann fuhr die Folter fort.

Ihre Augen entledigten sich der menschlichen Form und wurden zu eisgrauen Wolfsaugen. Sie spürte, wie die Knochen ihrer Finger sich zu kräftigen Pranken verformten, und scharfe Krallen tiefe Kerben in den Boden zogen. Die Wirbelsäule des Mädchens verlängerte sich und ließ einen Schwanz erkennen. Der Schmerz verstummte, und ein Kitzeln jagte unter ihrer Haut durch den Körper.

 
Voller Stärke und dennoch furchterfüllt ließ sie ihren Blick durch den kleinen Raum schweifen. Die Alte stand ihr gegenüber und ein zufriedenes Lächeln erfüllte das runzlige Gesicht, während Farids gellendes Lachen durch die Stube schallte, und Soraja wie ein Speer mitten ins Herz traf. Dieser Unmensch war der Ursprung ihres Elends gewesen. Der Gedanke daran, dass es ein Leichtes wäre, ihn für alle Ewigkeit verstummen zu lassen, drängte sich ihr auf. Doch das zarte Wimmern ihres geliebten Linus ließ diesen verrauchen. Er würde die Bestie, zu der sie geworden war, verabscheuen.

Linus konnte den Blick von ihr nicht abwenden, was ihr den größten Schmerz bereitete. Farid lachte immer noch und die Hexe blickte abwertend auf Soraja herab.

Der Instinkt des Mädchens im Wolfspelz übernahm nun die volle Kontrolle ihres Handelns, und so sprang sie aus dem Fenster, das nur angelehnt gewesen war. Und dennoch zeugte das Klirren hinter ihr davon, dass die Scheiben unter der Wucht ihres Sprungs zersplittert waren. Sie blickte sich nicht um, sie konnte nicht weglaufen, wenn die Augen ihrer einzigen Liebe sie daran hindern würden. Nein, das konnte sie nicht riskieren. Sie rannte mit den neuen Gliedmaßen tief in den Wald hinein, und blieb auch nicht stehen, als die Finsternis sie verschluckte.

 
Sorajas Vater hatte nicht das Ausmaß des Geschehens erkannt. Er saß zusammengesunken auf dem Stuhl und blickte sich mit verquollenen Augen um. Die Verwandlung seiner Tochter hatte sich in seinen Kopf eingebrannt.

Farid, dem sein gehässiges Grinsen im Gesicht prangte, warf einen schadenfrohen Blick zum Stalljungen. Linus empfing diesen, war aber nicht in der Lage darauf zu reagieren, denn er konnte immer noch nicht fassen, was soeben geschehen war. Vor seinen Augen hatte sich sein Mädchen in einen zotteligen Wolf verwandelt. Oder war alles nur ein Traum, aus dem er jeden Moment zu erwachen vermochte? Sein Herz schlug außerhalb der Brust, und der Schmerz über den Verlust saß so tief, dass dieser ihm den Atem stahl. Seine geliebte Soraja war nun irgendwo alleine draußen, in der Finsternis, die unheilvoll die Fensterscheiben verdunkelte und diese zu spiegelnden Flächen machte. Spiegel, in denen sich die Stube wiederfand. Doch diese Fenster schienen ein Bild wiederzugeben, das nichts mit dem gemein hatte, das er mit eigenen Augen zu sehen glaubte. In diesem Fenster sah er die ihm abgewandte Seite der Alten, und diese ließ sein Herz für einen Moment stehen bleiben. Spielten ihm seine Augen keinen Streich, dann ragten unzählige Schlangen aus ihrem Hinterkopf und einige von ihnen schmiegten sich an die geschwungenen Hörner, die aus ihrem Kopf wuchsen.

 
Alles in ihm schrie, er solle weglaufen, seiner Liebsten hinterher, und diesen verfluchten Ort hinter sich lassen, aber er konnte nicht. So sehr er es auch versuchte, seine Beine waren steif, als wären sie versteinert. Nicht einmal der Schrei, der in seiner Kehle saß, wollte sich lösen. Als dann noch die Alte auf ihn zukam, brannten Tränen in seinen Augen. Er spürte Todesangst in seiner Seele aufkochen. Schweiß benetzte seine Stirn und er ahnte, dass dies das Ende sein würde, sein Ende.

Die schrumpelige Frau hob ihre Hände, legte diese auf ihr Gesicht, neigte sie wieder und hauchte ihren Atem hinein. Feiner weißer Staub wirbelte in ihnen auf und legte sich auf Linus‘ feuchtes Gesicht. Ein Kribbeln durchzog seinen Körper und löste die Starre, die ihm die Hexe offensichtlich auferlegt hatte.

»Lauf Junge! Lauf deiner Liebe hinterher«, sagte sie und streckte ihren Arm zur Tür. Diese sprang auf, als hätte sie jemand aufgetreten. Linus fuhr zusammen.

»Lauf, solange du es kannst«, forderte sie ihn auf, und zog die Lider zu schmalen Schlitzen zusammen.

Sorajas Vater sprang auf, schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und schrie: »Nein! Du bleibst hier! Du bist schuld an alledem!« Dann griff er nach dem Gewehr, das an der Kommode hinter ihm lehnte, und legte dieses an.

Im Bruchteil eines Wimpernschlags rannte Linus durch die offene Tür. Gerade noch rechtzeitig, denn ein Schuss löste sich und das Holz des Türrahmens neben ihm zerbarst. Linus blieb nicht stehen. Er rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, in die schützende Finsternis hinein. Erst, als seine Lunge ihm jeden weiteren Atemzug zu verwehren drohte, blieb er stehen und sackte in sich zusammen. Seinen Beinen schien jede Kraft entzogen, sie wollten ihn nicht mehr tragen. Das Bild der Verwandlung folgte ihm, wie ein dunkler Schatten und drängte immer mehr in den Vordergrund seines Bewusstseins. »Soraja«, wisperte Linus, während Tränen sein Gesicht benetzten.

Das Band der Liebe

 
Inzwischen war Soraja an einen kleinen See gekommen. Sie hätte mit verbundenen Augen das duftende Wasser gefunden. Ihr Geruchssinn hatte sich auf wundersame Weise vervielfacht. Eine leichte Brise zog auf und hinterließ ein Kitzeln auf ihrer Haut. Sie trat einen vorsichtigen Schritt nach vorne und entdeckte den runden Mond in der spiegelnden Wasseroberfläche. In diesem Moment fühlte sie sich nicht mehr so alleine, Dieser Anblick erweckte das zarte Gefühl von aufkeimender Geborgenheit. Und trotzdem empfand sie sich als Fremde in dieser Welt, denn alles war so anders, so groß. Die Bäume ragten wie gewaltige Skulpturen gegen den Horizont und der Waldboden war so nah. Seine Gerüche kitzelten in ihrer Nase und sie musste niesen, doch hörte sich nicht an, als wäre es von ihr gekommen. Erschrocken blickte sie sich um, aber mehr als Bäume und Sträucher konnte sie nicht entdecken. Diese vielen neuen Gerüche verwirrten Soraja. Es duftete würzig und doch waberte der Geruch des Verwesens um sie herum. Sie konnte alles genau erkennen, obwohl sie sich an die einkehrende Nacht erinnerte, bevor sie und Linus das Haus betreten hatten. Linus ... Etwas war mit ihr geschehen, das sie nicht zu begreifen vermochte. Ihr waren Haare gewachsen, wo keine sein durften und auch ihre Knochen schienen alle einen neuen Platz eingenommen zu haben. Soraja fürchtete sich vor ihrem Anblick, und dennoch zog es sie zu der Wasseroberfläche, in der der Mond sie so warm begrüßt hatte. Zögerlich trat sie ans Ufer und zuckte wieder zurück. Sie überlegte einen kurzen Augenblick, ob sie das Monster überhaupt sehen wollte, zu dem sie geworden war. Ein tiefer Atemzug der würzigen Waldluft schenkte ihr etwas Mut, und so schob sie sich vorsichtig weiter vor, bis das kühle Wasser ihre Vorderpfoten umspielte. Voller Ehrfurcht senkte sie den Kopf, um ihr Spiegelbild zu betrachten und fuhr im selben Augenblick zusammen. »Ein Wolf«, schrie sie im Innersten, doch aus ihrer Kehle löste sich nur ein tiefes Brummen.

Soraja neigte den Kopf und betrachtete den Wolf, der sie aus dem Wasser anstarrte. Dieser ging in ihrer Bewegung mit. »Das bin ich nicht!«

Ihr Herz schlug ebenso wild, wie die Gedanken, die durch ihren Kopf jagten. Niemals würde Linus sie in dieser Gestalt lieben können. Fortjagen würde er sie und wahrscheinlich hätte er solche Angst, dass er sie erschießen würde, dachte sie. Wie sollte sie sich überhaupt bei den Menschen jemals wieder blicken lassen? Überladen von der Trauer um ihre junge Liebe, ließ sie sich im feuchten Laub nieder. Sterben war alles, an das sie nun denken konnte. Es war nicht nur ein Wunsch, es war viel mehr, es war der feste Wille aus einer tiefen Verzweiflung heraus.

*
Linus hatte seinen Atem wiedererlangt und war tiefer in den Wald gelaufen. Der Glaube daran, Soraja zu finden trieb ihn an, wie ein Stück Brot einen Verhungernden. Doch die Nacht erschwerte ihm die Suche, denn sie verwehrte den Glanz der Sterne. Selbst der Mond hatte sich hinter schweren Wolken versteckt, sodass Linus die Hände vor sich ausstrecken musste, um nicht mit einem Baum zu kollidieren. Dafür hörte er ganz gut, zu gut. Denn jeder Stock, jeder Zweig und auch das Laub unter seinen Füßen gaben Geräusche wider, die durch den Wald hallten und Linus vorgaukelten, aus allen Richtungen zu kommen. Das Schlimmste aber war das Flüstern der Baumkronen, in denen sich eine Brise verfangen hatte. Einmal glaubte er, die Stimme der Alten zu hören: »Lauf Junge!«

*
Soraja hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt, um einen letzten klärenden Blick auf das Bild zu werfen, das der See wiedergab. Sie hoffte so sehr, diesmal in das Gesicht eines Menschen zu blicken, dass sie erneut vor dem Wolf auf der spiegelnden Oberfläche erschrak. Seine eisgrauen Augen starrten sie kalt an und sie konnte nicht glauben, dass dies ihre eigenen sein sollten. Doch ein prüfender Blick an ihren Vorderpfoten hinunter versicherte ihr, dass sie eben dieser Wolf war, der erbarmungslos aus dem Wasser blickte. Jetzt wusste sie es ganz genau: Sie musste Linus vergessen, aus ihrem Leben löschen, als hätte es ihn nie gegeben. Und diese Gewissheit schlug eine tiefe Kerbe in ihre Seele. Brennende Tränen füllten ihre Augen und das herzzerreißende Heulen eines sterbenden Wolfes erfasste den Wald.

*Linus fuhr herum. Wölfe! Die Angst saß ihm im Nacken, wie ein hässlicher Gnom. Er ging in die Hocke und überlegte rasch, wo er sich verstecken sollte. Dann fiel ihm schmerzlich ein, dass dies Sorajas Jaulen gewesen sein konnte. Vorsichtig rappelte er sich auf und blickte sich verhalten um. Die schwere Dunkelheit lag wie eine zähe Masse über dem Wald, sodass er nichts erkennen konnte, so sehr er sich auch bemühte. Einzig sein warmer Atem stieg als weißer Dunst auf. Das Rufen eines Käuzchens ließ ihn erneut zusammenfahren. Er musste sich auf sein Gehör verlassen, denn dieses schien hervorragend zu funktionieren.

»Bitte, nur noch einmal, Soraja!«, flüsterte er.

Aber der Wald blieb still. Linus hielt es nicht mehr aus. Wer sollte ihn schon hören, so tief im Dickicht, mitten in der finstersten Nacht? Also fasste er sich ein Herz und rief den Namen seiner Liebsten, so laut er konnte. Dann hielt er inne und lauschte in die Tiefen der Nacht hinein. Nichts. Kein Laut, der auf Soraja schließen ließe.

»Verdammt!«, stieß er nach einer Weile des Wartens aus und rief erneut nach ihr.

»Soraja! Lauf nicht weg! Ich bin es doch, dein Linus. Lauf doch nicht vor mir weg, bitte lauf nicht weg.«

Linus konnte nicht verstehen, warum sie sich vor ihm versteckte, warum sie ihn nicht an ihrem Leid teilhaben ließ. »Ich liebe dich! Komm zurück! Bitte, bitte komm zurück«, jammerte er vor sich hin und vergrub sein Gesicht in den Händen.

Der schmerzliche Verlust seiner großen Liebe brach den jungen Mann entzwei. »Soraja!, schrie er in die Dunkelheit und lauschte dem verhallenden Echo.

*
Erschrocken vernahm die beige Wölfin die Stimme ihres Liebsten. Ein leises Winseln entglitt ihr und sie stellte die Ohren auf, um noch ein letztes Mal seine Stimme zu hören, ehe sie ihren einsamen Weg beschreiten würde. Einen Weg, der sie von Linus entfernen würde, bis er sie vergessen hätte und ein Leben mit einer anderen jungen Frau einschlagen würde. Der Gedanke an eine Zukunft ohne ihn versetzte ihr einen Hieb. Sorajas Herz trieb sie an, seinem Ruf zu folgen, aber ihr Verstand wollte sie daran hindern. So tapste sie mit der Vorderpfote vor, um diese wieder zurückzuziehen. Doch das Band der Liebe war zu stark, als dass sie sich dagegen wehren konnte. Sie lief einige Schritte vor und kehrte wieder um. Wenn sie ihn jetzt nicht verlassen würde, dann wäre sein Schicksal mit ihrem zu fest verwoben, dachte sie. Andererseits waren sie von klein auf stets zusammen gewesen und keiner von ihnen hielt es lange ohne den anderen aus. Sie hatte ihn gebraucht, wie die Luft zum Atmen, und mit den Jahren war diese Bindung noch inniger geworden. Wie sollte sie nur ohne ihn sein? Konnte Linus sie überhaupt vergessen?

 
Die Wölfin war so tief in ihren Überlegungen versunken, dass sie unbemerkt eine Pfote vor die andere gesetzt hatte. Sie warf einen prüfenden Blick über die Schulter und wunderte sich, dass das Ufer nur noch schemenhaft zu erkennen war. Die Muskeln in ihren Läufen zuckten, als forderten sie von ihr, eine weite Strecke in kurzer Zeit zurückzulegen. Ihr Innerstes schrie: »Lauf«, und sie rannte los. Sie war so schnell, dass sie nahezu durchs Unterholz flog. Der Wind in ihrem Fell hinterließ ein Kribbeln, aber diesmal war es nicht unangenehm. Vielmehr gab es ihr für den Bruchteil eines Wimpernschlags ein Gefühl von Freiheit, wenn sie dieses auch nicht zulassen wollte. Für Soraja hatte die Gefangenschaft in dem Körper eines wilden Tieres herzlich wenig mit Freiheit gemein. Trotzdem versuchte sie die neu gewonnenen Fähigkeiten einzusetzen, um Linus zu finden. Sie wollte ihn nicht gleich überfallen. Nur ein kurzer Blick auf ihren Liebsten würde genügen, um ihr weinendes Herz zu besänftigen. Dann hätte sie es leichter, Abschied zu nehmen, so dachte sie zumindest. Aber, woher sollte sie denn wissen, woher sein Rufen gekommen war? Seine Stimme war ganz deutlich auszumachen gewesen, doch nun war sie gerannt, wie der Wind und hatte die Richtung aus den Augen verloren. Abrupt blieb sie stehen und streckte ihren Hals hinauf. Vielleicht würde er erneut nach ihr rufen? Aber das tat er nicht. Soraja drehte instinktiv ihre großen, spitzen Ohren ein wenig, in der Hoffnung ein Geräusch aufzufangen, das seinen Standort verraten würde. Ein Rascheln hinter ihr, ließ sie zusammenfahren. Sie wandte sich um und entdeckte einen Hasen, der sie mit aufgestellten Löffeln und großen roten Augen anstarrte, und flugs darauf sah sie nur noch sein Hinterteil davonhoppeln. In ihrer Magengrube erwachte ein Grummeln, das ihren mittlerweile großen Hunger verdeutlichte. Aber sie konnte doch dem armen Häschen nichts zuleide tun. Außerdem musste sie Linus finden. Warum war sie nur davongelaufen? Sie wusste doch, dass sie der Liebe nicht entkommen konnte. Ohne weiter darüber nachzudenken, hob sie ihre feuchte Nase in die Höhe, um seine Witterung aufzunehmen.

 
Einmal hatte ihr Vater sie mit auf die Jagd genommen und sie konnte sich noch gut daran erinnern, dass die Hunde den Geruch des Wildes mit der Nase aufgenommen hatten. Damals hatte ihr Vater ihr erklärt, dass Tiere auf diese Art die Witterung aufnehmen und die Jäger so dem Wild auf die Spur bringen. Genau das tat sie nun, sie versuchte es zumindest. Leider hatte sie nicht damit gerechnet, dass der feuchte Waldboden mehr Gerüche barg, als ein bunter Eintopf. Wie sollte sie denn nur den einen Geruch herausfiltern? Erneut sog sie in kurzen Stößen die Luft in ihre Nase. Plötzlich machte ihr Herz einen freudigen Überschlag.

»Linus«, versuchte sie zu wispern, aber es gelang ihr nur ein leises Winseln.

So stark, wie sie seinen Duft wahrnahm, musste er ganz in der Nähe sein, dachte sie. Er war unverkennbar und erinnerte sie an frischen Tau mit einer dezenten Moschusnote.

Ihr Fell sträubte sich bei dem Gedanken, jeden Moment auf ihn zu treffen. Sie liebte ihn mit ihrer Seele, aber sie ängstigte sich vor dem Augenblick ihres Aufeinandertreffens. Soraja war sich nicht sicher, ob er sie erkennen würde, immerhin sah sie aus, wie ein Wolf. Wenn man es genau nahm, war sie ein Wolf mit der Seele eines Menschen. Ein viel schlimmerer Gedanke drängte sich ihr auf und ließ sie an ihrem Vorhaben zweifeln. Was wäre, wenn sie ihre wilde Seite nicht zähmen könnte und ihn angreifen würde. Vielleicht wäre es kein Angriff, soweit würde sie bestimmt nicht gehen, aber wenn sie in ihrem Übermut nicht vorsichtig genug wäre, dann könnte dies böse enden. Sie würde ihn verletzen, oder gar töten. Erschüttert senkte sie den Kopf und wandte sich von seiner Spur ab, doch ein leises Schluchzen zerriss ihr das Herz. Es kam von Linus, dessen war sie sich sicher.

 Oft hatte sie es gehört, wenn der Abend sich geneigt hatte und die Nacht angebrochen war. Dann, wenn alles still im Haus gewesen ist, und Linus über den Bildern seiner verstorbenen Eltern geweint hatte. Sie würde diese Trauer unter allen Geräuschen wiedererkennen, soviel stand fest. Es war Linus, der offensichtlich am Rande seiner Kräfte im Wald verloren war. Sorajas Herz schrie sie an, sie solle sich gefälligst um den Mann kümmern, wegen dem dieser Muskel niemals aufhören würde zu schlagen. Hin und her gerissen lief sie zunächst auf und ab und begann schließlich ihre Kreise zu ziehen. Das Gras unter ihren Pfotenballen fühlte sich weich an und das Erdreich gab ein wenig nach. Sie konnte spüren, wie die Wurzeln der umstehenden Bäume in alle Richtungen gewachsen waren und sich unter ihr miteinander verbunden hatten. Genauso war sie mit Linus verbunden.

Eine ungewohnte Wahrnehmung, wie sie fand. Alles fühlte sich so intensiv an, selbst der Schmerz der Liebe schien stärker, seit sie in diesem Körper steckte. Mit einem Satz rannte sie los und blieb plötzlich abrupt stehen. Sie drehte erneut ihre Ohrmuscheln etwas, um die Klänge der Nacht einzufangen. Ihr Herz überschlug sich, als sie sein Atmen erfasste. Ganz genau konnte sie hören, wie sein Brustkorb sich hob und wieder senkte. Jetzt war sie ihm so nah, dass ihr Körper vor Aufregung zu beben begann. Die Wölfin spürte die kalte Erde unter ihren Ballen. Vorsichtig, denn sie wollte sich nicht verraten, drückte sie die Brust auf das Erdreich und schob sich langsam mit den Hinterläufen vor. Stück für Stück näherte sie sich ihrem Liebsten und entdeckte ihn schließlich an einem Baumstamm lehnend, das Gesicht in seinen Händen vergraben. Ein leises Wispern legte sich wärmend um ihre Seele.

»Soraja, liebste Soraja. Bitte lass mich nicht alleine, ich bin nichts ohne dich.«

*
Es raschelte und knackte um Linus herum, doch er schreckte nicht auf. Der junge Mann nahm das Erwachen des Waldes wahr, doch es kümmerte ihn nicht, ob ein Bär hinter einem Busch hervorkommen würde, um ihn zu reißen, oder ein Kaninchen. Sehen konnte er in der Dunkelheit eh nichts und zu verlieren hatte er auch nichts mehr, denn ihm war alles genommen worden, was sein Leben ausgemacht hatte. Bald würde er seinen Eltern folgen und es war ein kleiner Trost für ihn, dass sie bereits auf der anderen Seite warteten. Insgeheim hatte er sich schon lange nach dem Moment gesehnt, in dem sie ihn in Empfang nehmen würden. Er hatte so viele Fragen, die nur sie ihm beantworten konnten. Soraja war alles, wofür es sich gelohnt hatte, an dem Leben festzuhalten. Nur für sie hatte er die Schläge ihres Vaters, seines Herren stillschweigend in Kauf genommen und auch nur für sie hatte er Farid nie verprügelt. Jetzt bereute er, dass er sich immer wieder zusammengenommen und seinen Unmut gegen diesen schleimigen Kerl hinuntergewürgt hatte. Ohne Farid wären sie nicht getrennt worden und ohne ihn hätte seine Soraja nicht ihre wunderschöne Gestalt eingebüßt. Nie mehr würde er ihr blondes Haar betrachten, in dem sich die Sonnenstrahlen brachen und es glitzern ließen, als wären Goldfäden in ihren Zopf eingewoben.

Aus seinem tiefsten Inneren entlud sich ein Schrei, der laut durch den Wald hallte.

»Soraja, das Leben ist mir ohne dich egal«, sagte er mit schwindender Kraft und legte sich in das feuchte Laub. Bereit, den Tod in seiner erlösenden Herrlichkeit zu empfangen, streckte er die Arme aus, und lag so völlig schutzlos auf dem Waldboden.

*
Dies war der Moment, der alles entscheidende Moment. Soraja konnte nicht mehr innehalten. Ihr Liebster hegte offensichtlich den Wunsch nach dem vollkommenen Ende. Und er sehnte sich danach, weil sie nicht an seiner Seite war. Sie war sich nicht ganz sicher, was schlimmer gewesen wäre. Ihn sterben zu sehen, oder ohne ihn leben zu müssen. Sie blieb in Bodennähe und schob sich weiter vor. Die Tatsache, dass sie nun das Salz seiner Tränen riechen konnte, versetzte ihr einen Stich ins Herz. Keinen Augenblick länger konnte sie von ihm getrennt sein, also drückte sie sich mit den Hinterläufen stärker ab, um schneller vorwärts zu kommen. Nur ein kleines Stückchen fehlte noch, bis sie ihren Kopf an seinen legen könnte, und dieses winzige Stück legte sie mit einem letzten kräftigen Stoß zurück.

 Seine Augen sprangen auf und suchten nervös in der Dunkelheit umher, dann setzte er sich auf. Soraja drückte sich vom Boden ab und schritt vorsichtig zu ihrem Linus, schließlich legte sie ihren Kopf auf seine Schulter. Linus fuhr zusammen, und sie schreckte zurück.

»Soraja?«, fragte er in die Finsternis und streckte seine Hand nach ihr aus.

Die Wölfin schob ihren Kopf unter seine ausgestreckte Hand und spürte die Last, wie einen Stein von ihrer Seele fallen. Warum hatte sie nur an seiner Liebe gezweifelt?

*Linus konnte erst nicht fassen, dass es tatsächlich das Fell seiner Soraja war, in dem sich seine Finger vergruben. Aber, als sie ihre Freude nicht mehr verbergen konnte, und winselnd die Tränen von seinem kalten Gesicht ableckte, war er sich sicher. Es war seine Soraja, die ihn gesucht und gefunden hatte. Seine Liebste, die ihn nicht einfach sterben ließ, seine Soraja, die ihn errettet hatte. Erfüllt von Glück legte er seine Arme um ihren Hals und vergrub sein Gesicht in ihrem weichen Fell. Es hatte den Duft des Waldes angenommen, aber unter dem erdigen Geruch stieß ein zarter Veilchenduft hindurch. Es waren ihre Haare, die diese Note von klein auf trugen.

 Das hatte Linus eines Tages festgestellt, als sie gemeinsam auf einem Hügel gesessen und über die Herrlichkeit der Freiheit sinniert hatten. Damals war eine Brise durch ihr Haar gefegt, das sie kurz vorher geöffnet hatte, um es in einem frischen Flechtwerk erneut zu bändigen. Linus hatte den Duft aufgenommen und ihn nie wieder losgelassen. Ihm schien, als würde sein Herz zu schlagen aufhören, um in neuem Takt seine Arbeit wieder aufzunehmen.

*Die Nacht über hatte sie sich wärmend hinter ihn gelegt und war ganz fest an ihn herangerückt, während Linus mit angezogenen Beinen, zitternd eingeschlafen war. Es war nicht nur die Kälte, und es war so kalt in dieser Nacht, dass der Atem zu gefrieren drohte, es war die Aufregung gewesen, die seinen Körper zum Beben gebracht hatte. Seine Zähne waren lange aufeinandergeschlagen, bis Soraja ihren Kopf über seine Schulter geschoben und mit ihrem warmen Atem die Kälte aus seinem Gesicht vertrieben hatte. Die Morgendämmerung zeichnete in roten und orangefarbenen Tönen ein Farbenspiel in den Horizont und kündete den Tag an. Und, obwohl sich ihr Magen vor Hunger zusammenzog, wollte sie nicht von der Seite ihres Liebsten weichen. Also verharrte sie in ihrer Position und genoss die wogenden Bewegungen, die sein Brustkorb tat. Er atmete tief und schien fest zu schlafen, wahrscheinlich würde er gar nicht bemerken, wenn sie für einen Moment hinter einem Busch verschwinden würde, um sich zu erleichtern. Ihre Blase zwickte gewaltig, dennoch hielt sie es aus, sie musste es aushalten, denn keinesfalls sollte er wach werden, wenn sie gerade nicht an seiner Seite lag. Ein zartes Zwitschern gesellte sich zur Morgenröte, und schnell stimmten weitere Sänger ihre Lieder ein.

 Linus regte sich. Er stammelte etwas und wechselte die Position, drehte sich ihr zu und kuschelte sich fest in ihr Brustfell. Soraja blieb weiterhin liegen, sie fühlte sich wohl in seiner Gegenwart. Langsam schickte die Sonne ihre ersten Strahlen durch den Wald. Morgendlicher Nebel war in die Baumkronen gezogen und verwandelte die Ahornbäume in einen mystischen Wald. Vor ihnen lag eine kleine Lichtung und ein Rehkitz erhob sich aus dem hohen Gras, das wie ein Kranz ringsum wuchs. Wie ein Kranz, hatten auch die Laternen die Tanzfläche gesäumt, von der Linus sie zu ihrem Baum entführt hatte. Das Herz, das Linus für sie in dem Stamm verewigt hatte, erfüllte sie einerseits mit Traurigkeit, andererseits aber war sie erfüllt von Stolz darüber, dass ihre Liebe echt war. Sie war unumstößlich und nicht einmal ihre Verwandlung in ein wildes Tier konnte etwas gegen ihre Gefühle füreinander ausrichten.

 

Die Flucht

 
Ein Schuss hallte durch den Wald und riss Soraja aus ihren Erinnerungen. Linus war ebenfalls aus dem Halbschlaf geschreckt und aufgesprungen. Sofort hatte er sich in die Hocke begeben und seinen Arm um Sorajas Nacken gelegt. Mit dem Finger auf dem Mund deutete er ihr an, dass sie still sein sollte. Sie richtete ihre Ohren auf und fing Stimmen ein. Stimmen, die ihr nicht gefielen, weil in ihnen Zorn und Entschlossenheit lagen. Das war keine gute Kombination, das wusste sie.

 
Ein weiterer Schuss fiel und ließ die Wölfin zusammenfahren. Ein Klingeln in Sorajas Ohren übertönte alle anderen Geräusche.

»Ganz leise«, flüsterte Linus, aber sie konnte ihn nicht hören.

»Hör auf«, las sie von seinen bebenden Lippen.

Aber, womit sollte sie denn nur aufhören? Langsam verklang das alleserfüllende Geräusch in ihren Ohren und sie vernahm ein Winseln. Erst dachte sie, es befände sich ein anderer Wolf in ihrer Nähe, bis ihr auffiel, dass das Winseln ihrer Kehle entsprang. So machte sich also Angst in diesem Körper bemerkbar.

»Wir müssen hier verschwinden, sie kommen näher«, erklärte Linus leise und lief in geduckter Haltung los, den Blick auf Soraja gerichtet. Aber die Wölfin blieb sitzen. Sie dachte nicht daran, loszulaufen. Am Ende würden sie in eine Falle tappen.

»Was ist mit dir? Wenn wir nicht erschossen werden wollen, dann müssen wir sofort hier weg. Verstehst du mich überhaupt?« Linus seufzte und schüttelte den Kopf. Wie sollte ihn ein Tier auch verstehen. »Du verstehst kein Wort von dem, was ich sage, oder?«

Soraja stemmte die Vorderpfoten in die feuchte Erde, die sich zwischen den Pfotenballen hindurchdrückte, und antwortete mit einem Niesen.

»Warum sollte ich dich nicht verstehen? Du redest wie immer. Und nur, weil ich in diesem Körper stecke, heißt das nicht, dass ich meinen Verstand eingebüßt habe«, sagte sie in Gedanken. Aber alles, was herauskam, war ein weiteres Niesen. Die feinen Tröpfchen verteilten sich wie Nebel um sie herum und die Sonne brach sich in jedem einzelnen von ihnen. Sie schimmerten, als hätte sich in ihnen der Regenbogen verirrt. Wäre Linus nicht in Eile gewesen, hätte sie ein drittes Mal genießt, nur um die Tröpfchen zu beobachten. Noch nie hatte sie so etwas Facettenreiches gesehen, so etwas Schönes.

Beherzt packte Linus sie am Nackenfell und zog sie hinter sich her, bis ihre Schritte gleichauf waren mit seinen. Soraja gefiel das nicht, aber sie fügte sich dennoch. Wenn ihr Linus in eine Falle laufen würde, dann wäre er nicht alleine, auch wenn der Wölfin bewusst war, dass dies ihren Tod bedeuten konnte. Wölfe waren in dieser Region nicht gerne gesehen. Sie rissen das Vieh, fielen Menschen an, die sich zu nah an ihr Gebiet wagten und in der Nacht streunten sie durch die Dörfer. Niemand war vor ihnen sicher. Und nun gehörte sie zu den Wesen, die Angst und Schrecken verbreiteten.

»Los, hierlang! Ich hab was gesehen!«, hörte Linus einen Mann rufen.

»Los, renn!«, befahl er, und Soraja machte einen Satz. Sie rannte, so schnell sie ihre Läufe trugen. Immer wieder blieb sie stehen und vergewisserte sich, dass Linus ihr folgte. Dieser machte jedes Mal dieselbe Handbewegung, die bedeutete, sie solle weiterlaufen. Auch Linus blickte ständig zurück, konnte aber niemanden sehen. Dennoch rannte er mit letzter Kraft seiner Soraja hinterher. Wäre sie nicht ständig stehen geblieben, dann hätte er sie schnell aus den Augen verloren.

Doch dann beendete sie ihren Lauf abrupt und rannte zu Linus zurück.

»Was ist los? Was hast du? Ist da jemand?«, fragte er leise.

Was sollte schon sein? Sie wurde einfach das Gefühl nicht los, jeden Moment in eine Falle zu tappen. Ihr Nackenfell sträubte sich, ohne dass sie es verhindern konnte, und sie winselte. Wenn sie doch nur reden könnte, um ihm verständlich zu machen, dass sie in ihr Verderben rannten.

 
Linus kniete sich neben die Wölfin und legte seine Hand auf ihren Kopf, um sie zu beruhigen. Er versuchte zwischen dem Rauschen der Kronen und dem Gezwitscher derer Bewohner etwas auszumachen, das Soraja erschreckt haben könnte.

Abermals dröhnte ein Schuss durch das Gehölz. Das Geschoss zischte an dem Ohr des jungen Mannes vorbei und blieb in dem Stamm eines heranwachsenden Baumes stecken. Linus erschrak dermaßen, dass er rücklings fiel, eine kleine Böschung hinunterkullerte und mit dem Kopf auf einen Stein schlug. Der Wald um ihn herum verschwamm zu einer schwarzen Masse und ihm entglitt das Bewusstsein.

 
Die Wölfin eilte hinab zu ihm und schleckte an seinem Ohr. Er regte sich nicht, so sehr Soraja ihn auch mit der Schnauze anstieß, er blieb bewusstlos. Schließlich packte die Wölfin mit ihren Zähnen seinen Jackenkragen, um ihn wieder hinaufzuziehen. Sie zerrte mit aller Kraft an ihm, aber die Böschung war einfach zu steil.

Linus spürte das wiederkehrende Gefühl in seinen Gliedern und stemmte die Füße in das feuchte Laub. Als Soraja seine Bemühungen erkannte, ließ sie von seinem Kragen ab und wartete ungeduldig darauf, dass ihr Liebster auf die Beine käme, doch er rutschte immer wieder aus und fiel jedes Mal ein Stück weiter zurück. Soraja lief nervös umher. Wenn sie ihm doch nur helfen könnte. Die Stimmen kamen immer näher und sie sah vor ihrem inneren Auge ihrer beider Tod. Dies würde das Ende ihrer Flucht sein, wenn ihr nicht sofort etwas einfiele. So ließ sie ihren Blick über den herbstlichen Waldboden schweifen, auf den sich das Laub wie eine schützende Decke gelegt hatte. An einem umgestürzten Baum blieb ihr Blick haften, und die rettende Idee traf sie wie ein Blitz. Wenn sie nicht weglaufen könnten, dann müssten sie sich eben verstecken und in ihrem Unterschlupf so lange ausharren, bis die Gefahr an ihnen vorübergezogen wäre. So schnell sie konnte, schob sie das Laub mit ihrer Schnauze zusammen, bis an den liegenden Baumstamm. Dann packte sie ihren Liebsten erneut am Jackenkragen und zog ihn hinter das Holz.

*


Linus kam nur langsam wieder zu sich. Benommen, wie er war, ließ er das unsanfte Treiben seiner Soraja über sich ergehen. Ihm blieb ja auch nichts anders übrig, denn mittlerweile konnte auch er nicht nur die bedrohlich nahen Stimmen hören, sondern auch das Rascheln des Laubes, das von schweren Schritten begleitet wurde.

Soraja schob den Haufen, den sie bereits angesammelt hatte über den Stamm, bis dieser hinten überfiel und Linus bedeckte. Dann lief sie um den provisorischen Unterschlupf herum und beeilte sich, die freien Stellen zu verstecken. Nur seine Nase ließ sie frei, damit er unter den toten Blättern nicht erstickte.

Die Stimmen waren bereits so nah, dass Soraja die Männer atmen hören konnte. Sie näherten sich mit großer Geschwindigkeit und es blieb einfach keine Zeit mehr, sich ebenfalls zu verstecken. Also schlich die Wölfin um den Laubhaufen, unter dem Linus ausharrte, schlug einen Bogen und rannte an den Stimmen vorbei. Schließlich blieb sie auf einer Anhöhe stehen und richtete die Ohren, um die Entfernung der Jäger einzuschätzen. Sie mussten jeden Moment auf das Versteck treffen, und genau das musste sie verhindern. Wenn Linus auch nur husten würde, dann wäre er verraten und die Jäger würden kurzen Prozess machen.

Doch, wie sollte sie denn auf sich aufmerksam machen? Schließlich konnte sie nicht einfach rufen, und das Jaulen war ihr am See ungesteuert entglitten.

Mit jedem weiteren Herzschlag wurde sie unruhiger. Jeden Moment würde Linus entdeckt werden und dann wäre alles verloren, ihre Liebe, ihre Leben und die Hoffnung. Erschüttert von der Erkenntnis setzte sich die Wölfin und neigte den Kopf nach hinten. Sie spürte, wie sich etwas Gewaltiges ihre Kehle hinaufarbeitete. Und dann konnte sie es hören, ein Jaulen, das lauter und wehklagender nicht sein konnte. Ihr Jaulen, das die Jäger von seiner Fährte abbringen sollte. Doch mit einem hatte sie nicht gerechnet, nämlich mit einer Antwort, die prompt aus dem Wald gellte.

»Wölfe!«, dachte sie und schreckte zusammen. Dann fiel Soraja ein, dass sie doch selbst zu diesen Kreaturen gehörte. Sie entspannte sich wieder und beschloss, sich ab sofort still zu verhalten, denn begegnen wollte sie diesen wilden Tieren dennoch nicht.

*


Die Männer hatten die bedrohlichen Rufe der Wölfe vernommen und blickten sich verunsichert an.

»Wir sollten umkehren«, schlug einer von ihnen vor.

»Was?«, fragte der Anführer der vier Mann starken Gruppe. »Wir haben einen Auftrag und ich werde den Lohn sicher nicht in den Wind schießen, nur weil sich eine Memme in die Hosen macht.« In seiner Mimik lag so viel Wut, dass kleine Speicheltröpfchen beim Reden aus seinem Mund flohen und sich auf den schwarzen Vollbart legten.

»Genau Jack, wozu haben wir denn unsere Flinten? Aber was ich immer noch nicht verstehe: Wieso will er seine eigene Tochter umlegen lassen?«, meldete sich ein anderer zu Wort.

»Das geht uns nichts an, verstehst du?«, erwiderte Jack.

Ein weiteres Jaulen ließ die Männer innehalten. »Vielleicht war sie das ja?«, meinte ein anderer.

Jack legte den Finger auf seine Lippen. »Pscht«, machte er und blickte sich um. »Wenn sie das war, dann wird sie uns auf direktem Weg zu diesem Bengel führen.«

*


Soraja hatte jedes Wort mit angehört. Demnach hatte ihr Vater die Jäger beauftragt, sie zu töten. Sollte er dazu fähig gewesen sein, musste die Hexe ihn verzaubert haben, dachte sie. Niemals sonst hätte er ihren Tod gewünscht, dessen war sie sich sicher. Benommen und verwirrt von den Worten der Jäger versuchte sie sich zusammenzunehmen. Jetzt musste sie Linus retten, über ihren Vater konnte sie hinterher immer noch nachdenken.

Da sie die anderen Wölfe nicht anlocken wollte, kam ihr eine bessere Idee, als die Jäger mit ihren Lauten zu locken. Sie lief den Stimmen entgegen, doch als sie die Männer erblickte, verließ sie der Mut. Sie alle trugen Flinten, mit denen sie Sorajas Leben beenden würden, wäre sie nur einen Augenblick unachtsam. Aber sie musste sich zeigen, sie musste die Männer von Linus Fährte abbringen. Die Wölfin verlegte ihr Gewicht von einer Vorderpfote auf die andere und versuchte so, ihre Unsicherheit zu vertreiben. In einem kurzen Moment gewann die Entschlossenheit, Linus zu retten, und sie lief den Männern geradewegs vor die Flinten. Einer von ihnen entdeckte sie und legte die Waffe an. Er zielte und spannte den Abzug. Der Schuss löste sich, aber verfehlte Soraja um ein Weites, denn Jack hatte eingegriffen und den Schuss verzogen.

»Ryan! Bist du von allen guten Geistern verlassen? Wenn du sie erschießt, wie soll sie uns dann zu dem Jungen führen?«

 
Soraja war der Schreck in die Glieder gefahren. In ihrem Gehör dröhnte der Schuss noch eine Weile nach, sodass sie die Stimmen weit entfernt hinter einem grellen Fiepen vernahm. Sie sah ihrem Verfolger in die Augen und erkannte Hass und Gier in ihnen, aber auch etwas anderes, das sie nicht einordnen konnte. Der Mann stand ihr regungslos gegenüber und sie konnte seine Angst förmlich riechen. Zähnefletschend blickte sie ihn aus funkelnden Augen an. Er zitterte, während sich ein Glanz auf seine Stirn legte und die Sonnenstrahlen sich in den feinen Perlen brachen. Das Glitzern irritierte Soraja, denn mit ihren menschlichen Augen hatte sie nie so etwas Faszinierendes gesehen. Sie konnte nicht weiter sehen, als früher, aber dafür umso genauer. Soraja vergaß nicht um die Gefahr, in der sie schwebte. Obwohl sie die Eindrücke verarbeitete, plante sie im Hinterkopf ihre Flucht und die Verschleierung der Spur ihres Liebsten.

»Verflucht, was soll ich tun?«, winselte der Kerl, während er Soraja im Auge behielt.

»Beweg dich nicht! Sei still und warte!«, erwiderte der Bärtige in gemäßigtem Ton.

»Was ist, wenn sie keine Ahnung hat, wo der Junge steckt?«, wollte ein kleiner, dürrer Mann wissen und legte mit einem verschmitzten Lächeln eine Reihe schwarzer Stummel frei.

»Dann wird sie ihn finden!«, erwiderte Jack und spuckte seinen Kautabak aus.

»Ja, kommt nur. Gleich könnt ihr mir folgen, bis ihr vor Erschöpfung umfallt!«, fasste die Fähe in Worte, die sie auszusprechen nicht vermochte und kehrte ihnen den Rücken zu. Zunächst rannte sie ostwärts, so schnell sie konnte, doch dann fiel ihr ein, dass die Menschen nicht Schritt halten konnten mit einem Wolf. Deshalb blieb sie stehen und wartete auf die Jäger. Sie konnte deren Schnaufen genau hören und bald darauf tauchten auch die Köpfe zwischen den Bäumen auf. Als Jack sie entdeckte, machte sie einen Satz und lief weiter, diesmal langsamer, um ihnen Gelegenheit zu geben, ihr zu folgen. Sie entfernte sich immer weiter von der Stelle, an der sie Linus versteckt hatte. Trotzdem dies der Plan war, befürchtete sie, nicht mehr zurückzufinden. An einem alten Ahornbaum blieb sie stehen und rieb ihr Fell an der Rinde. So hoffte sie, zumindest eine Duftmarke zu hinterlassen, der sie dann folgen könnte, wenn sie die Jäger weit genug in den Wald gelockt hatte, so dass sie nicht so schnell wieder hinausfinden würden. Den Rest würden die anderen Wölfe übernehmen, blutrünstige, wilde Tiere, die nur auf verirrte Menschen warteten.

*


Währenddessen war Linus wieder Herr seiner Sinne und schälte sich aus dem modrigen Laubhaufen. Er hatte mitbekommen, wie Soraja ihn damit eingehüllt hatte, aber er war nicht in der Lage gewesen, sich dagegen zu wehren. Langsam kehrten die Kräfte in seine Beine wieder zurück und er stand auf, um sich das restliche Laub aus der Kleidung zu klopfen. Er rieb sich die schmerzende Stelle am Hinterkopf und ertastete eine gewaltige Beule. Nun wunderte es ihn nicht, dass er bewusstlos geworden war. Vorsichtig blickte er sich um, denn das Letzte, woran er sich vor seiner Ohnmacht erinnern konnte, war der Schuss. Männer waren hinter ihnen her gewesen und hätten sie beinahe erschossen. Aber wo war Soraja?

 
Ein Beben ging von seinem Herzen aus und verteilte sich über den gesamten Körper.

»Soraja!«, stieß er leise aus. Doch es gab keinen Hinweis darauf, dass sie in der Nähe war. Er stieg die Böschung hinauf, lief um die Senke herum, die er hinuntergestürzt war und suchte nach irgendeinem Anhaltspunkt, was mit der Wölfin geschehen sein konnte.

»Soraja! Wo bist du?«, rief er in den morgendlichen Wald hinaus. In den Kronen hatte sich der feine Nebel verfangen. Demnach war er gar nicht lange bewusstlos gewesen, und Soraja musste hier ganz in der Nähe sein.

 
Während er nach ihr rief, drängte sich ihm ein schrecklicher Gedanke auf, der ihn zurücktaumeln ließ. Vor seinem inneren Auge erschien ein Bild, das seine Liebste zeigte. Sie lag auf der Seite und atmete flach. Ihr helles Fell war blutverklebt und sie blickte ihn aus leidenden Augen an, als flehe sie um Erlösung. Sein Herz schlug im Hals und drohte, ihn zu ersticken. Linus stützte sich an einem Baum und versuchte, seinen Atem wiederzuerlangen.

»Nein! Das ist nicht wahr!«, murmelte er und versuchte sich von dem Gedanken zu lösen. »Du lebst! Du lebst, weil ich sonst mit dir gestorben wäre!«

Nur langsam fasste er sich wieder. Schließlich suchte er nach Spuren, die ihm wenigstens die Richtung zeigen würden, in die Soraja gelaufen war. Doch weder Pfotenabdrücke noch Blut wollte der Waldboden hergeben. Über Letzteres war er erleichtert, so schlug er einen Pfad ein, der ihn westwärts führte. Mit etwas Glück, so hoffte er, würde sie auf ihn warten und sie wären bald wieder vereint.

Unter seinen Füßen verlor sich der Pfad allmählich und er geriet in ein Waldstück, dessen Bäume so dicht beieinanderstanden, dass nur wenige Sonnenstrahlen an ihnen vorbeidrangen. Über das Laub hatte sich eine dünne Frostschicht gelegt. Es brach regelrecht unter seinen Füßen. Auch die Geräusche wurden dumpfer, die ganze Atmosphäre war mit einem Mal gekippt. Ihn umgab der Schleier von etwas Bösem. Seine Schritte wurden von dem nun bemoosten Grund regelrecht verschluckt. Nicht ein Geräusch gab dieser wider. Hier fühlte sich Linus nicht wohl. Es war, als wolle der Wald ihn dazu bewegen, wieder umzukehren. Aber das Plätschern fließenden Wassers gab dem jungen Mann Hoffnung, denn das musste bedeuten, dass diese bedrückende Atmosphäre bald ein Ende haben würde. Voller Erwartung wurden seine Schritte größer und er achtete nicht mehr darauf, wo er hintrat. So war ihm auch nicht aufgefallen, dass unter seinen Füßen ein Efeuteppich wuchs, dessen Ranken tiefe Wurzeln in das Erdreich geschlagen hatten. Linus bemerkte nicht, wie sein Fuß durch eine Schlinge glitt, er blieb hängen und stürzte die seichte Steigung hinauf. Dabei streifte ein aus dem Baum ragender Ast sein Gesicht und verpasste ihm eine brennende Strieme.

»Verfluchter Mist«, stieß er aus und zog seinen Fuß aus dem Efeu. Doch das Grün um ihn herum schien von Leben erfüllt, denn die Efeuranken hielten aus allen Richtungen auf ihn zu, um sich um seinen Knöchel zu legen. Linus erstarrte. Plötzlich lösten sich die Schlingen und fielen ab.

»Was verdammt ...?«, stieß er aus und versuchte das eben Erlebte zu verdauen. Linus war sich sicher, der Hunger und die Übermüdung hatten ihm einen Streich gespielt.

 
Seine Finger waren vor Kälte steif und betäubt. So fiel Linus auch erst auf, dass der kleine Finger seiner rechten Hand auf unnatürliche Weise verkrümmt war, als er seine Hände rieb, um sie zu wärmen. Ein heller Schmerz zog durch die Hand, die er betrachtend vor sein Gesicht hielt. Das vordere Fingerglied war so stark nach oben geknickt, dass er nahezu einen rechten Winkel bildete. Nun sah er auch, dass der abgeknickte Finger nicht nur anschwoll, es schoss eine tiefblaue Färbung in die Fingerkuppe, die sich gemächlich ausbreitete. Linus empfand Ekel gegenüber seiner Hand, die er nach wie vor in Augenschein nahm. Er spürte ein Aufkochen in seinem Magen, der sich zu entleeren drohte. Die Säure schoss seine Kehle hinauf und er schluckte sie wieder hinunter. Denn ihm fiel ein, dass er keine Spuren hinterlassen durfte, die jene Männer lesen könnten, die es auf ihn und seine Liebste abgesehen hatten. »Soraja«, stieß er mit einem gehörigen Schuss Verzweiflung in der ohnehin dünnen Stimme aus.

Doch sein Magen besaß nicht die Stärke, den Anblick des Fingers zu verkraften. Und so kam es, dass Linus den einsetzenden Würgereiz nicht verhindern konnte und kräftig erbrach. Die Magensäure drängte mit einer unkontrollierbaren Stärke hinaus und traf einen Baumstamm, an dem sie hinunterträufelte. Der Geruch sorgte für einen erneuten Ausbruch seines Mageninneren und traf diesmal das, zu seinen Füßen wuchernde, Efeu. Aber auch etwas anderes wurde von der gelben Körperflüssigkeit bedeckt. Etwas, das nicht hierher gehörte. Linus registrierte zwar die Schuhe, die vor ihm aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schienen, konnte aber nicht reagieren, denn sein Ekel hatte ihn erneut übermannt. Mit einem schweren Platschen landete auch dieser Schwall auf den Schuhen vor ihm. Seine Kehle brannte und ein Husten hatte sich eingestellt, dem der junge Mann sich nicht entziehen konnte.

»Wäre schön, wenn du dir das nächste Mal ein anderes Ziel suchst, Junge«, vernahm Linus eine warme männliche Stimme.

Der Brechreiz hatte sich gelegt, aber ihm schien, als hätte er sämtliche Wärme aus dem Körper gewürgt. Ein Zittern stellte sich schlagartig ein, das seine Zähne aufeinanderschlagen ließ. Linus wollte etwas sagen, sich zumindest bei dem Fremden entschuldigen, aber die Kälte hatte ihn eingefroren. Er konnte sich nicht regen, nicht einmal verteidigen, sollte der Fremde keine guten Absichten hegen. Vorsichtig blickte Linus hinauf, er wollte wenigstens die Augen seines Gegenübers gesehen haben, ehe er womöglich sein Leben einbüßte. Und wäre er nicht steif vor Kälte gewesen, so wäre er es nun vor Schreck, denn der Fremde trug den Pelz eines Wolfes über seinen Schultern. Sofort dachte er an Soraja und hoffte, sie wäre diesem Kerl nicht begegnet. Dieser Typ war offensichtlich Sorajas größte Gefahr, noch gewaltiger, als die Jäger mit ihren Flinten. Das Herz schlug ihm im Hals und die Bäume begannen, sich zu drehen. Seine Knie gaben nach und Linus fühlte gerade noch so den Aufprall seines Körpers auf dem bewachsenen Waldgrund, ehe ihn die vollkommene Dunkelheit erfasste.

 

Die Hütte im Wald


Gedämpfte Geräusche drangen an das Gehör des jungen Mannes. Nur langsam kam er wieder zu sich. In seinem Kopf schienen sich Hummeln eingenistet zu haben, die unaufhörlich umherschwirrten und dafür sorgten, dass sich alles drehte. Vorsichtig öffnete Linus seine Lider und versuchte zu erfassen, wo er war. Hier war es angenehm warm und es duftete nach würziger Gemüsebrühe. Seichtes Licht umspielte einige Gegenstände, die auf einem schmalen Holzregal standen. Linus erkannte Becher, einige Bücher und auch den Schädel eines Tieres. Staubflocken tanzten in den Sonnenstrahlen, die durch das Fenster brachen und ihren goldenen Schein über den Raum legten.

 
Blechernes Klappern erfüllte den Raum. Er war demnach nicht alleine. Aber wer hatte ihn hierher verschleppt. Die Erinnerungen an die letzten Bilder vor der Besinnungslosigkeit drängten in sein Bewusstsein. Der Fremde im Wolfspelz, dessen Bild durch seinen Kopf schwirrte, jagte ihm einen Schauer über den Rücken, und Linus richtete sich auf. Was war das nur für ein Ort? In der Mitte des Raumes erkannte er einen Tisch, auf diesem lag ein aufgeschlagenes Buch, umgeben von Kerzen und gläsernen Röhren. So etwas hatte er nie zuvor gesehen. Er hatte von Alchemisten gehört, die aus den Gaben der Natur Tränke zu brauen vermochten. Tränke, die einem Flügel wachsen ließen, oder den Körper vom Geist zu trennen in der Lage waren. Erneut ergoss sich ein kalter Schauer über ihm. Wenn er denn nun einem solchen Zauberer in die Fänge geraten war, dann lag sein Leben in dessen Hand. Denn die Geschichten erzählten auch von dunklen Mächten, mit denen diese Hexer im Bunde wären. Verbindungen mit Dämonen, die nach menschlichem Blut verlangten. Mit der Hexe und ihrem Fluch hatte er genug Hexerei für ein ganzes Leben erlebt.

Entschlossen, sich aus dieser Falle zu befreien, schlug er die Decke auf und schob die Beine vom Bett. Mit nackten Füßen, denn man hatte ihn offensichtlich seiner Schuhe beraubt, schlich er zum Fenster, um einen Blick hinauszuwerfen. Mit der Handkante wischte er die beschlagene Fensterscheibe frei. Dabei fiel ihm sein kleiner Finger auf, aber es deutete nichts auf die Verletzung hin, an die er sich lebendig erinnerte. Linus war sich nicht sicher, ob dies die Realität war. Sein Finger hatte bei dem Sturz eine schlimme Verletzung davongetragen, und nun war diese wie von Zauberhand verschwunden. Er betrachtete seine Hand im einfallenden Licht und beugte den Finger, streckte ihn wieder und besah ihn sich von allen Seiten. Nein, das musste ein Traum sein, ein Delirium, verursacht durch den Sturz. Wahrscheinlich hatte er sich den Kopf erneut angeschlagen, ohne es bemerkt zu haben. Vielleicht war ihm die Kälte in den Kopf gestiegen und produzierte solche konfusen Bilder, dachte er. Sein Blick schweifte durch das Fenster, nach draußen. Bäume, nichts als Bäume. Ein dicht bewachsener Wald lag vor seinem Fenster. Vorsichtig drehte er an dem Knauf und zog das Fenster ein kleines Stück auf. Eisige Kälte schlug ihm entgegen und ließ ihn erzittern, und trotzdem stand er da und lauschte den hoffnungsvollen Klängen. Er musste ganz in der Nähe von fließendem Wasser sein, denn das Plätschern, das ihn tiefer in den Efeuteppich gelockt hatte, war ganz deutlich zu hören. Es war so laut, dass er auf der anderen Seite der Hütte einen Fluss vermutete.

Schritte näherten sich dem Raum, in dem er sich gefangen fühlte. Rasch schloss er das Fenster und eilte zurück ins Bett, drehte sich der Wand zu und zog die Decke über die Schulter. Die Türklinke wurde unter einem lauten Quietschen hinuntergedrückt. Linus musste schlucken. Waren dies seine letzten Atemzüge, die er tat?

*


Das Heulen eines Wolfes gellte durch den Wald. Soraja schreckte auf. Keinen Schritt würde sie mehr weiter gehen, jetzt musste sie sich unbemerkt davonschleichen, wollte sie nicht selbst in die Fänge der Bestien geraten.

»Da vorne, ich hab sie gesehen«, hörte die Wölfin einen der Jäger sagen. Der Abstand zwischen ihnen war noch zu gering, um ihre Spur zu verwischen. Sie musste sich entscheiden und hatte keine Zeit für lange Überlegungen. Ihr Herz schrie nach Linus und ihr Verstand nach Flucht. Aber wohin sollte sie fliehen? Erneut jaulte ein Wolf auf und weitere taten es ihm gleich. Soraja richtete die Ohren auf und lauschte dem Rufen, das sie auf wundersame Weise anzog. Mit aller Macht wehrte sie sich dagegen und schüttelte ihr wallendes Fell, während die Männer sich näherten. In einem Moment der Leere in ihrem Kopf übernahmen ihre Läufe das Kommando und liefen dem Heulen entgegen.

 
»Es reicht! Die führt uns an der Nase herum! Wir kümmern uns jetzt um das Mistvieh und dann finden wir den Bengel selbst. Er kann ja nicht weit gekommen sein«, bestimmte Jack wütend.

»Ich kann nicht mehr. Lauft ihr nur, ich warte hier«, jammerte Ryan japsend und kassierte einen Tritt seines Kumpanen.

»Nix da! Steh auf und komm! Du willst dir doch die Trophäe nicht entgehen lassen.«

 
Das Herz der Fähe drohte zu zerspringen. Die Worte der Männer besiegelten soeben ihre endgültige Bestimmung. Doch das wahre Leid ergriff sie mit dem Gedanken an Linus. Ohne ihren Schutz wäre er hoffnungslos verloren im Wald. Er würde sich verlaufen und dem Schicksal erliegen, das sie für die Jäger geplant hatte. Ein Zucken in den Lefzen verdeutlichte ihre Wut über das scheinbar Unabwendbare. Sie fletschte die Zähne und spürte das Rollen in ihrer Kehle, noch ehe ein Knurren ihren Leib verließ. Erneut jaulten die Wölfe auf, diesmal klangen sie gefährlich nahe. Ein Schuss fiel und verfehlte Soraja um Haaresbreite. Sie zuckte zusammen. Was sollte sie nur tun? Ein weiterer Schuss streifte einen Stamm neben ihr. Soraja erstarrte. Schließlich tauchte Jack zwischen den Bäumen auf. Die Wölfin blickte direkt in das Flintenrohr.

»Ich hab sie«, schrie er und spannte den Hahn.

Sorajas Gedanken überschlugen sich. Sie dachte an Linus und seine unerschütterliche Liebe. Ein kurzer Gedanke an ihren Vater verirrte sich und schaffte wieder Raum für Linus. Sie hatte ihn verscharrt und war fortgelaufen, um ihn zu retten, aber es fühlte sich so falsch an.

»Wäre ich doch nur geblieben«, formten sich die Worte in ihrem Kopf. »Nun werde ich sterben und du wirst mir folgen, mein geliebter Linus

»Schieß doch endlich!«, hörte sie jemanden rufen und schloss die Augen, denn den Funken, der ihr Leben auslöschen würde, wollte sie nicht sehen.

*


»Ich weiß, dass du wach bist«, brummte eine Männerstimme. »Brauchst dich nicht verstecken, Junge.«

Linus wollte sich aber verstecken, genau genommen wollte er verschwinden. Ihm war die Angst in die Glieder gekrochen, dass die dünne Decke über ihm bebte. Alles an ihm hatte sich verkrampft und scheute jede Regung, bis auf das Zittern, das sich einfach nicht kontrollieren ließ. Eine Berührung sprengte schließlich die Anspannung und Linus sprang mit einem Satz auf, um seinen Rücken in der hintersten Ecke des Bettes an die Wand zu pressen.

»Ganz ruhig Junge. Ich will dir nichts tun«, sagte der Mann, der sich auf die Bettkante gesetzt hatte und ihn betrachtete.

Linus musterte ihn genau. Er war sich nicht sicher, eben diesen Mann vor seiner Ohnmacht gesehen zu haben. Der Kerl auf seinem Bett sah wesentlich älter aus, als der Mann im Wolfspelz. Er trug einen ergrauten Vollbart, unter dem kaputte Zähne hervorblitzten. Er blickte den Jungen aus freundlichen Augen an, die ein Kranz aus Falten umgab. Die buschigen Augenbrauen erinnerten Linus an Sorajas Vater und er schluckte einen Schwall Tränen hinunter.

»Dass du kommen würdest, das wusste ich«, sagte der Mann und musterte Linus. »Aber warum bist du alleine?«

Linus steckte ein Kloß im Hals. Selbst, wenn er gewollt hätte, er konnte nicht antworten.

»Ach, ich Schussel. Du musst ganz verwirrt sein. Wachst bei einem fremden Kerl auf und weißt nicht einmal, wie dieser heißt. Mein Name ist Evan.«

Aber Linus war nicht nach einem Plausch, er wollte nur weg, um nach Soraja zu suchen.

»Ich verstehe, du willst mir deinen Namen nicht sagen. Nun gut, ich habe dir eine Brühe gekocht. Die wird dich aufwärmen«, sagte Evan mit sanfter Stimme, stemmte seine Hände auf die Knie und erhob sich von der Bettkante. Dann schlurfte der alte Mann wieder zur Tür. Gerade, als er diese hinter sich schließen wollte, erreichte ihn ein leises Flüstern. »Linus.«

Er steckte seinen Kopf durch den schmalen Türspalt und erwiderte mit einem Lächeln: »Freut mich, Linus. Lass es dir schmecken.« Schließlich zog er langsam die Tür hinter sich zu und seine schlurfenden Schritte entfernten sich.

Linus war durchgefroren, wie selten vorher. Er rutschte zur Bettkante und blickte zum Tisch. Aus einer irdenen Schale stieg heißer Dampf auf und erfüllte den kleinen Raum mit dem Duft gekochten Gemüses. Eigentlich traute er Evan nicht, aber er hatte keine Wahl, denn sein Magen rebellierte lautstark. Also zog er die Decke unter sich hervor, um diese über seine Schultern zu legen, und beugte sich nach vorne. Der warme Dampf legte sich über sein Gesicht, das er über die Schale hielt. Seine kalten Finger griffen nach dem heißen Steingut und die Wärme entkrampfte ihn ein wenig. Dann nippte er an der Brühe und verteilte den winzigen Schluck in seinem Mund. Der Geschmack entfaltete sich in einer Explosion, und Linus nahm einen weiteren Schluck. Die warme Speise glitt seine Kehle hinunter und verteilte die mitgebrachte Wärme in seinem Körper.

*


Der wölfische Körper bebte in Erwartung des unausweichbaren Todes. Die Anspannung war kaum auszuhalten und Soraja wünschte sich, dass der Kerl mit der Flinte endlich Erbarmen mit ihr zeigen, und abdrücken würde. Doch dann geschah etwas, das die ganze Situation ins Kippen brachte. Etwas glitt so schnell über ihren Körper hinweg, sie einen Windzug in ihren Fellspitzen spürte. Ein Schuss löste sich, aber Soraja fühlte keinen Schmerz. Dann hörte sie das Knurren und Fletschen anderer Wölfe. Ihre Augen waren vor Angst immer noch fest verschlossen. Wenn sie nicht durch eine Kugel sterben würde, dann durch die Wölfe, die sie nun offenbar umzingelten, dachte die Fähe.

»Steh auf, Kleines«, hörte sie eine sanfte Stimme sagen. Sie klang fast warm und Soraja dachte, den Geist ihrer verstorbenen Mutter zu hören.

»Mach die Augen auf, Liebes«, ertönte die Stimme erneut, und Soraja gab ihrer Neugier nach.

Vorsichtig öffnete sie die Lider und blickte einer grauen Wölfin in die Augen, die das klare Wasser des Ozeans widerspiegelten. Erschrocken legte sie ihre Ohren an und duckte sich. In ihr wuchs der Drang danach, sich ergebend auf den Rücken zu legen, aber ihr Stolz überwog.

»Hab keine Angst. Ich möchte dir helfen«, hörte sie die Graue sagen, ohne dass diese ihre Lefzen bewegte.

Soraja überlegte, wie sie das anstellte, als prompt die Antwort kam.

»Ich werde es dir erklären, ich bringe es dir bei. Aber jetzt musst du bitte aufstehen und mit mir gehen, damit das Rudel seine Arbeit machen kann«, meinte die Graue und deutete mit dem Kopf auf eine Stelle hinter Soraja. Sie blickte sich um. Vier Wölfe hatten die Männer eingekreist und hielten sie zähnefletschend in Schach. Die junge Fähe wollte nicht darüber nachdenken, wie die Arbeit des Rudels aussehen würde. Aber sie wusste, dass die Männer es nicht überleben würden. Eigentlich wollte sie nicht, dass jemand zu Schaden kam, aber dieser Jack hatte auch kein Mitleid mit ihr gehabt. Mitleid. Das war es, das sie in den Augen des einen entdeckt hatte.

»Sie werden ihn verschonen«, antwortete die Graue auf Sorajas Gedanken. »Komm!«

 
Die graue Wölfin machte einen Satz und lief los. Soraja folgte ihr. Als sie eine gute Strecke hinter sich gelassen hatten, gellten ihnen Schreie hinterher, in denen Todesangst und Schmerz lagen. Sie wusste, dass die Männer in diesem Moment ihr Leben verwirkten, dafür musste sie das Geschehen nicht sehen. Soraja schluckte. Ohne das Rudel wären es ihre Schreie, vielmehr ihr Jaulen gewesen, das diesen Wald erfüllen würde.

Jetzt, da die Jäger ausgeschaltet waren, trieb es sie sofort zurück zu Linus. Sie blieb plötzlich stehen und reckte ihre Nase in die Höhe, um ihre eigene Fährte aufzunehmen. Aber die Gerüche des Waldes überlagerten einander.

»Er ist in Sicherheit«, vermeldete die Graue.

Soraja stutzte, wollte sich aber nicht auf die Aussagen einer Fremden verlassen. Scheinbar konnte diese auch noch ihre Gedanken lesen, was ihr einen Schauer über den Rücken jagte, so dass ihr Fell sich sträubte.

»Das kannst du auch, du empfängst doch die ganze Zeit meine Gedanken«, erwiderte die Wölfin und lief gemächlich weiter.

»Was? Ich kann Gedanken lesen? Was für ein Zauber ist das denn?«, dachte Soraja entsetzt.

»Wenn wir auf jemanden treffen, der wie wir ist, dann hören wir seine Gedanken. Du wirst dich daran gewöhnen. Und mit ein bisschen Übung kannst du auch die Worte deines Geliebten vernehmen

»Wer bist du?«, wollte Soraja nun wissen.

»Mein Name ist Abigail. Ich bin die Gefährtin von Evan. Vor vielen Leben traf uns der Zorn einer Hexe, die Evan verärgert hatte. Ganz genau, wie bei dir und ...«

»Linus«, unterbrach Soraja. »Ich muss ihn finden. Er ist der Kälte ausgesetzt und ich fürchte, er ist schwerer verletzt, als es den Anschein hatte. Ich muss ihn finden.«

Abigail ging in gemächlichem Tempo weiter, ohne Soraja zu antworten. In der Nähe eines Flusses blieb sie stehen und betrachtete die Fähe.

»Ich bin so gespannt darauf, wie du in deiner menschlichen Form aussiehst. Als Wölfin bist du wunderschön«, sagte sie und schritt durch den wuchernden Efeuteppich.

Soraja eilte ihr hinterher. »In meiner menschlichen Form? Wie meinst du das? Kennst du einen Gegenzauber? Bitte, du musst ihn mir verraten. Bitte, ich stünde auf Lebzeit in deiner Schuld

»Sei vorsichtig mit deinen Versprechungen. Ich nehme dich mit nach Hause. Evan kann dir helfen, er hat einige Erfahrungen im Umgang mit Magie sammeln können«, antwortete Abigail und näherte sich dem Fluss, der plötzlich hinter dem Dickicht aufgetaucht war.

Genussvoll nahm sie einige Schlucke des klaren Wassers auf und schüttelte die Tropfen ab, die sich in ihrem Fell verfangen hatten.

Soraja sorgte sich, den Weg zu Linus nicht zurückzufinden. »Ich kann nicht mit dir mitgehen«, meinte sie schließlich. »Ich muss nach Linus suchen.«

Aber Abigail schien das nicht zu interessieren, sie beachtete Sorajas Zweifel nicht und lief einfach weiter.

»Warte. Ich werde jetzt gehen. Hörst du? Es hat mich gefreut, deine Bekanntschaft gemacht zu haben, ich bin dir auch dankbar, dass du mich gerettet hast, aber hier trennen sich unsere Wege«, erklärte Soraja und fing sich einen verdutzten Blick ein.

»Hast du mir vorhin nicht zugehört, als ich sagte, dein Geliebter wäre in Sicherheit? Du kannst jetzt nicht gehen, denn dein Linus dreht durch, wenn ich ihm sage, dass du zu stur warst, mir zu folgen«, bemerkte Abigail in scharfem Ton.

Soraja traute ihren Ohren nicht. »Was weißt du von ihm? Wo ist er?«

Die Graue antwortete nicht, legte ihren Kopf etwas schief und betrachtete Soraja wortlos. Dann wandte sie sich um und lief weiter.

Voller Skepsis verfolgte Soraja jede Bewegung der Wölfin. Wenn sie nun nicht die war, für die sie sich ausgegeben hatte, wenn sie nichts Gutes im Schilde führte, dann würde Soraja in ihr nächstes Unglück stolpern.

*


Bis auf den letzten Tropfen hatte Linus das steinerne Gut geleert. Nun war es an der Zeit, sich ein wenig umzusehen. Von Evan schien keine Gefahr auszugehen, im Gegenteil: Er hatte den jungen Mann vor der Kälte gerettet und ihn versorgt. So, wie es aussah, hatte er sogar seinen Finger gerettet. Linus beschloss, dem Alten mit Vertrauen entgegenzutreten. Er stand auf und warf die Decke über die Schultern. In der Hütte war es kühl und seine Kleidung war verschwunden, sodass ihm lediglich seine Unterwäsche geblieben war. Linus spürte die Rillen der Dielen unter seinen nackten Füßen. Eine von ihnen antwortete mit einem lauten Knarren auf seine Bewegung und er zuckte erschrocken zusammen. Vorsichtig drückte er die Klinke hinunter, doch das Quietschen konnte er nicht umgehen. Er hatte sich umsehen wollen, aber jetzt würde er bestimmt von Evan in Empfang genommen werden und müsste Fragen beantworten. Einen kurzen Moment lauschte er in die Stille hinein. Ein leises Knarren in gleichbleibendem Takt erfüllte die Hütte, sonst war nichts zu hören. Linus schlich auf Zehenspitzen durch den schmalen Flur und kam an einen relativ großen Raum. Nicht so groß, wie die Stube seines langjährigen Herren, aber größer, als das Zimmer, in dem er erwacht war. Die dürftig zusammengezimmerte Holztür stand einen Spalt offen und Linus steckte vorsichtig seinen Kopf hindurch. Das Knarren verstummte sofort und Evans Stimme ertönte in einem sanft brummenden Ton.

»Komm herein, junger Freund.«

Linus schluckte. Am liebsten hätte er kehrt gemacht, aber sein Anstand verbot es ihm. Nun war er entdeckt worden und würde sich Fragen stellen müssen, auf die er selbst keine rechte Antwort wusste.

»Ich ..., ich wollte mich nur etwas umsehen«, stammelte er leise.

»Wie ich sehe, hat meine Brühe deine Lebensgeister wieder entfacht. Komm und setzt dich zu mir«, forderte Evan ihn auf.

Der Alte saß in einem Schaukelstuhl und deutete auf einen Ohrensessel neben dem offenen Kamin. Dann legte er ein Paar Latschen vor den Sessel und lehnte sich wieder zurück. Linus blickte zu seinen nackten Füßen hinunter und rieb die kalten Zehen aneinander.

»Nun komm schon, ich beiße nicht.«

Der junge Mann gehorchte. Es lag in seiner Natur, oder war es die jahrelange Erziehung seines Herren, die den Gehorsam geformt hatte? Er versank in dem Sessel, den das brutzelnde Kaminfeuer mit wohliger Wärme versehen hatte und schob seine Füße in den Filz.

»Ich kann mir vorstellen, wie verwirrt du sein musst. Ich war es damals nicht weniger, und es ist schon so viele Jahre her. Trotzdem brennt es in meinem Gedächtnis, als wäre es gestern geschehen ... all die Jahre über«, sagte Evan in melancholischem Tonfall, während er den Tanz der Flammen betrachtete. Das goldene Licht spiegelte sich in seinen rehbraunen Augen wieder und umspielte das Leid, das in ihnen wohnte.

»Ich verstehe nicht ganz, wovon du redest«, räumte Linus ein.

Evan lachte auf. »Du verstehst es nicht?« Plötzlich verfinsterte sich seine Mine und er beugte sich zu dem Jungen vor. »Uns verbindet dasselbe Schicksal«, sagte er mit weit aufgerissenen Augen.

Linus bekam es mit der Angst. Er wollte aufspringen und gehen, aber sein Körper gehorchte ihm nicht. Er starrte den alten Mann an, der sich nun wieder entspannt in seinem Schaukelstuhl zurückgelehnt hatte und dessen Bewegungen genoss.

»Vielen Dank für die Gastfreundschaft, aber ich müsste mich dann langsam wieder auf den Weg machen«, versuchte Linus zu erklären, aber der Alte schüttelte nur den Kopf. »Warte. Sie kommen. Wenn du dann immer noch gehen willst, steht es dir selbstverständlich frei.«

 
Das Herz wollte dem Jungen aus der Brust springen. Er dachte an die Jäger und den Kerl mit dem Wolfspelz. Ihm wurde mulmig bei dem Gedanken, Soraja könnte von

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Dana Müller / Jennifer Müller 2015/2019
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Dana Müller 2019
Lektorat: A.Müller / Aileana Blair
Tag der Veröffentlichung: 22.09.2015
ISBN: 978-3-7396-1494-6

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Die Geschichte basiert auf der Fantasie der Autoren und ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Handlungen sind rein zufällig und nicht gewollt. http://danamueller.jimdo.com/ https://www.facebook.com/pages/Dana-Müller/258472350978589 @HotTintenfieber Text Copyright © 2014/2015/2019 Dana Müller & Jennifer Müller Alle Rechte vorbehalten. Insbesondere das Recht der Vervielfältigung und des Nachdrucks in jeglicher Form.

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