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Lupus Amoris

»Erlösung« 

 

Band 3

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Roman

Auf der Flucht

 

Da waren sie also, mitten auf dem Freeway, auf der Flucht, und doch hatten sie eine Mission zu erfüllen.

Die Ereignisse hatten sie nicht auseinander getrieben, sondern fester zusammengeschweißt. Sie waren eine Familie, in der jeder Einzelne für den Anderen sterben würde. Und es hatte mehr als zwei Jahrhunderte gebraucht, um zu erkennen, dass sie drei nun einmal zusammengehörten, und jeder von ihnen seinen unangefochtenen Platz in dieser Gemeinschaft besaß. Farids Mutter zu finden, würde ein schwieriges Unterfangen, dessen waren sie sich alle drei bewusst, aber es gab etwas, das ihnen Hoffnung gab: Liebe.

 

Der Morgen kündigte sich mit zarten, purpurnen Fäden am Horizont an. Sie waren die ganze Nacht über gefahren, ohne auch nur an eine Pause zu denken. Zu groß war die Sorge, man könnte ihnen gefolgt sein, ohne dass sie es bemerkt hätten. Innerhalb weniger Tage hatte ihr Leben eine entscheidende Wendung genommen. Nun waren es nicht nur Linus und Soraja, die dem Fluch unterlegen waren. Einem furchtbaren Fluch, der die Liebenden bis in alle Ewigkeit beisammenhalten und doch trennen sollte. Ein Fluch, der an Grausamkeit nicht zu übertreffen war.

Zuletzt hatte Linus die Bürde des Pelzes getragen, aber nun war diese Zeit der Hoffnungslosigkeit für die Liebenden vorbei. Stattdessen aber, war eine neue Bedrohung aufgetreten; eine Gefahr, die nicht zu unterschätzen war: Farid trug nun einen Teil der Last mit, vielmehr trug er die gesamte Last des Fluches, den seine Mutter, eine der mächtigsten und ältesten Hexen auf dieser Welt, ausgesprochen hatte.

 

Oft hatte er in der Vergangenheit bereut, sich zwischen die unerschütterliche Liebe von Linus und Soraja gestellt zu haben, am meisten jedoch seit Soraja einen Trank von einer weisen Frau erhalten hatte. Dieser nämlich hatte dafür gesorgt, dass Farid nun in der Gestalt eines Wolfes umhergehen sollte. Aber das Schicksal war ihnen dennoch gewogen, denn sie waren in den Besitz von drei weiteren Amuletten gekommen, die den Fluch unterdrückten, jedes von ihnen für sechs Tage, sofern es durch das Licht des vollen Mondes geladen war. Und sie hatten noch etwas gefunden, das ihnen Hoffnung gab, den Fluch der Wölfe ein für alle Mal zu bannen: Linus war es, der geistesgegenwärtig alte Schriftstücke an sich gerissen hatte, die zu den Amuletten gehörten.

 

Unvermittelt sprengte Linus das eintönige Brummen des Motors. »Wo fahren wir hin?«

»In die Berge. Ich hab dort ´ne kleine Blockhütte. Die dürfte abgelegen genug sein, nicht aufzufallen. Stell dir einfach mal vor, ich würde mich in einen Wolf verwandeln, unter den Augen normaler Menschen.« Ein nervöses Kichern entfuhr ihm. Nicht etwa, weil er den Gedanken so lustig fand, sondern aus Angst, dieser könnte wahr werden.

Soraja hatte seine Unruhe wie eine Welle empfangen und legte ihre Hand auf Farids Schulter. »Mach dich nicht verrückt. Der Plan ist gut. In der Hütte haben wir bestimmt die nötige Ruhe, uns durch das Buch und die Papiere zu arbeiten. Wir werden schon eine Lösung finden«, versuchte sie ihn zu beruhigen.

Farid nickte zwar zustimmend, aber so wirklich glaubte er nicht daran. Langsam begriff er das ganze Leid der beiden, die seit über zwei Jahrhunderten immer wieder in den Körper eines Wolfes gedrängt worden waren.

»Habt ihr Hunger? Braucht ihr eine kurze Pause? Ich muss tanken«, erklärte Farid und verließ den Freeway, um stadteinwärts zu fahren.

»Ja, so nach über acht Stunden Fahrt, wäre eine Pause nicht übel. Ich muss mir die Beine vertreten«, räumte Linus ein, und ging einen Augenblick in sich. »Sag mal, wo genau liegt die Blockhütte?«

Mit einem Zungenschnalzen neigte Farid den Kopf. »Im schönen Bundesstaat Kalifornien. Genauer gesagt in Kirkwood.«

Linus riss die Augen überrascht auf. »Was? Du verarschst mich! Weißt du, wie lange wir da unterwegs sind?«

Ein Nicken ging Farids Antwort voraus. »Etwa einundvierzig Stunden von New York aus.«

Linus klappte das Kinn hinunter. »Dann brauchen wir definitiv nicht nur eine Pause.«

»Es wird euch dort gefallen. Die Hütte liegt inmitten eines fünf Hektar großen Waldgebiets. Nichts, als die blanke Natur«, ergänzte er und machte Soraja neugierig. Sie lehnte sich vor und suchte den Blickkontakt über den Rückspiegel zu Farid.

»Mischwald?«, wollte sie wissen.

»Eher Nadelwald«, sagte Farid und fuhr in eine kleine Abzweigung.

»Oh, auch schön. Ich mag das Flüstern von Nadelbäumen«, gab sich Soraja zufrieden und lehnte sich wieder an Linus Schulter.

 

Sie erreichten die Grenze zu Ohio und fuhren an eine abgelegene Tankstelle. Kaum kam der Wagen an einer Tanksäule zum Stehen, sprangen sie hinaus, um sich zu strecken und die frische Luft tief in ihre Lungen zu ziehen. Linus joggte einige Male um den Daimler herum, während Soraja in die Tankstelle lief, um sich mit einigen Leckereien einzudecken.

Erst, als Farid ihn aufforderte, damit aufzuhören, um endlich den Tank füllen zu können, stemmte Linus die Hände in die Knie und rang nach Atem. So sehr aus der Form war er schon lange nicht mehr. Er hatte den Eindruck, alle seine Knochen wären während der Fahrt zusammengewachsen.

»So, das wär` s. Soll ich dir was mitbringen? Kaffee? Energydrink? Chips? Irgendwas?«, fragte Farid, während er den Tankschlauch in dessen Haltevorrichtung zurücksteckte.

»Ich komme mit rein.«

 

Mit einem gelben Einkaufskörbchen bewaffnet, stand Soraja an dem Süßigkeitenregal und ließ einen Riegel nach dem anderen in den Korb gleiten. Sie wirkte wie jemand, der den Weltuntergang erwartete. Ihre Augen leuchteten, während sie über die Auswahl glitten und jedes Mal, wenn sie etwas entdeckte, von dem sie der Meinung war, es unbedingt probieren zu müssen, erkannte Linus ein gieriges Aufflackern darin.

»Das willst du doch nicht alles essen, oder?«, neckte er sie mit einer hochgezogenen Braue.

»Ich will zumindest überall mal abbeißen. Hier«, sagte sie und griff nach einem verpackten Zitronenkuchen. »Den habe ich früher schon gerne gegessen, ich wette, er schmeckt jetzt um Längen besser.«

»Wir wissen immer noch nicht, was mit dem Essen passiert. Bis jetzt hat es sich noch nicht verabschiedet. Du solltest deinen Körper wirklich nicht übermäßig strapazieren. Es könnte nach hinten losgehen«, bemerkte er besorgt, aber Soraja hörte ihm überhaupt nicht zu. Voller Vorfreude sammelte sie die Leckereien und widmete sich summend dem nächsten Regal.

Linus sparte sich jeden weiteren Versuch, sie vor sich selbst zu schützen. Er nahm mit einer Coke vorlieb und gesellte sich zu Farid an die Kasse. Dieser hatte ebenfalls einen Korb gefüllt und wartete geduldig darauf, dass der Kassierer die Sachen über den Scanner zog.

»Stell es einfach dazu. Ach, und ... könntest du Soraja zur Kasse bitten? Wir sollten weiter. Von mir aus können wir unsere nächste Pause irgendwo in der Botanik machen, aber hier ist es mir zu«, er blickte hinauf zu der Kamera hinter dem Kassierer, neigte seinen Kopf zu Linus‘ Ohr und fuhr fort: »Gefährlich.«

Als Linus' Überredungskünste nicht fruchteten, zog er Soraja einfach am Oberarm mit sich zu Kasse, wo der Kassierer bereits ungeduldig auf den Korb wartete.

»Meine Güte, Sie haben` s bestimmt noch weit«, bemerkte der dunkelhäutige Mann mit den ungewöhnlich hellen Augen.

»Nein, nicht weit. Wir sind zu einer Party unterwegs. Man kann ja nicht mit leeren Händen kommen«, log Farid und setzte ein breites Grinsen auf.

Beinahe hätte Soraja sich verplappert, aber Linus hatte es rechtzeitig bemerkt und war ihr auf den Fuß getreten, noch ehe sie das erste Wort über die Lippen gebracht hatte. Er hatte nicht fest zugetreten, nur so, dass er ihre ungeteilte Aufmerksamkeit erhielt.

Wortlos folgte sie Farid und Linus aus der Tankstelle. Die beiden Männer waren mit je zwei Papiertüten beladen und Farid hatte Schwierigkeiten, die Tür zu öffnen, so bepackt, wie er war. Soraja eilte ihm zur Hilfe und nahm eine der Tüten an sich.

Sie kletterte auf die Rückbank des Wagens und konnte es kaum erwarten, all die Leckereien zu probieren und sich deren Geschmack auf der Zunge zergehen zu lassen. Vorsichtig drückte sie ihre Nase in die Tüte und nahm einen tiefen Zug. Doch entgegen ihrer Erwartung einer betörend süßen Zucker-und Schokoladenwolke, schlug ihr der Geruch von Tabak und scharfen Kaugummis entgegen.

»Boah! Farid! Das ist deine Tüte! Diese Dinger werden dich eines Tages umhauen!«, entfuhr es ihr und sie reichte die braune Papiertüte mit dem beißenden Geruch zwischen den Sitzen nach vorne.

Farid hatte den Motor bereits gestartet und war angefahren, aber er wusste, dass Soraja nicht Ruhe geben würde, bevor sie nicht ihre Tüte, mit den Süßigkeiten, die sie sich ausgesucht hatte, bekäme. Also schnappte er sich die braune Papiertüte aus ihrer Hand und reichte ihr die andere vom Beifahrersitz.

»Also, wenn du das alles isst, dann wirst du zur Zuckerstange oder klebst an der Decke, weil der ganze Zucker dich aufputscht«, stichelte er.

»Gar nicht wahr. Ich will nur mal probieren«, konterte Soraja, sie wollte sich einfach nicht ärgern lassen.

Erwartungsvoll griff sie hinein und beförderte eine rote Lakritzstange heraus, die sie unter der Nase entlang zog und den süßen Duft einatmete. Dabei schloss sie die Augen und stellte sich einen Sonnenuntergang vor, dessen Farben mit denen einer warmen Farbpalette konkurrierten. Schließlich biss sie ein Stück ab und schob es im Mund umher. Das matte Süß verteilte sich auf ihren Geschmacksknospen und entfachte Lust nach mehr. Soraja zerkleinerte das Stück zwischen ihren Zähnen und schob den Rest der Lakritzstange hinterher. Dann griff sie erneut in die Tüte und holte einen verpackten Brownie heraus. Vorsichtig entfernte sie die knisternde Folie und wurde sofort in eine Wolke aus Kakaoduft gehüllt. Ihre Zähne gruben sich in dem weichen, braunen Küchlein, dessen Geschmack sie in einen Rausch versetzte.

»Boah, lecker.« Die Worte drängten zwischen dem Kuchen aus ihrem vollen Mund heraus.

»Na Hauptsache, es schmeckt«, bemerkte Farid mit einem schiefen Grinsen und konzentrierte sich weiter auf die Straße vor ihnen.

»Ihr müsst das probieren! Es schmeckt nicht, nein! Es verzaubert einen. Es entführt dich in eine andere Welt, an der Schokolade an Bäumen wächst und Lakritze aus dem Boden sprießt«, stellte sie deutlich klar.

»Du meinst das Schlaraffenland«, schlussfolgerte Farid.

»Du solltest das wirklich nicht so in dich hineinstopfen.« Linus‘ Stimme klang besorgt, aber Soraja tat so, als hätte sie ihn nicht gehört und schlemmte weiter.

Immerhin hatte Linus den Wallnusskuchen auch noch nicht verdaut. Wenn das überhaupt möglich war. Obwohl er das Geschmackswunder mit allen Sinnen genossen hatte, als sie in Budapest auf den Flug nach New York gewartet hatten, verspürte er langsam den Anflug von Unwohlsein. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass der Kuchen bereits seit über zwanzig Stunden in seinem Körper verweilte. Er war sich sicher, dass ein Untoter keinen Stoffwechsel hatte, und das bereitete ihm die größte Sorge, wenn er zu Soraja hinübersah.

Aber sie hatte bereits die nächste Katastrophe in Form von Schokoküssen in der Hand und biss genussvoll in den glasierten Zuckerschaum. Kaum hatte sie diesen hinuntergeschluckt, schob sie die Packung an Linus weiter und holte eine Packung Erdnusskekse hervor. Ungeduldig riss Soraja die Pappe auseinander und zog die braune Plastikschale hervor, in der die Kekse feinsäuberlich gestapelt darauf warteten, verzehrt zu werden.

Linus wurde bei dem bloßen Anblick von so viel Süßkram schlecht. In seinem Magen stellte sich ein Rumoren und Kneifen ein, er wandte sich dem Fenster zu und versuchte sich mit der Landschaft abzulenken, die an ihnen vorbeizog.

Soraja hingegen verzehrte den großen runden Keks mit den karamellisierten Erdnüssen und gönnte sich einen Zweiten.

Doch Linus hatte das Gefühl, einen Vulkan verschluckt zu haben, und bat Farid, an den Rand zu fahren.

»Scheiße! Kotz mir bloß nicht ins Auto, hörst du!«, sagte Farid scharf und hielt den Wagen an.

Sofort öffnete Linus die Tür und sprang hinaus. Er schaffte es gerade noch an den nächsten Baum und stützte sich an diesem ab, als die warme, saure Masse in einem gelben Schwall aus seiner Kehle preschte. Schlagartig ging es ihm besser. Das Rumoren war verschwunden und auch das Unwohlsein. Er konnte nicht umhin, sich den quälenden Brei genauer anzusehen und hob einen kleinen Zweig vom Boden auf, mit dem er in dem Zeug herumstocherte, das eben noch in seinem Magen gewesen war.

»Toll! Ich hatte recht!«, rief er und eilte zurück zum Auto.

Kaum hatte er sich hingesetzt, nahm er Soraja etwas ruppig die braune Tüte aus der Hand und stellte diese auf den Beifahrersitz zu der anderen. Dann griff er hinter sich auf die Ablage und holte die beiden Papiertüten herunter, die er zuvor dort platziert hatte, um auch diese zu Farid auf den Beifahrersitz zu stellen.

Soraja beschwerte sich und wollte gerade ihren Süßkram packen, als er ihre Hand etwas unsanft wegschlug.

»Soraja! Ich hab gerade den wundervollsten Wallnusskuchen völlig unverdaut ausgekotzt. Und ich habe nur dieses eine Stück gegessen. Du hast viel mehr in dich reingestopft und es wird auch wieder seinen Weg nach draußen finden. Aber nicht so, wie du es gewohnt bist. Verstehst du, was ich dir damit sagen will?« Seine Stimme dröhnte in dem Auto und erschreckte sie für einen Augenblick, denn sie war es nicht gewohnt, von Linus so angeschrien zu werden.

Trotzdem protestierte sie und schob ihren Arm an Linus vorbei, um ihre heiß geliebte Tüte zurückzuerobern.

»Wenn es mir schlecht geht, weil ich das süße Gold hier mit allen Sinnen genieße, dann ist das halt so. Stell dir vor, ein Blinder könnte plötzlich sehen, aber er wüsste, dass er dafür seinen Arm hergeben müsste, nur, weil er den Sonnenuntergang in vollen Zügen genießt. Glaubst du, er würde die Augen schließen und diese wundervolle Erfahrung einfach so an sich vorbeiziehen lassen? Wenn es mit also hinterher schlecht geht, dann hat es sich gelohnt. Und jetzt lass mich in Ruhe, Linus!«

Ein polterndes Lachen kam vom Fahrersitz und ein Schmatzen aus Sorajas Richtung.

Mit verschränkten Armen lehnte Linus sich zurück und richtete seinen Blick wieder auf die Landschaft.

»Junge!«, lachte Farid erneut auf. »Das war mal ne Ansage!«

»Konzentrier dich lieben auf die Straße und fahr endlich los«, pöbelte Linus und presste die Lippen aufeinander.

 

Doch nur wenige Kilometer später meldete sich auch Sorajas Magen. Als Farid an den Seitenstreifen fuhr, und sie die Tür öffnete, ging es ihr bereits so schlecht, dass sie es nicht schaffte, auszusteigen, sondern ihren Oberkörper nach draußen neigte und sich qualvoll übergab.

Gerne hätte Linus ihren Rücken gestreichelt, oder ihr Haar festgehalten, aber er schmollte immer noch, weil sie ihn so angefahren hatte. Stattdessen entglitt ihm ein »Hab ich doch gesagt«, und er bereute es gleich wieder. Eigentlich Tat sie ihm leid, aber da war die Sache mit dem verletzten Stolz, die ihm keine Ruhe gab, also lehnte er sich wieder zurück, verschränkte die Arme erneut vor der Brust und wandte den Blick von Soraja ab. Die Landschaft war eh viel interessanter, versuchte er sich einzureden. Mit mäßigem Erfolg, denn schon bald meldete sich sein Gewissen, das ihn dazu trieb, wenigstens einen Blick auf seine störrische Liebste zu werfen. Erst einen kleinen, aber dann sah er genauer hin, als ihn ihre schwarzen Ringe unter den Augen trafen. Sofort beugte er sich zu ihr hinüber und nahm ihr Gesicht in die Hände.

»Wenn du fertig bist, mach die Tür wieder zu, damit ich weiter fahren kann«, sagte Farid, aber Linus fauchte ihn an.

»Halt die Klappe! Irgendwas stimmt nicht mit ihr!«

Farid erkannte die Panik, die in Linus‘ Stimme mitschwang, und drehte sich auf seinem Sitz um. Dann sah auch er das Elend in Sorajas Gesicht.

»Mein Schädel brummt. Ich fühl mich nicht gut«, stammelte sie.

»Oh mein Gott! Was ist das nur? Farid, tu doch was!«, schrie Linus und konnte seine Angst um Soraja nicht mehr unterdrücken.

»Fuck! Fuck! Fuck! Was ist das für `ne Scheiße?«, war das Einzige, das Farid einfiel. Seine Augen ruhten weit aufgerissen auf dem Mädchen, dass sie beide liebten. Und sie sah aus, wie der Tod höchstpersönlich.

»Ich hab Durst«, wisperte Soraja und legte ihren Kopf an Linus‘ Schulter.

»Ich hab hier irgendwo Wasser.« Farid löste seinen erschrockenen Blick von Soraja und suchte in seine Papiertüte nach der Wasserflasche.

»Sie hat das Zuckerzeug nicht vertragen, meinst du wirklich, dass sie ihrem Körper noch mehr antun sollte?«, zweifelte Linus, aber Farid ließ sich nicht beirren und öffnete die Flasche.

»Das ist es ja eben. Sie hat den Mist im Organismus, und der muss durchgespült werden. Wenn sie dann das Wasser auskotzt, kotzt sie auch den restlichen Zucker aus«, erklärte er und reichte Linus die Flasche.

Behutsam legte er ihr die Öffnung zwischen die Lippen und neigte die Flasche ein wenig. Das klare Nass benetzte ihren Mund und Soraja nahm die Flasche in die Hand. Kraftlos setzte sie sich auf und saugte so fest daran, dass sie die gesamte Wasserflasche in einem Zug leerte und nach mehr verlangte. Zu ihrem Glück hatte Farid vier davon für die Fahrt gekauft und opferte eine Zweite.

»Die Augenringe werden schwächer. Farid, woher wusstest du das?«, sagte Linus voller Freude.

»Naja, wenn ich zu viel gesoffen hab`, dann hat Wasser immer geholfen. Mein Brummschädel ist dann immer gleich verschwunden. Kleiner Geheimtipp.«

Soraja leerte auch die zweite Wasserflasche, allerdings in geringerem Tempo. Ihr Durst war gestillt, aber sie spürte, wie ihr das Wasser neue Kraft schenkte, also trank sie es Schluck für Schluck, während Farid den Wagen startete und weiterfuhr.

Soraja erholte sich schnell von dem Zuckerschock und bereute tatsächlich nicht, all die leckeren Dinge probiert zu haben. Aber jetzt war klar, dass Linus mit seiner Vermutung recht gehabt hatte. Trotzdem dachte sie daran, diese Orgie des Genusses irgendwann zu wiederholen, nur nicht so bald.

Die Blockhütte

 

Soraja konnte den Daimler von innen nicht mehr sehen. Nie wieder würde sie eine derart lange Reise in einem Auto machen. Linus ging es genauso, aber er schwieg. Ganz im Gegensatz zu Soraja, die seit einigen Stunden in sich verringernden Abständen jammerte, wann sie denn endlich ankommen würden. Aber Farid hatte immer nur geantwortet: »Wenn wir da sind«, was Soraja bereits nach dem zweiten Mal missmutig gestimmt hatte.

 

Dann fuhren sie endlich einen schmalen Weg hinein, der in einen dichten Nadelwald führte. Soraja war ganz still geworden, während sie die Scheibe hinuntergelassen hatte, um den Kopf hinauszustecken. Sie hatte das Zwitschern und Hämmern vermisst und nahm die altbekannten Eindrücke tief in ihrer Seele auf. Der Wald begrüßte sie mit einer leichten Brise, die sich in den Fichten verfing und ihnen ein Flüstern entlockte.

»Du wolltest doch wissen, wann wir da sind. Nun, du kleine Nervensäge, wenn du bitte deinen Blick nach vorne richten würdest?«, sagte Farid mit einem Schuss Humor, den Soraja gar nicht von ihm kannte.

Sofort zog sie den Kopf wieder ein und neigte sich nach vorne, um sich zwischen den Vordersitzen zu positionieren.

»Boah!«, staunte sie und bekam den Mund nicht mehr zu. »Das ist traumhaft. Und es gehört dir?«

Mit einem Nicken antwortete Farid und fuhr näher ran.

»Das hast du doch nicht für dich gekauft?«, meldete sich Linus zu Wort, der genau wusste, dass Farid sich nur in der Stadt so richtig wohlfühlte.

»Also, gekauft hab ich es nicht. Und hast recht, ich hätte es auch nicht gekauft. Ich hab den Kasten beim Pokern gewonnen.« Ein kleiner Hauch von Stolz schwang in Farids Stimme mit, denn er hielt sich für einen guten Spieler. Keinen wirklich Ehrlichen, aber einen, dessen Methoden, zu gewinnen, in all den Jahren nicht aufgeflogen waren. Und das war es, was wirklich zählte, wie er fand.

 

Kaum kam der Wagen zum Stehen, hüpfte Soraja wie ein junges Reh hinaus, warf den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und breitete die Arme weit aus. Sie drehte sich mehrmals um die eigene Achse und atmete den würzigen Duft der Nadelbäume ein.

So ausgelassen hatten Linus und Farid Soraja lange nicht gesehen. In der Stadt hatte sich mit der Zeit ihre Mimik schier versteinert, sie war beinahe zu einem der traurigen Geschöpfe geworden, denen die Stadt gehörte.

»Komm, ich zeig dir alles. Lass sie noch ein bisschen die Natur begrüßen«, meinte Farid und stieg ebenfalls aus.

Linus folgte ihm wortlos, konnte seine Augen aber nicht von Soraja lösen.

»Wie schön sie ist«, bemerkte er auf dem Weg zu dem Gebäude. Eigentlich sagte er das eher zu sich selbst, aber Farid bestätigte mit einem »Wohl wahr«, und stieg die fünf Stufen zu der Veranda hinauf, die das gesamte Haus rahmte.

Was Farid so untertrieben Hütte genannt hatte, war in Wirklichkeit ein richtiges Haus mit viel Liebe zum Detail. Neben der Eingangstür befand sich eine Holzskulptur. Ein stehender Bär, an dem eine große Metallschaufel lehnte und zu seiner Rechten ein Blechadler mit beweglichen Flügeln. Linus blickte die Veranda rechts hinunter. Zwei weiße Schaukelstühle fielen ihm sofort ins Auge und er wusste, dass er dort heute Abend mit Soraja sitzen wollte, um die Nacht zu begrüßen. Es war später Nachmittag, also musste sich Farid ein bisschen beeilen, ihm alles zu zeigen, dachte Linus und folgte ihm in das Haus hinein. Farid hatte die grüne Tür mit dem Buntglasfenster bereits aufgeschlossen und hielt diese für Linus auf.

Dieser traute seinen Augen kaum, als er das gute Stück von innen sah. Bereits das braune Ledersofa spiegelte ein gewisses Flair wider, und auch der mahagonifarbene Couchtisch schien nicht gerade preiswert gewesen zu sein. Jedes einzelne seiner Beine war ein geschnitztes Kunstwerk für sich, denen das polierte Holz eine alte Ästhetik verlieh. Hinter dem Tisch befand sich ein in hellen Ziegelsteinen eingefasster Kamin, der Linus die Sprache verschlug. Er nahm auf einem der champagnerfarbenen Sessel Platz, die die Feuerstelle säumten, und lehnte sich zurück, um die Eindrücke zu verarbeiten. Das hier war um Längen besser, als das New Yorker Reihenhaus, das ihnen seit geraumer Zeit als Zuhause diente. Die Kombination aus hellem und dunklem Holz und Stein hatte es Linus angetan. Über dem Kamin war ein Wandbord angebracht, auf dem zwei Bilderrahmen standen. Linus ließ es sich nicht nehmen, aufzustehen, um sich die Fotos anzusehen, denen dieser Ehrenplatz gebührte. Und er traute seinen Augen nicht, als er sich selbst auf einem der Bilder erkannte und auf dem anderen seine Soraja. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals, als er daran dachte, wie er Farid in der Vergangenheit behandelt hatte.

 

Die Tür sprang auf und Soraja trat ein. Ihre großen Augen schweiften durch das Wohnzimmer. Erstaunt blickte sie zu Farid und suchte händeringend nach den richtigen Worten, die ihrer Überwältigung Ausdruck verleihen würden, aber zustande brachte sie lediglich ein »Wow«.

Dann erfasste sie ein helles Fell unter dem Tisch, das erschreckend nach dem eines Wolfs aussah. »Das ist doch nicht echt?«, fragte sie bestürzt und erwartete von Farid eine Antwort.

Dieser wusste nicht recht, was er sagen sollte und kniete sich zu dem Fell hinunter, um es von dessen Unterseite zu betrachten. Als ihm ein Etikett ins Auge sprang, das den Läufer als Imitat ausschilderte, machte sich Erleichterung in ihm breit. »Ne, sonst wär` das Ding rausgeflogen«, rettete er sich.

»Der dunkle Holzboden, er ist einfach umwerfend«, sagte Soraja und zog ihre Schuhe aus, um das Holz mit nackten Füßen zu genießen. »Entschuldigt, aber ich kann gerade nicht anders. Das ist kein Vergleich zu dem Beton, aus dem wir kommen«, erklärte sie und lief einige Schritte hinüber zu der offenen Küche, deren grüne Marmorplatte sie vom Wohnbereich trennte. Vier hohe Tresenstühle in braunem Lederimitat luden zum Verweilen ein. Dahinter entdeckte sie einen zweitürigen Kühlschrank, ganz aus Chrom, der sich wunderbar in die nicht so modernen, weißen Landhausmöbel einfügte. Sie liebte das Zusammenspiel von alt und modern, und erfreute sich genauso an dem ebenfalls chromfarbenen Backofen.

»Farid, wieso hast du diesen Palast vor uns geheim gehalten?«

»Ich dachte, ihr wolltet in die Stadt. Sonst hättet ihr das hier sofort haben können«, antwortete er und sah verstohlen zu Linus hinüber. »Kommt, ich zeig euch den Fernsehraum. Flachbild und 3D«, gab er an und lief an der Küche vorbei zu einer verdunkelten Glastür.

Und wieder kamen die beiden aus dem Staunen nicht heraus. Hier konnte man es aushalten, da waren sie sich einig. Ein schwarz gerahmter Flachbildschirm spannte sich über die ganze Wand. Über ihm waren vier runde Lampen in die Decke eingelassen und gegenüber stand ein XXL-Sofa in brauner Mikrofaser.

»Das ist mehr ein Kinosaal, als ein Fernsehraum. Unglaublich«, staunte Linus weiter und probierte das Sofa aus.

»Betrachtet euch zu Hause. Aber jetzt sollten wir das Gepäck reinholen«, meinte Farid und ging voran zur Tür.

Wenn es nach Linus gegangen wäre, hätte das Gepäck gerne bis morgen warten können, aber Farid erinnerte ihn daran, dass das Buch und andere wichtige Dinge im Daimler warteten, also drückte er sich aus dem weichen Sofa heraus und stemmte sich auf, um Farid nach draußen zu folgen.

Hier würde nicht nur er sich wohlfühlen, das wusste er in dem Augenblick, als er die Sterne in Sorajas Augen entdeckt hatte. Ein bisschen traurig war er nur darüber, dass es wieder einmal Farid war, der sie glücklich machte.

 

Das Schlafzimmer, das Farid ihnen zugewiesen hatte lag im oberen Stockwerk, und versetzte Linus nicht minder in Staunen. Ein großes Himmelbett mit weißen Schals und unzähligen Kissen stand mitten im Raum. Gegenüber des Fensters reihten sich von einer Wand zur anderen sieben Spiegeltüren, hinter denen sich ein gewaltiger Schrank verbarg. Die Fenster waren mit dem gleichen Stoff bestückt, wie das Bett. Große, braune Bodenvasen flankierten die Ruhestätte.

»Morgen fahre

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Dana Müller, Jennifer Müller
Bildmaterialien: Dana Müller/pixabay.com
Lektorat: Aileana Blair / A.Müller
Tag der Veröffentlichung: 03.07.2015
ISBN: 978-3-7396-0319-3

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Nun ist es geschafft, mit diesem Buch ist die Reihe abgeschlossen. Es hat mir große Freude bereitet, die Geschichte zu erzählen. Möglich gemacht haben das so einige liebe Menschen in meinem Umfeld, denen ich hiermit meinen Dank aussprechen möchte. Zum einen ist da mein lieber Mann, der sich sehr oft unseren Sohn geschnappt hat, um mir die nötige Ruhe zu schenken. Dann wäre da noch meine Tochter und Co-Autorin dieser Reihe: Jennifer. Mit ihrem unerschütterlichen Interesse an Wölfen hat sie die Geschichte vorangetrieben. Natürlich danke ich von ganzem Herzen meiner Freundin und Lektorin Aileana Blair, die für den letzten Schliff sorgte. Nicht zu unterschätzen, die Rolle der Testleserin, auch hier war Sabine Loferski wieder beteiligt. Ich verneige mich vor euch und bin froh, euch in meinem Leben zu wissen. Nun wünsche ich euch ebenso viel Freude am Lesen, wie ich während des Schreibens hatte. Eure Dana Müller

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