-Überleben-
Band 2
Dana Müller & Jennifer Müller
Roman
Die Geschichte basiert auf der Fantasie der Autoren und ist frei erfunden.
Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Handlungen sind rein zufällig und nicht gewollt.
http://danamueller.jimdo.com/
https://www.facebook.com/pages/Dana-Müller/258472350978589
@HotTintenfieber
Alle Rechte vorbehalten. Insbesondere das Recht der Vervielfältigung und des Nachdrucks in jeglicher Form.
Text Copyright © 2015 Dana Müller & Jennifer Müller & Jennifer Müller
Sorgfältig drückte Linus den Zapfhahn hinunter, bis der weiße Schaum den Rand des Glases überragte. Dabei beobachtete er sein müdes Gesicht in dem Chrom der Zapfsäule. Obwohl ihm die Zeit nicht viel anhaben konnte, sah er die vergangenen zweihundertzwanzig Sommer und Winter in seinen Augen. Augen sind die Spiegel der Seele, sagt man. Und genau diese alte Seele blickte aus der Spiegelung zurück. Das letzte Bier für heute, dann endlich würde er nach gefühlten hundert Stunden in seinen wohlverdienten Feierabend gehen. Die Arbeit hinter dem Tresen war anstrengend, aber sie würde für ein Leben sorgen, das sich Linus nun so lange schon gewünscht hatte.
Mit einem Wolf in der Stadt zu leben war schwer. Es gab Menschen, die ihnen grundlos die Polizei oder den Hundefänger auf den Hals hetzten. Eigentlich hatte sich die Einstellung der meisten Menschen in den vergangenen zwei Jahrhunderten nicht sonderlich verändert. Sie hatten immer noch Angst vor Wölfen. Nicht alle, aber der Großteil jener, denen sie begegnet waren, hatten sie zum Teufel gewünscht.
Dennoch waren ihre Wahlmöglichkeiten immer begrenzt gewesen. Die ersten fünfzig Jahre waren Linus und Soraja durch die Wälder gezogen, hatten Kanada und die USA durchstreift, sie hatten wie Streuner gelebt, Kriegszeiten erlebt, und sich immer irgendwie im Hintergrund gehalten. Jedes Gemetzel hatte leer stehende Häuser zur Folge gehabt, die sie einige Zeit bewohnten, und schließlich wieder freigaben, als ihr Geheimnis entdeckt zu werden drohte. Es spielte keine Rolle, wo sie lebten, solange sie einander hatten. Doch den Dorn in seinem Fleisch hatte Linus all die Jahre über mit sich getragen. Seinen verwirrenden Feind wurde er einfach nicht los. Farid hatte an ihnen geklebt, wie eine Klette, war immer wieder auf Streifzug gegangen, um sie mit dem Nötigsten zu versorgen, und war einige Zeit nach Europa verschwunden. Die allerbeste Zeit ihres Lebens, wie Linus fand. Doch einige Jahre später war er wieder aufgetaucht und hatte Geschenke mitgebracht. Woher die Dinge stammten, die er ihnen brachte, hatten sie nie hinterfragt, weil Soraja dies nicht wollte. Sie war froh, jemanden zu haben, der sich um ihrer beider Wohl sorgte. Und genau das war der springende Punkt. Linus hätte derjenige sein müssen, der Soraja versorgte und ihr das Leben einer Prinzessin ermöglichte. Er hätte es sein sollen, der ihr jeden Stern von Himmelszelt holte, nicht dieser schmierige Farid. Wobei Linus noch immer nicht verstehen konnte, warum Farid ihnen half. Ihm war der Tag, an dem Farids Mutter Linus und seine Soraja mit dem Fluch belegt hatte, wie ein Brandzeichen in seinem Gedächtnis verewigt.
Linus hatte es ein für alle Mal satt. Im Gegensatz zu Soraja sah er in Farid nichts anderes, als den Menschen, der die Schuld an dem Fluch auf seinen Schultern trug, und nun versuchte, sein Gewissen zu erleichtern. Diese Genugtuung hatte Farid nun lange genug genossen, wie Linus fand. Es wurde Zeit, sich vom ewigen Begleiter zu lösen. Aber um seinen Plan in die Tat umzusetzen, musste er alleine für Soraja sorgen können. Das hatte Farid immer zu verhindern gewusst. Er beschaffte das nötige Geld und bestand darauf, dass Linus nicht von Sorajas Seite wich.
Linus stellte das Bier vor dem Gast auf der Theke ab und entledigte sich seiner Schürze. Seine Ablöse war bereits eingetroffen und kümmerte sich um die nächste Bestellung. Wie im Taubenschlag trafen die Leute ein. Kaum war die Sonne untergegangen, füllte sich die Bar. Linus hasste die Nachtschichten und war froh darüber, dass seine Kollegen diese gerne übernahmen. Immerhin waren die Trinkgelder besser, je voller der Gast war, und nachts waren sie alle voll. In der Umkleidekabine betrachtete Linus sein Spiegelbild. »Und dennoch bist du alt geworden«, bemerkte er. Die Jahre, die ihn seine beiden Verwandlungen gekostet hatten, waren in seinem Gesicht verewigt. Er hatte das Aussehen eines Zwanzigjährigen. Für einen alten Greis nicht übel. Und dennoch schmerzten ihn die vier Jahre, um die er gealtert schien, er wollte sie nicht sehen. Denn darin lag die Selbstlosigkeit seiner Liebsten, die den Freitod gewählt hatte, nur um Linus vor einem Existieren in Wolfsgestalt zu bewahren.
Er nahm seine Jacke vom Kleiderhaken und schob den Arm hinein.
»Schönen Feierabend«, ertönte eine helle Stimme.
»Josi, stimmt`s?«, fragte Linus. Er konnte sich Namen noch nie richtig merken, schon gar nicht die von Menschen, die ihn nicht die Bohne interessierten. Aber die junge Frau war nun mal eine Kollegin. Sie kellnerte im Sheridan`s, trug die Getränke aus, die Linus einschenkte. Aber so genau hatte er sich die Dame nie angesehen.
»Schön, dass du es dir gemerkt hast. Wann hast du wieder Schicht?«, wollte die Brünette wissen.
Während er auch den anderen Arm in seiner Jacke verschwinden ließ und den Kragen hochklappte, antwortete er: »Morgen Mittag.«
Josi entledigte sich ihres roten Stoffmantels und reckte sich auffällig lasziv zum Kleiderhaken. »Schade, ich hab die Woche nur Nachtschichten.«
Eigentlich wollte Linus das gar nicht wissen. Ihn interessierte die Frau herzlich wenig.
»Ich muss ...«, sagte er knapp und deutete zur Tür.
»Verstehe, wirst wohl erwartet«, meinte Josi, und biss sich auf die Unterlippe.
»Genau. Also, man sieht sich«, bemerkte Linus und machte, dass er davonkam. Es gefiel ihm nicht, wenn Frauen sich derart entblößten. Außerdem wollte er mit solchen Weibern nichts zu tun haben. Hätte Soraja die Situation mitbekommen, dann hätte sie mit allergrößter Sicherheit ihre Eifersucht nicht kontrollieren können. Wahrscheinlich, so dachte Linus, wäre sie Josi an die Gurgel gegangen.
»Was nicht ist, das kann ja noch werden«, schickte ihm Soraja ihren Gedanken.
Erschrocken hielt er Ausschau nach dem beigefarbenen Fell seiner Wölfin.
Sein Blick schweifte durch die Dämmerung und blieb unter einer alten Laterne hängen, deren gelbes Licht eine Parkbank beleuchtete. Aber ihn interessierte nicht die rote Bank, sondern vielmehr das golden schimmernde Fell, das neben ihr hervorblitzte. »Wie war dein Tag, Liebster?«, fragte Soraja, während sie sich an sein Bein schmiegte.
Erschrocken fuhr er zusammen. »Bist du von allen guten Geistern verlassen? Wenn dich jemand sieht!«
»Keine Sorge, ich bin durch den Tunnel gelaufen. Ganz in der Nähe ist ein Zugang, den wir noch nicht kannten.«
»Aber hier ist alles offen. Schau dich um, überall Leute!«
»Linus, hör auf zu jammern. Ich hatte Sehnsucht nach dir. Es ist nicht leicht, den ganzen Tag darauf zu warten, dass du wiederkommst, und sich immer der Sorge bewusst zu sein, jemand könnte unser Geheimnis entdecken«, räumte sie ein.
»Trotzdem. Es ist nicht sicher. Ich will nicht, dass du hier draußen rumläufst. Nicht ohne mich«, erwiderte er schroffer, als gewollt.
»Und ich dachte, du hättest mich mindestens genauso vermisst. Scheinst dich ja prächtig amüsiert zu haben, so ganz alleine.«
Linus hielt einen Moment inne. War das etwa ein Hauch der besagten Eifersucht, der da aus seiner Liebsten sprach? Er konnte sie ja verstehen. Es musste schrecklich sein, der Ungewissheit zu erliegen, dennoch musste er sie alleine lassen. Zumindest war sie in ihrem Zuhause sicherer, als hier draußen. Aber er hasste es, sie unglücklich zu sehen und lenkte ein.
»Es tut mir leid. Aber du musst verstehen, dass ich Angst um dich habe. Und du musst verstehen, dass ich das tun muss. Was bin ich für ein Mann, der nicht einmal für seine Liebe sorgen kann. Soraja«, sagte er und ging vor ihr auf die Knie. »Lass mich beweisen, dass ich deiner würdig bin.«
»Du musst mir nichts beweisen, und schon gar nicht deine Würdigkeit«, erwiderte sie leicht beleidigt, und hob die Nase in die Höhe.
»Dann lass es mich mir selbst beweisen. Bitte, mein Herz.«
Einen Moment stand sie einfach nur da, wie erstarrt, und schaute ihn an.
»Vergessen wir das«, dachte sie schließlich. »Fangen wir noch mal an. Wie war dein Tag?« Dabei entspannte sie sich und blickte ihn aus liebevollen Augen an.
Linus liebte sie für ihre unkomplizierte Art. Dennoch glaubte er, dass ihr die Situation mehr zusetzte, als sie es zugeben wollte. Aber jetzt in diesem Moment, und mitten unter Menschen wollte er keine Diskussion mit einer Wölfin führen. Wenn sie jemand entdecken würde, dann konnte das hässliche Konsequenzen haben. Also atmete er tief durch, platzierte einen Kuss auf ihrer Stirn und beantwortete ihre Frage.
»Frag lieber nicht. Ich hasse Alkohol, und nun habe ich tagtäglich damit zu tun.« Seine Finger vergruben sich in ihrem Fell und er kraulte seine Wölfin hinter den Ohren, dann am Hinterkopf und schließlich hob sie ihren Kopf, und er streichelte ihre Kehle.
»Wenn ich ehrlich bin, war es nicht nur meine Sehnsucht nach dir, die mich hierher geführt hat. Farid hat mir aufgetragen, dich sofort zu holen. Er hat einige Gaben mitgebracht und eine Überraschung für uns«, dachte die Fähe, während sie ihre Streicheleinheiten genoss.
»Eine Überraschung? Von Farid? Ich kann auf seine Überraschungen gut verzichten. Ich hasse seine Überraschungen.«
»Ich habe keine Ahnung, worum es geht. Er wollte es mir nicht sagen«, erklärte Soraja. »Er meinte nur, wir dürften keine Zeit verlieren.«
Und wieder drängte sich Farid in den Vordergrund, was Linus‘ Wut schürte. Aber er gab sich die größte Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Es war kein Leichtes, seine Gedanken und Gefühle vor Soraja zu verbergen. Trotzdem hatte er in den letzten Jahrhunderten daran gearbeitet, nur das preiszugeben, was sie auch wissen durfte. Das tat er nicht, um sie zu hintergehen, sondern um sich ein bisschen Privatsphäre zu gönnen.
Gemeinsam streiften sie durch die aufkeimende Nacht, die sich immer mehr Raum verschaffte. Eigentlich liebte Linus die Nacht. In der Dunkelheit konnten sie sich nahezu frei bewegen. Die Normalen, wie Linus jene nannte, die frei von Flüchen ihr Leben bestritten, schliefen meist tief und fest und überließen die Welt unwissentlich den Verfluchten. Die Nacht gehörte jenen, die vom Schicksal nicht so reich beschenkt worden waren. Aber seit einigen Jahrzehnten schienen die Menschen auf Schlaf verzichten zu können. Es erschien ihm, als erwachte die Stadt erst mit dem Sonnenuntergang. Das Amulett der Wölfe befand sich glücklicherweise noch immer in ihrem Besitz. Genau sechs Tage im Monat verhalf es ihnen zu ihrer wahren Gestalt. Das war nicht viel, aber sie hatten gelernt, diese kurze Zeit wertzuschätzen. Die restliche Zeit sollte Soraja im Haus bleiben, um nicht aufzufallen, aber sie hatte meist einen eigenen Kopf, der sämtliche Pläne untergrub.
Es war ja nicht so, dass sie in den vergangenen zweihundert Jahren nicht bereits versucht hätten, sich einzufügen. Es waren kleine Dörfer und winzige Städte, in denen sie Zuflucht gesucht hatten. Doch geblieben sind sie nie lange an einem Ort. Immer wieder war es zu Problemen gekommen, weil ein Wolf einfach nicht zu den Menschen passte. Immer, wenn es zu Übergriffen durch Wölfe kam, wurden sie davongejagt, warum sollte es dieses Mal anders sein? Dabei ist die Stadt für einen Menschen ein ideales Versteck. So unauffällig, wie eine Erbse in der Erbsensuppe schwimmt er mit der Masse mit. Aber der Pelz sabotierte einfach alles. Einmal wären sie beinahe gelyncht worden. Nein, Soraja fand den Gedanken an ein Leben in der Stadt nicht sonderlich erfreulich, dennoch schwieg sie. Ihr war der Seelenfrieden ihres Liebsten wichtiger, als ihre Bedenken.
Sie blickte zu dem Abendhimmel hinauf. Das Purpur war dem dunklen Blau gewichen, das einige Sterne freilegte und trotzdem dachte sie voller Wehmut an den Himmel, wie sie ihn kannte.
»Mir fehlt der Sternenteppich«, meinte Sie in einem traurigen Ton, der Linus aufhorchen ließ.
»Er ist genau da, wo er immer ist. Es ist nur das Licht der Stadt, das sein Funkeln verschluckt. Dir fehlt der Wald, oder? Vielleicht sollten wir die Sache mit der Stadt vergessen«, erwiderte Linus mit einem Seufzen.
»Nein Linus! Wir haben jetzt ein Zuhause. Die Sterne waren nun so lange unser Dach, es wird Zeit, neue Wege zu gehen«, antwortete die Fähe in Gedanken.
Linus blickte sich um, er wollte sicher sein, dass ihnen niemand gefolgt war. Er zog seinen Autoschlüssel aus der Tasche und drückte den Knopf, der die Scheinwerfer eines nachtblauen Pick-up aufleuchten ließ.
Wortlos lief er um den Wagen herum und öffnete für Soraja die Beifahrertür. Mit einem eleganten Sprung glitt sie vor den Sitz und setzte sich. Dabei behielt sie ihren Linus im Auge. Der Sitz war so weit nach hinten geschoben, dass dort ein Wolf ausreichend Raum hatte.
Sie mochte das Auto, es brachte sie sicher über weite Strecken und schenkte ihr ein Gefühl von Freiheit. Bei Linus verhielt es sich mit dem Wagen, wie mit allen Dingen, die Farid angeschleppt hatte. Er hasste ihn, versuchte sich aber immer wieder einzureden, dass die Dinge, die Farid bezahlte, nichts dafür konnten, dass sie ausgerechnet diesem Blödmann in die Hände gefallen waren. So blendete er, so gut es eben ging, Farid aus. Das gelang ihm mal mehr, mal weniger. Doch in letzter Zeit fiel ihm das Ausblenden immer schwerer. Denn, nahezu alles, was sie besaßen, hatte Farid auf irgendeine Art und Weise beschafft. Nicht einmal für die Kleider, die sie am Leib trugen, hatte Linus gesorgt. Nicht etwa, weil er das nicht wollte, sondern, weil Farid ihn daran hinderte.
Ehe er einstieg, atmete er tief durch und verdrängte die Gedanken an seinen Feind. Doch kaum hatte er den Motor angelassen, überrollte ihn sein Unmut wieder, wie eine unaufhaltsame Lawine.
Es war ihm egal, was Farid tat, um sich reinzuwaschen, Linus würde ihm niemals verzeihen. Während seiner Überlegungen hatte er ganz vergessen, die Gedanken vor Soraja zu verbergen, und erhielt prompt eine Antwort.
»Er will nur helfen. Du solltest damit aufhören. Es tut dir nicht gut, immer wieder über Farids Beweggründe zu grübeln.«
Während seine Finger das Lenkrad so fest umschlossen, dass die Knöchel hervortraten, biss er sich auf die Zunge, um Soraja nicht etwas zu entgegnen, das er bereuen würde.
Sie hatten bereits die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als Soraja die Stille in seinem Kopf sprengte.
»Ich weiß ja, dass ihr niemals Freunde werdet. Das ist in der Vergangenheit nicht geschehen, und wird es in der Zukunft auch nicht. Aber du könntest ihn wenigstens tolerieren. Ohne ihn hätten wir nicht einmal ein Dach über dem Kopf.«
Das reichte Linus, um die Kontrolle zu verlieren. Er fuhr an den Seitenstreifen der Greenpoint Avenue und schaltete den Motor aus.
»Könntest du das bitte sein lassen?«, sagte er fordernd und umklammerte das Lenkrad erneut so fest, dass seine Finger mit diesem zu verschmelzen drohten.
»Ich verstehe nicht, was du meinst?«, erwiderte sie.
Linus drehte langsam seinen Kopf zu ihr. »Warum machst du das immerfort? Warum verteidigst du ihn? Warum tust du so, als gehöre er zu uns?«
Die Wölfin blickte ihn aus ihren eisgrauen Augen an. Eine rechte Antwort wollte ihr nicht einfallen.
»Linus, er will doch nur helfen. Ich bin mir sicher, dass er oft darüber nachgedacht hat, wie er den Fluch ungeschehen machen könnte.«
Linus biss die Zähne aufeinander. Seine Kiefermuskeln zuckten und Soraja wusste, dass ihm nicht mehr viel fehlte, um auszurasten.
»Du machst es schon wieder. Weißt du, was ich mich manchmal frage?«, sagte er und hielt inne, denn er wollte nicht aussprechen, was ihn seit nunmehr über hundert Jahren beschäftigte. Er fragte sich wieder und wieder, ob sie sich für den schwierigen Farid entschieden hätte, wäre Linus nicht in ihr Leben getreten.
»Was fragst du dich?«
»Ist nicht so wichtig«, erwiderte er, und ließ den Motor wieder an.
Die restlichen dreißig Minuten sagte keiner von ihnen auch nur ein Wort. Linus wollte sie nicht einmal ansehen, weil er genau wusste, dass er sich dann nicht beherrschen könnte, und mit Vorwürfen nur so um sich werfen würde. Soraja hingegen spürte, dass etwas in ihm vorging, was ihre Harmonie ins Wanken bringen konnte. Also schwieg auch sie, um nicht der Auslöser für einen heftigen Streit zu sein.
Ebenso wortlos, wie sie die vergangen halbe Stunde im Wagen verbracht hatten, fuhren sie in die Garage ihres kleinen Reihenhauses am Ende des McGuinness Boulevard. Erst, als er das Tor wieder fest verschlossen hatte, öffnete er ihre Tür und ließ sie aussteigen. Soraja wartete darauf, dass er ihr die stählerne Tür zum Wohnbereich öffnete, und schlüpfte hindurch, kaum hatte er diese einen kleinen Spalt weit aufgestoßen.
Nur zögerlich stieg Linus die vier Stufen zum Wohnzimmer hinauf, denn er wusste, dass Farid auf ihn warten würde. Jeder weitere seiner Schritte fühlte sich schwerer an, und als Farids Stimme zur Begrüßung ertönte, hatte Linus das Gefühl, man hätte auf ihn geschossen.
»Na endlich, Bruder«, freute sich Farid über ihre Ankunft. »Ich warte hier schon ewig.«
»Wie oft noch? Ich bin alles andere, als dein Bruder! Spar dir das in Zukunft!«, gab Linus mit einer Kälte in seiner Stimme zurück, die ein Feuer hätte gefrieren lassen. »Was willst du hier?«, wollte er von Farid wissen.
»Begrüßt man so den Mann, der euch mehr liebt, als ihr euch selbst?«, erwiderte Farid und breitete seine Arme aus.
Missmutig ging Linus an ihm vorbei. Farid blickte ihm hinterher, ließ die Arme wieder sinken und wandte sich Soraja zu, die am Rande des Zimmers saß, und die beiden beobachtete. »Was hat er denn?«, wollte er wissen, aber die Wölfin senkte nur beschämt den Kopf.
Während Linus sich an der kleinen Bar bediente, die Farid eigens für sich angelegt hatte, folgte ihm Farids Blick ungläubig. Er nahm ein Glas und schenkte sich einen Schluck Jack Daniels ein, leerte das Glas und schenkte nach. Mit dem Glas in der Hand begab er sich in die äußerste Ecke des braunen Sofas und hob es an, um die Lichtbrechung des Whiskeys zu betrachten.
»So kenn ich dich ja gar nicht«, bemerkte Farid und setzte sich zu ihm. »Seit wann trinkst du? Ich dachte immer, du würdest Alkohol seit dem Tag in dem Saloon verabscheuen.«
»Liebster, er hat recht. Vorhin hast du dich noch darüber beschwert, dass dich der Alkohol anwidert, den du ausschenken musst, und nun trinkst du ihn selbst. Was ist denn nur los mit dir?«, warf Soraja besorgt ein.
Aber Linus schenkte ihnen keine Beachtung. Er schwenkte das bauchige Glas und folgte mit den Augen der Bewegung, in die sein Getränk gezwungen wurde. Ein bisschen erinnerte es ihn an ihre Situation. Bei ihnen war Farid die Gewalt und Linus der Whiskey.
»Was willst du?«, fragte Linus trocken, den Blick immer noch am Jack Daniels haftend.
»Also gut«, gab Farid nach und stand auf. Er lief zu dem Schreibtischstuhl, über den er seinen teuren Mantel gehängt hatte, und zog einen Briefumschlag aus dessen Innentasche. Dann setzte er sich wieder zu Linus auf das Sofa. »Hier«, sagte er und reichte ihm den Umschlag.
»Was ist das?«, wollte Linus wissen, aber Farid zuckte nur mit den Schultern. »Sieh nach.«
Mit einem Seufzen stellte Linus das Glas auf dem Couchtisch ab und blickte Farid tief in die Augen, als könne er die Antwort auf seine Frage in ihnen sehen. Aber alles, was er von ihm bekam, war ein erwartungsvolles Grinsen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als den Umschlag zu öffnen und einen Blick hineinzuwerfen. Er zog eine kleine Mappe heraus und öffnete diese. Zum Vorschein kamen Flugtickets, mit denen er nichts anfangen konnte.
»Was soll der Mist? Du weißt genau, dass ich seit einigen Wochen einen Job in New York City hab. Ich kann hier nicht weg!«, bäumte er sich auf und reichte Farid die Tickets.
»Ich habe geahnt, dass du so reagieren würdest. Aber jetzt schau sie dir doch mal genauer an. Das sind keine gewöhnlichen Urlaubstickets.«
Linus atmete tief ein, und scharf wieder aus. Dann warf er einen prüfenden Blick auf die Tickets.
»Budapest? Was soll ich denn in Budapest?«, pöbelte er weiter.
»Nun, das eigentliche Ziel unserer Reise liegt an der Ungarisch-Rumänischen Grenze und heißt Jula. In Budapest wartet ein Wagen, der uns zu einer weisen Frau bringt. Während meines Europa-Aufenthaltes war ich nicht untätig«, antwortete Farid. Und sein Grinsen wurde unkontrolliert breit.
»Ich versteh jetzt gar nichts mehr. Soraja, weißt du, was er meint?«
Die Fähe hob ihren Blick und senkte ihn sofort wieder. Sie war ein wenig missmutig über Linus‘ Verhalten, mit dem er sie bereits den ganzen Abend geärgert hatte.
»Also gut, ich erklär es euch«, sagte Farid, während sein Blick von Soraja zu Linus glitt. »Da du ja das Zauberbuch nicht nur unter Verschluss in deinem kleinen Safe hältst, sondern dich weigerst, auch nur einen Blick hineinzuwerfen, habe ich einige Nachforschungen angestellt.«
Linus horchte auf und kniff die Augen skeptisch zusammen.
»Keine Sorge, ich hab deinen Safe nicht angerührt, obwohl ich mit Bestimmtheit sagen könnte, wie die Zahlen lauten«, foppte er und ließ Linus keine Gelegenheit, sich zu beschweren. »Also, in Ungarn erzählt man sich von uralten Legenden über Menschen, die sich in Wölfe verwandeln können. Erst dachte ich, es handle sich um Werwölfe, die sich nur bei Vollmond ihrer menschlichen Gestalt entledigten, aber dann traf ich Anna.«
»Komm zum Punkt, keiner will hier deine Weibergeschichten hören«, forderte Linus ihn auf und leerte sein Glas mit einem letzten Schluck.
»Keine Sorge, Bruder. Anna ist ein zwölfjähriges Mädchen. Zumindest sieht sie aus, wie zwölf. Das war auch das Alter, in dem sie plötzlich zu einer Bestie mutierte, vor ... jetzt haltet euch fest ... vor genau einhundertsieben Jahren.«
»Und was hat das mit uns zu tun? Du kennst unseren Grund der Mutation, wie du es so herrlich bezeichnest, ganz genau!«, unterbrach Linus schroff.
Farid stand auf und lief zur Bar, schnappte sich den Jack Daniels und schenkte Linus nach. Dann stellte er die halb leere Flasche auf den Tisch. »Den wirst du brauchen, wenn du hörst, was Anna erlebt hat.«
»Lass ihn bitte aussprechen, Liebster. Vielleicht ist in seinen Erzählungen zumindest ein Weg der Linderung für uns verborgen«, bat Soraja in Gedanken, und Linus hielt sich zurück.
»Nun ja, wo war ich?«
»Annas Verwandlung vor hundertsieben Jahren«, half Linus ihm auf die Sprünge.
»Anna! Ihr müsst sie kennenlernen, sie ist bezaubernd.«
»Und ein wenig zu jung für dich!«, warf Linus ein, doch Farid beachtete nicht und fuhr fort.
»Diesem Mädchen wurde ein Weg offenbart, wie sie ihre unwillkürliche Verwandlung steuern kann. Ihr werdet es nicht glauben, selbst nicht, wenn ihr es mit eigenen Augen seht. Eben noch steht ein kleines, junges Ding mit schwarzen Zöpfen in einem roten Kleid vor euch, und im nächsten Moment ist sie ein weißer Wolf mit feuerroten Augen. Das müsst ihr sehen. Aber sie bleibt kein Wolf. Ebenso schnell, wie sie ihre Menschlichkeit abgelegt hatte, war sie wieder zu dem kleinen, süßen Ding geworden. Es ist unglaublich.«
»Vielleicht ist sie nie so wie wir gewesen? Schon mal daran gedacht?«
»Linus, sie ist wie ihr. Das nehme ich stark an, denn ihr Vater hatte sie versprochen, aber das junge Ding sträubte sich und lief weg. Am nächsten Abend war nichts mehr so, wie vorher.«
Farids Worte entfachten einen Wirbelsturm in Linus. Sollte es tatsächlich einen Weg geben, den Pelz abzulegen, wann man wollte?
Aber, so verlockend der Gedanke an die Steuerung der Verwandlung auch war, Linus wollte einfach keine Almosen mehr von Farid annehmen, also suchte er nach einer Gelegenheit, die Reise vorerst abzusagen. Zumindest so lange, bis er selbst für das Geld aufkommen könnte, das die Tickets kosteten. Er beugte sich vor und faltete die Hände. »Abgesehen davon, dass wir keine gültigen Reisepässe haben«, sagte er und hielt einen kurzen Moment inne, in dem er sich seine weiteren Worte zurechtlegte. »Warum tust du das alles? Ich meine, wer dich kennt, weiß genau, dass du nichts machst, wovon du dir keinen Nutzen für dich selbst versprichst. Und hier sehe ich keinen Nutzen für dich. Im Gegenteil, der Fluch hat dir doch das Wertvollste geschenkt. Du kannst dein Leben bis in alle Ewigkeit nach deinen Vorstellungen gestalten. Also, warum?«
»Linus, vertrau mir bitte. Ist das so schwer? Wann habe ich euch denn in der Vergangenheit je enttäuscht oder hintergangen?«, sagte Farid flehentlich.
Aber Linus wollte davon nichts wissen. »Ich erinnere nur an Carter Jackson!«, sagte er vorwurfsvoll.
»Carter Jackson«, wiederholte Farid langsam. »Schon vergessen? Ich war es, der euch geholfen hat, der Hölle zu entkommen. Damit habe ich mir nicht nur die größte Einnahmequelle genommen, sondern auch meine Mutter. Also denk nächstes Mal nach, bevor du sprichst.«
»Wenn es nur darum geht, den Fluch loszuwerden, hätte ich eine bessere Lösung. Damit wären zwei Fliegen mit einer Klappe
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Dana Müller, Jennifer Müller
Bildmaterialien: Dana Müller / pixabay.com
Lektorat: Aileana Blair
Tag der Veröffentlichung: 13.05.2015
ISBN: 978-3-7368-9472-3
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
An dieser Stelle möchte ich mich bei meiner Tochter Jennifer Müller bedanken. Wie bereits beim Ersten Band, stand sie mir auch hier mit ihrem umfassenden Wissen und ihrem großen Interesse an Wölfen zur Seite und hat einige Passagen dieses Bandes geschrieben. Band 3 ist bereits in Arbeit, und wird mit ebenso viel Freude er-schaffen, wie dieses Buch und das Buch davor.
Ebenso dankbar bin ich meinen Testlesern, insbesondere Sabine Loferski und meiner liebe Freundin Anja Klingenberg.
Aber auch meinem Mann gebührt ein großer Dank, der mir die nötige Zeit und Ruhe eingeräumt hat und sich geduldig um Haushalt und Familie kümmerte.
Und natürlich danke ich meinen treuen Lesern von ganzem Herzen. Was wären all die Mühen denn ohne euch wert?
Danke