Cover

Lupus Amoris

 

 

 

 

 

Verflucht

Band 1

 

Ein Roman von Dana Müller & Jennifer Müller

©by Dana Müller & Jennifer Müller

 

 

 

 

 

Die Geschichte basiert auf der Fantasie der Autoren und ist frei erfunden.

Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Handlungen sind rein zufällig und nicht gewollt.

 

 

http://danamueller.jimdo.com/

https://www.facebook.com/pages/Dana-Müller/258472350978589

 

@HotTintenfieber

 

Liebe und Zorn

 

Die Musik spielte ein letztes Mal in dieser Nacht auf, und lockte die Paare auf die Tanzfläche, um das Fest eng umschlungen ausklingen zu lassen.

Soraja blickte sich um, die Menge hatte sich gelichtet. Nun genossen nur noch wenige ihre Zweisamkeit, und ließen sich von den Klängen der Musiker unter dem vollen Mond tragen. Sie hätte ihrem Linus gerne den letzten Tanz geschenkt, aber er ließ sich nicht dazu bewegen.

»Was ist los? Hast du bereits genug von mir?«, neckte sie ihn und schwenkte ihre Hüften hin und her. Dabei badachte sie ihn mit einem lustvollen Blick, während sie auf ihre Unterlippe biss.

Linus sah sich nervös um, und hob eine der umstehenden Öllampen auf. Sie säumten die Tanzfläche und legten diese in ein gelbliches, seichtes Licht.

»Tanzen können wir unser restliches Leben noch. Komm mit, ich will dir was zeigen«, antwortete er, und zog an Sorajas Hand.

 

Vor ihnen erstreckte sich eine dunkle Wand. Die Baumkronen ragten aus der finsteren Masse in den Horizont, dessen Sterne funkelten, wie die Augen ihres Geliebten. Sie vertraute ihm, wie niemand anderem, so ließ sie sich auch von ihm in den nächtlichen Wald führen. Das Mondlicht brach durch die Kronen hindurch und legte einen zauberhaften Schimmer über die feuchten Steine, die den schmalen Weg einfassten, auf dem sie immer tiefer in den Wald drangen.

Das entfernte Heulen einiger Wölfe ließ die junge Frau zusammenfahren, es jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Sie zog die Stola enger um die Schultern und verknotete deren Enden vor der Brust.

»Keine Angst, ich beschütze dich«, erklärte Linus und beugte sich hinunter, um einen dicken Stock aufzuheben, den er mit seinen Fingern fest umschloss.

Soraja hakte sich bei ihm unter, denn nun hatte Linus keine Hand mehr frei, und sie wollte keinesfalls zurückfallen.

 

An einem moosüberzogenen Findling verließen sie den kleinen Weg und liefen an einigen alten Eichen vorbei, die Linus zählend hinter ihnen ließ. Am zehnten Baum blieb er plötzlich stehen, und hob die Öllampe hinauf.

Nervosität stieg in Soraja hoch, als sie ein Herz und die Initialen darin entdeckte. S+L. Linus hatte es tief in die Borke geschnitzt, ohne ihr vorher auch nur ein Sterbenswörtchen davon zu sagen. Klammheimlich - ebenso, wie sie hierhergeraten waren.

»Linus, das ist wundervoll«, sagte sie überwältigt. »Wann hast du das gemacht?«

Er blickte betreten zu Boden, schabte mit dem Fuß das Laub hin und her, bis die Erde aufgewühlt war, und antwortete schließlich: »Seit du das erste Mal deine Zöpfe offen trugst.«

Die junge Frau überlegte einen Moment. Ihr unbändiges Haar glich der Mähne eines Löwen. Nur selten hatte sie es nicht in taudicke Zöpfe geflochten. Aber niemals trug sie ihr Haar in der Öffentlichkeit ungebändigt. Plötzlich konnte sie sich gut an den Augenblick erinnern, als sie unüberlegt hinausgelaufen war. Ihre Füße waren in kaltem Schnee versunken, und der Schal hatte locker über ihren Schultern gelegen. Es war der Tag der Wiederkehr ihres geliebten Vaters. Damals waren schwere Zeiten angebrochen, in denen ein Handelsreisender vielen Gefahren ausgesetzt war. Räuber trieben sich in den Wäldern herum und überfielen ahnungslose Reisende, um diese um einige Taler und ihre Leben zu erleichtern. Nun war ihr Vater nach wochenlanger Sorge endlich heimgekehrt.

 

Soraja war hinausgerannt, ohne ihr Kleid angelegt, oder sich um ihr Haar gekümmert zu haben. Sie hatte im Nachthemd und mit zerzaustem Haar mitten im Hof gestanden und war ihrem Vater um den Hals gefallen. Nichts war wichtiger in diesem Moment, als die Liebe zu ihm. Diese hatte alles um sie herum zu einer zähen Masse verschwinden lassen. Alles, nur nicht den Stalljungen, der aus dem Grau herausgestochen war und sie von einem Stützpfosten aus beobachtet hatte.

 

»Aber da waren wir ja noch Kinder«, erkannte Soraja und drehte mit dem Zeigefinger an dem Ende ihres Zopfes.

Linus schabte noch immer recht verlegen mit dem Fuß. Er hatte sich eine neue Stelle gesucht, an der noch genug Laub lag.

»Ich weiß«, gab er peinlich berührt zu.

Soraja schmeichelte der Gedanke, dass er bereits ein halbes Leben lang starke Gefühle für sie hegte. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und drückte ihre weichen Lippen sanft auf die seinen.

»Es gibt einen Grund, warum ich dir das jetzt zeige«, sagte er und plusterte seine Wangen. Dann entließ er die Luft durch gespitzte Lippen und fuhr fort: »Ich habe die Blicke von Farid aufgefangen. Ausgezogen hat er dich mit ihnen. Beinahe hat er sich eine eingefangen.«

Soraja musste schmunzeln. »Ach, der! Ich hab ihn gar nicht gesehen. Du weißt doch, dass ich nur Augen für dich habe, Linus.«

Doch, den jungen Mann betrübte etwas Schwerwiegenderes als Blicke. Er sorgte sich darum, dass dieser bei Sorajas Vater um ihre Hand anhalten könnte. Und, weil er dem zuvorkommen wollte, hatte er seiner Liebsten den Baum gezeigt, der das Zeichen seiner Liebe trug. Linus wusste nur nicht so recht, wie er anfangen sollte, und schob mit dem Fuß nervös das Laub auseinander, das der Herbst den Bäumen geraubt hatte.

»Was hast du nur?«, fragte Soraja besorgt, denn ihr war seine Unruhe nicht entgangen.

»Wie sehr liebst du mich? Reicht es um ein ganzes Leben an meiner Seite zu verbringen?«, schoss es über seine Lippen, nachdem er seinen gesamten Mut zusammengesucht hatte.

Sie antwortete nicht, hob den Arm und zog mit dem Finger das Herz in der Rinde nach.

»Es reicht für die Ewigkeit«, erwiderte sie mit so viel Liebe in der Stimme, dass Linus ganz schwindelig wurde.

»Dann hättest du keine Einwände, wenn ich bei deinem Vater um deine Hand anhalten würde?«, vergewisserte er sich.

»Das würdest du wahrhaftig tun?«

»Für dich täte ich weitaus mehr. Ich würde mein Leben für dich geben«, antwortete Linus aus vollster Überzeugung.

 

Die Musik war verstummt und hatte der Stille der Nacht Raum geschenkt. Linus wollte nicht länger warten und beschloss, gleich an jenem Abend mit Sorajas Vater zu reden.

Doch, kaum hatten sie das Haus betreten, sprangen ihnen die Herzen nahezu aus der Brust. Sorajas Vater saß mit Farid am Tisch und besiegelte mit dessen Mutter offensichtlich einen Handel mit dem Handschlag. Das konnte nichts Gutes bedeuten, denn die kleine Frau hatte weder Reichtümer, noch Waren, mit denen sie handeln könnte. Aber sie hatte eines: ihren Sohn.

Farid hingegen empfing Soraja mit einem, wie Linus fand, schmierigen Lächeln, das er dem Schwarzhaarigen liebend gerne aus dem kantigen Gesicht geschlagen hätte.

»Soraja, du kommst passend. Begrüße deinen Bräutigam, wie es sich gehört«, ertönte die gegerbte Stimme ihres Vaters, dessen Worte dem Mädchen einen Dolch ins Herz rammten. Salziges Nass sammelte sich und brannte in ihren Augen. War sie doch in dem Glauben in die Stube getreten, Linus um ihre Hand anhalten zu lassen.

»Vater, nein! Ich werde Farid nicht heiraten«, platzte es aus ihr heraus, ehe sie über die Schwere ihrer Worte nachdenken konnte. »Ich liebe einen Anderen!«

 

Der alte Mann schlug mit der Handfläche auf den Tisch, dass sich dessen Balken bogen, und die Becher kippten. Rotwein verteilte sich über die Tischplatte und sickerte in die Fugen, um schließlich tropfend auf dem Boden aufzukommen.

»Rot wie Blut«, schoss es ihr durch die Gedanken. »Ebenso rot wie Blut!«

»Und ob du ihn heiraten wirst! Es ist bereits alles beschlossen«, erwiderte ihr Vater. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden, aus denen ihr Wut und Enttäuschung gleichermaßen entgegenschlugen. Niemals hatte sie ihn verärgern wollen, sie war immer ein gehorsames Mädchen gewesen. Aber dieses Mal war er zu weit gegangen. Zu Lebzeiten ihrer Mutter hätte er niemals solch einen hässlichen Weg beschritten, sein eigenes Fleisch und Blut mit dem Sohn der Dorfhexe zu vermählen.

»Wenn Mutter noch leben würde ...«

Sein Blick wurde schlagartig von Hass erfüllt. »Schweig! Besudle nicht den Namen deiner Mutter, sonst ...«, sagte er mit bebender Stimme, und hob die Hand gegen sie.

Soraja zuckte zusammen. Das brachte sie jedoch nicht davon ab, sich mutig ihrem Vater zu stellen. Linus hielt ihr Handgelenk fest, doch keine Macht der Welt hätte das Mädchen daran hindern können, das zu tun, was ihr Innerstes ihr riet. Sie riss sich los und wischte die Tränen aus dem Gesicht.

»Schlag zu! Schlag so lange, und so fest zu, bis ich meinen letzten Lebensfunken ausgehaucht habe. Erlöse mich von dem Leid, das du mir auferlegen willst.«

»Kind, sei doch vernünftig«, meldete sich die alte Frau zu Wort. »Mein Farid ist ein guter Mann. Du wirst sehen, es wird dir an nichts mangeln.«

»Ich will aber Farid nicht heiraten«, sagte Soraja, und wunderte sich selbst über die Kraft, mit der sie Farids Mutter entgegentrat. Dann wandte sie sich ihrem Linus zu, nahm seine Hand und fuhr mit der Sanftheit eines Kätzchens fort: »Mein Herz gehört Linus. Selbst Gott könnte dies nicht ändern!«

»Schweig, törichtes Kind! Niemals werde ich deine Hand einem Stalljungen überlassen!«, machte der Vater lautstark kund, während die Adern an seinem Hals anschwollen, und sein Gesicht sich tiefrot verfärbte.

»Ich bin kein Kind mehr!«, erwiderte Soraja. Sie stand auf der Schwelle zwischen Mädchen und junger Frau und hasste es, gesagt zu bekommen, sie wäre noch ein Kind.

Farids Mutter trat hervor. Sie neigte ihren Kopf und betrachtete das verliebte Paar eingehend, warf ihrem Sohn einen raschen Blick zu und widmete sich Soraja.

»Du liebst also diesen Jungen?«, fragte sie mit warmer, fast mütterlicher Stimme, die in der jungen Frau einen Funken Hoffnung schürte, es könnte sich doch noch alles zum Guten wenden.

»Bei meiner Seele, das tue ich«, erwiderte sie wahrheitsgemäß.

»Und, was ist mit dir? Ist deine Liebe für das Mädchen ebenso gewaltig?«, wollte sie von Linus wissen.

»Ich würde den letzten Atem für sie geben«, antwortete Linus sofort, und drückte die Hand seiner Liebsten fester.

»Nein!«, schrie Sorajas Vater auf.

Doch, es reichte nur ein kurzer Blick der alten Frau, und er verstummte. Wie ein nasser Sack ließ er sich auf den Stuhl fallen. Fern jeder Hoffnung, den Blick starr nach vorne gerichtet, ließ er die Arme baumeln.

 

Farid fesselte mit gierigen Augen das Geschehen. Er war voller Vorfreude, denn er wusste genau, was jetzt passieren würde.

 

»Nun denn! Ich will mich nicht zwischen zwei Liebende stellen«, sagte Farids Mutter und streckte ihre Arme aus, um die Handflächen auf die Schultern des Paares zu legen. »Bis in alle Ewigkeit sollt ihr, Seite an Seite leben.«

Soraja verstand nicht, was vor sich ging. Farids Mutter war im Dorf als gefährliche Hexe verschrien. Sie hatte einem Mann den Brunnen verdorren lassen, nur weil dieser ihr keinen Becher Wasser schenkte, als sie durstig an seine Tür geklopft hatte.

»Und euch niemals näherkommen, als in diesem Moment«, ergänzte sie, während ihre Augen lebendig wurden, und feine Schlieren ihre Iris benetzten. Blitze entluden sich aus ihren Händen und fuhren in die Körper der Liebenden. Farid lachte laut auf, während der alte Mann auf dem Tisch zusammensackte und zu schluchzen begann.

»Das habt ihr nun davon«, spottete Farid und wartete auf die besiegelnden Worte seiner Mutter.

»Osculum lupus in aeternum«, rief die Alte aus, und entließ einen hellen Blitz aus ihren Händen, der Soraja und Linus blendete.

Das Mädchen drückte die Hand ihres Liebsten fest. Ihre Herzen schlugen gemeinsam im Allegro. Ein Kribbeln jagte unter Sorajas Haut und verteilte sich über den Körper. Rasch machte es Platz für einen reißenden Schmerz, der all ihre Zellen zu ergreifen schien. Sie hatte den Eindruck, als wolle sich etwas, das größer sein musste als sie selbst, gewaltsam aus ihr befreien. Es drückte sich durch jede einzelne Pore und sie konnte fühlen, wie diese langsam aufrissen. Dieser Schmerz war so gewaltig, dass er sie ihrer Sinne beraubte.

 

Linus starrte seine Soraja mit offenem Mund an. Er konnte nicht fassen, was sich ihm darbot.

Aus ihrem lieblichen Gesicht wuchsen Nase und Mund unaufhörlich nach vorn und verschmolzen schließlich zu einer Schnauze. Zeitgleich verformte sich ihr Rücken, jeder einzelne Wirbel trat hervor und positionierte sich mit einem lauten Knacken neu. Sie fiel auf den Boden, und schrie vor Schmerz laut auf. Linus wollte ebenfalls schreien, die Alte daran hindern, seiner Liebsten dieses Leid zuzufügen, aber er konnte nicht. Wie versteinert stand er da und war verdammt dazu, das Unglück regungslos zu erleben. Seine Seele bäumte sich auf, sein Innerstes sprang in unendlich viele Teile. Er konnte doch nicht einfach zuschauen, wie aus dem wunderschönen Mädchen eine Bestie wurde. Aber gegen die Macht der Alten war er unterlegen.

Aus der zarten Haut sprossen Haare wie die Pilze aus dem Waldboden, während sich Arme und Beine zu schlanken Vorder- und Hinterläufen verformten. Die einst menschlichen Ohren wurden spitz, stellten sich auf und fanden ihren Platz weiter oben am Kopf. Soraja blickte in einem kurzen Moment des Stillstands der Verwandlung an sich hinunter und stellte erschrocken fest, dass sich der Haarwuchs mittlerweile stark genug verdichtet hatte, um sie in einem hellen beigefarbenen Fell zu verhüllen. Das Kleid war in kleine Fetzen gerissen und lag auf dem Boden, nur der weiße Träger baumelte um ihre Schulter. Sie war zu einem Tier geworden, einer Bestie. Ihr Blick fing Linus ein, und sie erstarrte. Der Schmerz war nichts im Vergleich zu der Scham ihm gegenüber. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, der sie zu Atem kommen ließ, dann fuhr die Folter fort.

Ihre Augen entledigten sich der menschlichen Form und wurden zu eisgrauen Wolfsaugen. Sie spürte, wie die Knochen ihrer Finger sich zu kräftigen Pranken verformten, und scharfe Krallen tiefe Kerben in den Boden zogen. Die Wirbelsäule des Mädchens verlängerte sich und ließ einen Schwanz erkennen. Der Schmerz verstummte, und ein Kitzeln jagte unter ihrer Haut durch den Körper.

 

Voller Stärke und dennoch furchterfüllt ließ sie ihren Blick durch den kleinen Raum schweifen. Die Alte stand ihr gegenüber und ein zufriedenes Lächeln erfüllte das runzlige Gesicht, während Farids gellendes Lachen durch die Stube schallte, und Soraja wie ein Speer mitten ins Herz traf. Dieser Unmensch war der Ursprung ihres Elends gewesen. Der Gedanke daran, dass es ein Leichtes wäre, ihn für alle Ewigkeit verstummen zu lassen, drängte sich ihr auf. Doch das zarte Wimmern ihres geliebten Linus ließ diesen verrauchen. Er würde die Bestie, zu der sie geworden war, verabscheuen.

Linus konnte den Blick von ihr nicht abwenden, was ihr den größten Schmerz bereitete. Farid lachte immer noch und die Hexe blickte abwertend auf Soraja herab.

Der Instinkt des Mädchens im Wolfspelz übernahm nun die volle Kontrolle ihres Handelns, und so sprang sie aus dem Fenster, das nur angelehnt gewesen war. Und dennoch zeugte das Klirren hinter ihr davon, dass die Scheiben unter der Wucht ihres Sprungs zersplittert waren. Sie blickte sich nicht um, sie konnte nicht weglaufen, wenn die Augen ihrer einzigen Liebe sie daran hindern würden. Nein, das konnte sie nicht riskieren. Sie rannte mit den neuen Gliedmaßen tief in den Wald hinein, und blieb auch nicht stehen, als die Finsternis sie verschluckte.

 

Sorajas Vater hatte nicht das Ausmaß des Geschehens erkannt. Er saß zusammengesunken auf dem Stuhl und blickte sich mit verquollenen Augen um. Die Verwandlung seiner Tochter hatte sich in seinen Kopf eingebrannt.

Farid, dem sein gehässiges Grinsen im Gesicht prangte, warf einen schadenfrohen Blick zum Stalljungen. Linus empfing diesen, war aber nicht in der Lage darauf zu reagieren, denn er konnte immer noch nicht fassen, was soeben geschehen war. Vor seinen Augen hatte sich sein Mädchen in einen zotteligen Wolf verwandelt. Oder war alles nur ein Traum, aus dem er jeden Moment zu erwachen vermochte? Sein Herz schlug außerhalb der Brust, und der Schmerz über den Verlust saß so tief, dass dieser ihm den Atem stahl. Seine geliebte Soraja war nun irgendwo alleine draußen, in der Finsternis, die unheilvoll die Fensterscheiben verdunkelte und diese zu spiegelnden Flächen machte. Spiegel, in denen sich die Stube wiederfand. Doch diese Fenster schienen ein Bild wiederzugeben, das nichts mit dem gemein hatte, das er mit eigenen Augen zu sehen glaubte. In diesem Fenster sah er die ihm abgewandte Seite der Alten, und diese ließ sein Herz für einen Moment stehen bleiben. Spielten ihm seine Augen keinen Streich, dann ragten unzählige Schlangen aus ihrem Hinterkopf und einige von ihnen schmiegten sich an die geschwungenen Hörner, die aus ihrem Kopf wuchsen.

 

Alles in ihm schrie, er solle weglaufen, seiner Liebsten hinterher, und diesen verfluchten Ort hinter sich lassen, aber er konnte nicht. So sehr er es auch versuchte, seine Beine waren steif, als wären sie versteinert. Nicht einmal der Schrei, der in seiner Kehle saß, wollte sich lösen. Als dann noch die Alte auf ihn zukam, brannten Tränen in seinen Augen. Er spürte Todesangst in seiner Seele aufkochen. Schweiß benetzte seine Stirn und er ahnte, dass dies das Ende sein würde, sein Ende.

Die schrumpelige Frau hob ihre Hände, legte diese auf ihr Gesicht, neigte sie wieder und hauchte ihren Atem hinein. Feiner weißer Staub wirbelte in ihnen auf und legte sich auf Linus‘ feuchtes Gesicht. Ein Kribbeln durchzog seinen Körper und löste die Starre, die ihm die Hexe offensichtlich auferlegt hatte.

»Lauf Junge! Lauf deiner Liebe hinterher«, sagte sie und streckte ihren Arm zur Tür. Diese sprang auf, als hätte sie jemand aufgetreten. Linus fuhr zusammen.

»Lauf, solange du es kannst«, forderte sie ihn auf, und zog die Lider zu schmalen Schlitzen zusammen.

Sorajas Vater sprang auf, schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und schrie: »Nein! Du bleibst hier! Du bist schuld an alledem!« Dann griff er nach dem Gewehr, das an der Kommode hinter ihm lehnte, und legte dieses an.

Im Bruchteil eines Wimpernschlags rannte Linus durch die offene Tür. Gerade noch rechtzeitig, denn ein Schuss löste sich und das Holz des Türrahmens neben ihm zerbarst. Linus blieb nicht stehen. Er rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, in die schützende Finsternis hinein. Erst, als seine Lunge ihm jeden weiteren Atemzug zu verwehren drohte, blieb er stehen und sackte in sich zusammen. Seinen Beinen schien jede Kraft entzogen, sie wollten ihn nicht mehr tragen. Das Bild der Verwandlung folgte ihm, wie ein dunkler Schatten und drängte immer mehr in den Vordergrund seines Bewusstseins. »Soraja«, wisperte Linus, während Tränen sein Gesicht benetzten.

Das Band der Liebe

 

Inzwischen war Soraja an einen kleinen See gekommen. Sie hätte mit verbundenen Augen das duftende Wasser gefunden. Ihr Geruchssinn hatte sich auf wundersame Weise vervielfacht. Eine leichte Brise zog auf und hinterließ ein Kitzeln auf ihrer Haut. Sie trat einen vorsichtigen Schritt nach vorne und entdeckte den runden Mond in der spiegelnden Wasseroberfläche. In diesem Moment fühlte sie sich nicht mehr so alleine, Dieser Anblick erweckte das zarte Gefühl von aufkeimender Geborgenheit. Und trotzdem empfand sie sich als Fremde in dieser Welt, denn alles war so anders, so groß. Die Bäume ragten wie gewaltige Skulpturen gegen den Horizont und der Waldboden war so nah. Seine Gerüche kitzelten in ihrer Nase und sie musste niesen, doch hörte sich nicht an, als wäre es von ihr gekommen. Erschrocken blickte sie sich um, aber mehr als Bäume und Sträucher konnte sie nicht entdecken. Diese vielen neuen Gerüche verwirrten Soraja. Es duftete würzig und doch waberte der Geruch des Verwesens um sie herum. Sie konnte alles genau erkennen, obwohl sie sich an die einkehrende Nacht erinnerte, bevor sie und Linus das Haus betreten hatten. Linus ... Etwas war mit ihr geschehen, das sie nicht zu begreifen vermochte. Ihr waren Haare gewachsen, wo keine sein durften und auch ihre Knochen schienen alle einen neuen Platz eingenommen zu haben. Soraja fürchtete sich vor ihrem Anblick, und dennoch zog es sie zu der Wasseroberfläche, in der der Mond sie so warm begrüßt hatte. Zögerlich trat sie ans Ufer und zuckte wieder zurück. Sie überlegte einen kurzen Augenblick, ob sie das Monster überhaupt sehen wollte, zu dem sie geworden war. Ein tiefer Atemzug der würzigen Waldluft schenkte ihr etwas Mut, und so schob sie sich vorsichtig weiter vor, bis das kühle Wasser ihre Vorderpfoten umspielte. Voller Ehrfurcht senkte sie den Kopf, um ihr Spiegelbild zu betrachten, und fuhr im selben Augenblick zusammen. »Ein Wolf«, schrie sie im Innersten, doch aus ihrer Kehle löste sich nur ein tiefes Brummen.

Soraja neigte den Kopf und betrachtete den Wolf, der sie aus dem Wasser anstarrte. Dieser ging in ihrer Bewegung mit. »Das bin ich nicht!«

Ihr Herz schlug ebenso wild, wie die Gedanken, die durch ihren Kopf jagten. Niemals würde Linus sie in dieser Gestalt lieben können. Fortjagen würde er sie, und wahrscheinlich hätte er solche Angst, dass er sie erschießen würde, dachte sie. Wie sollte sie sich überhaupt bei den Menschen jemals wieder blicken lassen? Überladen von der Trauer um ihre junge Liebe, ließ sie sich im feuchten Laub nieder. Sterben war alles, an das sie nun denken konnte. Es war nicht nur ein Wunsch, es war viel mehr, es war der feste Wille aus einer tiefen Verzweiflung heraus.

*

Linus hatte seinen Atem wiedererlangt und war tiefer in den Wald gelaufen. Der Glaube daran, Soraja zu finden trieb ihn an, wie ein Stück Brot einen Verhungernden. Doch die Nacht erschwerte ihm die Suche, denn sie verwehrte den Glanz der Sterne. Selbst der Mond hatte sich hinter schweren Wolken versteckt, sodass Linus die Hände vor sich ausstrecken musste, um nicht mit einem Baum zu kollidieren. Dafür hörte er ganz gut, zu gut. Denn jeder Stock, jeder Zweig und auch das Laub unter seinen Füßen gaben Geräusche wider, die durch den Wald hallten und Linus vorgaukelten, aus allen Richtungen zu kommen. Das Schlimmste aber war das Flüstern der Baumkronen, in denen sich eine Brise verfangen hatte. Einmal glaubte er, die Stimme der Alten zu hören: »Lauf Junge!«

*

Soraja hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt, um einen letzten klärenden Blick auf das Bild zu werfen, das der See widergab. Sie hoffte so sehr, diesmal in das Gesicht eines Menschen zu blicken, dass sie erneut vor dem Wolf auf der spiegelnden Oberfläche erschrak. Seine eisgrauen Augen starrten sie kalt an, und sie konnte nicht glauben, dass dies ihre eigenen sein sollten. Doch ein prüfender Blick an ihren Vorderpfoten hinunter versicherte ihr, dass sie eben dieser Wolf war, der erbarmungslos aus dem Wasser blickte. Jetzt wusste sie es ganz genau: Sie musste Linus vergessen, aus ihrem Leben löschen, als hätte es ihn nie gegeben. Und diese Gewissheit schlug eine tiefe Kerbe in ihre Seele. Brennende Tränen füllten ihre Augen, und das herzzerreißende Heulen eines sterbenden Wolfes erfasste den Wald.

*

Linus fuhr herum. Wölfe! Die Angst saß ihm im Nacken, wie ein hässlicher Gnom. Er ging in die Hocke und überlegte rasch, wo er sich verstecken sollte. Dann fiel ihm schmerzlich ein, dass dies Sorajas Jaulen gewesen sein konnte. Vorsichtig rappelte er sich auf und blickte sich verhalten um. Die schwere Dunkelheit lag wie eine zähe Masse über dem Wald, sodass er nichts erkennen konnte, so sehr er sich auch bemühte. Einzig sein warmer Atem stieg als weißer Dunst auf. Das Rufen eines Käuzchens ließ ihn erneut zusammenfahren. Er musste sich auf sein Gehör verlassen, denn dieses schien hervorragend zu funktionieren.

»Bitte, nur noch einmal, Soraja!«, flüsterte er.

Aber der Wald blieb still. Linus hielt es nicht mehr aus. Wer sollte ihn schon hören, so tief im Dickicht, mitten in der finstersten Nacht? Also fasste er sich ein Herz und rief den Namen seiner Liebsten, so laut er konnte. Dann hielt er inne und lauschte in die Tiefen der Nacht hinein. Nichts. Kein Laut, der auf Soraja schließen ließe.

»Verdammt!«, stieß er nach einer Weile des Wartens aus, und rief erneut nach ihr.

»Soraja! Lauf nicht weg! Ich bin es doch, dein Linus. Lauf doch nicht vor mir weg, bitte lauf nicht weg.«

Linus konnte nicht verstehen, warum sie sich vor ihm versteckte, warum sie ihn nicht an ihrem Leid teilhaben ließ. »Ich liebe dich! Komm zurück! Bitte, bitte komm zurück«, jammerte er vor sich hin und vergrub sein Gesicht in den Händen.

Der schmerzliche Verlust seiner großen Liebe brach den jungen Mann entzwei. »Soraja!, schrie er in die Dunkelheit, und lauschte dem verhallenden Echo.

*

Erschrocken vernahm die beige Wölfin die Stimme ihres Liebsten. Ein leises Winseln entglitt ihr und sie stellte die Ohren auf, um noch ein letztes Mal seine Stimme zu hören, ehe sie ihren einsamen Weg beschreiten würde. Einen Weg, der sie von Linus entfernen würde, bis er sie vergessen hätte und ein Leben mit einer anderen jungen Frau einschlagen würde. Der Gedanke an eine Zukunft ohne ihn versetzte ihr einen Hieb. Sorajas Herz trieb sie an, seinem Ruf zu folgen, aber ihr Verstand wollte sie daran hindern. So tapste sie mit der Vorderpfote vor, um diese wieder zurückzuziehen. Doch das Band der Liebe war zu stark, als dass sie sich dagegen wehren konnte. Sie lief einige Schritte vor, und kehrte wieder um. Wenn sie ihn jetzt nicht verlassen würde, dann wäre sein Schicksal mit ihrem zu fest verwoben, dachte sie. Andererseits waren sie von klein auf stets zusammen gewesen und keiner von ihnen hielt es lange ohne den anderen aus. Sie hatte ihn gebraucht, wie die Luft zum Atmen, und mit den Jahren war diese Bindung noch inniger geworden. Wie sollte sie nur ohne ihn sein? Konnte Linus sie überhaupt vergessen?

 

Die Wölfin war so tief in ihren Überlegungen versunken, dass sie unbemerkt eine Pfote vor die andere gesetzt hatte. Sie warf einen prüfenden Blick über die Schulter und wunderte sich, dass das Ufer nur noch schemenhaft zu erkennen war. Die Muskeln in ihren Läufen zuckten, als forderten sie von ihr, eine weite Strecke in kurzer Zeit zurückzulegen. Ihr Innerstes schrie: »Lauf«, und sie rannte los. Sie war so schnell, dass sie nahezu durchs Unterholz flog. Der Wind in ihrem Fell hinterließ ein Kribbeln, aber diesmal war es nicht unangenehm. Vielmehr gab es ihr für den Bruchteil eines Wimpernschlags ein Gefühl von Freiheit, wenn sie dieses auch nicht zulassen wollte. Für Soraja hatte die Gefangenschaft in dem Körper eines wilden Tieres herzlich wenig mit Freiheit gemein. Trotzdem versuchte sie die neu gewonnenen Fähigkeiten einzusetzen, um Linus zu finden. Sie wollte ihn nicht

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Dana Müller, Jennifer Müller
Bildmaterialien: Dana Müller, Pixabay / Pexels
Lektorat: A. Müller
Tag der Veröffentlichung: 24.02.2015
ISBN: 978-3-7368-8059-7

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An dieser Stelle möchte ich mich bei meiner Tochter Jennifer Müller bedanken, ohne die dieses Buch niemals geschrieben worden wäre. Mit ihrem umfassenden Wissen und ihrem großen Interesse an Wölfen, stand sie mir nicht nur beratend zur Seite. Einige Passagen stammen aus ihrer Feder, was dieses Buch zum Gemeinschafts- und Herzprojekt macht. Es hat mir großen Spaß bereitet, mit ihr in die Welt der Wölfe abzutauchen. Band 2 ist bereits in Arbeit, und wird mit ebenso viel Freude geschrieben, wie dieses Buch. Ebenso dankbar bin ich meinen Testlesern, insbesondere Sabine Loferski und meiner liebe Freundin Anja Klingenberg. Sie haben nicht einfach nur gelesen, sondern zum letzten Schliff beigetragen. Aber auch meinem Mann gebührt ein großer Dank, der mir die nötige Zeit und Ruhe eingeräumt hat, und sich geduldig um Haushalt und Familie kümmerte. Und natürlich danke ich meinen treuen Lesern von ganzem Herzen. Was wären all die Mühen denn ohne euch wert? Danke

Nächste Seite
Seite 1 /