Mystery-Roman
von
Dana Müller
»Sophie, Sophie«, schmetterte mir Julians helles Stimmchen entgegen. »Bekomme ich wirklich ein Brüderchen?«, fragte er und hüpfte aufgeregt in der Küche umher.
Am liebsten hätte ich geantwortet, dass er nie eines von mir bekommen würde, damit hätte das leidige Thema endlich ein Ende, aber für den fünfjährigen Jungen wäre damit wohl eine Welt zusammengebrochen. Also schluckte ich meinen Ärger über seinen Vater hinunter und legte ein Lächeln auf.
»Hase, es ist nicht so leicht zu sagen, ob und wann du ein Geschwisterchen bekommst. Weißt du, manchmal muss man ganz lange warten, bis ein Wunsch in Erfüllung geht. Verstehst du?«, erklärte ich.
Schlagartig wich die Freude aus seinem zarten Gesicht.
»Ach Menno! Aber Papa hat gesagt, dass das nicht mehr lange dauert«, quengelte er und sah erwartungsvoll zu mir hoch.
»Papa kann das gar nicht so genau wissen. Schließlich bekommen die Papas ja nicht die Babys«, antwortete ich.
»Na toll! Ich werde nie einen Bruder haben«, schlussfolgerte er und schlurfte missmutig aus der Küche.
Mit dem schlechten Gefühl, ihn traurig gemacht zu haben, widmete ich mich wieder dem Nudelgratin und verteilte den geriebenen Käse auf der Pasta. Mir war unbegreiflich, wie Marcel seinen kleinen Sohn in die Umsetzung seiner Wünsche einbinden konnte. Unsere letzte Diskussion um das Thema Kinderkriegen lag wenige Tage zurück und ich dachte, ihm meinen Standpunkt begreiflich gemacht zu haben. Scheinbar verfolgte er seine eigenen Pläne. Aber das war etwas, das ich ihm nicht durchgehen lassen würde. Sobald Julian in seinem Bettchen läge, wollte ich unbedingt mit seinem Vater reden. Solange musste ich mich eben zusammennehmen, so gut ich konnte. Ich wollte nicht, dass der Junge ein Streitgespräch zwischen uns mitbekommt. Leider würde es genau darauf hinauslaufen, so sauer, wie ich war.
Vorsichtig schob ich die Auflaufform in den vorgeheizten Ofen und bereitete den Salat zu.
Der Duft geschmolzenen Käses lockte die beiden in die Küche. Während Julian den Tisch mit Platzdeckchen versah, schlang Marcel seine Arme um meinen Körper. Mit einer gekonnten Drehung wandte ich mich aus seiner Umarmung und zog das Besteckfach auf. Ein weiterer Anlauf, mich in seine Arme zu schließen scheiterte. Er griff nach meinem Handgelenk.
»Das Essen wird kalt«, bemerkte ich trocken und drehte meinen Arm aus seinem leichten Griff.
Wortlos setzte er sich an den Tisch und wartete auf seinen Teller, während Julian bereits von dem Käse naschte. Scheinbar hatte der Junge meine Abfuhr längst vergessen, was mein Gewissen aber keinesfalls erleichterte. Ich konnte an nichts anderes denken, als die Art, mit der Marcel die Verantwortung seinem Kind gegenüber definierte.
Während ich in den Nudeln herumstocherte und den Käse in lange Fäden zog, um diese um die Gabel zu wickeln und am Tellerrand abzustreifen, verschlang Marcel sein Essen. Ich war mir nicht sicher, ob er das tat, weil sein Hunger so groß war oder weil er ahnte, dass ihm eine Diskussion bevorstand. Ich tippte auf Letzteres. Mein Appetit hatte sich mit Julians Frage nach dem Brüderchen verabschiedet, dieser eine Satz lag mir wie ein großer Stein im Magen.
»Warum isst du nichts?«, fragte Julian.
»Ich habe während des Kochens zu viel genascht«, log ich und stand auf, um die Teller abzuräumen.
Marcel blickte kurz zu mir auf. »Iss doch wenigstens den Salat«, sagte er.
Als ich nicht antwortete, sah er rasch auf seine Armbanduhr.
»Wie die Zeit vergeht. Los, Sportsfreund! Umziehen und Zähne putzen. Wir waren heute ziemlich spät mit dem Essen dran«, sagte er und stand auf.
»Ich will aber noch nicht schlafen. Kann ich nicht noch ein bisschen länger wach bleiben?«, fragte Julian mit großen Augen und schob die Unterlippe vor.
Wenn er einen so anblickte, war es ziemlich schwer, seinem Flehen zu widerstehen. Dennoch blieb sein Vater hart und streckte ihm die Hand entgegen.
»Komm«, sagte er. »Ich helfe dir. Dann geht`s schneller.«
Hatte ich tatsächlich die Zeit aus den Augen verloren? Ich sah ebenfalls auf die Uhr und stellte fest, dass Marcel den Jungen um eine ganze Stunde zu betrügen versuchte. Also war es tatsächlich nicht der große Hunger, der sein Essverhalten gesteuert hatte, sondern sein Gewissen. Dieses hatte sich bestimmt nicht wegen Julian gemeldet, sondern wegen mir. Kopfschüttelnd räumte ich das Geschirr in die Spülmaschine und legte die Platzdeckchen zurück in die Schublade. Solange Marcel seinen Sohn zu Bett brachte, nutze ich die Gelegenheit, heimlich eine Zigarette zu rauchen. Er hasste es, wenn ich das tat. Natürlich war mir bewusst, dass er es riechen würde, aber das kümmerte mich nicht. An der offenen Terrassentür nahm ich einen tiefen Zug und überlegte, wie ich meinem Verlobten deutlich machen könnte, warum seine Bemühungen um Nachwuchs auf unfruchtbaren Boden fielen.
»Die Dinger sind nicht gut für dich«, ertönte seine Stimme und ließ mich zusammenfahren.
Hastig streifte ich die Glut am Terrassenboden ab und schloss die Tür.
»Du wirst erwartet«, sagte Marcel und deutete mit dem Kopf in die Richtung des Kinderzimmers. »Meine Geschichten sind ihm nicht gut genug. Er will unbedingt von dir vorgelesen bekommen, sonst schläft er nicht, meint er zumindest.«
Ich warf den Zigarettenstummel in den Mülleimer. Ohne ein weiteres Wort lief ich die Treppe hinauf zu Julians Zimmer. Das kleine Nachtlicht brannte und warf tanzende Schatten an die Wände des kleinen Raumes. Julian lag eingekuschelt in seiner Decke und wartete offensichtlich schon auf mich.
»Welche Geschichte möchtest du denn heute hören?«, fragte ich und schlug das Buch auf, aus dem ich ihm jeden Abend vorlas. Doch, statt mir zu antworten, stellte er eine Gegenfrage.
»Bist du sauer?«
»Warum sollte ich sauer sein?«
Julian setzte sich auf und streifte seine Decke glatt. Das tat er immer, wenn er sich nicht wohlfühlte. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sein Unwohlsein mit Marcel zu tun hatte.
»Hat Papa das behauptet?«, fragte ich gerade heraus.
Er nickte. »Wegen des Babys, das du nicht willst. Warum willst du kein Kind? Ich bin doch auch ein Kind und du hast mich doch lieb.«
Bis hierher hatte ich gedacht, nein ich hatte gehofft, dass Marcel nicht darüber nachgedacht hatte, als er dem Jungen den Floh vom Geschwisterchen ins Ohr setzte. Aber jetzt war ich mir sicher, dass er es in vollem Bewusstsein getan hatte. Ich schluckte meine Wut hinunter, wie einen großen Bissen ekligen Essens.
»Natürlich habe ich dich sehr lieb, Hase«, antwortete ich und platzierte einen liebevollen Kuss auf seiner zarten Stirn. »Dein Papa hat da etwas falsch verstanden. Es gibt überhaupt kein Baby. Der Papa und ich hatten uns vor einiger Zeit darüber unterhalten, ob wir noch ein zweites Kind haben möchten. Aber im Moment ist es einfach nicht die richtige Zeit. Vielleicht ändert sich das bald, vielleicht auch nicht. Aber diese Überlegungen haben doch nichts mit dir zu tun, mein Liebling.«
»Womit hat es denn zu tun?«, fragte Julian.
Womit hatte es zu tun? Ich suchte in meinem Innersten nach der richtigen Antwort, aber was ich noch genau wusste, bevor ich in sein Zimmer getreten war, schien sich nun in Luft aufgelöst zu haben.
»Das sind Erwachsenensachen, damit solltest du dich nicht belasten. Und jetzt sagst du mir bitte, welche Geschichte ich lesen soll.«
Er sah mich mit seinen großen grünen Augen an, in denen eine tiefe Angst zu liegen schien. Ich hoffte, dass ich mir diese nur einbildete, schließlich hatten wir gerade ein Thema besprochen, das auch in mir Unbehagen auslöste.
»Heute keine Geschichte. Aber dafür was anderes. Kannst du dich zu mir legen, bis ich eingeschlafen bin?«, sagte er und schlug seine Decke auf.
Ich kletterte in sein Bett und legte meinen Arm um den kleinen Körper, nachdem er mir den Rücken zugedreht und sich an mich gekuschelt hatte. Es dauerte nicht lange, bis er eingeschlafen war und ich mich vorsichtig aus seinem Reich schleichen konnte.
Leise schloss ich die Tür hinter mir und lief hinunter ins Wohnzimmer, während ich versuchte, mir die Worte zurechtzulegen, mit denen ich Marcel den Kopf waschen wollte. Ich war kaum durch die Tür getreten, da schmetterte er mir schon ein »tut mir leid« entgegen.
»Das geht so nicht, Marcel«, entgegnete ich und ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen. »Du kannst den Jungen nicht so für deine Zwecke missbrauchen. Damit verwirrst du ihn komplett!«
Marcel hob die Augenbrauen.
»Er hat selber gefragt. Im Kindergarten gibt es einen Jungen, der ein Brüderchen bekommt. Die Erzieherin hat die Kinder gefragt, wer denn ein Geschwisterchen hat. Julian war der Einzige, dessen Arm unten geblieben ist. Was hätte ich ihm denn sagen sollen?«
»Vielleicht die Wahrheit?«, antwortete ich und setzte mich neben ihn auf die Couch.
Er wollte seinen Arm um meine Schultern legen, aber ich lehnte mich nach vorne.
»Dann soll ich ihm sagen, dass du einfach keine Kinder willst?«, fragte er und lehnte sich ebenfalls vor.
»Jetzt tu doch nicht so, als wüsstest du nicht, warum das so ist«, erwiderte ich schärfer, als gewollt und stand auf, um mir ein Glas Cola aus der Küche zu holen. Marcel folgte mir und nahm mir so die Gelegenheit, mich zu sammeln. Mich ärgerte sein Unverständnis. Vor allem ärgerte mich, dass er nun offensichtlich versuchte, sich aus der Affäre zu ziehen.
»Ich verstehe dich nicht! Was spricht denn gegen Familienzuwachs? Ich meine, deine Eltern lieben dich und haben dir eine gute Zukunft ermöglicht. Du kümmerst dich um Julian, als wäre er dein leibliches Kind. Ich liebe dich! Warum kannst du nicht einfach nach vorne schauen?«
Der Druck der Colaflasche gab mit einem Zischen nach. Ich goss mir ein halbes Glas der rotbraunen Flüssigkeit ein und nahm einen Schluck davon.
»Nur, dass meine Eltern nicht meine Eltern sind! Warum versuchst du nicht, wenigstens zu verstehen, dass ich wissen muss, warum meine Eltern mich weggegeben haben? Vielleicht waren sie krank, vielleicht haben sie mich einfach nicht gewollt, vielleicht ... Ich kann so kein Kind in die Welt setzen!«, erklärte ich und kämpfte mit den Tränen, die sich unbarmherzig anbahnten.
Seit ich an meinem achtzehnten Geburtstag erfahren hatte, dass ich adoptiert worden war, fühlte ich mich deplatziert in dieser Familie. Meine Eltern waren von einem Augenblick auf den anderen zu Fremden geworden. Während anderen die Ähnlichkeit zu ihren Eltern im Gesicht stand, suchte ich diese in meinen Zügen vergeblich. Seitdem ließ mich die Frage nicht mehr los, warum meine leiblichen Eltern mich denn nicht mehr gewollt hatten. Mit den Tränen, die in dieser Zeit geflossen waren, würde man einen ganzen Eimer füllen können. Mittlerweile hatte ich die Trauer größtenteils überwunden und war nur noch tief enttäuscht. Jedes meiner vermeintlichen Familienmitglieder machte einen großen Bogen um das Thema. Und jedes Mal, wenn ich es dann trotzdem auf den Tisch brachte, verstummten sie und hatten plötzlich etwas Wichtiges zu tun. Sie hüllten meine Herkunft in ein dunkles Geheimnis. Aber ehe dieses nicht gelüftet wäre, wollte ich keine Kinder in die Welt setzen.
»Wie kann man nur so egoistisch sein? Du gibst mir das Gefühl, dich würde gar nicht interessieren, was ich will. Hauptsache, deine Wünsche kommen nicht zu knapp«, polterte es über meine Lippen.
Marcel holte tief Luft und entließ diese durch einen schmalen Spalt zwischen seinen Lippen.
»Jetzt wirst du unfair!«, sagte er leise.
In seinen Augen konnte ich die Verletzung deutlich erkennen, die meine Worte hinterlassen hatten, aber ich wollte mich nicht entschuldigen, ich konnte es nicht. Zu oft hatten wir in der Vergangenheit diese Diskussion geführt. Jedes Mal hatte es mir leidgetan, ihn traurig zu sehen, so war ich immer wieder auf ihn zugegangen, um mich mit ihm zu vertragen. Aber diesmal nicht, diesmal sollte er den Ernst meiner Worte genau spüren. Ich sparte mir jede weitere Diskussion und lief in die Küche, um die Mülltüte aus dem Treteimer zu ziehen, während er im Wohnzimmer sitzen blieb. Wie es schien, war er dermaßen verletzt, dass ihm die Worte fehlten. Ich verknotete die Tüte und griff im Vorbeigehen den Schlüssel aus der großen hölzernen Schale im Flur.
Die frische Abendluft schlug mir mit einer schwachen Brise ins Gesicht. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt und spiegelte ein bisschen meine Stimmung wider. Der Nachbarhund lief am Zaun auf und ab, während er meine Bewegungen genau beobachtete. Erst, als ich die Tüte in die Mülltonne beförderte, verlor er das Interesse an mir. Ich zog den Reißverschluss meines Sweaters hinauf und schlang die Arme um meinen Körper. Obwohl ich fröstelte, wollte ich nicht wieder ins Haus gehen, noch nicht. Die feuchte Luft war genau das Richtige, um einen klaren Kopf zu bekommen. So blieb ich noch einige Minuten im Nieselregen stehen. Doch, als ich an den Briefkasten kam, kochte die Wut in mir wieder auf.
»Du kannst nicht einmal den Briefkasten leeren, wie willst du dich dann um ein zweites Kind kümmern?«, brummte ich vor mich hin.
Durch das schmale Sichtfenster konnte ich deutlich einen braunen Briefumschlag erkennen. Da der Postbote bestimmt nicht abends Briefe austrägt, musste Marcel diesen schlichtweg übersehen haben, als er nach Hause gekommen war. Schon beim Herausholen des Umschlags fiel mir auf, dass dieser weder eine Briefmarke noch einen Absender trug, was meine Neugier weckte. Allerdings war er an mich adressiert, was mich wiederum verunsicherte. Was würde ich wohl finden, wenn ich ihn öffnete? Darüber wollte ich nicht nachdenken, denn in Filmen finden die Leute in solchen Situationen Bilder ihrer untreuen Partner oder Schlimmeres. Ich lief zur Straße und blickte mich um, aber es war weit und breit niemand zu sehen. Im Inneren konnte ich etwas Hartes ertasten, Bilder konnten es also nicht sein, es sei denn, jemand hatte diese auf einer CD verewigt. Mich beschlich eine seltsame Ahnung. Mit dem Öffnen dieses Briefes könnte sich mein Leben verändern. Aber wollte ich überhaupt, dass sich etwas änderte?
Mir wurde immer kälter, der Nieselregen hatte sich in schnelle Tropfen verwandelt, die in einem monotonen Rauschen herabfielen und bereits kleine Pfützen gebildet hatten. Den Brief schob ich unter meinen Sweater und öffnete die Tür, Marcel sollte ihn nicht sehen, solange ich seinen Inhalt nicht kannte. Wärme umhüllte mich in dem Moment meines Eintretens. Aber es war nicht die warme Luft, die mich an die Geborgenheit meiner kleinen Patchworkfamilie erinnerte, es war die Stille, die durch das Haus drang. Jetzt rührte sich mein Gewissen. Wie lange ich draußen in der Kälte gestanden hatte, erkannte ich nur an meinen kalten Händen, in denen sich langsam ein Kribbeln breitmachte. Marcel vermutete ich im Schlafzimmer. Er war bestimmt sehr traurig und ein bisschen sauer schlafen gegangen, weil ich mich aus dem Gespräch gestohlen hatte.
Leise schlich ich ins Bad und schlüpfte aus meiner nassen Kleidung. Den Brief legte ich auf den Rand des Waschbeckens und stellte mich unter die Dusche. Das warme Wasser entspannte mich etwas, aber meine Gedanken ließen einfach nicht von dem Umschlag ab. Schließlich griff ich nach dem Handtuch und stieg aus der Duschtasse. Der Brief lag genau da, wo ich ihn abgelegt hatte. Wo sollte er auch sonst liegen? Vorsichtig schob ich eine Nagelfeile in die Lücke der Kuvertlasche und zog diese durch das feuchte Papier. Dann schmulte ich hinein. Meine Vermutung erwies sich als richtig, denn in seinem Inneren befand sich tatsächlich eine CD-Hülle. Ein Zittern breitete sich in meiner Magengrube aus. Was, wenn Marcel mich betrogen hatte? Was, wenn seine Geliebte keine Lust mehr auf das Versteckspiel hatte und mit Beweisfotos unserer Trennung nachhelfen wollte, um ihn für sich alleine zu haben? Ein Teil von mir wollte gar nicht wissen, was sich auf der CD befand, aber ein anderer, größerer Teil hielt es nicht mehr aus und drängte mich, es herauszufinden. Also streifte ich meinen Bademantel über und schlich mit meinem Fund ins Wohnzimmer, zum Laptop. Während dieser langsam hochfuhr, holte ich mir eine Zigarette und den Aschenbecher, den ich unter der Spüle vor Marcel versteckt hatte. Das Cover der Hülle war komplett schwarz, es hatte nicht einmal eine Aufschrift, was die ganze Sache nur noch unheimlicher machte. Dagegen hatte die CD eine rote Tönung. Ich öffnete das Fach und legte die Disc ein. Mein Herz begann wie wild zu schlagen, meine Knie verwandelten sich in Wackelpudding und mein Verstand drohte auszusetzen. Ich fragte mich ein letztes Mal, ob ich das Geheimnis dieser Disc überhaupt ergründen wollte, ehe ich den Mauszeiger auf das Laufwerk bewegte. Zu meinem Erstaunen beherbergte der Träger eine einzelne Audiodatei. Diese hatte nicht einmal einen richtigen Namen, nur Zahlen. Was sollte ich nur tun? Wenn doch nur Mara jetzt hier wäre. Mit ihr hatte ich die schwersten Zeiten meines Lebens überstanden, sie hatte mich gehalten, als sich ein tiefer Abgrund unter mir aufgetan hatte. Sie war immer für mich da gewesen. Ich beschloss, ihr wenigstens die Datei zu schicken. Sollte sich mir etwas Furchtbares durch das Öffnen offenbaren, dann müsste ich wenigstens nicht in Erklärungsversuchen ertrinken. Dann wüsste Mara sofort Bescheid und würde mich retten, ohne Fragen stellen zu müssen. Mit wenigen Klicks hatte ich die Datei als E-Mail-Anhang hochgeladen, schrieb ihr eine kurze Erklärung und bewegte den Mauszeiger auf den Senden-Button. Ich zögerte einen Augenblick, hob den Zeigefinger und ließ diesen kraftvoll auf die linke Maustaste fallen.
Um Marcel nicht ins Wohnzimmer zu locken, setzte ich meine Kopfhörer auf und öffnete die Datei ohne Namen.
Zunächst ertönte ein kurzer, tiefer Ton, der sich in regelmäßigen Abständen wiederholte, bis er wie ein Herzschlag in Zeitlupe klang. Ich lehnte mich in meinem Chefsessel zurück und ließ mich auf den entspannenden Klang ein. Dann setzte eine helle Melodie ein, vergleichbar mit einem leisen Glockenspiel, die tief in meinen Kopf drang. Aber es war nicht unangenehm, im Gegenteil, ich fühlte mich plötzlich leicht und zufrieden. Ich schloss meine Lider und ließ mich von den Tönen tragen. Nach einer Weile bemerkte ich ein durchgehendes Brummen, das lauter wurde und sich bis zum Ende der Audiodatei zog. Ich hatte etwas Vergleichbares im Internet gehört, als ich auf der Suche nach Entspannungsmusik gewesen war. Nun fragte ich mich umso mehr, wer mir diese meditative Musik gönnte.
Plötzlich überkam mich eine tiefe Müdigkeit, die sich in einem langen Gähnen äußerte. Mein Blick schweifte zur Wanduhr, deren Zeigerstand mich verwirrte. Sie musste stehen geblieben sein, denn nach dem Stand der Zeiger hatte ich angeblich fünf Stunden vor dem Laptop verbracht. Kopfschüttelnd kniff ich die Augen etwas zusammen, um die kleine Zeitanzeige am unteren Rand des Monitors zu erkennen, doch diese zeigte genau dieselbe Uhrzeit an. Es war kurz vor Mitternacht. Hastig fuhr ich das Gerät wieder runter und schlich ins Schlafzimmer.
Marcels Schnarchen war bis nach unten zu hören gewesen. So leise ich konnte, öffnete ich die Tür zum Schlafzimmer und schlüpfte hinein. Die Luft in dem Raum schien gänzlich verbraucht. Ich kippte das Fenster hinter dem schweren Vorhang, den ich ein Stück beiseiteschob, um den Luftaustausch zu beschleunigen. Seichtes Mondlicht fiel auf das Bett und warf die Schatten, der sich wiegenden Äste in unserem Garten, in unheimlicher Weise an die Wand hinter dem Bett. Die Decke hob ich sehr vorsichtig hoch, um Marcel nicht zu wecken. Wie hätte ich ihm denn erklären sollen, was ich die ganze Zeit über gemacht hatte, ich wusste es selber nicht so recht. Der Lattenrost ächzte unter meiner Belastung. Marcel drehte sich von mir weg. Die Decke bis über die Schulter gezogen, lag er nun in Embryonalstellung neben mir. Ich atmete leise aus und legte mich steif neben ihn. Meine Decke zog ich ebenfalls bis zu den Zähnen, während mein Blick den Bewegungen der Schatten folgte. Eine stärkere Brise verfing sich in den Baumkronen und entlockte ihnen ein Rascheln und Flüstern. Während ich dem Klang der Natur lauschte, wurden meine Lider bleiern und gaben schließlich der Schwerkraft nach.
Tiefe Dunkelheit umgab mich, wie ein schwerer Mantel. Ich stand an einem Fenster, dessen Scheibe zerschlagen auf dem morschen Holz um meine Füße verteilt war. Fahles Mondlicht lag über dem Hof und ließ das Rot der gegenüberliegenden Scheune leuchten. Eine kleine Tür im Dachbereich sprang auf und ein Kind stand in schwindelerregender Höhe in dieser Tür. Sein Kopf war zur Seite geneigt. Aus der Entfernung, es lagen bestimmt zweihundert Meter zwischen mir und der Scheune, konnte ich sein Gesicht nicht erkennen. Aber, was ich ganz deutlich ausmachen konnte, war der weiße Pyjama mit roten Punkten. Was um alles in der Welt machte ein Kind im Schlafanzug in dem Scheunentürchen? Meine Nackenhärchen stellten sich auf, ein Huschen hinter mir ließ mich herumfahren, doch ich konnte niemanden erkennen. Dann blickte ich wieder zu der Scheune, aber das Kind war verschwunden. Ein furchtbarer Gedanke drängte sich mir auf. Ich versuchte, auf dem Boden vor der Scheune etwas zu erkennen.
»Sophie«, rief eine Kinderstimme meinen Namen.
Wieder fuhr ich herum, doch ehe ich den Raum auch nur erfassen konnte, verschwamm alles und ich fühlte mich beobachtet.
Meine Lider sprangen auf und ich blickte in die seichte Dunkelheit meines Schlafzimmers. Neben meinem Bett stand Julian und traute sich offenbar nicht, mich zu wecken. Er sah mich nur an.
»Geh wieder ins Bett, Hase«, murmelte ich, aber der Junge gab keinen Laut von sich.
»Was ist denn? Hast du schlecht geträumt?«
Wieder blieb er stumm und stand einfach nur da. Ich blinzelte den Schlaf aus meinen Augen und versuchte zu erkennen, ob er überhaupt wach war. Am Ende würde er wieder schlafwandeln, genauso, wie er es letzten Monat getan hatte. Etwas passte nicht in das Bild, denn ich war mir sicher, dass Julian seinen dunkelblauen Pyjama angehabt hatte, den mit dem kleinen Dino auf der Brust. Dieses Kind trug einen weißen Schlafanzug mit roten Punkten, wie das Kind in meinem Traum. Die Erkenntnis erstickte mich fast, mein Herz begann, wie wild zu rasen, während ein Schauer meinen ganzen Körper erfasste. Hastig tastete ich nach der kleinen Taschenlampe auf meinem Nachttischchen und schaltete diese ein. Im hellen Lichtkegel standen weder Julian noch das Kind aus meinem Traum neben dem Bett. Es stand dort niemand. Ich war verwirrt und legte die Taschenlampe wieder zurück. Mein Herz beruhigte sich langsam wieder und schlug im gewohnten Rhythmus, aber der kalte Schauer hatte sich unter meiner Haut festgesetzt und blieb. Ich zog die Decke weiter hinauf, sodass bis zur Nase alles bedeckt war, und schlug sie unter den Füßen ein. Dann drehte ich mich zu Marcel und kuschelte mich dicht an seinen Rücken. Es dauerte eine gefühlte Stunde, ehe mich der Schlaf erneut in seinen Mantel hüllte.
Zu meinem Glück war meine gestörte Nachtruhe auf einen Samstag gefallen und Marcel hatte mich ausschlafen lassen. Gegen elf Uhr schälte ich mich gerädert aus dem Bett und stieg unter die Dusche. Unter dem Wasser, das wie warmer Regen auf meine Haut traf, überrollten mich die Bilder der vergangenen Nacht. Hatte ich so intensiv geträumt, dass mir mein Gehirn einen Streich gespielt hatte? War es überhaupt möglich, eine Figur aus den Träumen in die Aufwachphase mitzunehmen? Ich wusste es nicht, ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ständig überkam mich das Bild des kleinen Kindes in der Scheunentür.
Auf dem Küchentisch lag ein Zettel, auf dem Marcel in krakeliger Schrift notiert hatte, dass er mit Julian zum Drachensteigen in den Park gefahren sei. Also war ich alleine. Alleine mit meinen Gedanken und alleine mit dem Gefühl, nicht alleine zu sein. Hinter jeder Nische vermutete ich etwas oder jemanden, der jeden Moment aus seinem Versteck hervorspringen würde, um mich zu verletzen. Was war nur los mit mir? Der Kaffee in der Thermoskanne war noch warm genug, um genießbar zu sein. Also nahm ich eine Tasse aus dem Küchenschrank und schenkte mir ein. Nach dem Süßstoff musste ich suchen und fand ihn schließlich im hintersten Bereich des Vorratsschranks. Marcel musste ihn versteckt haben, um mich zum, wie er meinte, gesünderen Zucker zu bewegen. Er meinte es gut, aber langsam hasste ich seine Bevormundungen. Manchmal spielte er sich als Gesundheitsguru auf und war selbst nicht besser, mit den Unmengen an Gummibärchen, die er regelmäßig verschlang. Etwas Milch rundete meinen Kaffee ab. Ich nippte an der Tasse. Der warme Schluck glitt angenehm meine Kehle hinunter. Ich stellte mich ans Fenster, um das herabfallende Laub zu beobachten. Für Ende September war der Herbst bereits weit fortgeschritten und hatte die Bäume in Farbe getaucht. Sie leuchteten in Gelb-und Rottönen um die Wette. Die Jahreszeit, mit der ich mich gerne identifizierte, denn sie verdeutlichte die Vergänglichkeit des Glücks.
Der Schlüssel wurde ins Schloss geschoben. Ein Poltern kündigte Julian an. Ich liebte diesen kleinen Jungen, wie mein eigenes Kind, dennoch würde ich ihm nie die Mutter ersetzen wollen. Auch, wenn Marcel das vielleicht von mir erwartete. Ich wollte, dass er seine Wurzeln genau kannte und diese nicht mit Wunschdenken übertüncht werden.
»Sophie, mein Drachen ist ganz weit hochgeflogen und dann ist er im Baum gelandet. Papa ist raufgeklettert und hat ihn wieder runter geholt«, erzählte er aufgeregt, während Marcel in der Tür stand und uns beobachtete.
Seine Lippen umspielte ein zartes Lächeln, als sich unsere Blicke trafen.
»Noch böse?«, fragte er leise und näherte sich mir.
Unseren kleinen Streit von gestern Abend hatte ich fast vergessen, die Erlebnisse der Nacht hatten ihn verdrängt. So wehrte ich mich nicht, als er seine Arme um meine Hüfte schlang und mich küsste.
»Ihhh, warum knutscht ihr immer?«, meldete sich Julian mit einem Kichern zu Wort.
Marcel wandte sich ihm zu und antwortete: »Weil Erwachsene das machen, wenn sie sich sehr lieb haben.«
»Aber Oma hast du doch auch sehr lieb und mit ihr hast du noch nie geknutscht«, bemerkte der Junge.
Ich konnte ein albernes Kichern nicht unterdrücken.
Am Abend setzte sich Marcel an den Laptop, um ein wenig abzuschalten. Mir fiel ein, dass die rote Disc immer noch im Laufwerk steckte und hoffte, sie würde ihm nicht auffallen. Ich wollte keine Fragen beantworten müssen. Als er dann für einige Augenblicke im Bad verschwand, entnahm ich die CD und versteckte sie hinter den Büchern im Regal. Ich hatte nicht bemerkt, dass er bereits in der Tür stand und mich beobachtete.
»Was machst du da?«, fragte er und ich fuhr herum.
»Nichts!«, schoss es über meine Lippen.
Es klang so offensichtlich nach Lüge, dass sich mein Gewissen regte.
»Das sieht aber nicht nach Nichts aus! Was hast du da versteckt?«, fragte er direkt.
»Versteckt?«, schrillte meine Stimme auf. »Warum sollte ich was verstecken?«
Marcel näherte sich dem Regal und zog die drei Bücher heraus, hinter denen meine heimliche Disc steckte.
»Und was ist das?«, zog er diese fragend hervor.
»Eine CD, nehme ich an«, stotterte ich und versuchte mit aller Macht meine Lüge aufrechtzuerhalten.
Er blickte mich an, als wäre ich ein kleines Mädchen, das beim Stehlen ertappt worden war. Ich war aufgeflogen. In diesem Moment fragte ich mich, warum ich überhaupt diesen absenderlosen Brief verschweigen wollte. Irgendwie ergab das keinen Sinn mehr, je länger ich darüber nachdachte.
»Also gut, ich habe die Disc dahinter verstaut.«
»Verstaut«, sagte er in sarkastischem Ton.
»Naja, versteckt, wenn dir das lieber ist.«
»Und warum? Was ist da drauf?«, bohrte er weiter.
»Eine Audiodatei. Irgendwelche Meditationsklänge. Keine Ahnung, die war gestern im Briefkasten und ich habe sie angehört, als du geschlafen hast«, erklärte ich und fühlte mich besser, das Teil nicht mehr für mich behalten zu müssen.
»Sophie, lüg mich nicht an! Was ist da wirklich drauf? Komm schon, wenn das Ding harmlos ist, warum versteckst du es dann vor mir?«
Das hatte ich ja super hinbekommen. Jetzt hatte ich das Vertrauen meines Verlobten eingebüßt. Das nur, weil ich dachte, dass er Geheimnisse vor mir hätte. Nun saß ich, wie ein Kaninchen in der Falle.
»Da ist wirklich nichts anderes drauf. Ich weiß nicht mal, wer mir das Ding geschickt hat. Leider hat der Absender vergessen, seinen Namen auf den Brief zu schreiben«, sagte ich mit einem sarkastischen Unterton.
»Wenn das so ist, lass sie mich einlegen«, sagte Marcel und versah mich mit einem misstrauischen Blick.
Wie konnte er mir nur so sehr misstrauen? Sein Verhalten verletzte mich, aber ich wollte keinen weiteren Streit heraufbeschwören, also nahm ich mich zusammen und antwortet mit einem Schulterzucken.
»Von mir aus. Aber du wirst auch nicht mehr entdecken, als ich. Mach ruhig, wenn es dich beruhigt.«
Marcel ging zum Schreibtisch und legte die CD in das Laufwerk, aus dem ich sie vor einigen Minuten entfernt hatte. Ein mulmiges Gefühl sammelte sich in meiner Magengegend, als er die Datei abspielte. Nach einer Weile klickte er auf dem Wiedergabebalken herum.
»Wie? Das geht jetzt fünf Stunden so? Soll ich dir sagen, was das ist? Ein Werbegag! Ich könnte schwören, dass in den nächsten Tagen diese blöde CD in den Medien auftaucht«, erklärte er kopfschüttelnd.
»Meinst du wirklich?«, entgegnete ich.
Wahrscheinlich hatte er Recht und es war wirklich alles nur eine riesige Werbekampagne, aber mein Bauchgefühl sträubte sich dagegen. Trotzdem beließ ich es dabei und versuchte, meinen Zweifel für mich zu behalten.
»Da steckt entweder eine neue Pilatesbewegung hinter oder irgendein anderes Produkt. Wenn die Klänge sich dermaßen in den Kopf gebrannt haben, dass man sie nicht mehr los wird, wird das Geheimnis gelüftet. Dann können die Leute nicht anders, als das Produkt zu kaufen. Also, mach dir keine Sorgen«, sagte er und sah mich eindringlich an. »Und ich dachte, du hättest was angestellt«, warf er schließlich hinterher.
Ich versuchte zu lächeln, aber dieses war mir gründlich vergangen. Vielleicht war ich ja tatsächlich so naiv, dass ich auf eine hinterlistige Verkaufsstrategie reingefallen war. Alleine die Möglichkeit, dass Marcel Recht haben könnte, ärgerte mich. Er stand auf und nahm mich in den Arm.
»Komm, ich mach den Laptop aus und wir sehen uns noch einen Film an. Da kommt gleich ein Thriller. Machst du schon mal an?«
Da saß ich nun alleine mit meinen Gedanken auf der Couch und wartete auf Marcel, der noch in die Küche gegangen war und irgendwie nicht mehr wiederkam. Der Film hatte schon begonnen, als er sich endlich zu mir gesellte. Beladen mit einem großen Teller, einer Flasche Asti und zwei Gläsern, setzte er sich neben mich. Das war einer der Gründe, warum ich mich in ihn verliebt hatte. Wenn es mir schlecht ging, und ich hatte regelmäßig diese Tiefpunkte, dann umsorgte er mich. Vorsichtig stellte er den Teller ab, den ich eingehend begutachtete. Jetzt wunderte es mich nicht, dass er in der Küche verschollen gewesen war. Er hatte einen ganzen Berg kleiner Häppchen gezaubert. Kleine Quadrate belegter Brote, jedes schien einen anderen Belag zu tragen, aber allesamt sahen nicht nur lecker aus, sie zergingen mit größter Sicherheit auf der Zunge. Marcels Häppchen gehörten zu jenen Dingen, für die man einfach alles stehen und liegen ließ. In dem Punkt hatte er Zauberhände. Während ich von den köstlichen Leckereien kostete, öffnete Marcel die Flasche mit einem verhaltenen Knall.
»Hier«, sagte er und reichte mir ein Glas Asti.
»Womit habe ich dich nur verdient?«, erwiderte ich mit einem Schmunzeln.
Von dem Film hatte ich nicht viel mitbekommen. Als dieser sich langsam dem Ende neigte, zog er mich zu sich heran und küsste mich. Seine Hand schob sich forschend unter mein Shirt und hinterließ eine zarte Gänsehaut. Ich schloss die Augen und ließ mich von den Berührungen tagen. Plötzlich drängte das Bild des Kindes aus dem Traum in mein Bewusstsein. Damit erstickte meine Lust, noch ehe sie entfacht worden war. Ich schob Marcel behutsam zurück, um mich aufzurichten.
»Sorry, ich kann gerade nicht«, erklärte ich und leerte mein Glas.
Es tat mir leid, ihm den Abend zu verderben, aber ich wurde das Scheunenkind einfach nicht los.
»Ich geh dann mal ins Bett«, sagte er kleinlaut und stand auf.
»Ich komme gleich nach«, warf ich ihm hinterher, aber er verließ wortlos das Wohnzimmer.
Nachdem ich den Tisch abgeräumt hatte, beeilte ich mich mit dem Zähneputzen und folgte ihm. Er hatte sich bereits in seine Decke eingedreht und lag auf der Seite. Es war offensichtlich, dass ich ihn gekränkt hatte. Also versuchte ich, mich zu entschuldigen. Meine Hand glitt unter seine Decke, während ich seinen Rücken mit zarten Küssen versah.
»Ich bin müde«, murmelte er und zog die Decke bis über die Schulter.
Ich drehte ihm den Rücken zu und ärgerte mich über den missglückten Abend.
Mitten in der Nacht wurde ich durch ein Schultertippen geweckt. Aber diesmal würde ich nicht aufstehen, um Julian zurück in sein Bett zu begleiten, also stieß ich Marcel mit dem Ellenbogen an. Er gab einen knurrenden Laut von sich, schlief aber weiter. Ein weiteres Schultertippen brachte mich dazu, meine Augen zu öffnen. Mir stockte der Atem. Das Scheunenkind stand neben meinem Bett und starrte mich an. Sein Kopf war auf unnatürliche Weise zur Seite geneigt und es grinste. Aber es war kein normales Grinsen, vielmehr war sein Mund bis zu den Wangenknochen verzerrt. Erneut stieß ich Marcel mit dem Ellenbogen, diesmal stärker. Das Kind stand einfach da und starrte mich aus toten Augen an.
»Marcel«, rief ich aus.
Mit einem Ruck wandte er sich mir zu.
»Was ist denn?«, knurrte er mich an.
Für einen kurzen Moment löste sich mein Blick von der Gestalt und glitt zu Marcel, der mich durch schmale Schlitze ansah. Dann drehte ich meinen Kopf wieder zu dem Kind, aber es war verschwunden. Ein kurzer Aufschrei entglitt mir, der dafür sorgte, dass Marcel mir nun seine volle Aufmerksamkeit schenkte.
»Was hast du denn? Warum schreist du mitten in der Nacht?«
»Ich, ich habe was gesehen. Da, da war ein Kind. Ein Junge, glaube ich«, stotterte ich.
»War bestimmt Julian«, gab er zurück und wollte sich gerade wieder in seine Schlafposition begeben, als mir ein hysterisches »Nein!« entglitt. Sofort setzte er sich auf und rieb sich die Augen, um auf die Uhr zu sehen.
»Es ist drei Uhr nachts! Könnten wir jetzt bitte weiterschlafen?«, beschwerte er sich.
»Marcel, ich habe ihn gesehen. Hier stimmt was nicht. Er stand da und hat mich angestarrt, aber sein Kopf war so komisch abgeknickt und sein Grinsen ...«
»Wenn er gegrinst hat, ist alles in Butter. Dann war es einfach ein freundlicher Geist. Und jetzt leg dich bitte hin und schlaf weiter«, spottete er und kuschelte sich wieder in seine Decke.
Kaum hatte ich mich ebenfalls wieder beruhigt, ertönte ein lautes Kreischen aus dem Kinderzimmer. Diesmal sprang er auf, als wäre der Teufel hinter ihm her und eilte zu seinem Sohn. Ich wollte nicht alleine in dem Zimmer bleiben, also folgte ich ihm.
Julian war sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen, während er sich in die hinterste Ecke seines Bettes drückte und seine Decke bis zu den Zähnen gezogen hatte.
»Papa«, schrie er und sprang aus dem Bettzeug, direkt in Marcels Arme.
»Pscht, ich bin ja da. Es war nur ein Traum«, versuchte Marcel, den Jungen zu beruhigen.
Aber Julian schüttelte vehement den Kopf. »Nein! Der war echt. Der hat mich ja angefasst!«
Bis jetzt hatte ich im Türrahmen gestanden, aber nun musste ich es genauer wissen, denn Julians Aussage traf genau auf mein nächtliches Erlebnis zu. Ich lief in das Zimmer hinein und setzte mich auf die Bettkante neben Marcel.
»Wer hat dich angefasst?«, fragte ich den Jungen, der mich mit großen Augen ansah.
»Na, dieser Junge«, antwortete Julian.
»Wie hat er denn ausgesehen?«, wollte ich wissen, aber Marcel unterbrach mich.
»Was soll das? Es war nur ein Traum. Warum gehst du nicht wieder ins Bett, ich komme gleich nach!«, fuhr er mich an.
»Sein Kopf war ganz komisch«, meldete sich Julian wieder zu Wort und verursachte einen Vulkan in meiner Magengrube.
Ich wollte es gerade genauer wissen, als mich Marcels Blicke, wie Pfeile trafen und mich in meinem Wissensdrang ausbremsten. Aber, sich über seine väterliche Autorität hinwegzusetzen, würde den nächsten Streit hervorrufen, und das in Julians Beisein. Marcel stand bereits auf der Schwelle zwischen einem Tobsuchtsanfall und dem anstrengenden Versuch, sich zusammenzunehmen, das konnte ich in seinen Augen sehen. Also lief ich zurück ins Schlafzimmer und machte die Nachttischlampe an. Im Dunkeln würde ich bestimmt nicht auf ihn warten. Keine fünf Minuten später folgte er mir mit Julian auf dem Arm.
»Sorry, aber er will nie wieder in seinem Zimmer schlafen«, sagte er und legte den Jungen neben mir ins Bett.
»So, nie wieder also«, sagte ich mit einem Schmunzeln, während ich den kleinen Mann ansah.
»Ich will für immer bei euch schlafen!«, bestimmte er und kuschelte sich fest an mich.
Ich deckte ihn richtig zu. »Darüber reden wir morgen, aber jetzt wird geschlafen.«
Nach einer viel zu kurzen Nacht und einem viel zu engen Bett, fühlte ich mich am nächsten Morgen, als hätte mich eine Lawine überrollt. Ein Blick auf die Uhr eröffnete mir, dass ich für einen Sonntag viel zu früh aufgewacht war. Neben mir schliefen Julian und sein Vater tief und fest, während der Junge das halbe Bett eingenommen hatte. Mir war ein kleines Stück Matratze geblieben, gerade genug, um auf der Seite zu liegen. Das hatte ich wohl die halbe Nacht getan, denn durch meine linke Hüfte zog sich ein reißender Schmerz. Ich schnappte mir mein Kissen und schlich aus dem Schlafzimmer. Auf der Couch würde ich bestimmt noch ein Stündchen angenehmer dösen können, als auf dem schmalen Bettstreifen. Sechs Uhr war mir definitiv zu früh. So legte ich das aufgeschüttelte Kissen an die Couchlehne und entfaltete die Decke, die dort zur Zierde lag. Kaum hatte ich meine Schlafposition ausgemacht, sprengte das plötzliche Bellen des Nachbarhundes die morgendliche Stille. Das Tier bellte unaufhörlich und nach einer Weile entschloss ich mich, mal nachzusehen, warum es das tat. Also hüllte ich mich in die Decke und ging zum Fenster, aber aus dieser Position konnte ich nur den aufgebrachten Hund sehen, nicht den Grund seiner Unruhe. Ich ging zur Tür und öffnete diese. Eine Gestalt lief hastig die Straße hinunter, diese hatte die Kapuze ihres Sweaters tief ins Gesicht gezogen und hatte es scheinbar eilig. Im ersten Augenblick dachte ich, es würde sich um einen Jogger handeln, aber dieser Mensch joggte nicht, er lief eiligen Schrittes und blickte einige Male verstohlen zurück. Mein Augenmerk fiel auf den Briefkasten, aus dem die Hälfte eines braunen Kuverts herausragte. Ich wunderte mich, denn das wäre das erste Mal, dass der Postbote auch sonntags Briefe austrägt. Neugierig zog ich den Umschlag heraus und spähte durch das Sichtfenster in den Briefkasten. Wie es aussah, lag nichts anderes drin. Ich schloss die Tür und lief in die Küche, den Brief legte ich auf der Arbeitsfläche ab. Bevor ich mich um seinen Inhalt kümmern würde, brauchte ich unbedingt einen starken Kaffee. Während das heiße Wasser in den Filter lief und den Raum mit anregendem Aroma füllte, haftete mein Blick an dem Briefumschlag. Er sah fast genauso aus, wie der gestrige Brief. Nur, dass dieser größer war. Es stand mein Name drauf und auch meine Adresse, aber vom Absender keine Spur und die Briefmarke fehlte auch. Mein Gehirn stellte sofort die Verbindung zu dem Typen her, der offensichtlich vorhin durch den Hund gestört worden war. Aber, was wollte dieser Kerl von mir?
»Was ist denn? Warum hat der Köter angeschlagen?«, ertönte Marcels verschlafene Stimme hinter mir.
»Ich glaube, er hat den anonymen Briefträger verscheuchen wollen«, antwortete ich und deutete mit dem Kopf auf das Kuvert.
Marcel gähnte und griff nach einer Tasse, die er mit dem duftenden Glück füllte. Dann nippte er an dem Kaffee und schien erst jetzt zu registrieren, was ich gesagt hatte, denn er verschluckte sich an dem heißen Getränk und deutete auf den Brief.
»Also langsam ist das unheimlich! Hast du ihn gesehen?«, stammelte er und nahm den Brief in die Hand, um ihn zu begutachten.
Ich schüttelte den Kopf. »Nur von Weitem, er hatte eine Kapuze auf. Ich kann dir nicht einmal sagen, ob das ein Mann oder eine Frau war«, antwortete ich und schenkte mir ebenfalls einen Kaffee ein.
»Ich glaube, die Theorie mit der Werbekampagne können wir begraben«, sagte er und entnahm dem Schubfach ein Messer, das er durch das braune Papier zog. Dann schüttete er den Inhalt auf der Arbeitsfläche aus. Ein Stapel alter Fotos fiel heraus. Ich nahm einige in die Hand und betrachtete sie, aber die Menschen kannte ich nicht und auch der Ort war mir unbekannt. Auf einem der Bilder war ein Schild abgebildet, auf dem Stauden geschrieben stand, die letzten Buchstaben waren zu
verblichen, um sie erkennen zu können.
»Warst du da schon mal?«, fragte Marcel.
»Nicht, dass ich wüsste. Ich erkenne nichts auf den Fotos wieder.«
»Jemand wollte aber, dass du diese Bilder bekommst. Es sind ziemlich alte Fotos, vielleicht fragst du mal deine Eltern. Möglicherweise können die dir weiterhelfen«, schlug Marcel vor.
Aber ich wollte meine Eltern nicht mit einbeziehen, denn ich h atte es all die Jahre vermieden, ihnen zu begegnen. Das sollten jetzt nicht ein paar alte Bilder ändern. Mir fiel ein, dass dies vielleicht genau der Plan war und die Briefe von meinen Adoptiveltern kamen, damit ich wieder Kontakt zu ihnen aufnahm. Also beschloss ich, erst einmal auf eigene Faust zu recherchieren, immerhin gehörte das zu meinem Beruf. Ich hatte bereits am ersten Tag meines Berufslebens gelernt, dass guter Journalismus mit der Recherche steht und fällt.
Den Sonntag verbrachte ich also vor dem Laptop. Ich hatte die Fotos über den ganzen Schreibtisch verteilt und versuchte, irgendeinen Zusammenhang zu mir herzustellen. Aber, so sehr ich die Bilder auch betrachtete, er wollte sich mir einfach nicht erschließen. Auf einem der Bilder war eine Familie mit sechs Kindern abgebildet. Auf einem anderen ... Mein Herz setzte aus. Die rote Scheune aus meinem Traum war von irgendjemandem abgelichtet worden. Die Fotografie lag nun zwischen den anderen auf meinem Schreibtisch. Mit zittriger Hand nahm ich das Bild hoch und betrachtete es eingehend. Die Tür im Dachbereich war mit hellen Balken abgesetzt und ganz deutlich zu erkennen.
Genau dort hatte das Kind in meinem Traum gestanden.
Das Familienfoto zeigte vermutlich die Eltern der sechs Kinder, die ihre Sprösslinge dicht um sich versammelt hatten. Zwischen den vier Jungs stachen zwei Mädchen mit ihren ländlichen Kleidern heraus. Das Jüngste saß auf dem Schoß des Vaters, das Alter schätzte ich auf etwa drei Jahre, während die ältesten etwa zehn oder elf sein mussten. Es schien sich, anhand der Kleidung, um eine ärmliche Familie zu handeln. Ein kalter Schauer jagte über meinen Rücken. Jemand hatte ganz sicher gehen wollen, dass ich diese Bilder auch wirklich erhalte. Aber warum? Was hatte ich mit den Leuten auf dem Bild zu schaffen?
Die anderen Fotos zeigten einfache Häuser und grüne Landschaft. Auf einem war ein Ortsschild abgebildet, aber es war so verblichen, dass ich es nicht erkennen konnte. Es handelte sich vermutlich um das gleiche Schild, das Marcel auf einem anderen Bild entdeckt hatte. Auf diesem war ungefähr die Hälfte der Schrift nur zu erahnen: Stauden, aber wie ging es weiter? Staudenberg? Staudendorf? Ich googelte diesen Teil des Namens und scrollte das ernüchternde Ergebnis. Alles, was mir die Suchmaschine vorschlug, hatte mit Botanik zu tun. Staudenkulturen, Staudengärtnerei, aber keine Ortschaft, die diesen Namen trug. Ich rieb meine brennenden Augen und lehnte mich zurück, als mein Laufwerk plötzlich zu summen begann. Der Media-Player sprang auf und der Mauszeiger wanderte, wie von Geisterhand über den Bildschirm, um den Play-Button zu versenken. Die meditativen Klänge der roten Disc ertönten in einer Lautstärke, die Marcel und Julian aus dem Garten holte, während ich mit einem Satz auf die Couch sprang und die Beine anzog.
»Mach das doch leise!«, brüllte Marcel, dessen Stimme sich beinahe in dem rhythmischen Ton verlor.
Ich hielt mir die Ohren zu. »Ich war das nicht! Die ist von alleine angegangen!«, versuchte ich zu erklären.
Marcel lief zum Schreibtisch und drückte auf den kleinen Knopf, der das Laufwerk herausspringen lässt, aber es geschah nichts. Also drückte er den Stecker der Kopfhörer in die Buchse. Die Töne verstummten.
»Marcel, ich schwöre dir, dass ich das Ding nicht angemacht habe!«
»Vielleicht ein Hacker? Wann hast du denn mal das Virenprogramm durchlaufen lassen?«, fragte er und blickte zu Julian, der seine Hände fest auf die Ohren presste.
»Darf ich wieder raus?«, fragte Julian.
Marcel nickte. »Aber bleib da, wo wir dich sehen.«
Julian rannte in den Garten, während sein Vater am Laptop nach dem Fehler suchte.
»Das war kein Hacker! Marcel, denk doch mal nach. Erst finden wir die Disc, dann sehe ich im Traum genau dasselbe Kind, wie im Schlafzimmer. Das Seltsame ist, dass Julian es auch gesehen hat!«, sagte ich, aber Marcel unterbrach mich.
»Julian hat geträumt, nichts weiter!«
»Wie auch immer. Ich habe mir die Bilder angesehen und auf einem ist genau die rote Scheune abgebildet, die in meinem Traum eine zentrale Rolle spielte. Marcel, alles hat mit der CD angefangen! Und jetzt geht diese von ganz alleine an«, erklärte ich aufgeregt.
»Wovon zum Teufel redest du? Glaubst du etwa an Gespenster? Du bist gestresst, ganz einfach. Da kann das Gehirn nicht so schnell reagieren und überlagert die Bilder und Erlebnisse, so entstehen Spukgeschichten. Wie wäre es, wenn ich nach Urlaub frage und wir nach Italien fliegen?«, schlug er vor, aber mir war ganz und gar nicht nach einem Touristenkessel zumute.
»Wir könnten auch herausfinden, wie der Rest des Ortsnamens lautet und dann dort hinfahren.«
Marcel zog die Brauen zusammen.
»Moment! Habe ich was nicht mitbekommen? Wovon redest du?«, fragte er verwirrt.
»Nun, ich meine den Ort, auf den wir gestoßen sind, leider habe ich immer noch nicht den letzten Teil des Namens entziffern können«, sagte ich und löste mich aus der Couch, um ihm meine Erkenntnisse am Laptop zu zeigen.
Erst war er skeptisch, aber schnell wuchs seine Neugier und er betrachtete die Bilder mindestens genauso eingehend, wie ich es getan hatte.
»Und, wer diese Leute sind, weißt du wirklich nicht?«, fragte er schließlich.
Ich schüttelte den Kopf und suchte nach dem Foto der Scheune.
»Aber die hier kenne ich. In der oberen Tür stand dieses Kind, von dem ich geträumt habe«, sagte ich und reichte ihm das Bild. »Das Kind, das auch neben meinem Bett stand«, warf ich hinterher.
Er verdrehte die Augen.
»Geht das schon wieder los? Es gibt keine Geister! Außerdem solltest du diese fixe Idee nicht vor Julian ausbreiten.«
Etwas betreten sah ich zu Boden, denn es war nicht meine Absicht, Julian zu verwirren. Sollte ich ihn wirklich mit meinen Erlebnissen angesteckt haben? Ich beschloss, in Zukunft mehr darauf zu achten, ihn damit nicht zu belasten. Aber jetzt war er nicht hier, also nutzte ich die Gelegenheit, mit meinem Verlobten über meine fixen Ideen, wie er mein Problem betitelt hatte, zu reden.
»Ich«, doch Marcel unterbrach mich, mit einer Handbewegung, die besagte, ich solle warten.
Wie besessen, durchsuchte er das Internet. Schließlich griff er nach dem Telefon und durchforstete dessen Einträge, bis er gefunden zu haben
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Dana Müller
Bildmaterialien: Dana Müller und Pixabay.com
Cover: Dana Müller
Lektorat: Andreas Müller/ Jennifer Plonsky
Tag der Veröffentlichung: 11.10.2014
ISBN: 978-3-7368-4703-3
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