Für ihn waren Menschen wie Straßen. Es gab sie früher und es wird sie in Zukunft geben. Die meisten Straßen vergisst man im Moment des Gehens. Man erinnert sich nicht an sie. Man fährt oder geht auf ihnen, aber sie haben keine Bedeutung. Einige wenige Straßen bleiben einem aber im Bewusstsein. Man verbindet etwas mit ihnen und ihr Name bleibt im Gedächtnis. Ansonsten sind die meisten Straßen eben nur nutzbar oder unnütz. Die meisten Straßen sind unnütz. Man kann sie getrost vergessen. Niemand scheint sie zu brauchen. Vielleicht bedeuten diese unnützen Straßen irgendjemand etwas, aber was kümmert es den, der sie nicht kennt? Eine Straße bleibt eine Straße. Und ein Mensch ist auch nur so eine Straße. Die überwiegende Mehrzahl ist definitiv unnütz. Eine Straße ist nicht deshalb wertvoll, weil sie eine Straße ist. Eine Straße ist nur ein Mittel zum Zweck. Es ist die Sentimentalität, die ihr etwas Magisches andichtet. Im Grunde ist aber eine Straße nur ein Haufen Dreck. Gebaut, um schneller voranzukommen. Aber wie oft sind sie verstopft? Sie sind oft eher ein Hindernis. Man muss kein Mitleid mit Straßen haben. Mit Menschen auch nicht. Sie existieren oft nur deshalb, weil man sie nicht eingeebnet und vergessen hat. Wen interessiert eine Straße in Brooklyn? Und wen interessiert es, ob man auf einer alten Straße etwas Neues errichtet? Eine Straße zu veredeln ist kaum möglich. In dem Moment, in dem man sich dieser Straße widmet, sie mit Bäumen und schönen Zierpflanzen verschönert, wird doch irgendwann jemand kommen und die Straße das vergessen machen. Die Straßen haben doch kein Gedächtnis. Sie vegetieren dahin und glauben, dass sie einen Sinn haben. Sie lieben irgendwelche anderen unnützen Straßen. Sie nennen ihr Viertel ihre Familie und das nur deshalb, weil sie nichts anderes kennen. Sie orientieren sich in ihrem engsten Umfeld, weil ihnen jede Sinngebung abhanden gekommen ist. Sie sind zu faul und bequem, sich Straßen zu suchen, die ihr Viertel erstrahlen lassen. Sie leben unter den ächzenden Automassen und den sich dahin schiebenden LKWs. Sie empfinden es als normal, dass man sie belastet und langsam morsch und morbide werden lässt. Sie glauben daran, dass sie deshalb da sind. Das, was aber eigentlich ihre Schönheit ausmachen könnte, ist ihnen nie in den Sinn gekommen. Sie könnten doch sagen, dass sie es leid sind, eine Straße zu sein. Sie tun es aber nicht. Sie lassen sich mit Schildern voll stellen und werden irgendwann abgerissen oder vergessen. Niemanden kümmert eine Straße.
Er kramte in seinen Zetteln. Eine Rechnung und eine weitere. Ein gelber, ein blauer, ein sinnloser Brief nach dem nächsten. Bald würde er Besuch bekommen. Er kannte sie schon. Die nette Gerichtsvollzieherin, die all ihre Zöglinge als ihre Familie betrachtet. Die vielleicht Macht dabei empfindet. Vielleicht auch nicht. Er war froh, sich das Domizil geschaffen zu haben. Den Ort, an dem er bald über all das triumphieren konnte. Über all die Kleinlichkeit, die niedrige Dummheit. Die Primitivität der Straßen.
Er war nicht ohne Empathie oder Mitgefühl. Aber sie hatten ihm die ausgetrieben. Sich selbst sah er als falsch gelandet, als zu Unrecht gestrandet an. Sie hatten seine Liebe zu sich selbst fast zerstört. Diese Eigenliebe, die doch zu recht so stark und ausgeprägt war. Denn selbst wenn auch er nur eine Straße war, so war er doch immer ein König unter den Straßen. Er war schon einmal da, das wusste er. Vielleicht war er in früheren Zeiten ein König, ein Maharadscha oder ein Gott gewesen. Zumindest ein Wesen der höheren Sphäre. Dies war in ihm so tief verankert, dass er auf alles Wut empfand, das ihn an seiner gottgegebenen Überlegenheit hinderte. Er hatte das doch so oft bewiesen. Tatsächlich war er nicht einer dieser Spinner, die sich dem Alkohol ergaben und behaupteten, große Künstler oder Krieger oder was immer zu sein. Er kannte diese abgehalfterten Gestalten, die ihre erbärmliche Armut mit ihrer angeblichen Gutmütigkeit kaschierten. Die sinnlose Plastiken anfertigten, die Bilder malten, die ein Dreijähriger besser malen konnte. Die in den dunkelsten Gegenden hausten und sich dennoch wegen ihrer angeblichen Anständigkeit, die doch nichts anderes als Feigheit war, nicht zu dem Abschaum zählten, der sie aber waren. Zwar waren es oft nicht die sinnlosesten Straßen, aber sie waren welk und gebrochen. Erbärmlich in ihrem Schrei nach unerhörter Liebe.
Er hatte bewiesen, und das nicht nur einmal, dass er sie alle in die Tasche stecken konnte. Wenn sich nur ein Hauch einer Öffnung darbot, dann kroch er in diese Nische und besetzte sie mit Elan und Eifer. Seine Mission war nicht erfolglos geblieben. Seine ihm angeborene Hartnäckigkeit, seine unverbrüchliche Liebe zu sich selbst, seine Kraft und sein Scharfsinn. All diese Eigenschaften hatten ihn alles erleben lassen. Die schönsten Frauen, die größten Häuser und die Höhen der Kunst. Er war dem Mittelmaß meilenweit überlegen. Das Mittelmaß ist aber das, was Gott liebt. Gott liebt nicht die Ausnahmen seiner Schöpfung. Er mag das dahingleitende Nichts, das ausgeglichene, satte und träge Immergleichsein. Gott scheint die Welt auf das Mittelmaß ausgerichtet zu haben, zumindest was die Straßen angeht. In der wirklichen Welt aber, zeigt Gott sein wahres Gesicht. In dem Hauen und Stechen, dem Gedeihen und Vergehen, dem Fressen und Gefressenwerden. Für Gott scheint es aber keine Liebe für die Ausnahmen zu geben. Die Geschichte der Straßen ist voll von diesen Beispielen. Mozart, Beethoven, van Gogh, und all die anderen. Gott schubst sie in ihr Universum und lässt sie dann im Stich. Er überlässt sie sich selbst, bis sie am Ende keinen Mut mehr haben. Er straft sie für ihre Andersartigkeit. Vielleicht sind es aber auch die vielen unnützen Straßen, die ihre Füße ermüden und am Ende ihre Glieder zerschmettern. Wenn sich dann manchmal die Ausnahmen aus dem Morast für eine kurze Zeit erheben, dann sind das die großen, die bewegenden Momente der Menschheit. Adolf Hitler, Picasso, Jimi Hendrix, Montesuma, Jesus Christus, Mohamed und Stalin. Das sind die Straßen, die zu etwas führen. Den toten Lebenden, diesen Zombies der eigenen Bequemlichkeit, haben solche Ausnahmen den Marsch geblasen. Sie haben ihnen den Stolz und die Würde gegeben. Es macht doch keinen Unterschied, ob man dann tausende Straßen eingerissen und neu errichtet hat. Sie sind zu recht vollkommen vergessen. Es hilft doch keine Sentimentalität, wenn man Großes errichten will. Für das wirklich Bleibende, für diesen Hauch der Ewigkeit sind doch nur die wenigsten geboren. Er selbst war für diese Dimension geboren. Es nagte an ihm, es verschlang ihn, er wollte nicht als das Korn sterben, das sie ihm zugedachten. Seine neue Verpuppung, durch die eine große Leidenschaft schimmerte, war doch nur der Beginn seiner Inkarnation.
„Du wirst entweder Präsident oder Penner“, hörte er seine Mutter sagen, als sie ihre Zigarette lasziv zwischen den rot geschminkten Lippen wog. Sie hat schöne Brüste, dachte er damals. Er wusste, dass sie ihn mehr als alles andere liebte. Aber es war da auch diese Indifferenz, die niemals das eine oder andere durchhalten konnte. Sie konnte ein furchtbares Biest sein, wenn sie ihre Depressionen hatte. Er konnte doch als Kind nicht wissen, dass ihre Liebe und ihr darauf immer mit regelmäßiger Selbstverständlichkeit erfolgender Liebesentzug nur die zwei Seiten der gleichen Medaille waren. Er litt darunter und war sich nie sicher. Nie sicher, ob sie heute wieder die liebende und nicht zu entfremdende Heilige oder vielleicht auch schon wieder diese andere, die unnahbare und kalte Teufelin war. Das konnte er nie wissen. Und so blieb ein Unbehagen in ihm. Eine ewiges latentes Misstrauen.
Das Leben hatte es anfangs gut mit ihm gemeint. Er überlebte die ersten Bedrohungen der Kindertage recht stabil. Er hasste schon als Kind jeden Zwang, jede erwartete Unterwerfung unter Normen. Aber er hatte auch einen Respekt vor diesen Gewalten. Er ging mit ihnen eine Art friedliche Koexistenz ein. Es gibt im Leben nur zwei Arten von Menschen. Den Täter und das Opfer. Nur für den Täter empfindet das Schicksal Gnade. Für das Opfer kommt jede Hilfe zu spät. Er hatte früh gelernt, dass dem Aggressiven, dem Fordernden immer mehr Aufmerksamkeit zuteil wird, als demjenigen, der dümmlich krächzt und jammert. Die neue Welt war voller Absonderlichkeiten. Helfer belagerten die Medien, dümmliche und naive Opferretter kaschierten ihre eigenen Mördergruben mit ihrer angeblichen Samaritergeste. Sie waren die Dümmsten unter den Dummen und er würde sie kriegen. Ihre erbärmlichen Lügen entlarven. Und dann gab es die, die nichts verstanden, weil sie das Leben nicht kennen. Denen man alles gegeben hat und die nichts dafür tun müssen. Auch die standen auf seiner Liste. Und dann gab es aber auch noch die gefährlichen Oberdummen. Das waren die Mitläufer, diese schwabbelnde, aufgequollene Gülle aus Bequemlichkeit und Egoismus. Auch sie waren gefährdet. So wie alle nun gefährdet waren. Er war ein Täter und kein Opfer. Wenn man im Leben mal kein Täter sein kann, dann muss man alles dafür tun, dass man sich diese Rolle zurückerobert. Sie wollen dich zum Opfer machen. Aber das wollte er in keinem Fall zulassen. Er wollte zurück zur Macht. Denn die Macht ist der Liebe ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen. Die Macht kann sich Zeit lassen. Sie kann erhöhen und erniedrigen, Macht verleihen und entziehen. Die Macht ist das Salz der Erde.
Man hätte ihn in Ruhe lassen sollen. Vielleicht wäre er dann sogar einer der ihren geworden. Er war es doch so lang. Er sah sich nie als Anti-Held. Als einen, der sich durch offensichtliche und leicht zu durchschauende Unkonformität in Gefahr bringen würde. Das war doch nicht clever. Und nichts ist schöner, als clever zu
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 24.07.2018
ISBN: 978-3-7438-7587-6
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