Eigenfleisch
Tagebuch eines Kannibalen
Kurzgeschichte von
Michl Schendi
1
An seinem ersten Arbeitstag nach dem erholsamen Urlaub, den Max am
Strand in Kroatien verbrachte, machte er eine außergewöhnliche Entdeckung.
Max war beruflich in der Straßenreinigung tätig, also musste er auch große
Müllcontainer in den Müllabfuhrwagen kippen.
Im Müllraum eines Wohnbaus fand er, neben den Mülltonnen, einen Stapel
Bücher, die scheinbar bewusst nicht in den Containern gelandet sind.
Offenbar zur freien Entnahme. Max war ein begeisterter Leser, also sah er
sich den Stapel durch. Er fand leider nicht viel interessantes, bis auf ein Buch,
dass ihn sofort in die Augen sprang. „Tagebuch eines Kannibalen“, war der
Titel. Kein Autorenname war vermerkt. Er beschloss, dieses Buch
mitzunehmen, da er schon immer von solch grauenhaften Dingen fasziniert
war. Schließlich war eins seiner Lieblingsbücher „Das Schweigen der Lämmer“
und natürlich hatte er auch die anderen Teile der Hannibal-Reihe aufmerksam
gelesen.
Das Buch hatte keinen Einband, es waren nur zusammengeheftete Seiten.
Sehr dick war es auch nicht. Er schätzte es auf 250 Seiten. Es war schmutzig
und das ehemals weiße Papier, war jetzt gelb, mit bräunlichen Flecken
übersät. Es schien also schon ein etwas älteres Buch zu sein. Doch, der
abstoßende Anblick ließ Max trotzdem nicht zögern. Es war mysteriös und
genau auf solche Dinge hatte er es abgesehen. Er verlor sich gerne in den
Zeilen von Horror oder Mystery Büchern. So lange bis seine Augen zufielen
und er in einen ruhigen Schlaf fiel. Viele seiner Mitmenschen verstanden
nicht, was Max an Horrorgeschichten gut fand, warum er diese überhaupt
lesen konnte, da er selbst keine starken Nerven besaß. Doch jedes Buch
fesselte ihn aufs Neue und er konnte es dann kaum erwarten, ein neues
anzufangen, sobald er eines zu Ende gelesen hatte. Oft überlegte er, ob er
selbst ein Buch schreiben sollte, doch dazu fehlte ihm die nötige Fantasie. Ihm
fielen nie gute Geschichten ein. Also las er sie lieber selbst oder sah sich Filme
an. Lesen war aber die größere Leidenschaft, da das sogenannte Kopfkino ihm
mehr Spaß machte, als wenn er bewegte Bilder im Fernsehen sah.
Den ganzen Tag über dachte er nur noch an das Buch, das er fand. Er freute
sich schon lange nicht mehr so sehr auf etwas. Es war ihm nicht klar warum,
aber das Buch hatte magische Anziehungskraft auf ihn. Er wollte nur noch
den Arbeitstag hinter sich bringen, sich zu Hause ein Bier aufmachen und sich
ins Bett legen um das Buch zu lesen. Seine Arbeitskollegen fragten ihn bereits,
was mit ihm los sei, da er geistig abwesend war und seine Arbeit nur
halbherzig erledigte. Er hatte noch den Urlaub im Hinterkopf und das neue
Buch raubte ihm die Aufmerksamkeit die er der Arbeit hätte widmen sollen.
Es war nun später Nachmittag und Max machte sich auf den Weg nach Hause.
Er war hungrig, also besorgte er sich am Stand in der U-Bahnstation ein Stück
Pizza und ein kühles Bier, welches ihm an diesem Tag nicht wirklich
schmeckte. Gelegentlich trank er gerne ein oder zwei Flaschen Bier zum
Genuss und rauchte nebenbei einige Zigaretten, während er in seinen
Schmökern blätterte. Sein Computer war schon seit einigen Tagen nicht mehr
eingeschaltet. Ihm war die Lust auf die digitale Welt vergangen, als er seinen
Job in der EDV Branche verlor. Wenn es nach ihm ging, war alles technische
sowieso überbewertet und die Menschen nervten ihn mit ihrer Neugier und
dem Drang ständig neue technische Errungenschaften zu ergattern.
Materialismus war für ihn ein Feindbild. Das einzige Material, das ihm am
Herzen lag waren Bücher. Echte Bücher aus Papier, keine E-Books. Wenn er an
ihnen roch, ging es ihm gut. Der Geruch erinnerte ihn an vergangene Tage in
seiner Kindheit, als er anfing zu lesen, nachts wenn das Licht aus war, mit
einer Taschenlampe unter der Decke.
2
Max hatte Feierabend, schlenderte in Ruhe nach Hause, glücklich, dass der
Tag zu Ende war und er sich nun endlich entspannen und seinem neuen Buch
widmen kann. Er hatte keinen weiten Weg. Zu Fuß schaffte er es meist in
zwanzig Minuten bis er Daheim ankam. Unterwegs grübelte er, wer wohl
diese Bücher da hin gelegt haben könnte und wo eigentlich dieses mysteriöse
Werk seinen Ursprung fand. Es stand schließlich keine Angabe darin, wer es
schrieb oder zu welchem Verlag es gehörte.
Zu Hause angekommen, zog er seine Arbeitskleidung aus und huschte unter
die Dusche. Das war ein Ritual, dass Max' an keinem Tag ausließ. Sofort, nach
der Arbeit duschen um sich wieder frisch und wohl zu fühlen und den
Arbeitsdreck hinter sich zu lassen. Schließlich war er nun in seinen vier
Wänden, in die kein Gedanke an die Arbeit hinein durfte.
Kaum war er aus der Dusche, schnappte er sich ein Bier aus dem Kühlschrank,
setzte sich, zündete eine Zigarette an und schlug die erste Seite des Buches
auf.
„01.01.1969“, das Tagebuch begann bereits vor mehreren Jahrzehnten, was
erklären konnte, weshalb es in so schlechtem Zustand war.
„Ich habe heute beschlossen, ein Tagebuch zu beginnen. Ich werde hier keine
Namen nennen. Auch nicht meinen eigenen. Ich möchte damit einfach nur
meine Experimente dokumentieren. Die Nachwelt könnte es für nützlich
empfinden. Für die Wissenschaft. Mein Projekt behandelt ein Thema, das in
der menschlichen Gesellschaft tabu ist. Ich möchte wissen, wie
Menschenfleisch schmeckt, wie man es am Besten zubereitet und was andere
Menschen dazu sagen, wenn sie es ahnungslos essen.“
Max' Augen waren weit aufgerissen. Er war erschrocken. Scheinbar handelte
es sich wirklich um ein Tagebuch, eines Verrückten, der glaubte der
Wissenschaft etwas gutes zu tun, indem er Menschen aß. Doch wie sollte das
funktionieren? Woher sollte er das Fleisch eines Menschen nehmen?
Max schüttelte verwirrt den Kopf. Ihm wurde mulmig in der Magengegend,
bei dem Gedanken an wahren Kannibalismus. Bisher hatte er es aus einer
Sicht betrachtet, die nicht mit der Realität in Verbindung kam, doch nun las er
dieses Tagebuch und versuchte sich in den Autor hineinzuversetzen.
„02.01.1969
Ich habe mir gestern lange den Kopf darüber zerbrochen, wo ich Fleisch
herbekomme. Meine Option:
Einen Menschen töten
Das werde ich dann wohl tun müssen. Die alten Leichen vom Friedhof, nicht
genießbar und ranzig. Ich brauche Frischfleisch, direkt vom Schlachthof.
Jetzt ist nur noch die Frage wen ich töte und wie ich ihn töte.“
Max' zuckte bei dem Wort „töten“ jedes Mal zusammen. Er konnte nicht
fassen, was er da las und redete sich ein, es wäre nur eine Geschichte.
Doch je erschrockener er war, desto mehr reizte es ihn weiterzulesen. Das
konnte er sich nicht erklären, aber skurrile und makabere Dinge faszinierten
ihn schon immer.
„03.01.1969
Nach langem Überlegen, hab ich beschlossen, die alleinstehende Dame unter
meiner Wohnung zu töten. Sie ist nicht älter als 23, hübsch und ihr Fleisch
sieht zart aus. Ich werde sie in den nächsten Tagen beobachten und im
richtigen Moment meine Klinge durch ihre Kehle treiben.“
Er schlug das Buch zu. „Was für ein krankes Arschloch...?“, murmelte er vor
sich hin. Völlig verwirrt und leicht schwindlig, stand er auf um das Fenster zu
öffnen, so dass frische Luft in den Raum gelangen konnte. Seine Zigarette
hatte er vollkommen beim Lesen vergessen. Sie brannte von alleine ab. Jetzt
freute Max' sich nicht mehr so sehr, über diesen Fund. Vielleicht hatte er die
Beweise für einen Mord entdeckt. Er weigerte sich zuerst noch eine Zeile zu
lesen. Doch die Neugier brannte in seinen Fingern, also schlug er das Buch
wieder auf.
„06.01.1969
Nach längerer Beobachtung kann ich behaupten jetzt den Tagesablauf
ungefähr zu wissen. Sie geht morgens um fünf nach draußen, scheinbar zur
Arbeit. Fährt dann mit dem Bus und kommt um fünf nachmittags zurück. Ich
werde sie wohl morgens im Stiegenhaus überraschen. Da schlafen viele noch
und es ist ruhig.“
Es las sich wie eine Dokumentation. Es war auch mehr eine Dokumentation,
als ein Tagebuch. Max' Mund war ausgetrocknet, sein Bier war leer und in
seinem Bauch machte sich ein hungriges Gefühl breit. Er hatte
seltsamerweise Lust auf Fleisch bekommen. Anderen würde wohl beim Lesen
eines solchen Buches der Appetit vergehen. Bei Max' bewirkte es heute das
Gegenteil.
3
Nachdem Max seinen Hunger beruhigte und ein Sandwich verdrückte, nahm
er wieder das Buch zur Hand und las weiter.
„07.01.1969
Ich habe es heute morgen getan und meine Nachbarin getötet.
Nachdem sie die Wohnungstür hinter sich schloss, betäubte ich sie mit
Chloroform und trug sie so schnell ich konnte in meine Wohnung ein
Stockwerk höher. Sie war bewusstlos und ich konnte mit ihr anstellen, was
auch immer ich wollte. Also legte ich sie in meine Badewanne und entfernte
ihre Kleidung. Als die junge Frau dann nackt in meinem Badezimmer lag,
überlegte ich, wie ich es am Besten machen würde ohne eine Sauerei zu
veranstalten. Da sie aber bereits in der Wanne lag, konnte ihr Blut gut
abfließen. Ich nahm also mein Skalpell zur Hand, dass ich mir extra hierfür
besorgt habe und öffnete damit ihre Hauptschlagader am Hals.
Ihr Blut war schnell ausgelaufen und sie tot. Schon bei diesem Anblick
bemerkte ich, wie sehr ich mich nach ihrem Fleisch sehne. Ich muss nun als
nächstes ihren toten Körper zerlegen und die einzelnen Teile kühlen um sie
länger haltbar zu machen.“
Max wurde Zeuge davon, wie ein verrückter einen Mord im Detail
dokumentierte. Er befand sich in einer Art Starre und wollte nun nicht mehr
weiterlesen. Ein flaues Gefühl machte sich breit und ihm wurde übel. Er lief
zur Toilette um sich zu übergeben, doch es ging zu schnell und er erbrach
bereits vor der Tür auf den Boden.
Es war kurz vor Mitternacht und die Müdigkeit setzte langsam ein. Doch Max
war so neugierig, obwohl er schockiert darüber war, was er gerade las, wollte
er auf eine kranke Art und Weise doch weiterlesen.
„08.01.1969
Ich verbrachte die letzte Nacht damit, die Leiche meiner Nachbarin in seine
Einzelteile zu zerlegen und ihre Körperteile im Kühlschrank zu verstauen. Ich
bin erstaunt darüber, wie viel Blut sich in einem menschlichen Körper
befindet. Während ich so den toten Körper auseinander nahm und Hunger
bekam, beschloss ich, als erstes ein Stück Fleisch aus ihrem Brustbereich zu
essen. Der Gedanke an ein saftiges Steak ließ mir das Wasser im Mund
zusammenlaufen. Als endlich alles im Kühlschrank in Plastiksäcken verpackt
und beschriftet war, musste ich mir überlegen wo die Überreste entsorgt
werden. Alles passte perfekt in einen großen Müllsack, welchen ich morgen
wohl im Fluss entsorgen werde. Doch zuerst ein Steak.“
Max dachte beim Lesen an das Steak in seinem Kühlschrank während sein
Magen knurrte. Er ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm das
Steak zur Hand. Beim Anblick des Fleischstückes stellte er sich vor, es wäre
ebenfalls Menschenfleisch. Er bekam kurioserweise Appetit auf Menschen.
Als ihm diese Tatsache bewusst wurde, machte sich eine Panikattacke in ihm
breit. Sein Atem beschleunigte sich und sein Herz raste, so sehr, dass es sich
anfühlte, als würde es aus seiner Brust springen wollen.
4
Nachdem Max am Vorabend eine heftige Panikattacke erlitt, legte er sich ins
Bett um zu schlafen. Er war durcheinander und seine Gedanken kreisten nur
noch um dieses Buch. Langsam fühlte es sich für ihn an, als hätte er einen
schlimmen Albtraum. Doch er war wach und kämpfte mit sich selbst und
seinen Gedanken. So verwirrt hatte er sich noch nie selbst erlebt. Nie zuvor
hat er die Kontrolle über sich und sein Verlangen verloren. Selbst nachdem er
aufgewacht war, war sein erster Einfall das Tagebuch und das Wort Fleisch
wiederholte sich in seinem Kopf immer und immer wieder. Vor seinem
geistigen Auge sah er, wie der Verrückte Kerl aus dem Buch die Leiche seiner
Nachbarin zerstückelte und jeden Knochen vom roten Fleisch der jungen Frau
trennte um sich dann ein Mahl daraus zuzubereiten. Er zweifelte an seinem
eigenen Verstand, denn je mehr er daran dachte, desto mehr Lust bekam er,
das Buch weiter zu lesen. Eigentlich sollte Max heute wieder zur Arbeit
erscheinen, doch er fühlte sich krank und ausgelaugt, als hätte über Nacht ein
Lastwagen auf ihm geparkt oder als hätte man ihn ins Bett einbetoniert und
er musste sich erst aus der festen Masse befreien. Er nahm sein Telefon und
meldete sich an der Arbeit krank. Das machte sicherlich kein gutes Bild für
seinen Chef, direkt nach dem Urlaub einen Krankenstand zu beginnen.
Doch etwas zwang ihn dazu. Als hätte eine höhere Macht von ihm Besitz
ergriffen, die seine Gedanken und Taten steuerten. Max Augen richteten sich
von selbst auf das Buch, das auf dem Wohnzimmertisch lag. Wie
ferngesteuert stand er auf und setzte sich zum Tisch um das Buch ein
weiteres Mal aufzuschlagen. Seine Augen brannten und er zitterte, doch sein
Körper ließ sich nicht mehr von ihm kontrollieren. Das Buch lag offen vor ihm
und seine Blicke wanderten zur nächsten Seite.
„09.01.1969
Das Steak das ich mir gestern Abend aus dem Fleisch der jungen Frau
zubereitet hab war eine wahre Delikatesse. Ich habe es nicht gewürzt. Nur
scharf in einer Pfanne angebraten und dann mit einem Glas Wein gekostet.
Eine Geschmacksexplosion für meinen Gaumen. Das Fleisch eines Menschen
ist zart, ähnlich wie Geflügel aber im Geschmack etwas pikanter. Vergleichbar
mit Hirsch oder anderem Wild. Eine Kombination positiver Eigenschaften. Es
war schließlich keine übergewichtige Dame die ich gestern auf meinen
Speiseplan gesetzt habe und deshalb nicht sehr fettig. Der erste Schritt ist
getan und ich bin stolz, sagen zu können, dass ich weiß, wie Menschenfleisch
schmeckt.
Heute werde ich mir ein Stück Leber gönnen. Dieses Mal werde ich auch
Gewürze einsetzen und vielleicht eine Sauce dazu zaubern. Ich habe bereits
Ideen für Rezepte und werde diese in den nächsten Tagen sicherlich auch
umsetzen um zu testen. Für die Wissenschaft.“
Max' Augen rollten sich nach hinten, nachdem er die Seite zu Ende gelesen
hatte. Er fing an schneller zu atmen und sein Puls erhöhte sich auf ein
Maximum. Nun lief ihm weiße Flüssigkeit aus dem Mundwinkel, während sein
Kopf nach hinten im Nacken hing. Seine Seele verließ seinen Körper und er
konnte sich von oben selbst sehen, wie er da im Stuhl saß und das Leben aus
seiner sterblichen Hülle entwich. Dann war alles schwarz und er wachte auf.
Das Buch lag noch immer geöffnet vor ihm. Er wischte sich mit dem Ärmel
seines Pullovers die Flüssigkeit vom Mund. Sein Kopf vibrierte innerlich und
eine irrsinnige Kälte durchdrang ihn. Dann stand er auf, ging langsam in den
Flur um aus dem Türspion zu sehen. Er sah auf der anderen Seite, nicht wie es
sein sollte, den Treppenaufgang des Hauses, sondern den Lagerraum eines
Schlachthofes. Es war kein gewöhnlicher Schlachthof, den er sah. In diesem
Lagerraum hingen ausgeweidete Menschen an eisernen Haken. Die Wände
waren nur weiße Kacheln, die mit trockenem Blut verschmiert waren. Von
den hängenden Leichen tropfte noch frisches Blut, sodass sich unter ihnen
dunkelrote Lache bildete. Max' Hunger und der Verlangen nach Fleisch wurde
durch diesen Anblick immer größer. Sein Magen rotierte. Er konnte ein
grummeln aus seinem Bauch hören und als er den Mund öffnete, tropfte
Speichel seine Lippen herunter. Die Gier nach dem Fleisch überwältigte ihn
und er öffnete die Tür.
Hinter ihr waren jedoch keine abgeschlachteten Menschen zu sehen. Nur der
Treppenaufgang des Hauses.
5
Max verlor die Kontrolle über sich selbst. Sein Drang Menschenfleisch zu
essen überwältigte und erschauderte ihn zugleich. Er war hungrig, doch es
war nichts essbares mehr im Kühlschrank zu finden und selbst wenn er etwas
das Fleisch ähnelte gefunden hätte, wollte er es nicht. Er hatte Verlangen
nach etwas anderem. Im Bewusstsein dieser Tatsache wurde ihm übel, sodass
er sich an Ort und Stelle übergab. Ohne sich den Mund danach abzuwischen
ging er gezielt zurück zur Küche. In der Schublade unter der Spüle griff er
nahm einem langen, scharfen Fleischmesser, ohne es bewusst zu wollen. Sein
Körper bewegte sich wie gesteuert und sein Bewusstsein war das eines
anderen. Für einen kurzen Moment zögerte er. Dann setzte er sich auf den
Fußboden, das Knie angewinkelt. Er setzte das Messer an seinem
Oberschenkel an und schnitt, ohne auch nur zu zwinkern ein Stück
Muskelfleisch heraus. Das Messer glitt wie durch Butter in sein Bein, Blut lief
aus der offenen Wunde hinab und tropfte auf den kalten Boden. Max stand
auf, legte das Stück Fleisch auf einen Teller und ging, als wäre nichts passiert
ins Badezimmer. Dort holte er sich aus dem Apothekenschrank eine Nadel
und Faden. Er zog eine blutige Spur hinter sich her. Das störte ihn nicht. Oder
es fiel ihm überhaupt nicht auf, denn er spürte keinen Schmerz. Gemütlich
setzte er sich auf sein Bett und fing an die Wunde auf seinem Bein zu nähen.
Er stach sich die Nadel mit Wucht und ohne jedes Gefühl in den
Oberschenkel. Nach wenigen weiteren brutalen Stichen und dem Ziehen am
Faden war die blutige Stelle zugenäht und er begab sich zurück in die Küche.
Eine Pfanne stand bereits auf der Herdplatte. Er schaltete sie ein und wartete
eine Minute in der er stur auf das Stück Fleisch, das er sich eben selbst aus
dem Bein geschnitten hatte starrte. Als die Pfanne die richtige Temperatur
erreichte, griff er zum Teller und legte sein Steak in die Pfanne. Es zischte und
langsam breitete sich der Geruch von frisch gebratenem Fleisch in der Küche
aus. Max stand geduldig und zufrieden neben dem Herd und atmete ihn ein.
Nach einigen Minuten wendete er das Stück in der Pfanne. Es zischte ein
weiteres Mal laut auf und blutige Tröpfchen sammelten sich am Pfannenrand.
Max nahm er aus der Schublade eine Gabel und ein Steak-Messer, ließ das
Steak langsam von der Pfanne auf den Teller gleiten und setzte sich damit
zum Esstisch.
Er begann zu essen. Max aß nun sich selbst. Die Tatsache, dass er eine
klaffende Wunde an seinem Bein hatte, störte ihn keineswegs. Als er sein
Steak aufgegessen hatte, legte er sich zufrieden und satt ins Bett, bevor er
einschlief.
6
Max befand sich plötzlich im Krankenhaus. Seine Freundin, hat ein Kind zur
Welt gebracht. Eigentlich hatte Max keine Freundin und schon gar keine
schwangere.
Er wurde von einem Arzt in ein Zimmer geführt, wo eine hübsche junge Frau
mit einem neugeborenen Baby auf sie warteten. Max war sich sicher, der
Vater des Kindes zu sein und nahm es auf den Arm um es zu grüßen.
Stattdessen hob er das Kind hoch über seinen Kopf und schmetterte es
anschließend mit voller Wucht auf den Krankenhausboden. Mit dem Kopf
voran zog es das Neugeborene nach unten. Als es auftraf platzte der weiche
und zerbrechliche Kopf und sein kleines Gehirn verteilte sich im Raum. Einige
Blutstropfen hatten es bis in Max' Gesicht geschafft. Zu seiner Überraschung
applaudierten die Anwesenden im Raum nun leidenschaftlich. Sie jubelten,
als hätte er etwas heldenhaftes Vollbracht. Die Mutter brach in fröhlichem
Gelächter aus, der Arzt reichte Max zur Gratulation die Hand und sagte nur
„Guten Appetit“ bevor er sich umdrehte und den Raum verließ. Er blickte
noch einmal nach unten, sah eine Delikatesse vor sich und fing an zu sabbern.
Dann wachte er in seinem Bett auf. Er war wieder er selbst und konnte gar
nicht glauben, was er zu träumen schien. Er war sich nicht sicher, was von den
Dingen die er zuletzt erlebt hatte real war und was nur geträumt. Er öffnete
die Augen langsam, ihm war schwindlig und er spürte einen heftigen Schmerz
auf seinem Oberschenkel. Panisch riss er sich die Decke vom Leib und sah
seine zugenähte Wunde. Er blickte sich um und sah die Sauerei die er am
Vortag veranstaltete. Überall eingetrocknete Blutspuren die aus der Küche ins
Badezimmer und dann ins Bett führten. Es roch noch Erbrochenem. Nun war
Max klar, dass dies kein Traum war. Schockiert stand er auf. Sein Gesicht
verzerrte sich vor Schmerzen als er seinen Oberschenkel anzuspannen
versuchte. Auf dem Tisch lag das Tagebuch. Er sah es mit einem angewiderten
Blick an.
„Nie wieder werde ich eine Zeile aus diesem Buch lesen, es muss
verschwinden“ dachte er, in der Erkenntnis, dass dieses Buch scheinbar
verflucht war. Der Geist des geisteskranken Wissenschaftlers war in Max
eingedrungen. Er hatte sich gestern selbst gesehen, konnte sich aber nicht
steuern. Er konnte sich nur dabei zusehen, wie er sich selbst verstümmelte
und aß. Immer noch lag der Geruch nach blutigem Steak in der Luft. Max
konnte sich jedoch nicht daran erinnern wirklich gegessen zu haben. Er war zu
diesem Zeitpunkt in einer anderen Welt gefangen. Einer Zwischenwelt von
Gut und Böse, Tag und Nacht, Leben und Tod.
Die Neugier ließ ihn jedoch nicht los und er konnte sich nicht dazu bringen,
das Buch in den Müll zu werfen oder gleich zu verbrennen. Seine sadistische
und kranke Ader befahl ihm weiter zu lesen. Er wehrte sich mit aller Kraft,
doch zu schwach war sein Wille. Seine Hände schlugen wieder das Buch auf.
„13.01.1969
Meine Ideen konnte ich gut umsetzen. Nun macht mir das Kochen wieder
Freude und es ist ein Genuss, das zarte Fleisch dieser jungen Dame zu
verspeisen. Ich denke, ich werde als nächstes eine absolute Spezialität
ausprobieren. Ihr Herz wird mir ein Festmahl sein.“
Max' verlor wieder sein Bewusstsein. In diesem Moment stürzte er vom Stuhl
auf den Boden. Doch er konnte sich von unten aus auf dem Stuhl sitzen
sehen. So als wäre er aus seinem eigenen Körper heraus gefallen.
Er sah sich aufstehen und zur Küche gehen, wo er wieder zum Messer griff.
Dieses Mal setzte er es an einer anderen Stelle an. Unterhalb seiner linken
Brust drang die Klinge tief ein. Er zog es nach oben in einer kreisförmigen
Linie. Dann griff er mit der anderen Hand in seinen geöffneten Brustkorb,
wühlte ein wenig darin herum und zerrte schließlich sein Herz heraus, das
noch ein paar Sekunden in seiner Hand weiter schlug und Blutfontänen in alle
Richtung ergoss. Max oder seine seine Seele saß immer noch auf dem Boden
und konnte sich nur dabei zusehen. Dann starrte die leblose körperliche Hülle
das Herz in seiner Hand eine Weile an. Mit einer schnellen Bewegung führte
er es zu seinem Mund und biss kräftig in sein Herz. Das Blut lief ihm am Kinn
herunter, er kaute ein wenig, schluckte hinunter und biss noch ein Stück ab.
Dann drehte er sich um und blickte zu Max, der ohne sich bewegen zu können
am Boden lag. Er verzog sein Gesicht zu einer grauenhaften Fratze. Seine
Zähne voll mit Blut, vom Kinnbart tropfende Körperflüssigkeit. Die Augen
zurückgerollt, sodass nur noch das Weiße sichtbar war, lächelte er ihn auf
schrecklich Weise an. Plötzlich verlor er die Farbe aus seinem Gesicht und
sackte er leblos zusammen zusammen. Unter ihm der Boden auf dem sich
schon eine riesige Blutlacke gesammelt hatte.
Das war Max' letzte Wahrnehmung, bevor er starb.
Seine Leiche wurde einige Tage später gefunden, als der Verwesungsprozess
einen gewissen Gestank im ganzen Gebäude verbreitete und die Feuerwehr
gewaltsam in die Wohnung eindrang.
Niemand konnte sich jemals erklären, was einen Menschen dazu bewegte
solche Dinge zu tun oder wie es überhaupt möglich gewesen war, dass ein
Mensch sein eigenes Herz aß.
Das Tagebuch verlor an diesem Tag seine Spur und war seither nie wieder
gesehen.
Texte: Michl Schendi
Bildmaterialien: Michl Schendi
Tag der Veröffentlichung: 12.11.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Danke an meine Träume