Wenn man mich vor ein paar Wochen gefragt hätte, ob ich an Magie glauben würde, hätte ich denjenigen ausgelacht. Jetzt denke ich anders darüber, denn ich habe mit eigenen Augen erlebt, was möglich ist. Es ist etwas, das weit über meine bisherige Vorstellungskraft hinausgeht. Magie gibt es wirklich. Eine andere Erklärung habe ich nicht für die Geschehnisse der letzten Tage. Aber die Magie sorgt nicht immer dafür, dass es den Menschen gut geht. Sie kann uns traurig oder verzweifelt machen.
Ich war mir damals nicht sicher, ob sie Fluch oder Segen für mich bedeutete.
War es Schicksal oder Zufall, dass ich ausgerechnet ich, Nele Caser, diese Stifte gefunden hatte? War unsere Nachbarin, Frau Sorcière, eine Magierin? Oder wusste sie selbst nicht, dass es keine normalen Buntstifte waren?
Diese Fragen stelle ich mir heute immer noch, denn eine Antwort habe ich bisher nicht darauf gefunden.
Nach dem Selbstmord meines Vaters änderte sich viel für meine Mutter und mich. Wir erkannten, dass Aaron Caser nicht der Mann war, für den wir ihn gehalten hatten. Für mich war er immer der liebevolle Papa, der mir oft stundenlang Geschichten von fremden Ländern und Fabelwesen erzählte. Ich hing an seinen Lippen, um kein Wort, keine Silbe zu verpassen. Am Ende strich er über meine Wange und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn.
„Gute Nacht, Nele, meine Prinzessin. Träume süß und vergiss nicht, dass ich dich immer lieben werde!“ Diese Worte sagte er stets beim Zubettgehen zu mir.
Plötzlich war das alles vorbei. Mein Vater war von einer Brücke gesprungen. Vermutlich waren es seine Schuldgefühle gewesen, die ihn keinen anderen Ausweg sehen gelassen hatten. Er hatte Firmengelder in Höhe von fast einer Million Euro veruntreut. Als dies bekannt wurde, sollte er zur Rechenschaft gezogen werden. Am nächsten Tag war er tot. Ich war zwölf Jahre alt. Die Geschichten fehlten mir, und so begann ich, die Erinnerungen daran in Bildern festzuhalten.
Meine Mutter, die jahrelang zuhause geblieben war, musste sich eine Arbeit suchen, damit wir über die Runden kamen. Trotzdem konnten wir uns nicht mehr leisten, das Haus zu behalten. Bei Großmutter Leni und Großvater Emil waren wir zwar willkommen, doch meine Mutter hatte einen gewissen Stolz. Sie lehnte das Angebot, bei den beiden zu wohnen, ab. Stattdessen verkaufte sie das Haus, und wir zogen in eine kleine Mietwohnung.
Seit dem Tod meines Vaters waren vier Jahre vergangen. Ich zeichnete nach wie vor gerne. Es war zu meinem liebsten Hobby geworden. Oft saß ich auf der Fensterbank und malte, was mir gerade in den Sinn kam. Meist waren es Bilder von fernen Ländern – Asien, Afrika, Australien – oder Fantasiewesen – Einhörner, Feen, Elfen. In diesen Momenten fühlte ich mich meinem Vater nahe. Er war kein böser Mensch gewesen. Auch wenn es etwas Unrechtes getan hatte, konnte und wollte ich ihn nicht hassen. Dafür waren die Erinnerungen an ihn viel zu schön.
Ein großes, gerahmtes Foto von ihm stand auf meinem Schreibtisch. Seine grünen Augen, die er mir vererbt hatte, strahlten eine Freundlichkeit aus, und beruhigten mich. Die hellbraunen Haare hatte ich dagegen von meiner Mutter.
Auch heute füllte ich ein Blatt mit Farben. Dabei war ich so auf die Zeichnung fixiert, dass ich das Klingeln zunächst nicht bemerkte.
Das alte Siemens M 35i war ein Geschenk meines besten Freundes Adrian gewesen, als er sich ein Smartphone zugelegt hatte.
„Nele Caser“, meldete ich mich.
„Hallo Nele, ich bin´s.“
Adrian. Seine kieksige Stimme war unverwechselbar.
„Wer ist da bitte?“, stellte ich mich dennoch unwissend.
„Du weißt genau, dass ich es bin“, erwiderte er.
Vor meinem inneren Auge erschien eine kurze Szene, in der Adrian an seinem Ohrläppchen zog. Es war eine typische Macke von ihm, wenn er nervös oder angesäuert war. Im Schulunterricht tat er das im Moment beinahe ununterbrochen. Es fiel ihm schwer, dass er der letzte Junge der Klasse war, der sich im Stimmbruch befand.
„Entschuldige, bitte! Ich wollte einen kleinen Spaß machen.“ Der Buntstift verwandelte die eben noch weiße Fläche in eine blaue Mähne.
„Was machst du gerade?“, fragte mein bester Freund nach.
„Zeichen“, lautete meine Antwort.
„Das habe ich mir schon gedacht“, entgegnete er. „Ich dachte, du hättest vielleicht Lust mit mir ins Kino zu gehen.“
„Ich kann es mir nicht leisten“, gab ich offen zu.
„Nele, ich lade dich natürlich ein“, schlug er vor, was ich dankend ablehnte.
„Du kannst mich nicht jedes Mal einladen. Außerdem habe ich Frau Sorcière versprochen, ihr heute zu helfen, den Speicher auszumisten“, erklärte ich ihm.
„Schade.“ Sein Seufzen hallte in meinen Ohren wider.
„Dadurch verdiene ich etwas. Nicht jeder hat das Glück, reiche Eltern zu haben.“
„Hm, na dann. Bis Montag, Nele.“
„Auf Wiederhören, Adrian.“
Mein Blick fiel auf die zahlreichen Kartons, die sich auf Frau Sorcières Speicher, stapelten.
„Es soll alles heraus. Ich will den alten Ballast loswerden. Wenn dir irgendetwas gefällt, kannst du es gerne haben“, sagte meine Nachbarin und stützte sich auf ihrem Gehstock.
„Danke, das ist wirklich nett von Ihnen“, meinte ich.
Sie hob abwehrend ihre Hände, lächelte mich allerdings an, wobei sich kleine Fältchen um ihre Augen bildeten. „Ich habe dir zu danken.“
Sie humpelte zur Treppe und stieg vorsichtig die Stufen hinunter. Hilfe nahm sie keine von mir an, sodass ich mich dem ersten Karton widmete. Er war voller Bücher. Neugierig schaute ich sie mir genauer an. Vielleicht war eine spannende Lektüre für mich dabei. Nein, sie handelten alle von Beschwörungen und Hexenkult. Auch wenn ich bevorzugt fantasievolle Bilder malte, glaubte ich nicht an diese Hirngespinste, erst recht nicht an Vodoo-Zauber und Magie. Frau Sorcière dagegen schien sich sehr dafür zu interessieren, denn die nächste Kiste enthielt den gleichen Inhalt.
„Wollen Sie die ganzen Bücher wirklich wegwerfen?“, hakte ich zur Sicherheit nach.
„Nein, obwohl ich damit abgeschlossen habe. Wie bereits gesagt, kannst du dich gerne bedienen“, rief sie zurück.
„Danke, doch ich bin nicht der Typ für Zaubertränke.“
Da mir ein Karton zu schwer zu tragen war, nahm ich ein paar Werke heraus und schleppte sie nach unten.
„Sie könnten sie verkaufen oder der Bibliothek spenden“, schlug ich vor.
Frau Sorcière schüttelte den Kopf. „So etwas darf nicht in die falschen Hände geraten.“
Irritiert starrte ich sie an. Sie glaubte wirklich daran. Hatte sie daraus Beschwörungen angewandt?
„Wo soll alles hin?“, wollte ich wissen.
„Am besten werden wir sie verbrennen.“
„Verbrennen? Ist das denn wirklich notwendig?“
Sie nickte, und in ihren Augen flackerte ein Licht auf. So kurz, dass ich mich vermutlich geirrt hatte.
Tag der Veröffentlichung: 01.06.2016
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