„Das ist nicht euer Ernst!“, schrie ich.
„Stella, versteh uns doch! Dein Vater und ich träumen schon so lange davon“, erwiderte meine Mutter.
„Ja, eben. Es ist euer Traum. Ich habe keine Lust, nach Ägypten zu ziehen. Ich bleibe hier. Ihr könnt da gerne alleine hin“, schnaubte ich.
Gerade eben hatten mir meine Eltern eine gute Nachricht angekündigt. Was verstanden sie überhaupt unter einer guten Nachricht? Es war nicht mal eine schlechte Nachricht. Es war eine Katastrophe. Sie hatten meinem Zwillingsbruder Daniel und mir mitgeteilt, dass sie nach dem Grab von Nofretete suchen wollten und deshalb für längere Zeit nach Ägypten ziehen würden. Ja, meine Eltern waren Archäologen aus Leidenschaft. Für sie gab es nichts Schöneres, als den ganzen Tag im Staub zu buddeln, in der Hoffnung, Relikte aus vergangenen Epochen auszugraben. Der Höhepunkt wäre natürlich für sie, wenn sie ein neues Grab entdecken würden. Sie waren so fasziniert von Ägypten und der Zeit der Pharaonen, dass sie uns entsprechende Zweitnamen gegeben hatten. Und das ohne uns zu fragen. Stella gefiel mir richtig gut, aber mit vollem Namen hieß ich Stella Nofretete Grün. Meinen Bruder hatte es nicht besser getroffen; er durfte sich Daniel Anubis nennen. Mit unseren Zweitnamen waren wir jedenfalls die Lachnummer in der Schule. Dabei war ich sowieso schon ein Freak mit einem braunen und einem blauen Auge. Meine Haare dagegen waren mittelbraun und glatt. Ich hätte gerne Locken, aber ich hatte so kräftiges Haar, dass es einfach nicht möglich war; Lockenstab und Papilotten nutzten bei mir überhaupt nichts.
„Da gibt es überhaupt nichts zu diskutieren“, meinte mein Vater. „Daniel und du seid noch minderjährig.“
„Aber nicht mehr lange“, warf ich ein.
In knapp sieben Monaten würden wir achtzehn werden.
„Stella, du hast das nicht zu entscheiden. Du wirst uns nach Ägypten begleiten“, keifte er.
„Du wirst sehen, es wird dir dort gefallen. Ägypten ist ein wundervolles Land mit einer aufregenden Kultur“, versuchte meine Mutter mir den Umzug schmackhaft zu machen.
„Was ist mit meiner Band?“, fragte ich.
„Deiner Band? Das ist deine einzige Sorge?“, schimpfte mein Vater.
Seit zwei Jahren war ich in dieser Band. Wir nannten uns Invisible Spirit, also unsichtbarer Geist. Den Namen hatte Paula, die Schlagzeugerin, ausgesucht; er war ihr spontan eingefallen. Philipp war unser Bassist und Clara die Keyboarderin; dann gab es noch Olivia, unsere Sängerin, und Fly, eine gebürtige Australierin, die Harfe spielte. Das hatte nicht jede Band und die Harfe passte ganz hervorragend zu unseren Songs. Wir versuchten gerade aus unserer Garage herauszukommen. Deshalb war es mir alles andere als recht, dass ich ausgerechnet jetzt umziehen sollte, und das nicht mal in eine andere Stadt in Deutschland. Nein, es musste gleich ein anderer Kontinent sein. Ich war die Leadgitarristin von Invisible Spirit und ich steckte mein ganzes Herzblut hinein. Wegen meinen Eltern sollte das alles vorbei sein. Es schien sich nur um ihre Interessen zu drehen. Dabei konnten sie in Deutschland doch genauso gut nach verborgenen Schätzen suchen. Hier hatte es schließlich auch interessante Kulturen gegeben. Warum konnten sie sich nicht auf die Spuren der Kelten oder Römer begeben? Warum mussten es ausgerechnet die alten Ägypter sein? Ich wusste jedenfalls eine Sache genau. Sobald ich volljährig war, würde ich sofort zurückkehren.
Ich versuchte, meinen Eltern zu erklären, wie wichtig mir die Band war, aber sie hörten mir gar nicht zu.
Meine Mutter meinte nur: „Du kannst deine Gitarre mit nach Ägypten nehmen.“
„Super, das bringt es auch, Mama. Ich will mit Invisible Spirit groß rauskommen“, entgegnete ich.
„Wer ist Invisible Spirit?“, wollte sie wissen.
Das glaubte ich jetzt nicht.
„Meine Band. Ich wusste es; ihr denkt nur an euch und interessiert euch nicht die Bohne für Daniel und mich“, fauchte ich.
„Stella, das stimmt nicht. Ihr beide seid uns das Wichtigste auf der Welt“, protestierte sie.
„Außerdem ist das mit eurer Band Unsinn; du solltest endlich vernünftig werden. Ihr werdet es damit sowieso niemals zu etwas bringen; deshalb ist es richtig, rechtzeitig auszusteigen“, mischte sich mein Vater ein.
Na prima; es war so toll, wie mich meine eigenen Eltern motivierten und unterstützten. Mein Bruder blieb während der ganzen Diskussion stumm wie ein Fisch. Ich verstand ihn nicht. War es ihm wirklich egal, dass wir von hier wegziehen mussten?
„Was ist mit Lisa? Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wie weit Ägypten von hier entfernt ist? Das ist nicht mal eben ein Katzensprung, das ist Afrika“, redete ich ihm später ins Gewissen, als wir alleine waren.
Lisa war seine Freundin. Die beiden waren schon seit fast drei Jahren zusammen; das konnte er doch nicht so einfach wegwerfen.
„Ich weiß, dass es in Afrika ist. Ganz so dumm bin ich dann doch nicht“, erwiderte Daniel. „Ich finde es richtig gut, so weit weg von ihr zu sein.“
„Aber warum das denn?“, hakte ich nach.
„Dann sehe ich sie nicht dauernd mit Jens“, antwortete er.
„Mit deinem besten Freund? Soll das heißen…“
Er nickte. „Ja, er hat mir Lisa ausgespannt und ist jetzt mit ihr zusammen. Ich will einfach nur weg von hier und sie vergessen.“
Er tat mir leid. Ich wusste, wie sehr er in Lisa verliebt war. Irgendwie konnte ich ihn verstehen, dass er froh über den Umzug war. Aber Weglaufen war noch nie eine Lösung gewesen.
Bei der nächsten und für mich letzten Bandprobe erzählte ich meinen Freunden dann von den Plänen meiner Eltern. Nein, es waren ja keine Pläne, es waren Fakten. Wir würden umziehen.
„Kannst du nicht einfach hier bleiben?“, fragte Paula.
Enttäuscht schüttelte ich den Kopf. „Ich wünschte, ich könnte es. Ihr müsst mir etwas versprechen. Bitte sucht euch eine neue Gitarristin oder einen neuen Gitarristen! Ihr seid so gut. Ihr werdet einmal groß rauskommen und dann kann ich
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Tina Waldt
Bildmaterialien: Tina Waldt
Tag der Veröffentlichung: 23.11.2015
ISBN: 978-3-7396-2456-3
Alle Rechte vorbehalten