Unser kleines Boot Annabelle war schon etwas älter, aber noch gut in Schuss. Mein Vater hatte es meiner Mutter zu ihrem ersten Hochzeitstag geschenkt. Annabelle hieß auch meine Mutter. Sie war gestorben, als ich vier Jahre alt war. Inzwischen waren fast zehn Jahre vergangen. Ich konnte mich nicht mehr an sie erinnern.
Seitdem waren mein Vater und ich nicht mehr mit dem Boot rausgefahren. Deshalb wunderte ich mich umso mehr, als er plötzlich mit der Idee kam, dass wir eine Fahrt mit Annabelle im Pazifik unternehmen sollten.
„Papa, bist du dir sicher? Du bist doch schon lange nicht mehr Boot gefahren“, meinte ich.
„Remi, das verlernt man nicht“, erwiderte er.
„Was ist mit Dino?“, fragte ich.
Wie auf´s Stichwort bellte Dino, so als wollte er sagen: „Ja, was ist mit mir?“
Er war unser Familienhund, ein tricolorfarbener Collie und schon zwölf Jahre alt. Meine Mutter hatte ihn als kleinen Welpen gekauft.
„Dino kommt natürlich mit“, entschied mein Vater.
Wir sahen uns eine Karte vom Pazifik an und legten eine Route fest. Dann besorgten wir ausreichend Proviant für unsere Reise, die in zwei Wochen beginnen sollte. An diesem Tag fingen die Sommerferien an.
Je näher dieser Tag rückte, desto aufgeregter wurde ich.
Als es soweit war, war mir doch etwas flau im Magen. Dino weigerte sich die Annabelle zu betreten und mein Vater musste ihn hochnehmen und an Bord tragen.
Am Anfang hatte ich mit der Seekrankheit zu kämpfen. Mit der Zeit wurde es jedoch besser. Die Reise verlief ruhig und ich begann mich zu langweilen. Uns begegneten keine anderen Schiffe. Wir waren einsam und allein auf dem Ozean. Plötzlich hörten wir ein Grollen und kurz darauf zuckte ein Blitz am Himmel. Ich wurde leicht nervös. Dino verkroch sich unter Deck. Er hatte Gewitter schon immer gehasst.
„Keine Angst, Remi. Das Gewitter ist weit genug weg“, versuchte mich mein Vater zu beruhigen.
Doch der Donner wurde immer lauter und es blitzte in immer kürzeren Abständen. Es stürmte heftig und das Meer wurde aufgepeitscht. Die Annabelle schaukelte auf den Wellen. Ich hörte Dino laut bellen.
„Papa, Papa, das Boot wird untergehen“, jammerte ich.
„Ich verspreche dir. Das passiert nicht“, erwiderte mein Vater.
Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als eine riesige Welle auf uns zurollte und uns von Bord spülte. Nach Luft schnappend tauchte ich wieder auf.
„Papa“, schrie ich. „Papa, wo bist du?“
Von meinem Vater fehlte jede Spur. Ich sah die Annabelle, die einen wilden Tanz auf dem Ozean vollführte und schließlich kenterte.
„Nein!“
Ich wurde unter Wasser gerissen und schluckte Salzwasser. Als ich wieder an die Oberfläche gelangte, entdeckte ich meinen Vater.
„Papa! Papa! Hier bin ich“, rief ich und versuchte zu ihm geschwommen. Auch er probierte zu mir zu gelangen. Als er es endlich geschafft hatte, klammerte ich mich an ihm fest.
„Papa, wo ist Dino?“, wollte ich wissen.
„Remi, ich weiß es nicht“, antwortete mein Vater.
Von unserem Boot fehlte jede Spur. War es untergegangen? Oh nein. Dino war noch an Bord gewesen. Ich weinte und konnte nicht mehr aufhören. Ich wollte nicht mehr aufhören.
So schnell sich das Gewitter gebildet hatte, so schnell war es auch wieder verschwunden. Das Meer lag wie ein riesiger blauer Teppich da.
„Was machen wir jetzt?“, fragte ich.
„Halt dich an mir fest! Wir schwimmen. Irgendwann werden wir schon Land finden.“
Tag der Veröffentlichung: 05.06.2015
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