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Kapitel 1

„Das ist nicht euer Ernst!“, schrie ich.

„Stella, versteh uns doch! Dein Vater und ich träumen schon so lange davon“, erwiderte meine Mutter.

„Ja, eben. Es ist euer Traum. Ich habe keine Lust, nach Ägypten zu ziehen. Ich bleibe hier. Ihr könnt da gerne alleine hin“, schnaubte ich.

Gerade eben hatten mir meine Eltern eine gute Nachricht angekündigt. Was verstanden sie überhaupt unter einer guten Nachricht? Es war nicht mal eine schlechte Nachricht. Es war eine Katastrophe. Sie hatten meinem Zwillingsbruder Daniel und mir mitgeteilt, dass sie nach dem Grab von Nofretete suchen wollten und deshalb für längere Zeit nach Ägypten ziehen würden. Ja, meine Eltern waren Archäologen aus Leidenschaft. Für sie gab es nichts Schöneres, als den ganzen Tag im Staub zu buddeln, in der Hoffnung, Relikte aus vergangenen Epochen auszugraben. Der Höhepunkt wäre natürlich für sie, wenn sie ein neues Grab entdecken würden. Sie waren so fasziniert von Ägypten und der Zeit der Pharaonen, dass sie uns entsprechende Zweitnamen gegeben hatten. Und das ohne uns zu fragen. Stella gefiel mir richtig gut, aber mit vollem Namen hieß ich Stella Nofretete Grün. Meinen Bruder hatte es nicht besser getroffen; er durfte sich Daniel Anubis nennen. Mit unseren Zweitnamen waren wir jedenfalls die Lachnummer in der Schule. Dabei war ich sowieso schon ein Freak mit einem braunen und einem blauen Auge. Meine Haare dagegen waren mittelbraun und glatt. Ich hätte gerne Locken, aber ich hatte so kräftiges Haar, dass es einfach nicht möglich war; Lockenstab und Papilotten nutzten bei mir überhaupt nichts.

„Da gibt es überhaupt nichts zu diskutieren“, meinte mein Vater. „Daniel und du seid noch minderjährig.“

„Aber nicht mehr lange“, warf ich ein.

In knapp sieben Monaten würden wir achtzehn werden.

„Stella, du hast das nicht zu entscheiden. Du wirst uns nach Ägypten begleiten“, keifte er.

„Du wirst sehen, es wird dir dort gefallen. Ägypten ist ein wundervolles Land mit einer aufregenden Kultur“, versuchte meine Mutter mir den Umzug schmackhaft zu machen.

„Was ist mit meiner Band?“, fragte ich.

„Deiner Band? Das ist deine einzige Sorge?“, schimpfte mein Vater.

Seit zwei Jahren war ich in dieser Band. Wir nannten uns Invisible Spirit, also unsichtbarer Geist. Den Namen hatte Paula, die Schlagzeugerin, ausgesucht; er war ihr spontan eingefallen. Philipp war unser Bassist und Clara die Keyboarderin; dann gab es noch Olivia, unsere Sängerin, und Fly, eine gebürtige Australierin, die Harfe spielte. Das hatte nicht jede Band und die Harfe passte ganz hervorragend zu unseren Songs. Wir versuchten gerade aus unserer Garage herauszukommen. Deshalb war es mir alles andere als recht, dass ich ausgerechnet jetzt umziehen sollte, und das nicht mal in eine andere Stadt in Deutschland. Nein, es musste gleich ein anderer Kontinent sein. Ich war die Leadgitarristin von Invisible Spirit und ich steckte mein ganzes Herzblut hinein. Wegen meinen Eltern sollte das alles vorbei sein. Es schien sich nur um ihre Interessen zu drehen. Dabei konnten sie in Deutschland doch genauso gut nach verborgenen Schätzen suchen. Hier hatte es schließlich auch interessante Kulturen gegeben. Warum konnten sie sich nicht auf die Spuren der Kelten oder Römer begeben? Warum mussten es ausgerechnet die alten Ägypter sein? Ich wusste jedenfalls eine Sache genau. Sobald ich volljährig war, würde ich sofort zurückkehren.

Ich versuchte, meinen Eltern zu erklären, wie wichtig mir die Band war, aber sie hörten mir gar nicht zu.

Meine Mutter meinte nur: „Du kannst deine Gitarre mit nach Ägypten nehmen.“

„Super, das bringt es auch, Mama. Ich will mit Invisible Spirit groß rauskommen“, entgegnete ich.

„Wer ist Invisible Spirit?“, wollte sie wissen.

Das glaubte ich jetzt nicht.

„Meine Band. Ich wusste es; ihr denkt nur an euch und interessiert euch nicht die Bohne für Daniel und mich“, fauchte ich.

„Stella, das stimmt nicht. Ihr beide seid uns das Wichtigste auf der Welt“, protestierte sie.

„Außerdem ist das mit eurer Band Unsinn; du solltest endlich vernünftig werden. Ihr werdet es damit sowieso niemals zu etwas bringen; deshalb ist es richtig, rechtzeitig auszusteigen“, mischte sich mein Vater ein.

Na prima; es war so toll, wie mich meine eigenen Eltern motivierten und unterstützten. Mein Bruder blieb während der ganzen Diskussion stumm wie ein Fisch. Ich verstand ihn nicht. War es ihm wirklich egal, dass wir von hier wegziehen mussten?

„Was ist mit Lisa? Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wie weit Ägypten von hier entfernt ist? Das ist nicht mal eben ein Katzensprung, das ist Afrika“, redete ich ihm später ins Gewissen, als wir alleine waren.

Lisa war seine Freundin. Die beiden waren schon seit fast drei Jahren zusammen; das konnte er doch nicht so einfach wegwerfen.

„Ich weiß, dass es in Afrika ist. Ganz so dumm bin ich dann doch nicht“, erwiderte Daniel. „Ich finde es richtig gut, so weit weg von ihr zu sein.“

„Aber warum das denn?“, hakte ich nach.

„Dann sehe ich sie nicht dauernd mit Jens“, antwortete er.

„Mit deinem besten Freund? Soll das heißen…“

Er nickte. „Ja, er hat mir Lisa ausgespannt und ist jetzt mit ihr zusammen. Ich will einfach nur weg von hier und sie vergessen.“

Er tat mir leid. Ich wusste, wie sehr er in Lisa verliebt war. Irgendwie konnte ich ihn verstehen, dass er froh über den Umzug war. Aber Weglaufen war noch nie eine Lösung gewesen.

Bei der nächsten und für mich letzten Bandprobe erzählte ich meinen Freunden dann von den Plänen meiner Eltern. Nein, es waren ja keine Pläne, es waren Fakten. Wir würden umziehen.

„Kannst du nicht einfach hier bleiben?“, fragte Paula.

Enttäuscht schüttelte ich den Kopf. „Ich wünschte, ich könnte es. Ihr müsst mir etwas versprechen. Bitte sucht euch eine neue Gitarristin oder einen neuen Gitarristen! Ihr seid so gut. Ihr werdet einmal groß rauskommen und dann kann ich sagen, dass ich auch einmal in dieser Band war.“

„Aber du schreibst unsere Songs. Was sollen wir ohne dich tun?“, warf Fly ein und ihr australischer Akzent war deutlich ausgeprägt.

Das war er eigentlich nur, wenn sie wirklich aufgeregt war; im Moment war das eindeutig der Fall.

„Ihr werdet schon einen würdigen Ersatz finden. Ihr dürft mich bloß nicht vergessen“, meinte ich.

„Versprochen“, riefen alle im Chor.

Ja, ich würde sie auch niemals vergessen.

„Könntet ihr mir noch einen kleinen Gefallen tun?“, wollte ich wissen.

„Jeden“, versprach mir Clara.

„Würdet ihr bitte alle auf meiner Gitarre unterschreiben, damit ich euch auch in Ägypten immer dabei habe?“

Kapitel 2

„Meine sehr verehrten Damen und Herren, herzlich Willkommen in Luxor. Die Temperatur beträgt 34 Grad bei wolkenfreiem Himmel. Bitte lassen Sie Ihre Sicherheitsgurte geschlossen, bis wir unsere endgültige Parkposition erreicht haben. Vielen Dank, dass Sie sich für einen Flug mit Cleopatra Airlines entschieden haben. Wir würden uns freuen, Sie bald wieder bei uns an Bord begrüßen zu dürfen.“

Die Passagiere - mich ausgenommen - klatschten Beifall, während ich nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken konnte.

Mitten in der Nacht hatten wir aufstehen müssen, weil die Fluggesellschaft gemeint hatte, es wäre eine fantastische Idee morgens um 5:10 Uhr loszufliegen. Allerdings waren wir erst um 5:34 Uhr auf die Startbahn gerollt und es war bereits 5:47 Uhr gewesen, als wir uns in die Lüfte erhoben hatten.

Nicht einmal während des Fluges hatte ich ein wenig schlafen können. Ständig hatte es irgendwelche Turbulenzen gegeben und eine Schlechtwetterfront hatte der nächsten gefolgt. Mir blieb also nichts anderes übrig, als die Bordunterhaltung zu testen. Den Film hatte ich schon so oft gesehen, dass ich mir das nicht mehr hatte antun können, weswegen ich die verschiedenen Musikkanäle nach etwas Passendem für mich durchsucht hatte.

Jedenfalls war es verständlich, dass ich jetzt ziemlich müde war. Hoffentlich war es nicht allzu weit bis zu unserem neuen Haus, damit ich mich dort direkt aufs Ohr hauen konnte.

Als wir den Flieger verließen, standen bereits zwei Busse bereit, die uns zum Terminal bringen sollten. Die Hitze schlug mir wie ein Feuersturm entgegen. Verdammt, war das heiß! Mir wurde leicht schwindlig und ich stützte mich am Geländer der Treppe ab, während ich die Stufen langsam hinabstieb. Im Bus war kein Sitzplatz mehr frei und wir mussten uns an den Haltegriffen festklammern, um nicht durch die Gegend geschleudert zu werden.

Bei der Passkontrolle stellten wir uns an eine der Warteschlangen an, die jedoch wie in Zeitlupe vorwärts kroch. Immer wieder fielen meine Augen zu und Daniel musste mich oft anstupsen, wenn es für ein paar Zentimeter nach vorne ging. Nachdem wir das endlich geschafft hatten, stand die nächste Zerreißprobe vor uns, die Gepäckausgabe. Dazu mussten wir allerdings erst einmal das richtige Band finden, das unsere Koffer beförderte. Wie sollte es anders sein, hatte mein Vater das Kommando übernommen.

„Das ist ganz sicher das richtige Band“, meinte er aus tiefster Überzeugung.

Sollte ich ihm verraten, dass er gerade auf Gepäck wartete, das aus Russland kam? Ach nein, ich setzte mich lieber auf eine Bank, schloss die Augen und wartete. Irgendwann würde er schon selbst darauf kommen, dass wir falsch standen. Bis es so weit war, konnte ich ruhig noch ein kleines Nickerchen halten, denn das war es, was ich in diesem Moment am dringendsten brauchte.

 

„So, das wäre der letzte Koffer“, schnaufte mein Vater, nachdem er ein weiteres Gepäckstück vom Band gezogen hatte.

„Und was jetzt? Rufen wir uns ein Taxi?“, wollte ich mit schnippischem Tonfall wissen.

Er schaute mich irritiert an, so als hätte ich ihm gerade die 1-Million-Euro-Frage gestellt. „Das habe ich euch doch alles schon in Deutschland erzählt; Marik holt uns ab. Unser Haus liegt nur eine Viertelstunde vom Flughafen entfernt.“

Keine Ahnung, wer diese Marik war. Mein Gehör hatte ich immer dann in den Urlaub verabschiedet, wenn meine Eltern auf das Thema Ägypten zu sprechen gekommen waren. Ich wollte es einfach nicht hören; ich hatte ja sowieso bezüglich des Umzugs kein Mitspracherecht.

Schlecht gelaunt folgte ich meiner Familie zum Ausgang. Die Tage bis zu Daniels und meinem achtzehnten Geburtstag zählte ich bereits; es waren noch genau zweihundertacht.

„Hallo Cornelia, hallo David“, begrüßte uns ein rundlicher Mann. „Hattet ihr einen guten Flug?“

Meine Mutter lächelte. „Hallo Marik. Ja, der Flug hatte zwar etwas Verspätung, aber ansonsten ist alles gut gelaufen.“

Moment, das war Marik? Ich dachte, das wäre ein weiblicher Name.

„Dann müssen das eure beiden Kinder sein?“, hakte er nach.

Daniel nickte und streckte ihm seine Hand entgegen. „Guten Tag, ich heiße Daniel.“

Marik ergriff diese und schüttelte sie. „Es freut mich, dich endlich kennenzulernen, Daniel.“

Anschließend wandte er sich mir zu. „Und du bist wohl Stella Nofretete. Ein wirklich schöner Name. Es ist doch bestimmt aufregend für dich, dass deine Eltern auf der Suche nach deiner Namenspatin sind.“

„Ich möchte nur Stella genannt werden, wenn ich bitten darf“, fauchte ich ihn an.

Eigentlich hatte ich nicht so heftig reagieren wollen. Es war einfach nur so, dass ich meinen zweiten Namen nicht ausstehen konnte. In meinem Kopf hallten dann jedes Mal die fiesen Kommentare meiner alten Mitschüler, denen es eine große Freude bereitet hatte, mich als verrückten Freak mit bunten Augen zu bezeichnen. Meinen Bruder hatte es wenigstens optisch besser getroffen. Er hatte zwei braune Augen und hellbraunes Haar, womit er ein Ebenbild unserer Mutter war. Dass eins meiner Augen blau war, hatte ich unserem Vater und seinen skandinavischen Vorfahren zu verdanken.

„Natürlich, entschuldige. Ich dachte nur, Nofretete ist so ein schöner Name, den nicht jeder hat“, meinte Marik und begann unser Gepäck in seinem Geländewagen  zu verstauen.

„Ich habe übrigens drei Kinder. Zwei davon sind in eurem Alter, Samira und Tyriq. Chione ist unser Nesthäkchen“, wechselte er plötzlich das Thema, das mich jedoch überhaupt nicht interessierte.

Mürrisch nahm ich auf der Rückbank des Autos Platz.

 

Kapitel 3

Unser neues Haus lag tatsächlich nur etwa fünfzehn Minuten vom Flughafen Luxor entfernt.

„Ist es nicht traumhaft schön?“, schwärmte meine Mutter. „Und wir haben es überhaupt nicht weit bis zur Ausgrabungsstätte und von unserer Terrasse hat man einen atemberaubenden Blick auf den Nil.“

„Wie aufregend“, meinte ich sarkastisch. „Im Nil sind Bilharziose-Erreger zu finden. Juhu, das gibt einen schönen Juckreiz.“

„Stella, hör auf hier einen auf Oberzicke zu machen!“, ermahnte mich mein Vater.

„Genau. Außerdem wird diese Krankheit nur übertragen, wenn du im Nil baden würdest, was ich dir nicht empfehle“, mischte sich Daniel ein.

Dieser Besserwisser versuchte sich doch gerade bei unseren Eltern einzuschleimen und wie es aussah, hatte er damit auch noch Erfolg.

Mein Vater jedenfalls nickte zustimmend und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. „Da hat jemand seine Hausaufgaben gemacht.“

„Lasst uns doch jetzt endlich das Haus anschauen! Es hat drei Schlafzimmer, zwei Badezimmer, ein Gästezimmer…“, begann meine Mutter, was für mich der Zeitpunkt war, meine Ohren auf Durchzug zu schalten.

Nachdem wir die Verteilung der Schlafräume geklärt hatten, machte ich mich auf den Weg in mein neues Zimmer, ließ mein Gepäck dort einfach stehen und legte mich auf mein Bett. Auspacken konnte ich später immer noch. Ein Glück, dass das Haus schon fertig eingerichtet war. Das hätte mir noch gefehlt, erst einmal mein Bett aufstellen zu müssen. Mein Kopf hatte kaum das Kissen berührt, da war ich auch schon in einen tiefen Schlaf gefallen.

 

„Stella, aufstehen! Es gibt Abendessen.“

„Hm ja“, murmelte ich nur.

„STELLA!“

Meine Güte, mein Bruder hatte aber auch ein Organ. Noch halb im Tiefschlaf krabbelte ich aus meinem gemütlichen, kuschligen Bett und folgte ihm torkelnd wie eine Seekranke in die Küche.

„Schön, dass die Dame uns auch einmal mit ihrer Anwesenheit beglückt“, kommentierte mein Vater mein Eintreffen.

Also, bitte, Dame? So alt war ich jetzt auch wieder nicht.

„Stella, du musst doch bestimmt Hunger haben“, sagte meine Mutter und schenkte mir ihr Das-Leben-ist-großartig-Lächeln.

Die Arme litt eindeutig unter einem falschen Weltbild, denn das Leben - zumindest meins - war alles andere als großartig.

„Ich habe überhaupt keinen Hunger“, log ich, obwohl mein Magen schon in den Kniekehlen hing.

Ich hatte einfach Lust, meine rebellische Ader ein wenig zum Vorschein zu bringen, die mein Vater allerdings immer infantiles Verhalten nannte. Dieses Wort hatte ich heimlich im Wörterbuch nachschlagen müssen. Okay, es bedeutete kindisch, womit ich überhaupt nicht einverstanden war. Schließlich war ich nicht kindisch, nur weil ich eine andere Meinung als meine Eltern, vor allem in Bezug auf Ägypten, vertrat.

Mein Bauch, der miese Verräter, knurrte in diesem Moment laut und alle Augen waren sofort auf mich gerichtet.

„Na gut, dann habe ich eben Hunger“, gab ich zu und mein Vater nuschelte „Infantiles Verhalten“ in seinen Bart.

 

„Wir haben eine neue Leadgitarristin gefunden“, berichtete mir Paula, als ich sie nach dem Abendessen anrief.

„Das freut mich für euch“, entgegnete ich gespielt fröhlich, in der Hoffnung, dass sie nicht merkte, dass es mir einen kleinen Stich versetzt hatte. Wie schnell sie doch einen Ersatz für mich gefunden hatten.

Ich fragte nach, wer von nun an meinen Part übernahm.

„Rebecca.“

„Rebecca Licht?“

„Ja, genau. Sie kann wirklich super Gitarre spielen. Ich bin davon überzeugt, dass wir es mit ihr schaffen, groß rauszukommen.“

Darauf erwiderte ich nichts, sondern blieb stumm wie eine Mumie, die meine Eltern unbedingt finden wollten. Rebeccas Vater war Besitzer eines Plattenlabels und Tonstudios. Daher wäre es keine Überraschung für mich, wenn Invisible Spirit eine CD auf den Markt bringen würde.

„Stella, das sollte jetzt nicht heißen, dass wir es mit dir nicht aus unserer Garage geschafft hätten. Du bist eine der besten Gitarristen, die ich kenne, und eine großartige Songschreiberin“, fügte Paula schnell hinzu, die mich einfach zu gut kannte, und deshalb wusste, dass mich ihre Begeisterung, Rebecca an Bord zu haben, leicht verärgert hatte.

„Schon in Ordnung, Paula“, murmelte ich und betrachtete den Nil vom Fenster aus, der gemächlich an unserem Haus vorbeifloss.

„Bist du wirklich nicht sauer? Es war eine spontane Entscheidung und unsere Band braucht wirklich einen Gitarristen oder in unserem Fall eine Gitarristin.“

„Paula, es ist wirklich okay. Ich bin nicht sauer. Ich war nur überrascht, dass ihr so schnell jemanden gefunden habt. Werdet ihr bald ins Tonstudio gehen?“

„Ja, Rebeccas Vater findet, dass der Song Something only I know about me großes Potenzial hat. Das ist doch für dich in Ordnung, oder? Ich meine, du hast diesen Song geschrieben.“

Als ich das hörte, musste ich erst einmal tief durchatmen, um nicht laut loszuschreien. Das war mein Song, ein sehr persönlicher; darin hatte ich einen schrecklichen Vorfall aus meiner Vergangenheit verarbeitet. Er sollte niemals dazu dienen, dass man damit Geld verdiente. Natürlich hatte Paula nicht auch nur den leisesten Hauch einer Ahnung, dass das Lied von mir handelte, denn ich hatte niemanden erzählt, was damals passiert war. Das sollte auch so bleiben.

„Ja, natürlich ist es das. Ich freue mich, dass ihm der Song gefällt“, log ich deswegen.

Kapitel 4

Unglücklich ließ ich mich in den Sessel in meinem Zimmer sinken. Meine ehemalige Band hatte mich tatsächlich ersetzt, noch bevor ich überhaupt in Ägypten gelandet war. Mein Blick fiel auf meine E-Gitarre, die an die Wand angelehnt stand. Schwerfällig erhob ich mich, schritt auf sie zu und nahm sie in die Hand. Ohne sie an den Verstärker anzuschließen - schließlich wollte ich meinen Vater nicht noch weiter reizen - klimperte ich ein wenig auf ihr herum. Wie von Zauberhand machten sich meine Finger selbstständig und zupften eine bisher unbekannte Melodie. So begann das immer mit meinen Songs. Zuerst erfand ich eine Tonfolge, die ich später mit einem Text versah. Die Stimmung dieses Mal war eindeutig traurig und spiegelte meine eigene Gemütslage perfekt wider.

„Stella, bist du in deinem Zimmer?“, ertönte plötzlich die Stimme meiner Mutter, die zaghaft an meine Tür klopfte.

„Nein, ich bin im Tal der Könige und gerade schwer mit einer Ausgrabung beschäftigt“, erwiderte ich.

Wo sollte ich denn sonst sein? Hier hatte ich keine Freunde, kannte mich überhaupt nicht aus.

„Dann habe ich also doch richtig gehört. Es freut mich, dass du dich schon eingelebt hast. Hast du das Stück selbst komponiert?“ Sie stand vor mir und schaute mich freundlich an.

Mit der Hand deutete ich ihr an, sich zu setzen.

„Mama, ich habe mich noch überhaupt nicht eingelebt. Wir sind doch nicht einmal einen Tag hier. Abgesehen davon werde ich das auch niemals. Ich finde es hier einfach nur grauenhaft. Ich will zurück zu meinen Freunden“, jammerte ich.

„Stella, du klingst gerade wie ein kleines, trotziges Kind. Ich weiß, dass es nicht leicht für dich ist, alles zurückzulassen. Aber du musst uns auch verstehen. Dein Vater und ich träumen schon unser halbes Leben davon, endlich Nofretetes Grab zu finden. Wenn du möchtest, kannst du uns einmal mit zu den Ausgrabungen begleiten. Marik hat das Sagen dort. Er kann es bestimmt arrangieren, dass du mitkannst.“

„Danke, aber da besteht meinerseits absolut kein Bedarf.“

„Na schön.“ Sie starrte zur Decke, was sie immer tat, wenn sie überlegte. „Ach, Marik hat doch Kinder in deinem Alter. Sie können dir bestimmt die Umgebung zeigen“, fügte sie hinzu.

„Ich weiß, dass er Kinder hat. Das hat er mir doch selbst erzählt, aber ich habe keine Lust. Sobald ich achtzehn werde, bin ich sowieso weg.“

„Stella, das haben dein Vater und du gemeinsam; manchmal könnt ihr beide richtige Muffköpfe sein.“

„Kannst du mich nicht einfach alleine lassen? Ich würde gerne noch ein wenig Gitarre üben. Es gibt hier ja sonst nichts, was ich tun kann.“

„Also, Ägypten hat eine Menge zu bieten“, begann meine Mutter, stockte dann jedoch und stand auf.

„Na gut, ich lasse dich alleine. Ich denke nur, du solltest deinem neuen Zuhause eine Chance geben. Ich wette, an deinem Geburtstag möchtest du gar nicht mehr fort von hier“, meinte sie.

„Die Wette hast du schon verloren. Ich werde definitiv an meinem achtzehnten Geburtstag nach Deutschland zurückkehren“, entgegnete ich und widmete mich wieder meiner Gitarre.

Mit einem dramatischen Seufzer verließ meine Mutter das Zimmer.

 

Die nächsten Tage verbrachte ich schmollend wie ein Kleinkind in meinem Zimmer. Nur wenn es Essen gab, raffte ich mich auf, um kurz einen kleinen Happen zu mir zu nehmen. Irgendwann konnten meine Eltern es nicht mehr länger mit ansehen und setzten Mariks älteste Tochter Samira auf mich an, die etwas mit mir unternehmen sollte.

„Also, worauf hast du Lust?“, fragte diese und schaute mich mit einem breiten Grinsen im Gesicht an.

Darauf, dass du mich in Ruhe lässt, dachte ich und mein Blick wanderte zum Fenster.

Die Absätze von Mamas Schuhe klackerten laut auf dem Parkettboden, als sie in mein Zimmer stöckelte. „Stella, so geht das nicht weiter. Du musst endlich raus aus deinem Zimmer; du kannst nicht die ganze Zeit im Haus hocken. Samira wird dir jetzt ein wenig die Umgebung zeigen.“

Sie wandte sich Samira zu: „Zeig Stella doch die Memnom-Kolosse!“

„Das ist eine tolle Idee, du wirst beeindruckt sein.“

„Garantiert nicht“, zickte ich, schnappte mir meine Gitarre, die meine Mutter mir sofort entriss.

„Stella, genug mit diesem kindischen Verhalten! Du wirst mit Samira die Memnom-Kolosse besuchen. Dein Vater und ich werden keine Ausrede dulden.“

Oje, sie klang richtig sauer. Normalerweise war es mein Vater, der den autoritären Erziehungsstil einsetzte. Meine Mutter hielt davon wenig und versuchte es vor allem mit Verständnis. Ich war immer überzeugt gewesen, dass sie gar nicht ausrasten konnte, so als hätte sie ein Immer-ruhig-Gen. Aber allem Anschein nach, hatte ich mich da gewaltig geirrt. Tief in ihrem Innern brodelte ein Vulkan und wenn der Druck zu groß war, brach dieser aus. Im Moment schien das der Fall zu sein.

Ganz langsam stand ich auf und bemerkte sofort ein taubes Gefühl in meinem rechten Bein; da hatte ich wohl ein klein wenig zu lange falsch gesessen. In Gedanken schrieb ich mir selbst ein Memo, dass ich mich nächstes Mal vernünftig setzen sollte.

Lachend zog mich Samira mit sich. „Das wird so klasse. Die beiden Statuen sind riesig und sehenswert. Sie werden dir gefallen.“

„Das wage ich zu bezweifeln“, entgegnete ich gelangweilt.

Was sollte schon sehenswert an zwei Statuen sein, die vor über dreitausend Jahren oder so erbaut worden waren?

 

Kapitel 5

„Es ist überhaupt nicht weit bis zu den Memnom-Kolossen“, sagte Samira, in deren kleinen, gelben Auto wir nach Kom el-Hetan fuhren.

„Warum heißen die überhaupt Memnom-Kolosse? Memnom ist doch aus der griechischen Mythologie“, erwiderte ich.

Eigentlich sollte es überhaupt nicht interessiert klingen, sondern ich wollte ihr damit nur zeigen, dass ich mich auch etwas in Geschichte auskannte. Schließlich hatten meine Eltern stets versucht, mich auch für vergangene Kulturen zu begeistern - wenn auch erfolglos.

Doch Samira fasste es komplett falsch auf. Sie dachte doch tatsächlich, dass ich Lust an einer kleinen Geschichtsstunde hatte.

„Eine gute Frage. Den Namen bekamen die Statuen von griechischen Reisenden, die vor allem in den Morgenstunden Geräusche aus dem nördlichen Koloss gehört hatten und deshalb im Glauben waren, dass Memnoms Geist in dieser Statue lebte und seine Mutter Eos, die Göttin der Morgenröte, rief. Im Lateinischen ist sie besser als Aurora bekannt.“

„Das weiß ich selbst“, unterbrach ich sie hastig, bevor sie mich noch weiter zutextete.

„Das ist gut. Ich finde es toll, wenn sich jemand für Geschichte und Kultur interessiert. Ich selbst möchte einmal Archäologie studieren“, erzählte sie.

„Tja, ich interessiere mich nicht die Bohne für Geschichte.“

„Echt nicht? Was magst du denn dann?“

„Ich bin… war Leadgitarristin von Invisible Spirit.“

„Uh, toll. Und was habt ihr so für Songs gecovert?“

Empört schaute ich sie an. „Wir covern keine anderen Bands, sondern spielen ausschließlich eigene Songs. Okay, wegen des Umzuges musste ich die Position ja leider abtreten.“

„Also, wenn du eine neue Band gründen möchtest…“, begann Samira, doch ich schnitt ihr sofort das Wort ab: „Danke nein, da habe ich absolut keine Lust dazu.“

„Warum bist du nur so schlecht gelaunt? Es hat dir keiner etwas getan. Ja, es ist bestimmt schlimm für dich, dass du dein altes Zuhause verlassen musstest. Trotzdem ist das noch lange kein Grund, deine Familie und deine anderen Mitmenschen so anzuzicken. Ich wollte nur freundlich sein, damit dir der Start hier etwas leichter fällt; aber du bist so stur und siehst gar nicht, wie schön es hier ist. Weißt du, ich spiele auch ein Instrument, also Jazz-Bass. Ich habe mir nur gedacht, weil du ja selbst gerne spielst, könnten wir zusammen eine neue Band gründen. Aber jetzt glaube ich, das ist keine so gute Idee. Wer will schon so einen Muffkopf in seiner Band?“

Die Ansage hatte gesessen und ließ mich keine Antwort darauf finden.

Tief in mir wusste ich, dass ich ungerecht gegenüber meinen Eltern war. Sie liebten ihre Tätigkeit als Archäologen und hatten schon immer davon geträumt; doch ich konnte nicht eingestehen, dass ich es übertrieben hatte. Das kleine Männchen der Sturheit stachelte mich dazu viel zu sehr an; deshalb stieß ich nur Luft aus meiner Nase und verschränkte meine Arme vor der Brust.

Samira stellte ihren Wagen ab und zog den Zündschlüssel. „So, da wären wir.“ Ihre Stimme klang alles andere als freundlich, sondern hatte einen unterkühlten Klang angenommen.

Ich öffnete die Beifahrertür und stieg aus, als mir auch schon die ägyptische Hitze entgegenschlug. Verdammt, warum hatte ich auch eine lange, schwarze Jeans und ein dunkles Shirt mit Dreiviertelarm, dafür keinen Hut, an? In dieser Montur würde ich es wohl kaum zehn Schritte schaffen, ohne wegen eines Hitzschlags zusammenzubrechen.

Mühsam versuchte ich Samira, die eine leichte Tunika trug, zu folgen. Ihr schien das Wetter keine Probleme zu bereiten. Sie hatte allerdings auch ihr gesamtes Leben hier verbracht und wusste, wie man sich entsprechend kleidete.

„Das sind die Memnom-Kolosse“, erklärte sie mir und zeigte auf zwei riesige Statuen.

Die Größe der Kolosse machte mich sprachlos, denn sie waren zugegebenermaßen beeindruckend.

„Ich habe dir doch gesagt, sie sind beeindruckend“, grinste Samira und ich konnte nur stumm nicken.

„Damit hätte ich nicht gerechnet. Wie konnten sie so etwas nur bauen?“, murmelte ich.

„Hast du dich nie genauer über die Arbeit deiner Eltern informiert?“, wollte sie wissen.

Heftig schüttelte ich den Kopf. „Noch nie.“

„Die beiden Statuen sind Überbleibsel eines riesigen Tempelkomplexes, des Tempels von Amenhotep III.“

„Wo ist dieser Tempel jetzt?“, hakte ich neugierig nach.

„Er wurde durch Erdbeben, Überflutungen und Plünderungen zum Bau von anderen Tempeln zerstört.“

„Schade, ich hätte diesen Tempel gerne in seiner vollen Pracht gesehen.“

Samira warf mir einen ungläubigen und irritierten Blick zu.

Sofort nahm ich wieder meine reservierte Haltung an. „Naja, egal, so toll wird er jetzt auch nicht gewesen sein.“

 

Als Samira mich in meinem neuen Zuhause absetzte, eilte ich sofort ins Bad. Die Frage meiner Mutter, wie es mir gefallen hatte, ignorierte ich wie ein Ochse, dem man ins Horn piekte. Stattdessen schlüpfte ich hastig aus meinen Klamotten und stellte mich unter die Dusche, um den Schmutz und Gestank, der an mir haftete, wegzuspülen. Dabei erinnerte ich mich an die beiden Memnom-Kolosse, die einsam in Kom el-Hetan standen. Ihre beachtliche Größe ließ mich erahnen, was für Ausmaße der gesamte Tempelkomplex gehabt haben musste. Wie gerne würde ich jetzt in der Zeit reisen können, um ihn vor über dreitausend Jahren als gigantischen Totentempel zu besuchen. Moment, dachte ich gerade ernsthaft über so etwas nach? Das konnte überhaupt nicht sein; ich hatte mich nie für die ägyptische Kultur interessiert, sondern war stets genervt, wenn meine Eltern mir mit Leidenschaft über das Reich der Pharaonen berichten wollten. Okay, zugegeben, ein klein wenig konnte ich ihre Begeisterung schon verstehen. Erstaunlich, wie die alten Ägypter solche Bauwerke ohne moderne Hilfsmittel wie einen Baukran errichten konnten. Vielleicht konnte ich mich doch ein wenig mit diesem Thema auseinandersetzen. Schließlich hatte ich sonst außer Gitarre spielen, was mir allerdings ohne Band kaum Spaß bereitete, nichts zu tun; die Schule würde erst im September beginnen. Da fiel mir auch ein, dass Samira irgendetwas von einem E-Bass erzählt hatte, den sie beherrschte. Die Dusche wirkte wie eine Zaubertafel, die meine trüben Gedanken wegwischte. So langsam kam mir mein Verhalten auch kindisch vor. Ohne Freunde würde ich es hier noch viel weniger aushalten und Samira schien kein schlechter Mensch zu sein. Hoffentlich war sie noch nicht gegangen. Inzwischen konnte ich mir vorstellen, noch einmal etwas mit ihr zu unternehmen, wenn sie dazu überhaupt noch Lust hatte.

Kapitel 6

Nach der erfrischenden Dusche zog ich mein brombeerfarbenes Kleid an, dessen Länge mir knapp über die Knie reichte.

„Ist Samira schon weg?“, fragte ich meine Mutter, die am Herd stand und sich an einem landestypischen Gericht, der Molokhia-Suppe, versuchte.

Dabei war sie alles andere als eine gute Köchin und das Essen so gut wie ungenießbar. Meist endeten ihre Versuche darin, dass wir beim Lieferservice Nasi Goreng oder etwas ähnliches bestellten. Mein Vater dagegen bereitete Essen zu, das man auch schlucken konnte, ohne die Befürchtung zu haben, dass der Magen sonst explodierte, wenn auch er nicht gerade ein Meister darin war.

Meine Mutter schüttelte den Kopf und widmete sich sofort wieder dem Kochtopf. „Samira sitzt draußen auf der Terrasse. Dein Vater und ich haben sie zum Essen eingeladen. Marik und seine beiden anderen Kinder müssten auch jeden Augenblick eintreffen. Wir hoffen sehr, dass du dich für den Rest des Tages zusammenreißt. Marik ist ein guter Freund von uns und wir möchten nicht, dass er von deiner miesen Laune vergrault wird.“

„Das schafft schon dein Essen alleine“, murmelte ich und schlurfte auf die Terrasse, um mich mit Samira auszusprechen.

„Samira?“, sprach ich sie zaghaft, fast schüchtern, an.

Kurz drehte sie den Kopf zu mir, wandte sich allerdings sofort wieder dem Nil zu.

Wie ein Kleinkind, das seine ersten Gehversuche unternahm, tapste ich unbeholfen auf sie zu. „Samira, es tut mir leid, dass ich so mies drauf war. Es ist echt nicht leicht für mich, hier ein neues Leben anzufangen. Du hattest recht, das rechtfertigt noch lange nicht mein Verhalten. Ich war wirklich beeindruckt von den beiden riesigen Statuen, obwohl ich mich eigentlich nicht für die ägyptische Geschichte interessiere. Wie schon gesagt, habe ich es mehr mit Musik. Alleine macht das jedoch keinen Spaß. Kennst du vielleicht noch andere, die ein Instrument beherrschen?“

„Woher der plötzliche Sinneswandel? Hat dein Gewissen auf dich eingeredet?“

„Keine Ahnung, das kann schon gut sein. Also, was ist jetzt? Besteht da noch deinerseits Interesse an einer Band?“

Samira erhob sich und bewegte sich auf mich zu. „Ja, warum nicht. Ich habe einige in meinem Freundeskreis, die ein Musikinstrument spielen; ich kann sie gerne mit dir bekannt machen.“

„Das wäre toll. Noch kenne ich hier überhaupt niemanden“, erwiderte ich und wollte von ihr wissen, wie alt sie war.

„Vor einem Monat bin ich neunzehn geworden und du?“, antwortete sie.

„Siebzehn. In sieben Monaten werde ich achtzehn.“

Das erste Eis war jedenfalls schon einmal gebrochen, was garantiert an dieser Hitze lag, die das Land im Moment im Griff hatte.

 

Wenig später traf Marik mit seinen beiden anderen Kindern Tyriq und Chione ein, die genau wie er und Samira schwarze Haare und dunkle Augen hatten. Durch mein dezentes Nachhaken, ob seine Frau heute verhindert war, hatte ich erfahren, dass diese kurz nach Chiones Geburt mit einem Touristen aus Italien durchgebrannt war.

Die liebevoll von meiner Mutter zubereitete Molokhia-Suppe war wie zu erwarten schlichtweg ungenießbar. Marik war sich anscheinend ihrer fehlenden Kochkünste bewusst gewesen, weswegen er Kuschari für uns alle mitgebracht hatte. Das war ein typisches ägyptisches Gericht mit Reis, Nudeln und Linsen, welches mir sehr gut schmeckte. Damit wurde mein Vorurteil, dass alle Archäologen nicht besonders gut kochen konnten, über Bord geworfen und verschwand in den Fluten des Nils.

„Marik, das Essen ist köstlich. Du musst mir unbedingt das Rezept verraten“, lobte meine Mutter, die einen weiteren Happen zu sich nahm und genießerisch die Augen schloss.

„Mama, ganz ehrlich. Wenn du das kochst, wird das niemals so gut schmecken. Du bist vielleicht eine hervorragende Archäologin, aber in der Küche bist du einfach eine lebende Katastrophe“, gestand ich, schnappte mir mein Glas und leerte es in einem Zug.

 

„Alle mal aufgepasst! Das ist Stella aus Deutschland“, stellte mich Samira ein paar Tage später ihren Freunden auf Englisch vor.

Ein Glück, dass ich in Fremdsprachen ziemlich fit war. Neben Deutsch und Englisch sprach ich Dänisch, Tschechisch und Französisch fließend. Das hatte ich meinen Eltern zu verdanken, die darauf großen Wert gelegt hatten. Obwohl sie Archäologen waren, war Geschichte neben Biologie und Bildende Kunst das Fach, das mir in der Schule am wenigsten zusagte. Am liebsten hatte ich immer die Musikstunden gemocht. Hoffentlich wurde das auch hier in Luxor unterrichtet.

Nach und nach lernte ich die Namen der anderen kennen. Samiras beste Freundin Menefer, deren Name schöne Stadt bedeutete - das hatte sie mir sofort stolz erzählt -, spielte Schlagzeug. Sie war klein und zierlich, trug ihre Haare kurz und ihre unbändige Energie ließ sie die Worte nur so aus sich heraussprudeln. Die Aktivität, die sie zu viel hatte, hatte Anna zu wenig, die mir recht schüchtern erschien. Ursprünglich stammte ihre Familie aus Luxemburg. Das wusste ich von Menefer, die ihren Mund kaum zehn Sekunden still halten konnte, und mir versicherte, dass Anna eine wahnsinnig gute Keyboarderin war. Debah, ein großer, schlaksiger Junge mit dunklem Wuschelkopf, übernahm den Part der zweiten E-Gitarre. Sie konnten alle auch Deutsch sprechen, wenn auch nicht so fließend wie Samira.

„Wer von euch wird singen?“, fragte ich und die anderen warfen mir irritierte Blicke zu.

„Keiner von uns kann singen. Ich dachte, du als Leadgitarristin übernimmst das“, meinte Samira schließlich.

Na klasse, das fing ja super mit der Band an.

 

 

 

 

Kapitel 7

Inzwischen wohnten wir schon einige Zeit in Ägypten und so langsam begann ich mich an das Leben hier zu gewöhnen. Jeden Morgen holten mich Samira und Menefer zu einer kleinen Joggingrunde ab. Drei Mal pro Woche war Bandprobe, die wir immer noch mangels Sänger beziehungsweise Sängerin rein instrumental gestalteten. Mein Bruder dagegen verbrachte den ganzen Tag lesend auf der Terrasse und kehrte erst wieder ins Haus zurück, wenn die Abenddämmerung eingesetzt hatte und er die einzelnen Sätze nicht mehr entziffern konnte. Meine Eltern kamen ihren eigenen Aussagen zufolge ziemlich gut mit den Ausgrabungen voran.

„Ich habe ein richtig gutes Gefühl“, berichtete meine Mutter eines Abends, als sie und mein Vater müde und staubig von der Arbeit zurückgekehrt waren. „Wir sind auf einen Eingang zu einem Grab gestoßen. Es wird nicht mehr lange dauern und wir werden es komplett freigelegt haben. Ich bin überzeugt davon, dass es sich hierbei um das Grab von Nofretete handelt.“

„Das freut mich für dich“, erwiderte ich.

Sie umarmte mich stürmisch und ein unangenehmer Geruch, der von Schweiß und Schmutz getränkt war, stieg mir in die Nase, sodass ich die Luft anhalten musste.

Sie schien meinen Gesichtsausdruck bemerkt zu haben, denn sie hob beschwichtigend die Hände. „Oh, ich denke, ich werde mal schnell unter die Dusche springen.“

Ja, das ist eine gute Idee, dachte ich und suchte mir die Zutaten für unser heutiges Abendessen zusammen.

Samira hatte mir einige leckere Rezepte verraten, die ich sofort ausprobiert hatte. Die Hoffnung, dass meine Eltern passable Speisen auf den Tisch zauberten, hatte ich schon längst begraben. Dafür hatte ich mein Talent dafür entdeckt, das offenbar all die Jahre tief in mir geschlummert hatte.

 

„Wir haben die Grabkammer gefunden.“ Meine Mutter klang am Telefon wie ein begeistertes Kind, das eine riesige Tüte Süßigkeiten bekommen hatte. Anscheinend fand sie die Neuigkeit so aufregend, dass sie mich sofort anrufen musste.

„Schön für euch; dann habt ihr also Nofretete endlich gefunden“, meinte ich, noch müde von gestern, als mir Samira und ihre Freunde unbedingt Luxor bei Nacht, wenn die Tempel beleuchtet waren, zeigen wollten.

„Nun ja, wir sind uns nicht sicher, ob es wirklich Nofretete ist, die wir da gefunden haben. Die Inschriften deuten zwar mehrfach auf sie hin, noch ist es allerdings nicht klar, wer die Mumie ist, die im Sarkophag liegt. Das Grab scheint zum Glück nicht von Grabräubern geplündert und zerstört worden sein.“

Die Begeisterung ließ sie die Worte nur so aus sich heraussprudeln, während ich Mühe hatte, meine Augen aufzuhalten.

„Das klingt interessant“, gähnte ich und hockte mich auf die Couch, da ich die Befürchtung hatte, sonst noch im Stehen einzuschlafen.

„Stella, leider muss ich wieder; die Arbeit ruft. Wir reden heute Abend weiter. Mach´s gut. Ich hab dich lieb“, säuselte meine Mutter.

„Das verstehe ich, Mama. Tschüss, ich hab dich auch lieb.“

Gerade schlurfte Daniel mit einem Glas Wasser vorbei. „War das Mama am Telefon?“

„Nein, Osiris. Er will später noch zu einem Stück Kuchen vorbeikommen“, scherzte ich und mein Bruder rollte genervt die Augen.

„Sehr witzig, Stella.“

„Wer sollte es denn sonst gewesen sein? Natürlich war es Mama.“

„Und was wollte sie?“

„Nur mitteilen, dass sie das Grab samt einer Mumie gefunden haben.“

Daniel ließ vor Schreck das Glas fallen, das auf dem Boden in winzige Splitter zerschellte. „Weißt du, was das heißt?“

„Klar, es heißt, dass wir bald die Koffer wieder packen und nach Deutschland zurückkehren.“

„Nein, das ist die Sensation. Nofretetes Grab wurde entdeckt und unsere Eltern waren daran beteiligt.“

„Komm mal wieder runter! Da oben ist die Luft doch bestimmt ziemlich dünn“, entgegnete ich.

„Meinst du, wir dürfen uns die Mumie mal anschauen?“, wollte er wissen.

„Bestimmt, spätestens, wenn sie ausgestellt wird.“

„Das ist so aufregend.“

„Bevor du noch vor lauter Aufregung einen Herzinfarkt bekommst, solltest du wissen, dass es vielleicht gar nicht Nofretete ist, die sie gefunden haben. Vielleicht ist es ja jemand ganz Unbedeutendes.“

„Das kann überhaupt nicht sein. Dort wurden nicht irgendwelche Menschen begraben, sondern welche mit Rang und Namen“, klärte mich Daniel auf.

 

Als meine Eltern an diesem Tag nach Hause kamen, überfiel sie Daniel mit der Frage nach der Identität der Mumie.

„Wir wissen es nicht“, antwortete mein Vater, der sich schnell hinter der Zeitung versteckte.

„Schließt ihr aus, dass es sich bei der Mumie um Nofretete handelt?“, wandte sich mein Bruder deshalb an meine Mutter.

Sie zuckte mit den Schultern. „Daniel, wir sind überfragt. Die Hieroglyphen deuten mehrfach ihren Namen an. Trotzdem sind wir uns nicht sicher, ob es tatsächlich Nofretete ist. Fest steht nur, dass es sich um eine weibliche Mumie handelt. Näheres werden hoffentlich die Untersuchungen ergeben.“

„Können wir die Mumie sehen?“

„Wir werden euch mit ins Labor nehmen, wenn ihr uns versprecht, nichts anzufassen.“

Daniel und ich nickten und sagten wie aus einem Mund: „Versprochen.“

 

Nach ein paar Tagen war es soweit und wir durften einen ersten Blick auf die unbekannte Mumie werfen. Als wir uns dem Labor näherten, lief mir ein Schauer den Rücken hinunter. Es war wirklich aufregend, was wir gleich erleben würden. Noch nie hatte ich meine Eltern zu ihrer Arbeit begleitet. Bisher hatte es mich auch nie großartig interessiert. Irgendwie fand ich es dieses Mal richtig spannend. Alleine die Frage, welche Identität sich hinter dieser Mumie verbarg, machte mich schrecklich neugierig. So blieb mir doch tatsächlich die Luft weg, als wir den Raum betraten, in dem eine über dreitausend Jahre alte Tote lag. Sie war recht klein und ich erinnerte mich, dass die Menschen früher nicht so groß wie heute geworden waren.

„Und ihr wisst immer noch nicht, ob das Nofretete ist oder nicht?“, fragte ich fast ehrfürchtig.

Ich empfand es als großes Privileg, diese Mumie vor dem Rest der Welt sehen zu dürfen.

Meine Mutter legte mir den Arm um meine Schultern. „Inzwischen können wir es so gut wie ausschließen, dass es sich hier um Nofretete handelt.“

„Aber wer ist es dann?“, hakte ich nach, während ich das Skelett fasziniert betrachtete.

„Wenn ich das nur wüsste. Schade, dass sie es uns nicht einfach erzählen kann.“

Ja, das würde vieles einfacher machen.

„Aua.“ Daniel schrie plötzlich auf und wir drehten uns erschrocken nach ihm um.

Er hielt sich seine Hand, die heftig blutete. Anscheinend hatte er an einem Skalpell herumgespielt. Manchmal kam er mir wie ein Kleinkind vor, und nicht wie ein fast Achtzehnjähriger.

Meine Mutter eilte wütend zu ihm. „Daniel, ich habe dir doch gesagt, dass du nichts anfassen darfst. Stella, kannst du kurz alleine hier bleiben? Ich muss deinen Bruder verarzten.“

„Äh, äh“, stotterte ich nur, fasste mich jedoch wieder und nickte.

Plötzlich war ich alleine im Zimmer mit der Mumie. Mein Vater hatte uns nicht ins Labor begleitet, sondern war direkt nach unserer Ankunft verschwunden.

Ganz langsam näherte ich mich dem Tisch und entdeckte einen breiten, goldenen Armreif um das rechte Handgelenk der Mumie.

„Ganz schön beeindruckenden Schmuck habt ihr damals gehabt“, flüsterte ich. „Mein bestes Schmuckstück ist nur eine einfache Kette mit einem kleinen Schmetterling.“

Der Armreif schien mich magisch anzuziehen. Zwar wusste ich genau, dass es strengstens verboten war, die Tote anzufassen, doch ich konnte mich nicht dagegen wehren, nahm ihr den Schmuck ab und legte ihn mir selbst an.

„Ach, es wäre wirklich toll, wenn du uns sagen könntest, wer du bist. Ich wünschte mir, es wäre so einfach.“

Ich begutachtete den Armreif, der daraufhin zu leuchten begann. Mir wurde es richtig unheimlich zumute, sodass ich ihn hastig von mir riss und wieder der rechtmäßigen Besitzerin anzog. Erneut schimmerte der Schmuck und hüllte dieses Mal den gesamten Raum in goldenes Licht. Vor Schreck schrie ich auf und torkelte nach hinten, wo ich gegen einen Schrank stieß.

 

 

 

Kapitel 8

„Wo bin ich?“, hörte ich plötzlich eine mir unbekannte Stimme und blickte zum Tisch, wo eben noch die Mumie gelegen hatte. Jetzt saß dort ein Mädchen mit schulterlangen, schwarzen und lockigen Haaren und fasste sich an die Stirn.

„Wie kommst du denn hier rein?“, fragte ich. „Und wo ist die Mumie?“

„Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin. Ich kann noch nicht einmal sagen, wo ich bin“, erwiderte die Unbekannte.

„Wer bist du?“

„Ich bin Prinzessin Anuket, die jüngste Tochter Nofretetes.“

Oh Gott, was träumte ich denn da gerade für einen Unsinn? Kräftig petzte ich mir in meinen Unterarm, was mir zwar weh tat, mich allerdings nicht aus diesem schrägen Traum aufwachen ließ, in dem ich einer altägyptischen Prinzessin gegenüber stand.

„Ha ha, sehr witzig. Also echt jetzt, wer bist du?“, wollte ich erneut wissen.

„Wie sprichst du mit mir? Du scheinst keine Prinzessin zu sein.“

„Nein, ich bin keine Prinzessin; darüber bin ich auch froh. Wie war gleich noch mal dein Name?“

„Anuket. Ich bin eine Tochter von Königin Nofretete.“

„Aber klar doch, du bist Anuket, eine Tochter von Nofretete. Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, dass Nofretete eine Tochter namens Anuket hatte“, meinte ich und durchwühlte mein Gedächtnis nach einer solchen Information.

Nein, mir war nichts darüber bekannt.

„Ich bin die jüngste Tochter und meine Geschwister schauen mit Neid auf mich. Meine Mutter hat eine besonders enge Beziehung zu mir. Sie ist überzeugt, dass ihre anderen Töchter nach meinem Leben trachten und deswegen hat sie einen Plan gefasst, mich an einen sicheren Ort bringen zu lassen. Man hat uns in einen Hinterhalt gelockt. Mehr weiß ich nicht“, erzählte das Mädchen, das sich selbst Anuket nannte, weshalb ich beschloss, ihr ebenfalls diesen Namen zu geben.

„Anuket, richtig? Das klingt ja alles spannend und meine Eltern könntest du stundenlang von dieser Theorie erzählen. Ich muss erst mal aus diesem verrückten Traum aufwachen.“

Anuket musterte mich genau. „Was hast du nur für seltsame Gewänder an?“

„Die Frage gebe ich gerne zurück an dich. Du bist es doch, die so komisch herumläuft.“

Sie trug ein bodenlanges, blaues Kleid mit goldener Schärpe und an ihrem rechten Arm trug sie einen breiten Armreif.

Ich musste heftig schlucken. Diesen Armreif hatte ich mir doch umgelegt, er hatte geleuchtet.

Ja, es musste ein Traum sein. Es konnte gar nichts anders sein. Schließlich sprach diese Anuket deutsch. Ich glaubte kaum, dass die alten Ägypter diese Sprache beherrscht hatten. Nein, dafür war das alles viel zu verrückt. Ich drehte mich um und gab Fersengeld.

 

„Warte!“, rief Anuket, die mir offenbar folgte.

Warum konnte ich nicht einfach aufwachen? Oder war es die Hitze, die mir zu schaffen machte und Halluzinationen bei mir hervorrief? Dabei hatte ich gedacht, dass ich die hohe Temperatur in Ägypten inzwischen gut verkraften konnte.

Für einen Moment drehte ich mich um. Da stand diese komische Person, die behauptete, Nofretetes jüngste Tochter zu sein. Am besten ließ ich mich freiwillig in die Irrenanstalt einweisen. Plötzlich prallte ich gegen ein Hindernis. Ja, ich war eindeutig verrückt; jetzt rannte ich schon gegen imaginäre Mauern.

„Stella, alles in Ordnung?“, fragte mich eine Frau, deren Stimme mich sehr an meine Mutter erinnerte.

Ich sah sie mir genauer an. Es war meine Mutter, mit der ich zusammengestoßen war.

Statt ihr zu antworten, rang ich nach Luft.

„Wer ist das denn?“, wollte Daniel wissen und zeigte mit dem Finger in meine Richtung.

Ganz zögerlich drehte ich mich um und erblickte Anuket.

„Ihr seht sie auch?“, wunderte ich mich.

Bedeutete das etwa, dass meine ganze Familie irre war?

„Ja, warum sollte ich nicht? Warum hat sie überhaupt so merkwürdige Sachen an?“, entgegnete mein Bruder.

Auch meine Mutter warf irritierte Blicke zu dem unbekannten Mädchen.

„Ich bin Anuket“, begann die Möchtegern-Prinzessin.

„Und sie verkleidet sich gerne als Kleopatra“, unterbrach ich sie hastig, bevor sie mit

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Tina Waldt
Bildmaterialien: Tina Waldt
Tag der Veröffentlichung: 24.02.2015
ISBN: 978-3-7396-2506-5

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Fabian, meinen treuesten Testleser

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