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Prolog

„Das zweite Baby ist auch ein Junge“, sagte die Hebamme, nahm das Neugeborene und wickelte es in das Tuch ein.

Manula war völlig erschöpft von der schwierigen Geburt und konnte kaum die Augen aufhalten.

Mario drückte die Hand seiner Frau. „Das hast du ganz toll gemacht, Liebling.“

„Ich weiß, dass ich nicht mehr lange zu leben habe. Ich würde nur vorher gerne mein zweites Baby sehen“, seufzte Manula.

„Sag das nicht! Du schaffst es“, erwiderte ihr Mann.

Doch sie schüttelte den Kopf und schloss für einen Moment die Augen.

„Wir brauchen uns da nichts vormachen.“

Eine Träne lief ihre Wange herunter und Mario wusste, dass Manula recht hatte. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit.

„Warte, Liebling! Ich werde den Kleinen holen“, meinte er und ging zu den Säuglingen.

Als er in das Gesicht des zweiten Babys blickte erschrak er.

„Oh nein. Das darf nicht wahr sein“, dachte er.

Ohne lange zu überlegen nahm er seinen erstgeborenen Sohn und zeigte ihn seiner Frau. Der Hebamme gab er ein Zeichen nicht zu verraten, dass es nicht das jüngere Kind war.

Manula betrachtete voller Stolz ihren Sohn. „Sie sehen beide genau gleich aus. Ich bin froh, dass sie verschont wurden.“

Jetzt konnte auch Mario die Tränen nicht mehr zurückhalten.

„Manula, Liebling, du wirst es schaffen“, wiederholte er, aber seine Stimme zitterte.

„Ich liebe dich. Pass gut auf unsere beiden auf und erzähl ihnen immer, dass ich sie geliebt habe!“ Mit diesen Worten schloss sie ihre Augen für immer.

Mario hielt die Hand seiner toten Frau fest gedrückt, während er unaufhaltsam schluchzte. Er war nur froh, dass sie nicht erfahren hatte, dass ihr zweiter Sohn der Verfluchte war.

Es war ihm klar, was er zu tun hatte. Der Zweitgeborene musste verschwinden. Es durfte niemals geschehen, dass sich der Fluch erfüllt.

„Anne, ich muss kurz weg. Bitte passen Sie so lange auf meinen Sohn auf!“, befahl er der Haushälterin.

„Sie meinen Ihre Söhne?“, fragte Anne.

„Nein, ich meine es genauso, wie ich es gesagt habe“, erwiderte Mario.

Sie betrat mit einem Tablett, auf dem eine Kanne und zwei Tassen standen, den Raum. „Wie meinen Sie das?“

Sie versuchte einen Blick auf das Bündel in seinen Armen zu erhaschen.

Er versuchte, das Gesicht des Säuglings zu verbergen, aber seine Haushälterin konnte die Augen erkennen. Vor Schreck ließ sie das Tablett fallen.

„Das ist doch nicht…“, begann sie und stockte dann.

„Niemand darf davon erfahren. Hören Sie, niemand“, ermahnte Mario.

„Aber, was haben sie mit dem Kleinen vor?“, wollte Anne wissen, obwohl sie es sich eigentlich denken konnte.

„Ich werde dafür sorgen, dass sich der Fluch niemals erfüllen wird“, entgegnete er.

„Nein! Sie können ihn doch nicht…“

„Es muss sein“, unterbrach er sie.

Mario stapfte nach draußen. Die Nacht war sternenklar. Nicht weit von seinem Haus entfernt lag eine tiefe Schlucht.

Er stellte sich davor, bereit das kleine Baby hinunterzuwerfen.

Es schrie wie am Spieß und Mario versuchte es zu beruhigen.

„Es tut mir leid. Aber du bist nun mal der Verfluchte. Du darfst nicht weiterleben. Du wirst Unglück bringen.“

Doch plötzlich bekam er Skrupel. Obwohl er sich des Fluches bewusst war, brachte er es einfach nicht übers Herz seinen Sohn, sein eigen Fleisch und Blut, zu töten. Also eilte Mario nach Hause, wo ihn Anne schon ungeduldig erwartete. Als sie entdeckte, dass er den Säugling bei sich hatte, atmete sie erleichtert auf.

„Dem Himmel sei Dank. Sie haben es nicht getötet“, murmelte sie.

Er drückte ihr seinen Zweitgeborenen in die Arme.

„Nehmen Sie ihn und verschwinden Sie von hier, so weit weg wie nur möglich! Ziehen Sie ihn wie ihren eigenen Sohn auf, aber erzählen Sie niemanden, wer er wirklich nicht, nicht einmal ihm selbst! Er darf niemals von dem Fluch erfahren. Vielleicht haben wir Glück und der Fluch wird sich nicht erfüllen. Nehmen Sie mein Pferd!“, forderte Mario.

Anne gehorchte. Sie packte ein paar ihrer Sachen zusammen, während er das Pferd sattelte. Anschließend stiefelte sie mit dem Säugling aus dem Haus, bestieg die schwarze Stute und ritt davon, ohne auch nur einen Blick zurück zu riskieren.

„Kein Angst, mein Kleiner! Ich werde dafür sorgen, dass sich der Fluch nicht erfüllt“, flüsterte sie zu dem Baby.

Sie beschloss ihn Espérance zu nennen – Hoffnung.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.10.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für LuckyGirl123, die sich von mir ein Buch über Gestaltwandler gewünscht hat. Ich hoffe, es gefällt dir :-)

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