Cover

Vorwort der Autorin

In diesem Fantasyroman, der mein Debüt ist, habe ich eine wahre Begebenheit eingebaut. Die Sache mit Emanuel hat sich so ähnlich bei einer Bekannten von mir ereignet. Zu dieser Zeit habe ich gerade an diesem Buch geschrieben und als ich davon gehört habe, habe ich sie gefragt, ob ich es in Chayennes Geheimnis verwenden darf. Die Erlaubnis habe ich, jedoch darf ich die richtigen Namen nicht nennen, was ich gut verstehe.

Vielen Dank, dass ich deine unglaubliche Geschichte in meinem Buch einbauen durfte.

Alle anderen Handlungen und Personen sind frei erfunden.

Vom Schreibstil her, ist Chayennes Geheimnis anders als meine anderen Bücher. So spricht die Protagonistin öfters den Leser direkt an, was in Klammern und Kursivschrift steht.

Das Zitat über die Zugvögel in Kapitel 82 stammt aus dem isländischen Kinderfilm Emil und der kleine Skundi.

Prolog

Es schüttete wie aus Kübeln an diesem Samstagabend. Eine zierliche Person schlich durch den Regen, die Regenkappe tief ins Gesicht gezogen. Es war Chayenne Sommer. Die Zwanzigjährige wollte nur noch weg - weg von ihrer Familie, weg von diesem Ort - einfach nur weg, so weit es möglich war. Sie hoffte, dass niemand ihr Verschwinden so schnell bemerken würde. Kurz blickte sie zurück. Sie konnte nichts erkennen. Wann würde ihre Familie sie vermissen?

„Nie, nie, nie“, sagte Chayenne laut und hielt sich sofort die Hand vor den Mund. Hatte das jemand gehört?

Wer ist schon so verrückt und läuft bei so einem Wetter draußen herum?, dachte sie und lachte auf.

Nein, die Bewohner saßen wahrscheinlich gemütlich vor dem Kamin, tranken Tee oder spielten Brettspiele mit ihren Kindern. Niemand würde ihr begegnen. So stapfte sie tapfer weiter.

Nur nicht wieder zurückschauen, überlegte sie.

Als sie bereits eine Stunde unterwegs war, blieb sie einen Moment stehen. „Hoffentlich hört der Regen bald auf“, murmelte sie.

Da klingelte ihr Handy und zeigte eine eingegangene SMS an. Erschrocken las sie die Nachricht, aber es war nur der Hinweis ihres Mobilfunkanbieters, dass sie ihr Guthaben bald wieder aufladen sollte.

Chayenne warf das Handy fort. Man konnte sonst vielleicht noch zurückverfolgen, wo sie war, und gefunden werden wollte sie unter keinen Umständen.

„Jetzt beginnt mein neues Leben“, wisperte sie zuversichtlich. 

 

Kapitel 1

- Fünf Jahre später -

 

„Oh nein, nicht schon wieder Montag“, stöhnte ich, als der Wecker um 5:30 Uhr klingelte und mich aus meinen Träumen riss.

Ich blickte mich um, Robin war natürlich schon längst auf. Er war ein Frühaufsteher, während ich der Gattung Morgenmuffel angehörte.

Robin Winter war seit sechs Monaten mein Freund und achtundzwanzig Jahre alt. Vor einem Jahr hatten wir uns kennengelernt und uns sofort gut verstanden. Wir hatten die gleichen Interessen. So liebten wir beide das Schwimmen - auch wenn er mir da nie hinterherkam, wenn ich durch das Wasser flog.

Vielleicht sollte ich mich kurz vorstellen, bevor sich die Leser noch fragen, wer diese Geschichte überhaupt erzählt.

 

Mein Name ist Chayenne Sommer. (Dass mein Freund mit Nachnamen Winter heißt, ist wirklich ein Zufall!!!) Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt oder jung, je nachdem, wie man das sieht. Ich wohne hier seit fünf Jahren. Meine alte Heimat liegt über vierhundert Kilometer entfernt. Meine Familie habe ich seit dem Umzug nicht mehr gesehen und das ist auch gut so. Ich habe mir hier ein neues Leben aufgebaut und arbeite in der Exportabteilung eines großen Industrieunternehmens, der Dream Sky GmbH, die Elektronikteile herstellt.
Aber jetzt weiter zur Geschichte…

 

„Chayenne, aufstehen!“, dröhnte die Stimme von Robin. „Es ist so ein wunderschöner Tag.“ Mit seiner gut gelaunten Stimmung schon am frühen Morgen machte er mich nur noch muffeliger.

„Noch zwei Minuten“, nuschelte ich noch halb im Tiefschlaf und drückte das Kopfkissen gegen mein Gesicht.

Robin lachte und riss es an sich. „Nichts da, das Frühstück steht schon auf dem Tisch.“

Er sah mich mit seinen braunen Augen an. Das rechte war dunkler als das linke, doch das konnte man nur erkennen, wenn man ihm tief in die Augen blickte. Er reichte mir die Hand und zog mich aus dem Bett. „Möchtest du zuerst duschen?“, fragte er, nahm eine meiner rötlichen Haarsträhnen (meine Naturhaarfarbe, nur so am Rande) und wickelte sie um seinen Zeigefinger.

„Lass das!“, sagte ich leicht mürrisch. „Ich gehe jetzt duschen. Heute Abend schläfst du bitte wieder bei dir zu Hause.“

Ich zog den Ring an, den mir Robin zu meinem Geburtstag geschenkt hatte, und streifte das schwarz-weiße Freundschaftsarmband von meiner besten Freundin Hannah über, anschließend ging ich ins Badezimmer.

Nein, wir hatten keine gemeinsame Wohnung, er hatte nur bei mir übernachtet. Wir waren ja erst seit einem halben Jahr zusammen. Ob wir jemals zusammenziehen würden, war fraglich, denn ich brauchte meinen Freiraum.

Wenigstens fragte er mich nicht nach der Zeit vor dem Umzug. Einmal hatte er es versucht, aber ich hatte sofort abgeblockt. Ich wollte einfach nicht darüber sprechen. Robin gab sich damit zufrieden; er meinte, wenn ich soweit wäre, würde ich ihm schon alles erzählen. Naja, sollte er schön weiterträumen.

Ich griff nach dem Etui mit meinen Kontaktlinsen, denn ohne sie war ich blind wie ein Maulwurf. Als ich sie endlich an der richtigen Stelle im Auge hatte, schaute ich in den Spiegel.

(Ja, ich hatte immer noch Schwierigkeiten, sie einzusetzen.)

Sofort fiel mein Blick auf die riesige Narbe, die quer über meine ganze Stirn verlief. Ich versuchte sie manchmal zu überschminken, obwohl Robin meinte, diese Narbe würde mich einzigartig machen. Er säuselte auch immer, dass er meine roten Haare und grünen Augen - so grün wie Algen - liebte. Doch er musste das sagen, schließlich war er mein Freund. 

 

 

Kapitel 2

Auf der Arbeit sah ich im 5-Minuten-Takt auf die Uhr. Der Tag zog sich wie Kaugummi. Im Moment gab es kaum etwas zu tun, sodass ich froh war, wenn wenigstens einmal das Telefon klingelte. Das geschah heute leider nur selten.

Endlich erklang der Feierabendton. Richtig gelesen, um Punkt 16:00 Uhr ertönte die Klingel, damit auch wirklich jeder verstand, dass nun Feierabend war und die Mitarbeiter sich ausstempeln sollten. Unsere Chefin Nathalie Sinclair hasste es, wenn sie Überstunden bezahlen musste und verlangte dies, soweit möglich, zu vermeiden.

Ich eilte zur Stempeluhr, vor der sich eine kleine Schlange gebildet hatte. Offenbar wollte heute jeder schnell nach Hause, es war aber auch ein herrlicher Frühlingstag.

Vera stiefelte auf mich zu. „Hey Chayenne“, grüßte sie mich.

Vera war eine nette Arbeitskollegin, die im Einkauf tätig war. Sie war sechsundzwanzig, hatte gürtellange, rabenschwarze Haare und bernsteinfarbene Augen. Ihre Haut war auch im Sommer stets blass und sie erinnerte mich immer an Schneewittchen.

(Das war wirklich nicht böse gemeint. He, schon vergessen? Schneewittchen war die Schönste im ganzen Land, außerdem war ich selbst ein heller Hauttyp.)

Ich hielt meinen Chip an die Stempeluhr und drückte auf Ende. „Oh hallo Vera. Na, bist du auch froh, dass endlich Feierabend ist?“

Sie nickte. „Und wie! Wie sieht´s aus? Hättest du Lust, nachher mit mir ins Tazzo zu gehen? Wir könnten mal wieder so richtig abtanzen.“

„Normalerweise gerne, aber ich bin nachher schon mit Hannah verabredet. Wir wollten Eis essen gehen.“

Vera sah enttäuscht aus. „Schade, dann vielleicht ein anderes Mal. Wir sehen uns.“

„Vera, warte!“ Okay, Hannah würde nicht begeistert sein. Sie konnte Vera nicht besonders gut leiden und zog immer über sie her. Wir hatten uns zweimal zu dritt getroffen und meine beste Freundin hatte hinterher gesagt, dass Vera eine blöde Kuh wäre.

(Und andere Dinge, die ich hier besser nicht erwähne.)

Ich wusste nicht, was Hannah gegen meine Arbeitskollegin hatte. Robin meinte, dass sie eifersüchtig wäre. Drei Mädels zusammen, das würde nämlich nie gut gehen, denn eine würde sich immer ausgeschlossen fühlen. Aber ich hatte Mitleid, außerdem mochte ich Vera und unternahm auch in meiner Freizeit gerne etwas mit ihr.

„Du könntest ja vielleicht mitkommen“, schlug ich vor.

Sofort drehte sich Vera um. „Wirklich? Das würde dir auch nichts ausmachen?“

„Nein, nein, und Hannah freut sich bestimmt auch. Sie kann dich doch so gut leiden.“

„Abgemacht. Wann und wo treffen wir uns denn?“, wollte sie wissen.

„He Tratschtanten, versperrt hier nicht den Weg! Andere wollen heim“, maulte da Ben, der Leiter der Marketing-Abteilung. Ich mochte ihn nicht. Ja, vielleicht hasste ich ihn sogar. Er war so ein Stinkstiefel. Um weiteren Stress zu vermeiden, ging ich zur Seite, um dem werten Herrn Abteilungsleiter den Heimweg freizugeben. Dieser stapfte sofort los, wobei er irgendetwas murmelte. Wenn ich ihn richtig verstanden hatte, war es „Tratschweiber“.

(War er nicht wirklich entzückend nett?)

„Also… wo waren wir stehengeblieben?“, fragte ich und schritt auf die Tür zu, schließlich wollte ich selber endlich nach Hause.

Vera folgte mir. „Wo und wann wir uns treffen.“

„Ach ja… um 18:00 Uhr… Eisdiele Fragola.“

„Schön, ich freue mich.“

„Na dann, bis heute Abend“, sagte ich und stieg in mein Auto; ich musste mir auf der Heimfahrt überlegen, wie ich das Hannah beibringen sollte.

 

 

Kapitel 3

Meine Wohnung lag in Baumwald, einer kleinen Stadt in der Nähe von Willental. Hier waren die Mieten viel niedriger, was der Hauptgrund gewesen war, warum ich mich gerade hier niedergelassen hatte. Baumwald hatte rund 15.000 Einwohner, während in Willental fast eine halbe Million Menschen lebten.

Ich brauchte eine gute halbe Stunde bis nach Hause, was normal für diese Strecke und diese Uhrzeit war. Ich parkte mein Auto, einen blauen Kleinwagen, vor dem Haus, suchte nach dem Haustürschlüssel und ging auf die Tür zu.

„Chayenne, he Chayenne. Bist du taub?“ Robin lief auf mich zu.

„Was machst du hier?“, fragte ich verdutzt. „Heute ist Mädelsabend, keine Männer erlaubt. Das wusstest du doch. Ich komme morgen direkt nach der Arbeit bei dir vorbei. Bitte geh! Ich rufe dich später an.“

Er lachte. „Ich weiß, ich weiß. Ich wollte dir nur noch schnell die Reiseprospekte vorbeibringen.“

„Wofür?“, wollte ich wissen.

„Na, für unseren ersten gemeinsamen Urlaub.“

„Robin, dafür habe ich im Augenblick keine Zeit. Lass uns das doch am Wochenende in Ruhe klären! Dann können wir das auch zusammen nachschauen.“

„In Ordnung. Bis morgen.“

„Bis morgen.“ Ich hauchte ihm noch schnell einen Kuss auf die Wange und rannte dann ins Haus.

Da ich keine Lust zu kochen hatte, schob ich einfach schnell eine Tiefkühlpizza in den Ofen, danach rief ich Hannah an, um ihr zu erzählen, dass Vera auch mitkam.

„Zakdoken“, meldete sie sich.

„Hannah, ich bin´s, Chayenne.“

„Halli hallo, Chayenne“, grüßte sie lachend. „Was gibt es denn? Du hast doch nicht etwa vor abzusagen?“

Ich schüttelte heftig den Kopf, obwohl ich ja wusste, dass Hannah das nicht durch das Telefon sehen konnte.

„Nein, würde ich doch nie machen“, stammelte ich. „Ich wollte dir nur sagen, dass…. ähm…, also, dass…“

„Chayenne, drück dich mal klar aus! Sag einfach, was los ist!“, entgegnete sie bestimmend.

„Na gut, okay es kommt noch jemand mit“, platzte es da aus mir heraus.

„Moment!“ Hannah schrie fast in den Hörer. „Was soll denn jetzt der Mist? Es soll ein Mädelsabend werden, das haben wir doch so ausgemacht. Ich nehme ja auch nicht meinen Verlobten mit.“

„Hannah, beruhige dich. Ich habe ja nicht gesagt, dass ich Robin mitnehme.“

„Sondern? Mensch, Chay, lass dir nicht alles aus der Nase herausziehen!“, hakte Hannah nach.

„Eine Arbeitskollegin.“ Ich versuchte es so gut es ging in die Länge zu ziehen. Aber Geduld zählte wirklich nicht zu den Stärken meiner besten Freundin. Im Gegenteil, sie konnte sich furchtbar schnell aufregen und warf dann ihren Mitmenschen alle möglichen Dinge an den Kopf (und das wortwörtlich). Den Jähzorn hatte sie von ihrer Mutter geerbt, hatte ich einmal von ihr erfahren.

„Chayenne, SAG ES ENDLICH!“, fauchte sie.

Ich wollte ihre Nerven nicht noch weiter strapazieren. Als sie das letzte Mal ausgerastet war, hatte sie die alte Taschenuhr ihrer Großmutter aus dem Fenster geworfen. Zum Glück konnte sie wieder repariert werden. Aber wer konnte erahnen, welcher Gegenstand dieses Mal daran glauben müsste.

„Vera“, flüsterte ich zögerlich und spielte nervös mit meinem Armband.

„Wie war das? Wer? Chayenne, ich habe kein Wort verstanden.“

„Vera“, teilte ich lauter mit.

Hannah äußerte sich zunächst nicht, also fragte ich nach: „Hannah? Bist du noch da? Hast du mich gehört?“

„Ja. Vera, also, einverstanden.“

Ich konnte es gar nicht glauben, doch sie versicherte mir, dass es ihr nichts ausmachte.

„Ich muss einfach netter werden und heute würde ich gerne damit anfangen. Wir unternehmen dann also eben etwas zu dritt. Nach dem Eis essen können wir noch ins Tazzo, wenn ihr beiden wollt“, meinte sie.

„Hannah, was haben sie mit dir gemacht? So nett kenne ich dich gar nicht“, kicherte ich.

„Tja, eigentlich war ich schon immer ein herzensguter Mensch, das hat nur bisher niemand bemerkt“, erwiderte sie.

Dann mussten wir beide losprusten, Hannah war einfach meine beste Freundin.

 

 

Kapitel 4

Hannah sollte um 17:30 Uhr bei mir eintreffen. Doch wie ich sie kannte – und ich kannte sie sehr gut, schließlich waren wir seit vier Jahren die besten Freundinnen – würde sie zehn Minuten früher bei mir auf der Matte stehen.

Als es um 17:19 Uhr an der Haustür klingelte, musste ich deshalb grinsen. Ich hüpfte wie ein kleines Kind an die Tür.

(Für alle, die jetzt genervt die Augen rollen: Manchmal muss das eben sein. Das Leben ist schon ernst genug.)

Es war tatsächlich Hannah. Ich umarmte sie zur Begrüßung und bat sie hinein. Sie ließ sich auf den Schaukelstuhl plumpsen, den ich vor kurzem von Robin geschenkt bekommen hatte.

Hannah war wie ich fünfundzwanzig Jahre alt, hatte kurze, hellbraune Haare und graue Augen. Heute hatte sie ein gelbes Kleid an, welches super zu ihrer gebräunten Haut passte. Seit sie Gustav vor zwei Jahren kennengelernt hatte, ging sie nämlich regelmäßig ins Solarium. Seit einigen Wochen waren die beiden sogar verlobt. Gustav war siebenundfünfzig und Bankdirektor. Für Hannah hatte er seine Frau verlassen, mit der er vier Kinder zwischen zweiundzwanzig und einunddreißig Jahren hatte. Vor zwei Monaten war dann die Scheidung durch und er hatte Hannah gleich einen Antrag gemacht, den sie voller Freudetränen angenommen hatte.

Böse Zungen würden jetzt sagen: „Was will so ein junges, hübsches Mädchen mit so einem alten Knacker? Ganz klar, sein Geld.“

Aber ich war ihre beste Freundin und würde so etwas Gemeines nie behaupten. Hannah war überglücklich mit ihrem Gustav und das war für mich das Einzige, was zählte.

„Möchtest du etwas trinken? Tee, Kakao, Kaffee oder etwas Kaltes?“, bot ich ihr an.

„Danke nein, ich habe schon zu Hause etwas getrunken“, lehnte Hannah ab.

Was war denn mit ihr los? Sie war richtig nervös und zitterte.

„Ist alles in Ordnung? Wenn es dir nicht gut geht, sage ich Vera ab.

Dann machen wir es uns hier gemütlich“, meinte ich besorgt.

Sie schüttelte den Kopf. „Eigentlich ist alles in Ordnung“, behauptete sie.

„Mensch, jetzt muss ich dir alles aus der Nase ziehen“, sagte ich schmunzelnd.

Hannah atmete einmal kräftig ein und wieder aus. „Gustav und ich werden im Herbst Eltern.“

Ich fiel meiner besten Freundin strahlend um den Hals. „Das ist doch prima. Ich freue mich so für euch.“

Hannah lächelte. „Aber bitte erzähl es noch keinem! Ich bin noch ganz am Anfang.“

„Versprochen.“

„Können wir dann gehen?“ Sie stand schwungvoll auf.

 

Vor der Eisdiele wartete bereits Vera auf uns.

Als sie uns entdeckte, winkte sie stürmisch. „Hallo Chayenne, hallo Hannah.“

Wir grüßten zurück und stapften anschließend in die Eisdiele. Kaum hatten wir uns gesetzt, da kam auch schon einer der Kellner angeflitzt und nahm unsere Bestellung entgegen. Hannah und ich wollten ein Spaghettieis, während sich Vera einen Fruchtbecher nach Art des Hauses gönnte. Wir ließen uns das Eis schmecken und schwafelten über alles Mögliche.

Auf einmal hörte ich ein hyänenhaftes Lachen, das mich zusammenzucken ließ. Erschrocken drehte ich mich um. Nein, nein, nein. Das durfte nicht wahr sein! Ich schaute noch einmal genauer hin. Dieses unverwechselbare Lachen kannte ich von früher.

Plötzlich packte mich die Panik und ich hatte nur noch einen Gedanken: Ich musste fort von hier. Diese Person durfte mich auf keinen Fall sehen.

„Entschuldigt mich! Ich muss dringend nach Hause. Mir geht es nicht gut.“ Hektisch nahm ich einen 10-Euro-Schein aus meinem Geldbeutel und warf ihn auf den Tisch. Hannah und Vera konnten mich noch nicht einmal fragen, was mit mir los war.

Wie von der Tarantel gestochen rannte ich aus der Eisdiele und sah zu, dass ich Land gewann. Hoffentlich hatte mich die Person nicht entdeckt.

Kapitel 5

 

 

Wie eine Irre fuhr ich durch die Stadt. Vielleicht war ich das ja auch, normal war ich jedenfalls nicht. Ich war froh, als ich das Ortsschild von Baumwald sah. Eilig bog ich in meine Straße, den Fliederweg, ein und stellte mein Auto auf meinem Parkplatz ab.

Während mein Bauch unentwegt Schmerzsignale an mein Gehirn sendete, überlegte ich, ob sie mich gesehen hatte. Wurde ich etwa gesucht? Meinen Namen hatte ich damals nicht geändert. Ich fand das zu kompliziert und ich war ja hunderte von Kilometern von meinem alten Zuhause entfernt. Meine Nummer stand auch nicht im Telefonbuch. Außerdem konnte sie gar nicht wissen, dass ich genau zu dieser Zeit ausgerechnet in dieser Eisdiele war. Ja, es musste einfach ein großer Zufall gewesen sein.

Ich war so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht bemerkt hatte, dass Franziska mit mir sprach. Sie war eine Nachbarin von mir, dreißig Jahre alt und hatte offenbar den ganzen Tag nichts zu tun, als die anderen Bewohner zu beobachten. Man durfte ihr auch nichts erzählen, es sei denn, man wollte, dass es kurze Zeit später die ganze Straße wusste. Ich konnte sie also gerade gar nicht gebrauchen.

„Franziska, es tut mir leid, aber ich kann jetzt nicht reden. Mir geht es im Moment nicht gut. Ich muss mich hinlegen“, erklärte ich ihr.

„Du siehst aber wirklich nicht gut aus. Ist irgendetwas passiert?“, erwiderte Franziska.

Statt zu antworten, erbrach ich mich auf dem Bürgersteig. Dass ich sie in der Eisdiele gesehen hatte, hatte mich richtig fertig gemacht.

Meine Nachbarin blickte mich entgeistert an.

„Ach herrje, Chayenne“, meinte sie mitfühlend. „Du legst dich jetzt erst einmal hin. Ich putze das hier schnell auf und dann mache ich dir einen Tee.“

„D… danke“, stotterte ich. Noch leicht benommen sperrte ich die Tür auf, schwankte in meine Wohnung und ließ mich auf die Couch fallen.

Kurz darauf schneite auch schon Franziska hinein, da ich die Tür offen gelassen hatte, sogleich begab sie sich in die Küche.

„So meine Liebe. Das Wasser kocht schon. Die Teebeutel habe ich auch gefunden. Du hast es hier wirklich sehr ordentlich.“

Sie kam mit einer Tasse zurück. „Er muss noch etwas ziehen“, klärte sie mich auf, wobei sie auf mich wie eine strenge Lehrerin wirkte.

Als ob ich das nicht wusste, aber ich war zu schwach, um ihr eine passende Antwort zu geben, stattdessen nickte ich nur.

„Kann ich dir sonst noch irgendwie behilflich sein?“, erkundigte sich Franziska.

„Ja, bitte ruf Robin für mich an, und frag ihn, ob er herkommen kann!“, ließ ich sie wissen. „Die Nummer ist 687.“

Robin wohnte im Nachbarort, nur zehn Minuten von mir entfernt.

Franziska stöckelte zum Telefon und wählte.

Vom Gespräch bekam ich nicht viel mit, doch als sie wieder aufgelegt hatte, sagte sie: „Er ist sofort hier, so lange warte ich.“

Wenig später schellte es an der Tür und meine Nachbarin öffnete. Es war Hannah, die wie ein Tornado ins Zimmer wirbelte.

„Chayenne, was war denn los? Vera und ich haben uns Sorgen gemacht. Du bist einfach abgehauen“, meinte sie.

„Es geht ihr nicht gut. Sie hat sich sogar übergeben“, erwiderte Franziska, die mit verschränkten Armen neben mir stand.

Sofort kniete sich Hannah neben mich. „Du Arme. Warum hast du nicht vorher Bescheid gesagt, dass dir schlecht ist? Wir hätten unser Treffen verschieben können.“

„Da war ja noch alles in Ordnung, das kam so plötzlich“, erklärte ich ihr.

Franziska nickte eifrig. „Das war bei meiner ersten Schwangerschaft auch so.“

Hannah klappte die Kinnlade nach unten. „Wie? Moment, Chayenne. Du bekommst auch ein Baby?“

„Was heißt auch?“, versuchte Franziska herauszufinden.

Na toll, bald würde der ganze Fliederweg von meiner angeblichen Schwangerschaft erfahren, und wenn Hannah nicht aufhörte zu erzählen, auch von ihrem Baby.

Zum Glück winkte meine beste Freundin ab und wechselte das Thema.

„Chayenne, ich habe dir jemanden mitgebracht und bin mir sicher, dass es dir dann gleich viel besser geht.“

Robin, dachte ich und musste lächeln.

„Komm doch herein! Wir beißen nicht, jedenfalls nicht, so lange wir gut gelaunt sind“, scherzte Hannah.

Ich richtete mich langsam auf und schaute hoffnungsvoll zur Tür. Als ich erkannte, wen sie gemeint hatte, blieb mir allerdings die Luft weg.

„Chayenne, du warst es also echt im Eiscafé. Mensch, ich dachte erst, ich sei wahnsinnig. Ich freue mich so. Wie lange ist es her?“

Nein, ich hielt mir die Ohren zu. Ich wollte diese Stimme nicht hören, sondern wollte die Vergangenheit vergessen.

„Chayenne? Alles okay?“, fragte Hannah besorgt.

„Diese Ähnlichkeit, die gleichen grünen Augen und die gleichen roten Locken. Seid ihr miteinander verwandt?“, mischte sich Franziska ein, deren zweiter Nachname eindeutig Neugier lautete.

Hannah bestätigte: „Ja, sind sie. Das ist Athena, Chayennes jüngste Schwester.“

Ich dagegen konnte gar nicht klar denken. Ich wusste nur, dass jetzt alles vorbei war, Athena würde mit Sicherheit mein Geheimnis verraten.

 

 

Kapitel 6

Ich hatte alle - sogar Robin, der nur wenige Minuten nach Hannah und Athena gekommen war, weggeschickt. Er war verwirrt, aber ich hatte ihm versprochen, ihm später alles zu erklären. Erst einmal musste ich alleine mit meiner Schwester reden.

„Athena, was machst du hier? Wie hast du mich gefunden?“, schrie ich sie an.

Athena reagierte ruhig auf meinen Wutausbruch. „Wir haben uns immer gefragt, wo du bist. Du warst von heute auf morgen einfach fort, aber dann habe ich durch Zufall ein Foto von dir im Internet entdeckt.“

„Moment, das kann gar nicht sein“, unterbrach ich sie irritiert, denn

ich war in keinem sozialen Netzwerk, und schon gar nicht stellte ich irgendwelche Fotos von mir online.

Athena lachte. „Oh doch, da war ein Bild von dir. Du warst da auf einer Party. Soll ich dir das Foto zeigen?“

Schon tippte sie irgendetwas in ihr Handy. „Ah, da ist es.“

Sie hielt mir ihr Mobiltelefon vor die Nase. Tatsächlich, auf dem Foto, das war eindeutig ich. Das musste vor einem Monat gewesen sein, diese Frühjahrsparty im Tazzo, zu der mich Hannah geschleppt hatte. Warum hatte ich das nur nicht gemerkt, dass da jemand Bilder von uns geschossen hatte?

„Wie hast du das Foto entdeckt? Weiß sonst noch jemand davon? Und woher wusstest du, dass ich ausgerechnet heute im Fragola war?“, fragte ich meine Schwester aufgeregt.

„Dass ich das Bild entdeckt habe, war reiner Zufall. Ich habe eigentlich nach einem Partykleid von Tazzo gesucht und bin dann irgendwie auf der Seite gelandet. Und nein, sonst weiß niemand davon. Ich bin einfach in den Zug gestiegen und hierhin gefahren; ich habe aber unseren Eltern wenigstens eine Nachricht hinterlassen.“

„Oh nein, du hast doch nicht etwa verraten, dass du zu mir fährst?“, warf ich ängstlich ein.

Athena hob beschwichtigend ihre Hände. „Keine Angst. Ich habe geschrieben, dass ich einfach eine Auszeit brauche, bevor ich im August meine Ausbildung als Hotelfachfrau anfange. Angeblich bin ich jetzt in Spanien und lasse mir die Sonne auf den Bauch scheinen. Aber darf ich bitte weitererzählen, wie ich dich gefunden habe?“

Seufzend nickte ich und wartete darauf, dass sie mit ihrer Erzählung fortfuhr.

Athena, die mit  (für mich) leicht übertriebener Gestik ihren Bericht unterstützte, erklärte: „Also, vor zwei Wochen kam ich nach Willental. Ich konnte nur hoffen, dass du irgendwo in der Nähe wohnst. Ich weiß, dass Menschen manche Vorlieben und Eigenschaften nie ablegen können, egal wie weit sie von ihrem Zuhause fort sind, das ist ja manchmal das Problem im Zeugenschutz.“

„Bitte Athena, bleib bei den Fakten und erzähle nur das Wichtigste!“, unterbrach ich sie, da ich wusste, wie gern sie vom Thema abschweifte.

„Okay, wo war ich stehen geblieben? Ach ja, deine Vorlieben… Du schwimmst wie unsere ganze Familie für dein Leben gerne, also habe ich sämtliche Schwimmbäder und Vereine abgeklappert. Leider ohne Erfolg, niemand konnte sich an dich erinnern. Du liebst Eis über alles, da habe ich dann nach der besten Eisdiele in der Stadt gefragt. Ja, das ist das Fragola und hier wurde ich fündig. Der Besitzer bestätigte mir, dass du Stammkunde bist und regelmäßig vorbeischaust. Seit einer Woche sitze ich dort jeden Tag und habe so gehofft, dass du endlich auftauchst.“

„Na schön, aber was willst du?“, blaffte ich sie an.

„Kannst du dir das nicht denken? Ich wollte dich sehen. Ich habe dich so schrecklich vermisst. Kann ich erst mal bei dir bleiben? Dann kann ich auch deine Freunde kennenlernen“, bettelte sie und schaute mich mit großen Augen erwartungsvoll an.

„Unter keinen Umständen. Denkst du etwa, ich will, dass hier irgendjemand die Wahrheit über mich erfährt?“, erwiderte ich sauer.

Athena sah mich verwirrt an. „Heißt das etwa, niemand weiß über dich Bescheid, wirklich niemand? Nicht einmal dein Freund?“

„Nein, niemand. Das soll auch so bleiben! Was glaubst du denn, was passiert, wenn das jemand erfährt?“, fragte ich und meine Schwester meinte: „Ich denke, dass es deinen Freunden egal ist, außerdem ist es unfair, wenn du sie anlügst.“

Jetzt wurde ich richtig wütend. „Ich lüge nicht. Ich verschweige ihnen nur etwas, das ist ein großer Unterschied.“

Athena schüttelte den Kopf. „Das finde ich nicht. Du solltest es ihnen sagen.“

Ich musste irgendwie verhindern, dass Athena mein Geheimnis ausplauderte.

„Dann würde aber auch jeder dein Geheimnis erfahren“, giftete ich sie an, ein gewisser Triumpf schwang in meiner Stimme mit.

„Das macht mir nichts aus. Ich bin ein offenes Buch“, grinste sie, wodurch meine Mundwinkel nach unten sanken.

Die Katastrophe war wohl nicht mehr aufzuhalten.

 

 

 

Kapitel 7

Athena saß mit einer Tasse Tee im Sessel. „Also abgemacht. Ich werde niemandem erzählen, was dein Geheimnis ist, obwohl ich es nach wie vor nicht in Ordnung finde. Dafür darf ich hier wohnen und zu meinem achtzehnten Geburtstag bekomme ich ein Auto. Ich suche dann mal nach einem Ausbildungsplatz in Willental.“

Widerstrebend nickte ich. „Einverstanden, kleine Erpresserin. Aber du musst die Lehrstelle noch dieses Jahr bekommen, sonst verschwindest du wieder nach Hause, ohne jemanden dort von mir zu erzählen.“

„Jawohl. Morgen werde ich mir dann Farbe für mein Zimmer kaufen. Ich denke da an meeresblau. Im Schwimmverein muss ich mich auch noch anmelden“, plauderte Athena voller Euphorie.

Sollte sie ruhig weiter planen. Es war bereits Mai, da sah es schlecht aus, dass sie noch eine Stelle in einem Hotel finden würde. Eine Woche Zeit hatte ich ihr dafür gegeben, bis zu ihrem Geburtstag, das würde sie nie schaffen.

Ich beschloss zu Robin zu fahren. Meine Schwester hockte schon vor dem Rechner und machte sich auf die aussichtslose Suche nach einem Ausbildungsplatz. Leise verabschiedete ich mich und schlenderte nach draußen.

Robin hatte eine kleine 3-Zimmer-Wohnung in Hallen gemietet. Er hatte mich bereits entdeckt, als ich angefahren war und stürmte sofort auf mich zu.

„Hallo Chayenne, schön, dass du da bist. Komm doch herein!“, lachte er mich an.

Ich umarmte ihn und gab ihm einem Kuss, den er nach mehr fordernd erwiderte. „Robin, im Moment ist es zu viel für mich. Jetzt hat sich auch noch meine kleine Schwester bei mir einquartiert. Darf ich heute hier schlafen?“

Robin strich mir liebevoll eine Strähne aus dem Gesicht. „Immer doch, aber sag doch endlich, was los ist! Du warst so durcheinander, als deine Schwester aufgetaucht ist.“

„Kann ich vielleicht erst mal reinkommen?“, krächzte ich heiser und drückte mich fest an ihn, Arm in Arm gingen wir hinein.

 

„Hier, bitteschön.“ Mein Freund reichte mir eine Tasse heißen Kakao, während ich mich in seinen alten Ohrensessel kuschelte.

„Danke. Athena hat einfach Hannah und Vera angesprochen und nach mir gefragt, und meine beste Freundin nimmt sie auch noch mit zu mir. Ich wollte Athena nie mehr sehen und jetzt habe ich sie am Hals. Sie plant tatsächlich, ihre Lehrstelle daheim aufzugeben und hier zu bleiben, aber ich kann sie doch nicht auf die Straße setzen“, redete ich aufgeregt darauf los.

Robin kam näher und griff nach meiner Hand. „Bitte erzähl mir endlich, was damals vorgefallen ist! Was hast du gegen deine Schwester?“

Oh nein, ich musste dringend das Thema wechseln und überlegte.

„Die Kataloge“, murmelte ich nach einer Weile.

„Was hast du gesagt?“, hakte er nach.

Freundlich lächelte ich ihn an. „Du hattest mir doch heute Nachmittag Kataloge zeigen wollen. Jetzt hätte ich Zeit dafür.“

Robin merkte wohl, dass es zwecklos war, mich weiter nach Athena und was damals geschehen war, auszuhorchen. „Ja, warte kurz, ich hole sie.“

Er stand auf und lief zum Wohnzimmerschrank, währenddessen setzte ich mich auf den flauschigen Teppich. Er hatte die Kataloge zusammengekramt, ließ sich neben mir nieder und wir blätterten die Prospekte durch. Ich hatte Urlaub in den Alpen im Kopf, dort könnten wir Wanderungen unternehmen.

„Das ist es. Ich habe den perfekten Urlaubsort für uns gefunden“, sagte er plötzlich, seine Augen begannen zu strahlen.

„Lass mich mal sehen!“ Hastig entriss ich meinem Freund den Katalog und schaute mir die Seite an. Erschrocken ließ ich ihn wieder fallen und sprang auf.

„Nein, das wäre überhaupt nicht gut“, kreischte ich, die Angst ließ meine Stimme wie eine Trillerpfeife klingen.

„Chayenne, ich verstehe nicht. Was hast du denn gegen Bali? Da ist es traumhaft schön“, erwiderte Robin verdutzt.

„Aber…. aber… das ist eine Insel, umgeben von Unmengen von Meerwasser“, setzte ich entgegen, während mein Herz heftig gegen meine Rippen schlug.

„Wo ist das Problem? Stell dir nur vor, wir beide am Strand und wenn wir möchten, stürzen wir uns in die Fluten.“

Mein Freund war hellauf begeistert, während von mir die nackte Panik Besitz ergriff.

„Ich hasse das Meer. Ich will nicht im Meer schwimmen.“

„Du liebst doch das Schwimmen. Aber wenn du nicht willst… wir können uns ja nur so an den Strand legen“, schlug Robin vor.

Wie Espenlaub zitterte ich. Ja, es klang seltsam, dass ausgerechnet ich - die begeisterte Schwimmerin, die schon einige Medaillen gewonnen hatte, nicht ans Meer wollte. Das würde jeder verstehen, der mein Geheimnis kennen würde, aber genau das durfte nicht passieren.

„An welches Ziel hattest du denn gedacht?“, lenkte mein Freund ein, der schon immer kompromissbereit war.

„Alpen“, antwortete ich kurz und knapp.

Robin verzog das Gesicht, das war ganz klar nicht nach seinem Geschmack. Er hatte sich für unseren ersten gemeinsamen Urlaub eindeutig Sonne, Strand… und Meer vorgestellt.

Angestrengt dachte ich nach. Er schien sich richtig auf den Urlaub zu freuen. Konnte ich das Risiko eingehen? Ich könnte wirklich nur am Strand bleiben, dann würde nichts geschehen.

„Na gut, Robin, ich bin mit Bali einverstanden, aber nur unter einer Bedingung“, gab ich schließlich nach, wenn auch nicht gerade mit einem guten Gefühl.

Robin legte mir seinen Arm um die Schultern. „Ich höre, meine Süße.“

Er knabberte an meinem Ohrläppchen, weswegen ich glucksen musste, schließlich war ich extrem kitzelig, besonders an den Ohren.

„Ich bleibe am Strand und du wirst mich nicht ins Meer zwingen.“

Robin küsste mich. „Versprochen. Ich zwinge dich nicht dazu.“

Tja, es sah ganz danach aus, als ob wir nach Bali fliegen würden.

„Ach Robin. Ich habe mir da was Neues gekauft. Möchtest du es

vielleicht sehen?“

Seine Augen glitzerten, als er verstand, worauf ich hinauswollte. „Was denn?“

Langsam, fast wie in Zeitlupe, öffnete ich meine Bluse.

„Und, was sagst du?“ Ich ließ sie auf den Boden fallen.

Sofort reagierte Robin, er steckte das Telefon aus und stellte die Türklingel ab.

„Die nächsten Stunden wollen wir bestimmt nicht gestört werden“, grinste er schelmisch, dann schob er mit dem Fuß die Kataloge zur Seite.

„Oh nein, nicht wieder der Teppich“, lachte ich kopfschüttelnd.

„Kein Problem.“ Robin hob mich hoch und trug mich ins Schlafzimmer.

 

 

 

Kapitel 8

 

Am Dienstag telefonierte ich gerade mit einem Kunden aus Malaysia, als Diamond hinein stöckelte. Sie war die jüngste Tochter unserer Chefin, neunzehn Jahre alt, im ersten Ausbildungsjahr und hielt sich für etwas Besseres. Sie würde sich niemals dazu herablassen, Kaffee zu kochen oder Archivarbeiten zu erledigen, dafür spielte sie sich gerne als Chefin auf.

Ihre große Schwester Esmeralda arbeitete auch hier. Sie war einundzwanzig, im dritten Jahr und das genaue Gegenteil von Diamond, momentan war sie im Export tätig.

Ich legte auf und schaute Diamond an.

Wie kann die auf diesen Absätzen überhaupt laufen?, dachte ich.

„Was gibt es?“, fragte ich, wobei ich um einen möglichst freundlichen Ton bemüht war, was mir jedoch misslang.

Diamond funkelte mich böse an, dann trippelte sie auf ihre Schwester zu.

„Esmeralda, du sollst Kaffee kochen und Plätzchen bereitstellen. Gleich kommt unser wichtigster Kunde. Diesen möchten wir nicht vergraulen. Aber ich warne dich, du wirst mächtig Ärger bekommen, wenn du es vermasselst.“

„Warum machst du das nicht selber?“, wollte ich wissen.

Die arme Esmeralda war richtig eingeschüchtert. Statt ihrer Schwester die Stirn zu bieten, senkte sie beschämt ihren Blick, da musste ich doch helfen.

Diamond meinte herablassend: „Hat jemand mit Ihnen gesprochen, Frau Sommer? Haben Sie nichts zu tun? Sie werden hier nicht dafür bezahlt, in der Gegend herumzuschauen und ihre Nase in Angelegenheiten zu stecken, die Sie nichts angehen. Ich werde das der Geschäftsleitung melden.“

Diese eingebildete Zicke litt eindeutig unter Größenwahn, sie hielt sich wohl für die Kaiserin von China.

Bevor ich eine patzige Antwort geben konnte, war Diamond bereits wieder fort. Esmeralda sprang auf und rannte durch die Tür, um die Befehle ihrer blöden Schwester auszuführen.

Mein Telefon klingelte erneut, es war Chelsea, unsere Empfangsdame.

„Sommer“, meldete ich mich.

„Hallo Chayenne. Vor mir steht deine Schwester und würde gerne zu dir. Soll ich sie in Raum 4 schicken?“

„Kannst du ihr sagen, dass ich keine Zeit habe? Ich muss dringend die Sendung nach Malaysia fertigstellen“, grummelte ich genervt, denn meine Schwester hatte mir gerade noch gefehlt.

„Moment.“ Chelsea redete mit Athena und hatte anscheinend ihre Hand über die Sprechmuschel gelegt, ich verstand sie nur undeutlich.

„Chayenne? Sie meint, es wäre sehr wichtig. Kommst du dann bitte?“, sagte sie wieder zu mir.

„Na gut“, knurrte ich schließlich. „Schick sie in Raum 4!“

Mürrisch stand ich auf und marschierte zum Empfang. Es war ein Großraumbüro mit zwanzig Mitarbeitern, dort waren auch der Einkauf und die Buchhaltung untergebracht.

Während ich den Raum durchquerte, spürte ich die Blicke der anderen in meinem Rücken. Ich hatte ja nie etwas von früher erzählt und dann tauchte plötzlich meine Schwester auf. Natürlich waren alle neugierig, deshalb beeilte ich mich, durch den Raum zu gehen.

Ich zog an der gläsernen Tür, die man nur von innen von allein aufmachen konnte. Wollte jemand hinein, musste Chelsea erst auf den Knopf drücken, um die Tür öffnen. Frau Sinclair hatte wohl Angst, dass ein Verbrecher hier hineinstürmen könnte.

In Besprechungszimmer 4 hatte es sich Athena bereits bequem gemacht. Für einen kurzen Augenblick schaute ich zurück, alle starrten zu mir herüber. Als sie merkten, dass ich sie beobachtete, zogen sie schnell ihre Köpfe ein und taten schwer beschäftigt.

Hastig schloss ich die Tür, damit meine Kollegen nichts von der folgenden Unterhaltung mitbekamen.

„Athena, bist du verrückt? Du kannst mich doch nicht einfach auf der Arbeit besuchen“, maulte ich sofort los.

Athena strahlte wie ein Honigkuchenpferd. „Ich habe einen Ausbildungsplatz im Stadthotel und fange im September an. Ich kann also bei dir bleiben.“

„Nein. Was?“ Das konnte doch nicht wahr sein, ich war verwirrt. „Wie hast du so schnell einen Platz gefunden? Du hast doch erst gestern mit der Suche begonnen.“

Meine Schwester lachte und ich hätte mir am liebsten die Ohren zugehalten. „Ich hatte ein Riesenglück. Ich habe gestern im Stadthotel angerufen und mit Herrn Alt, dem Hoteldirektor, gesprochen, der übrigens sehr nett ist. Letzten Freitag hat ein Mädchen die Ausbildungsstelle wieder abgesagt, weil sie doch lieber studieren will. Also bin ich gleich heute vorbei. Ich habe Herrn Alt und seine Frau so beeindruckt, dass sie mir direkt einen Ausbildungsvertrag zugeschoben haben. Weil ich erst siebzehn bin, müsste erst Mama oder Papa unterschreiben, aber ich kann bis nächste Woche warten und dann selbst meine Unterschrift…“

Heftig schüttelte ich den Kopf. „Das geht nicht. Unsere Eltern erwarten dich doch spätestens im August zurück, du kannst nicht einfach wegbleiben.“

Athena, nicht im Geringsten von meinen Protesten beeindruckt, erwiderte: „He, du bist doch selbst abgehauen, außerdem warst du gestern noch einverstanden. Aber ich werde nach meinem Geburtstag anrufen, dass ich in Spanien bleiben werde und dort in einem Hotel anfange. Dann bin ich volljährig und kann machen, was ich will.“

„Und was machst du, wenn sie dich besuchen wollen?“, unterbrach ich sie.

Meine Schwester Athena blieb optimistisch, was sie eigentlich immer war. „Das sehen wir dann, wenn es soweit ist.“

Ungeduldig erhob ich mich, und hoffte, dass sie den Wink verstand.  Da sie nicht reagierte, musste ich deutlicher werden. „In Ordnung. Athena, ich muss jetzt wieder, sonst bekomme ich noch Ärger.“

Sie umarmte mich, was mir sichtlich unangenehm war, auch wenn sie meine Schwester war. „Klar, ich verhuschel mich.“

(Athena und ihre selbsterfundenen Worte, die sie unbedingt etablieren wollte.)

Vor der Tür stand bereits Diamond und tippte schnell mit ihrem rechten Fuß immer wieder auf den Boden.

„Wer ist das?“, keifte sie, ihrem Namen als Furie alle Ehre machend.

Athena streckte ihr freundlich ihre Hand entgegen. „Hallo, mein Name ist Athena. Ich bin die kleine Schwester von Chayenne.“

„Privatbesuche während der Arbeitszeit?“, kläffte Diamond, der ich in Gedanken eine Ohrfeige verpasste. (In Wirklichkeit würde ich mich das doch nicht trauen.) „Das gibt eine Verwarnung. Meine Mutter wird Sie später in ihr Büro rufen. Sie werden die Zeit selbstverständlich nacharbeiten. Sie werden sich heute um 16:00 Uhr abstempeln und dann nochmal eine halbe Stunde arbeiten. So ein unverschämtes Verhalten dulden wir hier nicht.“

„Entschuldige, wer bist du, dass du meine Schwester einfach so angreifst? Du scheinst nicht viel älter als ich zu sein, deshalb gehe ich davon aus, dass du hier nicht die Chefin bist, sondern nur ihre Tochter. Anscheinend hast du nichts Besseres zu tun, als dumm in der Gegend zu stehen und fleißige Angestellte anzuschwärzen, die nur eine kurze Pause zwischendurch machen. Ich gebe deiner Mutter und dir, Prinzessin, einen Tipp: Motivierte Mitarbeiter sind besser für eure Firma“, konterte meine Schwester.

Diamond war verdutzt und starrte sie nur mit offenem Mund an.

Athena verabschiedete sich von mir und stolzierte davon. Auch ich ließ die Oberzicke einfach stehen und ging an meinen Arbeitsplatz zurück.

 

Kapitel 9

Erschöpft lag ich auf der Couch, den Kopf an Robins Schulter gelehnt, gerade war ich mit ihm im Reisebüro gewesen. Unser Urlaub sollte schon im Juni sein. Es war aber auch ein wirkliches Schnäppchen für zwei Wochen Bali gewesen, das wir ergattern konnten. Ich hoffte nur, dass Frau Sinclair mir den Urlaub genehmigen würde. Sie hatte mich nicht mehr in ihr Büro gerufen, trotzdem wusste ich nicht, ob mich Diamond verpetzt hatte. Zuzutrauen war es dieser arroganten Schnepfe.

„Essen ist gleich gut“, rief Athena aus der Küche.

 

Sie hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als sie einen Blick in meinen Vorratsschrank geworfen hatte. „Chayenne, du hast ja fast nur Fertigprodukte. Das muss sich grundlegend ändern. Aber keine Sorge, ich bin ja jetzt da. Ich werde deine Ernährung auf gesund umstellen.“ Ich hatte nur abgewunken, meinetwegen sollte sie Hausfrau spielen.

 

Athena wollte zuerst einen Nudel-Hackfleisch-Auflauf zubereiten. Ich wies sie freundlich darauf hin, dass Robin Veganer war und sämtliche tierischen Produkte vermied, er war es von klein auf gewöhnt. Seine Mutter war schon als Kind gegen Vieles allergisch gewesen, deshalb hatte seine Oma die Ernährung der Familie komplett auf vegan umgestellt. Seine Mutter hatte es ebenfalls so gehandhabt, auch nach ihrer Heirat. Robin kannte es nicht anders, was ich respektierte.

Er war kein Moralapostel, sondern bereitete mir ohne Vorwürfe mein Lieblingsessen - Jägerschnitzel mit Spiegelei und Rotkraut - zu. (Ja, die Kombination klingt etwas merkwürdig, aber ich vergöttere dieses Essen.)

Athena hatte sogleich einen Plan B. „Dann gibt es Ratatouille mit Kartoffelspalten. Das ist sehr, sehr lecker und sogar vegan.“

Sie war sofort losgezogen, um alles für unser Abendessen zu besorgen, während wir im Reisebüro waren.

Robin schnupperte und schloss genießerisch die Augen. „Das duftet ja köstlich.“

Genervt murmelte ich: „Ja, aber das heißt noch lange nicht, dass es auch schmeckt.“

Doch als meine Schwester das Essen auf den Tisch stellte, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Es sah traumhaft lecker aus und es roch phantastisch. Ich konnte jedes einzelne Gewürz erahnen, da ich nämlich eine überdurchschnittlich gute Nase hatte; dagegen sah ich allerdings ohne Sehhilfe sehr, sehr schlecht.

Ich nahm den ersten Bissen. Es schmeckte unglaublich lecker und könnte glatt mein neues Lieblingsgericht werden, aber das wollte ich nicht zugeben. Während Robin Athenas Essen in höchsten Tönen lobte, konnte ich mich nur zu einem „Ganz passabel“ durchringen.

 

Am nächsten Tag war ich ziemlich nervös, schließlich wollte ich zwei Wochen Urlaub haben - und das schon in weniger als einem Monat. Normalerweise wurde der Jahresurlaub bereits am Jahresanfang geklärt und ich hatte mich für August entschieden, so konnte ich nur hoffen, dass ich das noch ändern durfte.

Nervös, wie ein Kind am ersten Schultag, trippelte ich zum Büro meiner Chefin. Dort hörte ich die laute Stimme von Frau Sinclair. Mit wem sie wohl dieses Mal schimpfte? Auch wenn sich das eigentlich nicht gehörte, konnte ich nicht anders und lauschte.

„Ich bin maßlos enttäuscht von dir“, dröhnte Frau Sinclair. „Du bist meine Tochter. Denkst du nicht daran, wie peinlich es mir ist, wenn du solch schlechte Noten nach Hause bringst. Das ist für deinen Vater und mich nicht akzeptabel.“

Ich traute meinen Ohren nicht, sie schrie einfach Esmeralda an. Diese gab keine Widerworte und so meckerte meine Chefin weiter.

„Ich sage dir das ein letztes Mal. Ich erwarte von dir ausschließlich Einsen. Eine Zwei steht nicht zur Debatte und ist eine Schande für unsere Familie.“

Himmel, Frau Sinclair spinnte ja überhaupt nicht. Kurz überlegte ich, ob es nicht besser wäre, zu verschwinden, entschied mich dann aber dagegen, dafür war ich einfach zu neugierig.

„Die nächsten Wochen hast du Hausarrest. Du wirst direkt nach der Arbeit oder Schule nach Hause kommen und lernen. Haben wir uns verstanden?“

Meine Güte, Esmeralda war einundzwanzig Jahre alt, kein Kleinkind.

Die Tür ging auf, heraus kam eine verheulte Diamond. Damit hatte ich nicht gerechnet, perplex starrte ich sie an. Als sie mich entdeckte, senkte sie schnell den Kopf. Es war offensichtlich, dass es ihr peinlich war, dass ich sie weinend gesehen hatte.

Ich dagegen verstand die Welt nicht mehr. Tatsächlich war ich absolut überzeugt davon gewesen, dass es Esmeralda gewesen war. Diamond war doch so selbstbewusst, das konnte ich gar nicht glauben. War sie deshalb so fies zu allen anderen, weil sie selbst von ihrer Mutter so behandelt wurde?

Verwirrt wollte ich wieder an meinen Platz gehen, als mich meine Chefin hineinrief.

„Chayenne, möchten Sie etwas Bestimmtes?“

Zögerlich trat ich ein, atmete tief durch und schloss die Tür hinter mir.

 

 

Kapitel 10

Als ich zu Hause eintraf, stand Athena wieder vor dem Herd. Es roch erneut köstlich. Vielleicht war es doch nicht so verkehrt, eine kleine Schwester im Haus zu haben, die gerne und noch dazu hervorragend kochte.

(Ja, das musste ich neidvoll anerkennen. Ich dagegen war eine miserable Köchin, die die Eier eine halbe Stunde kochte und sich wunderte, warum sie immer noch nicht weich waren. Jedenfalls hatte das immer mein Vater scherzhaft über mich gesagt.)

„Juhu“, trällerte sie fröhlich. „Heute gibt es etwas ganz Feines: Gefüllten Kohlrabi und griechischen Bauernsalat. Als Dessert gibt es Obstsalat mit Joghurt. Ich habe extra auf vegane Produkte geachtet. Robin kommt etwas später, er hat noch einen wichtigen Auftrag.“

„Moment, telefonierst du etwa mit meinem Freund?“, fragte ich, mit einem Hauch von Eifersucht im Nacken.

Athena grinste. „Nö, wir kommunizieren per Brieftaube… Klar habe ich mit ihm telefoniert. Seine Handynummer klebt ja an der Pinnwand.

Ich musste schließlich wissen, ob er heute zum Essen kommt.“

Robin war Restaurateur, er liebte einfach antike Möbelstücke, während ich den modernen Stil bevorzugte.

Meine gesamte Wohnung war weiß eingerichtet, auch die Wände. Robin meinte immer, bei mir käme er sich vor wie in einer Arztpraxis, aber mir gefiel es.

Da meine Kehle vor Durst schon der Sahara Konkurrenz machte, holte ich mir ein Glas Wasser und nahm am Tisch Platz. Athena hatte den Tisch mit orangenen und gelben Blumen geschmückt. Ich erinnerte mich, dass Orange ihre Lieblingsfarbe war, eine Farbe, die ich überhaupt nicht mochte.

Es klingelte an der Tür, und meine Schwester rannte so schnell hin, um zu öffnen, dass ich gar nicht reagieren konnte.

„Hallo Robin, komm doch herein! Das Essen ist fertig.“

Robin marschierte sofort auf mich zu. „Chayenne, du hast dich gar nicht gemeldet. Was hat deine Chefin gesagt? Hat sie dir den Urlaub genehmigt?“

Traurig senkte ich den Kopf, anschauen konnte ich ihn einfach nicht. „Da war einfach nichts zu machen, der ganze Urlaubsplan kann wegen mir nicht geändert werden.“

„Warum denn der ganze? Du musst doch nur mit jemanden tauschen, der im Juni Urlaub hat.“

„Aber dazu war niemand bereit, schließlich haben die anderen auch ihren Urlaub geplant“, erklärte ich ihm und Robin sah richtig enttäuscht aus. „Hast du ihr erzählt, dass es nur zu diesem Zeitpunkt so günstig ist?“

Mit einem Nicken beantwortete ich seine Frage. „Oh, sie hatte durchaus Verständnis, aber du musst sie auch verstehen. Ich hätte sie vorher fragen müssen, bevor wir gebucht haben.“

„Das darf doch nicht wahr sein. Ich rufe deine Chefin morgen an. Ich werde sie umstimmen“, versicherte mir mein Freund.

Er sah so knuffig aus und ich lächelte ihn an. „Das ist süß von dir, aber das bringt nichts. Frau Sinclair lässt sich nicht umstimmen.“

„So ein Mist, ich habe mich so auf den Urlaub gefreut“, murmelte er traurig.

„Robin?“ Ich nahm seine Hand und drückte sie fest. „Ich wollte dich nur etwas ärgern. Frau Sinclair hat sich zwar zuerst ziemlich aufgeregt, aber Aurora aus meiner Abteilung war bereit zu tauschen. Sie fährt sowieso nicht weg, sondern bleibt zu Hause. Es war ihr also egal.“

Robin hob mich hoch und wirbelte mich herum. „Chayenne, du bist so fies. Dann fliegen wir also nach Bali?“

„Wir fliegen nach Bali“, bestätigte ich, mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

 

Wir ließen uns gerade das Essen schmecken, als es an der Tür schellte.

Verwirrt sah ich Athena an, die mit den Schultern zuckte.

„Was schaust du mich denn an? Ich kenne hier noch niemanden, es wird wohl kaum für mich sein.“

Da keiner der beiden Anstalten machte, zu öffnen, stand ich auf und schlurfte müde zur Wohnungstür. Draußen ging Dahlia, Robins Cousine, nervös auf und ab, wie mein Freund wohnte sie in Hallen.

„Dahlia, guten Abend, äh, komm doch herein!“

Sie bückte sich und hob eine Babyschale auf, in dem ein neugeborenes Baby lag.

(Also jedenfalls schien es noch nicht lange auf der Welt zu sein.)

Ich hatte gar nicht gewusst, dass sie ein Kind bekommen hatte. Vielleicht war es aber auch von einer Freundin, da sollte ich keine voreiligen Schlüsse ziehen. Robin blickte sie ebenfalls geschockt an.

Als sie in die Wohnung trat, bemerkte ich, wie rot sie im Gesicht war. Hatte sie etwa geweint oder sich nur über etwas aufgeregt?

„Wessen Baby ist das?“, fragte Robin und Athena stürzte sich mit einem „Wie süüüüüüüß“ auf die beiden Besucher.

Dahlia vermied Blickkontakt. „Robin, du warst nicht zuhause. Ich habe mir gedacht, dass du bei Chayenne bist. Ich weiß nicht weiter. Ich bin überfordert, ich will das Baby nicht.“

„Dann ist es also deins? Wann hast du es bekommen? Warum hast du vorher nichts gesagt?“ Robin schüttete ungläubig den Kopf.

Athena wollte das Baby sofort auf den Arm nehmen. „Wie heißt denn die Kleine?“

„Es ist ein Junge und er heißt Emanuel, aber ich will dieses Kind nicht. Ich habe erst im sechsten Monat davon erfahren. Da war es schon zu spät für…“

Athena schnappte erschrocken nach Luft. „Moment, du wolltest den Kleinen doch nicht etwa abtreiben? Was ist denn mit dem Vater?“

Dahlias Blick verfinsterte sich. „Ich bin zu jung für Kinder und der Vater… der interessiert sich einen Dreck darum. Wir waren nur ein paar Wochen zusammen, dann hat er Schluss gemacht. Er weiß nichts von Emanuel.“

„Dahlia, setz dich doch erst einmal! Du bist ja völlig durcheinander“, mischte ich mich ein.

„Hallo Dahlia, ich heiße Athena. Bist du eine Freundin von Chayenne?“, rief meine Schwester dazwischen.

„Sie ist meine Cousine“, erklärte Robin, der ziemlich blass um die Nase geworden war.

Dahlia stellte die Babyschale ab. „Also, was ist jetzt? Nehmt ihr den Kleinen?“, wollte sie wissen.

„Habe ich mich verhört? Du willst uns deinen Sohn abdrücken?“, erwiderte Robin, während ich glaubte, gerade in einem Traum festzustecken.

Athena klatschte begeistert in die Hände. „Oh ja, bitte, können wir ihn behalten?“

„Athena, bitte, es ist kein Hund, sondern ein Baby, und nein, es kann nicht bei uns bleiben“, gab ich als Antwort.

Dahlia begann zu schluchzen. „Ich weiß keine andere Lösung. Das Baby muss bei euch bleiben. Meine Eltern sind komplett ausgeflippt, weil ich ihnen nicht sagen will, wer der Vater ist. Sie halten mich für nicht reif genug, für ein Baby alleine zu sorgen. Du weißt ja auch, dass sie mir nicht helfen können, sie haben mit Oma mehr als genug zu tun. Sie braucht rund um die Uhr Betreuung, da können sie nicht noch für ein Baby sorgen.“

„Du bist dreiundzwanzig. Du warst ja auch alt genug, um dich mit einem Typen einzulassen, dann bist du auch alt genug, für dieses Kind zu sorgen“, konterte Robin, der seine Arme vor der Brust verschränkte.

„Nein, das geht nicht. Bitte helft mir doch! Bei euch hätte es der Kleine gut“, schniefte Dahlia und tupfte sich die Tränen mit dem Ärmel weg.

„Du solltest ihn zur Adoption freigeben, dann werden gute Eltern für Emanuel gefunden“, schlug ich vor und Robin stimmte mir zu. „Das ist die beste Lösung, wenn du das Baby wirklich nicht behalten willst. Außerdem, wie hast du dir das vorgestellt? Du kannst doch nicht einfach dein Kind bei uns abgeben und wir sollen uns dann als die Eltern ausgeben, das ist doch illegal.“

Dahlia weihte uns in ihren Plan ein. „Ich hatte mir gedacht, dass du die Vaterschaft anerkennst und das alleinige Sorgerecht bekommst. Das gibt dann auch keine Schwierigkeiten, dass er bei euch bleibt. Ich weiß, dass er es bei euch gut haben wird.“

„Du bist doch meine Cousine.“ Robin war sichtlich geschockt. „Das ist eine wahnsinnige Idee. Du bist verrückt.“

Athena hatte sofort Feuer für den Plan gefangen. „Das ist eine großartige Idee. Schaut euch doch den Kleinen an. Er ist so niedlich. Wir können ihn doch nicht wildfremden Leuten überlassen.“

„Athena, geh in dein Zimmer und spiel mit deinem Teddybären! Du verhältst dich gerade ziemlich kindisch“, plärrte ich meine Schwester an. „Du weißt ja auch, dass Robin und ich den ganzen Tag arbeiten und bald nach Bali fliegen. Willst du dann etwa auf den Kleinen aufpassen?“

„Klar, ich liebe Kinder. Chayenne, ich habe einen Vorschlag. Warum bleibt Emanuel heute nicht bei uns? Dann können wir alle eine Nacht darüber schlafen. Das Baby einfach auf die Straße zu setzen, ist doch herzlos.“

Robin atmete tief ein und nickte. „Ja, ich denke, das ist vielleicht wirklich erst einmal die beste Lösung.“

„Aber wir haben doch gar nichts für den Kleinen. Wo soll er schlafen? Was soll er essen?“, fragte ich, von der Idee, ein Baby über Nacht im Haus zu haben, nicht gerade begeistert.

„Ich gehe einkaufen“, meldete sich Athena zu Wort.

Da mir auf die Schnelle keine bessere Lösung einfiel, holte ich meinen Geldbeutel und gab ihn meiner Schwester. „Wir brauchen Babymilchpulver, eine Babyfalsche und Windeln. Das ist erst einmal das Wichtigste. Ich gehe zu Franziska und frage sie, ob sie noch eine Wiege hat und uns einen Tag leihen kann. Morgen weiß es dann der ganze Fliederweg.“

„Wie alt ist Emanuel eigentlich?“, erkundigte sich Athena und Dahlia antwortete: „Er kam vor drei Tagen auf die Welt.“

Dann machte ich mich auf den Weg zu meiner Nachbarin und Athena zum Supermarkt.

 

 

 

Kapitel 11

Von Babygeschrei wurde ich aus meinen Träumen gerissen und sah auf die Uhr. Es war 1:03 Uhr in der Nacht. Robin schlief tief und fest. Plötzlich erinnerte ich mich an gestern Abend. Dahlia hatte ihr Baby bei uns abgegeben und war einfach verschwunden, als ich von Franziska zurückgekommen war.

Von meiner Nachbarin hatte ich eine Wiege ausgeliehen, nicht, ohne von ihr gelöchert zu werden. Ich hatte ihr erzählt, dass wir über Nacht auf das Kind einer Freundin aufpassen müssten und deshalb eine Schlafmöglichkeit für den Knirps suchten, weil meine Freundin ja schlecht ihr eigenes Babybett hatte mitbringen können. Die Geschichte hatte sie mir zum Glück abgenommen und die Wiege herausgerückt, die jetzt im Wohnzimmer stand.

Für einen Moment hatte ich die Hoffnung, dass Emanuel endlich ruhig wurde, aber er hörte nicht auf zu schreien. Also schwang ich mich aus dem Bett und torkelte zu ihm. Athena eilte gerade mit der Flasche auf die Wiege zu und redete beruhigend auf den Kleinen ein. „Ist ja gut, Emanuel, ich bin ja da. Hier ist dein Fläschchen.“

„Athena“, gähnte ich, „du bist ja wach.“

„Ich kann ihn doch nicht weinen lassen, er hat Hunger.“

Ich trat zu ihr und

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Tina Waldt
Bildmaterialien: Tina Waldt
Lektorat: Annette M.
Tag der Veröffentlichung: 29.09.2014
ISBN: 978-3-7396-1410-6

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