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Kapitel 1

Mr. Latte’s Rätselhaftigkeit


 

 

Die eisige Kälte zog durch die offene Tür in den Coffee Shop und obwohl sie mir ein Frösteln bereitete, ummantelte ein wohliger Wärmeschleier meine Brust. Der Gedanke an seine grün schimmernden Augen, an die Grübchen, die sich neckisch auf seinen Wangen bildeten, wenn er mich anlächelte und an die maskuline Lederduftnote, die ihn umgab, löste ein Begehren in mir aus.

Würde mein Lieblingskunde wie früher täglich hereinkommen, wäre er spät dran. Mit auf dem Tresen tippenden Fingern schaute ich auf die große Uhr, die über der Barista-Kaffeemaschine zwischen den Menütafeln hing. Das quälend langsame Ticken des Sekundenzeigers brachte mich um den Verstand. Aus irgendeinem Grund gab ich die Hoffnung nicht auf und erwartete ihn zur gewohnten Uhrzeit zurück.

»Hey Alina, wo bleibt denn Mr. Latte?«, neckte meine Kollegin Fatima mich, die zu mir hinter die Verkaufstheke trat und sich ihre Schürze umhing.

Seufzend riss ich den Blick von der Kundin, die durch die Tür hereingekommen war und die Heißgetränke auf der Karte studierte. Auf ihren Schultern und ihrer Mütze hatte der beginnende Schneefall eine feine Puderschicht hinterlassen.

Da meine Kollegin einige Zeit in einer anderen Filiale ausgeholfen hatte, ahnte sie von dem Unglück noch nichts. Mr. Latte – wie die Belegschaft des Coffeeshops den Kunden meiner Träume nannte – war seit drei Wochen nicht mehr aufgetaucht. Es war, als sei er zur Vorweihnachtszeit plötzlich verschwunden. Das nahm ich ihm übel. In unserem abendlichen Geplauder, wenn er pünktlich wie die Feuerwehr um 19:30 Uhr das Café betrat und bei mir seinen Caffé Latte bestellte, hätte er seine längere Abwesenheit ruhig mal ankündigen können! Nein, stattdessen hatte er mir bei seinem letzten Besuch erzählt, dass es ungewöhnlich kalt war und er für Weihnachten Schnee prophezeite und wie unheimlich romantisch er das fand. Ich war mir sicher, wenn meine Chefin nicht dazwischen geplatzt wäre, hätte er mich an diesem Abend zu einem Date eingeladen. Diese Verabredung existierte nur in meinen Träumen, genau wie er seit jenem Besuch. Anfangs hatte ich mich damit getröstet, dass er bestimmt in den Urlaub gefahren war, aber allmählich erschien mir seine Abwesenheit übermäßig lang.

Er verpasste die bunte Beleuchtung, die ich hingebungsvoll in den Schaufenstern angebracht hatte, ihm entgingen die nach allerlei Weihnachtsgewürzen duftenden Gebäckstücke in unserer Auslage, die ich ihm so gern angeboten hätte. Er versäumte sogar den vorhergesagten Schnee.

Trotzdem gab ich die Hoffnung nicht auf, dass vielleicht doch noch ein Weihnachtswunder geschehen und er wieder in den Laden kommen würde.

»Einen kleinen Caffé Latte to go, bitte«, bestellte die hereingekommene Kundin bei Fatima.

Meine Kollegin warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu, den ich geflissentlich ignorierte. Während sie die Dame bediente, bereitete ich mich auf den Feierabend vor. Wie so oft in den letzten Tagen war ich am Abend länger geblieben, da die Kundschaft, die der Christkindlesmarkt hereinleitete, immer größer wurde. Und weil ich insgeheim hoffte, mein mystischer, nach Leder duftender Verehrer mit seiner halb gebändigten haselnussbraunen Lockenpracht, erwies mir die Ehre.

Als ich fertig angekleidet in meinem roten Wintermantel nochmal an den Tresen kam, um mich von den Kolleginnen zu verabschieden, hechtete Fatima mit großen Augen an die Theke.

»Ist er das nicht?«, fragte sie und deutete mit dem Kopf zur Tür.

Mein Herz machte einen Sprung und ich folgte unvermittelt ihrem Blick. Es war niemand hereingekommen, doch draußen in der Gasse schlenderte ein junger Mann durch das schummrige Laternenlicht am Schaufenster vorbei, eingemummelt in dickem Schal

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Diantha Stern
Cover: Diantha Stern
Tag der Veröffentlichung: 06.11.2021
ISBN: 978-3-7487-9875-0

Alle Rechte vorbehalten

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