Montag, 26. März
IM LIFT
Einen kurzen Moment lang, nur für den Bruchteil dieses Moments, erlaubte er sich einen Blick in eine Welt, die er für sich nicht in Anspruch nehmen wollte. Dann überlegte er, ob jeder für sein Tun alleine verantwortlich sei, oder ob es nicht doch außerhalb des Einzelnen stehende Begründungen, Rechtfertigungen gäbe, die die Schuld nehmen könnten, getan zu haben oder unterlassen zu haben.
Er betrat den eleganten alten Aufzug, das leichte Schwanken des Bodens der Kabine ignorierte er. In der verspiegelten Rückwand des Lifts sah er sich selbst, bevor er sich umdrehte, um den Knopf für den vierten Stock zu drücken.
Er hielt einen großen flachen Karton mit seinem linken Ellbogen leicht an seinem Körper fest, in der linken Hand hielt er ein kleines Päckchen. Der große Karton war von gebrochenem Weiß, cremefarben, mit matter Oberfläche und sorgfältig mit einem silbernen Chiffonband zusammengehalten. Das kleine Päckchen war nicht lieblos, aber sichtbar professionell in Geschenkpapier eingeschlagen und mit einer vorgefertigten Masche beklebt.
Mit seiner freien Rechten strich er seinen Regenmantel glatt, rückte den Knoten seiner Krawatte zurecht, wartete darauf, dass der Lift mit dem kleinen Ruck nach oben losfuhr, den er als Kind geliebt hatte und der ihm jetzt gleichgültig war. Dann hörte er dem Knirschen und Summen der Mechanik zu und verfolgte das Wandern der Stockwerke.
Im vierten Stock stieg er aus und ging ruhigen Schrittes über den gepflegten Marmorboden nach rechts, zu der Tür des Appartements, in dem seine Geliebte wohnte. Wie wenn er sein eigenes Tun auf mögliche Fehlinterpretationen untersuchen und gegebenenfalls korrigierend eingreifen müsste, sagte er zu sich, dass Klara nicht seine Geliebte war, sondern seine Liebende, denn nicht er liebte sie, sondern sie liebte ihn. Er sperrte die hohe dunkle Tür auf und trat ein.
Cornelius Mayer traf Klara heimlich, hinter dem Rücken seiner Frau Grete. Er hielt es für möglich, dass Grete seine Affären erahnte, obwohl sie ihn nie darauf ansprach. Vielleicht, so vermutete er, erschien es ihr weniger irritierend, das gut funktionierende Gleichgewicht der Zugeständnisse, die sie und er einander zubilligten, weiter aufrecht zu erhalten, als die Gewissheit zu haben, eine so genannte Betrogene zu sein.
DAS GESPRÄCH MIT DER GELIEBTEN
Klara schenkte die zwei vor ihr, auf dem etwas zu niederen Couchtisch stehenden Sektgläser ein, nur etwas weniger als die Hälfte in jedes Glas. Sie stellte die noch halbvolle kleine Babysekt-Flasche zurück in den Kühler, der neben ihren Füßen auf dem Boden stand, und verwischte abwartend, fast gedankenverloren mit den Fingerspitzen ihres Zeige- und Mittelfingers das Nass des Eiswassers, das auf der Flasche gehaftet und auf die gläserne Tischplatte getropft war. Mayer nahm das Glas, das sie ihm schließlich zuschob, in die Hand, stieß mit ihr an, trank die zwei Schluck aus. Er beugte sich über sie, griff nach der Flasche und schenkte sich den letzten Rest ein, er bemerkte, dass Klara ihr Glas an ihren Lippen hielt, hineinblickte, den Sektperlen zusah, sie schielte dabei leicht. Sie trank nicht. Er beugte sich erneut zu ihr hinüber, gab die leere Flasche in den Kühler zurück, zu der zweiten kleinen Flasche, die diesmal ungeöffnet bleiben würde. Er stützte sich mit einer Hand leicht auf dem Tisch ab und küsste die nackte Haut ihres Oberschenkels.
Er hatte den speziellen Duft ihres Schoßes immer gemocht, besonders jetzt, nach dem Akt, wenn er seinen eigenen Geruch in ihrem wahrnehmen konnte. Unmerklich zog er das Badetuch zurecht, das seine Blöße kaum bedeckte, er wollte nicht, dass sie sah, wie sein Glied sich erneut aufrichtete.
Nun endlich trank Klara, lächelte Mayer zu, mit einem Lächeln, das man in früheren Zeiten schelmisch genannt hatte. „Willst du es nicht öffnen?“, fragte er, deutete auf den großen flachen Karton, der neben ihr auf der Couch lag. Das kleine Päckchen hatte sie bereits im Schlafzimmer geöffnet gehabt, es hatte ihr Lieblingsparfum enthalten, was sie nicht überrascht, aber dennoch erfreut hatte. „Nein“, antwortete sie und erklärte ihm, dass sie wüsste, was es enthielte, nämlich ein Abschiedsgeschenk. Er wollte wissen, wie sie darauf käme, sie antwortete, dass sie kein kleines Mädchen mehr wäre. Das Schelmische verschwand aus ihrem Lächeln, machte einem Wissen Platz, das er nicht erwartet hatte. Wieder glaubte er, einen Blick in eine Welt tun zu können, die weit weg von seiner eigenen lag, er spürte, dass ihr Wissen kein heiteres war, trotzdem war er erleichtert.
„Ich werde es dir nicht schwer machen, obwohl ich das könnte“, sagte sie. Ein Schwall warmer Zuneigung durchflutete ihn, plötzlich hätte er ihr gern gesagt, dass es ein Missverständnis wäre, dass er sich nicht von ihr trennen wollte. Aber er hatte vor langer Zeit einmal einer solchen Neigung nachgegeben, er wusste, dass das nur eine Verschleppung des Unweigerlichen bedeutete, das dann noch tiefer greifend verlief, für beide, für sie und für ihn.
Schlussendlich öffnete sie den Karton aber doch und entnahm ihm ein Negligé aus fließender Seide und zarten Spitzen, es handelte sich um Mayers übliches Abschiedsgeschenk, gekauft in einem kleinen, luxuriösen Geschäft in den verwinkelten Gässchen der Wiener Altstadt. Derlei außergewöhnliche Stücke kosteten viel, aber Cornelius konnte sich das leisten.
Klara stand auf, streifte das teure Nichts über ihren Körper und ging in die Küche, um Mineralwasser und ein paar Canapés zu holen. Letztere hatte sie auf dem kurzen Weg von der Bank nach Hause, wo sie ihre Mittagspause recht oft verbrachte, besorgt. Manchmal hatte sie sich zu Hause nur ausgeruht, manchmal ein paar Unterlagen durchgesehen, in den letzten zwei Monaten hatte sie fast immer Cornelius in ihrer Wohnung getroffen.
Während sie aßen und plauderten, kamen sie auf die geschäftliche Angelegenheit zu sprechen, über die sie einander kennen gelernt hatten: die Fusionsverhandlungen zwischen dem mächtigen Schwering-Konzern und dem renitenten Rudi Murauer, dem Betreiber einer mittelgroßen Biolebensmittel-Kette. „Habt ihr Murauer inzwischen weich gekriegt?“, fragte Klara. „So gut wie“, antwortete Cornelius. Klara arbeitete für die Bank, die Treuhandschaften über Schwerings Konten-Labyrinth abwickelte. Mayer war die rechte Hand des Firmeninhabers der Agentur Singer, die den Schwering-Konzern beriet und vertrat.
Cornelius stellte mit Überraschung fest, dass dem Gespräch mit Klara eine Leichtigkeit und Distanziertheit innewohnte, wie wenn sie sich zu einem so genannten Business-Lunch getroffen hätten, als seien sie einander zwar sympathische, aber nicht näher bekannte Geschäftsleute. „Warum machst du mir keine Szene?“, hätte er sie gerne gefragt, aber er ahnte, dass sie ihm eine routinierte Antwort gegeben hätte, die auch von ihm stammen könnte, dass nämlich sie sich wie er keine Sentimentalität erlauben konnte und wollte, dass sie ihrer Karriere denselben hohen Stellenwert einräumte, den er der seinen gab.
DIE FAHRT ZUR AGENTUR
Schockartig bremste er seinen Sportwagen, fühlte, wie die Reifen auf der regennassen Straße kurz schlierten und dann doch griffen. Seine Hände krallten sich wie Schraubstöcke um das lederbezogene Lenkrad, er stemmte sich dagegen, um nicht nach vorn geschleudert zu werden, spürte, wie die Muskeln in seinem trainierten Körper jäh reagierten, sich spannten und ihn schützten, dem möglichen Aufprall mit dem plötzlich vor ihn ausscherenden Motorrad entgegenwirkten.
Der Biker, ohne Helm, bekleidet nur mit Jeans und Hemd, drehte sich knapp um, blickte durch die Windschutzscheibe direkt in Cornelius’ Augen, ausdruckslos, während die Scheibenwischer sich hin und her bewegten, das leise Nass des Nieselregens und die sich in ihm spiegelnden Lichter verwischten, dann brauste er aufheulend über die Kreuzung, kurz bevor die Ampel vor Mayer wieder auf Rot schaltete. Der schüttelte den Kopf und nahm aus dem Handschuhfach eine Packung Papiertaschentücher, wischte sich über die Stirn. Ihm war heiß, er schwitzte. Er nahm seine Sonnenbrille ab, die er des frühlingshaften Zwielichts wegen gerne auch bei Regen trug, tastete zwischen seinen Füßen nach seinem Telefon. „Was war denn das?“, hörte er Gretes erschrockene Stimme, als er das Telefon wieder an sein Ohr hielt. „Nichts“, meinte er, „mir ist nur das blöde Telefon runtergefallen.“
Grete sagte, dass sie ab jetzt, am Nachmittag, nicht erreichbar sein würde, wegen der drei zeitgleichen Bombenanschläge in New York, Genf und Nairobi hätte der Herausgeber mit dem Außenpolitik-Ressort eine Sonderbeilage für die kommende Ausgabe vereinbart, die gesamte Redaktion stünde Kopf, an ein normales journalistisches Arbeiten sei nicht zu denken, sie wüsste nicht einmal, ob sie heute noch mit ihrer Gesellschaftskolumne fertig würde.
Er hörte ihr zu, warf hie und da einen Kommentar ein und sah vor seinem inneren Auge die vorangegangene Episode in Zeitlupe, er sah den Motorradfahrer quälend langsam ausscheren, das Mobiltelefon schwebte in einer elliptischen Linie dem Boden entgegen, seine Hände bewegten sich wie gleitende Vögel zum Lenkrad, seine Finger schlossen sich eisern um das Leder, mit fast unerträglicher Langsamkeit lief die Szene auf seiner imaginären Leinwand ab, wieder und wieder. Während Grete von ihrem Ekel über die Live-Bilder von den Schauplätzen des Terrors erzählte, zwang Cornelius ein Trugbild nieder, das sich störend in sein Denken schob, der junge Biker als Schlachtfleisch mit Stofffetzen, herausragenden Knochensplittern auf der Straße liegend, Metallteile auf der nassen Straße um ihn herum.
Mayer mochte es, im Auto zu telefonieren, er schätzte die lückenlose Nutzung seiner Zeit, nichts zu tun war in seinen Augen eine Vergeudung. Er rief, nachdem er das Gespräch mit Grete beendet hatte, in der Agentur an, gab seiner Mitarbeiterin ein paar Anweisungen und sagte ihr, dass er in Kürze dort sein würde, dann ließ er sich mit der Rechtsabteilung verbinden und besprach ein paar neue Gedankenansätze bezüglich des Schwering-Murauer-Deals mit dem Firmenanwalt. „Genial“, meinte der über Mayers Idee, „wir besprechen das weiter, wenn Sie dann da sind.“ Guter Sex klärt das Denken, ging es Cornelius durch den Kopf.
Er fuhr in die Tiefgarage des Gebäudes, in dem sich sein Arbeitsplatz befand, schloss seinen Wagen ab, ging durch das Halbdunkel des flackernden Neonlichtes. Der Geruch nach Fahrzeugen und Benzin kam ihm unaufdringlich zu Bewusstsein, das Klicken der Autos mit heißen Motoren, an denen er auf seinem Weg zum Aufgang vorbeiging, mischte sich mit dem Summen der Abgasentlüftung und vereinzeltem entfernten Hupen von draußen, die Geräusche waren ihm vertraut und heimelig. Auf dem Betonboden sah er wie stets die Bremsspuren und Ölflecken an, alte und neue, ein zufälliges Muster, das ihn an die Abstraktionen von Wassily Kandinsky erinnerte, als Kind hatte er einmal tagelang einen Umweg zur Schule in Kauf genommen, um immer wieder an einem Plakat zu einer Ausstellung Kandinskys vorbeizukommen, er hatte dessen unverständliche Anordnung von Farbflecken und Linien zu entschlüsseln versucht, bis das Plakat schließlich von einem anderen überklebt worden war.
Er warf den Schlüssel zu Klaras Appartement in die Luft, fing ihn wieder auf, er hatte vergessen, ihn ihr zurückzugeben. Sie hatte ihn nicht darauf angesprochen, er deutete das als möglichen Wunsch ihrerseits, doch noch einmal ein intimes Treffen zu initiieren, falls dem so wäre, dachte er, hätte sie sich in ihm getäuscht. Der Schlüssel fiel ihm aus der Hand, er kickte ihn ein wenig vor sich her, schob ihn dann mit der Spitze seines handgefertigten Schuhs vorsichtig in den Abfluss-Gully, lauschte dem Echo des Klirrens.
CORNELIUS MAYER IN SEINEM BÜRO
Die Räumlichkeiten der Agentur Singer belegten die oberen zwei Stockwerke eines gepflegten Patrizierhauses im Zentrum Wiens. Die beiden unteren Stockwerke waren an eine Schönheitschirurgin und an einen Fotografen vermietet. Die Einfahrt zur Tiefgarage befand sich in einer wenig befahrenen Seitenstraße, der Haupteingang des Hauses war über die Fußgängerzone der Kärntnerstraße erreichbar. Mayers Büro und das seines Chefs lagen zuoberst. Im darunter liegenden Stock, an der einzigen Eingangstür zu der Agentur, hing ein schlichtes Messingschild: „Singer & Partner, Investmentagentur“. Mehr stand nicht darauf, genauso wenig wie neben der Gegensprechanlage unten, am Hauseingang auf der Straße. Die Agentur Singer war berühmt und berüchtigt gleichermaßen, Manfred Singer hatte den Ruf, über Leichen zu gehen, Cornelius, sein Angestellter, stand dem in nichts nach. Mayer hatte gelernt, keine Schwächen zu zeigen, hingegen die der anderen ohne Bedenken für seine Zwecke und die der Agentur zu nutzen.
Die schweren Teppiche, die extravagante Möblierung, das gediegene Styling der gesamten Einrichtung des Büros mit den hohen Räumen und den zurückhaltenden Stuckdecken, all das fiel Cornelius nicht mehr auf, es war ihm diese Umgebung zur Selbstverständlichkeit seines Alltagslebens geworden. Schlürfend schloss sich die schwere hohe Tür hinter seinem Rücken, er nickte dem jungen Mann hinter der Rezeption zu, ging über die Wendeltreppe, die sich in der Mitte des Empfangsbereichs nach oben drehte, in das darüber liegende Stockwerk.
Vor Singers Büro hielt er an, er hörte durch dessen geschlossene Tür kaum wahrnehmbare Gesprächsfetzen. Er blieb ein paar Sekunden unschlüssig stehen, versuchte, aus den Lauten, die zu ihm drangen, auf die zweite anwesende Person zu schließen, es gelang ihm nicht. Er war von Natur aus neugierig, im wahrsten Sinne des Wortes gierig nach Neuem. Rätseln auf den Grund zu gehen, menschliches Verhalten zu deuten und zu verwerten, neue Erkenntnisse über das Menschliche, das Aktionsmuster anderer zu erlangen und ihnen damit einen Schritt voraus zu sein, war ihm Lebensinhalt und Genuss. Er war der geborene Jäger, umkreiste seine Beute mit Akribie und Ausdauer, mit Intelligenz und Kaltblütigkeit. Grete hatte oft zu ihm gesagt, dass er als Aufdeckungsjournalist Weltklasse sein könnte, das hatte ihn aber nie gereizt. Dem Bösen auf der Spur zu sein, es journalistisch anzuprangern, um die Welt zu ändern, lag diametral zu den Zielen der Branche, in der er seinem Gelderwerb nachging.
Er machte die paar Schritte zu seinem eigenen Büro, rief seine Mitarbeiterin zu sich. Marjam Güney brachte Kaffee und ein Glas Wasser für ihn, setzte sich, trotz ihrer Leibesfülle ausgesprochen elegant, ihm gegenüber an seinen Schreibtisch, klappte ihr Notebook auf und ging routiniert die Agenden des Nachmittags mit ihm durch. „Lassen Sie mich wissen, wann Manfred Singer mit seiner Besprechung fertig ist. Lassen Sie ihn wissen, dass ich dann zu ihm komme“, sagte er noch zu ihr, als sie schon im Türrahmen stand, um ihre Körpermasse aus seinem Büro zu hieven, sie nickte: „Klar, gerne.“ Er mochte ihre rauchige Stimme, die obszön vibrierte und dennoch von größter Seriosität zeugte. „Waldemar Grego“, sagte sie, fügte dann erklärend hinzu: „von Grego-Chemie, irgendwelche Kontoverschiebungen. Alltagskram.“ Mayer wusste plötzlich, dass sie ihn mochte, trotz seines geschniegelten Äußeren war er ihr aus irgendeinem Grunde sympathisch.
Den Kaffee hatte er sofort getrunken, nachdem Marjam ihn gebracht hatte, schwarz, kurz, ohne Zucker. Nun öffnete Cornelius Mayer die Schublade seines Schreibtisches, nahm aus einer Dose eine Tablette heraus und spülte sie mit dem Wasser hinunter. Er kniff kurz die Augen zusammen, setzte sich gerade auf seinen Bürostuhl, ohne sich anzulehnen, atmete durch. Ruhig schob er seine Schultern vor und zurück, bis er das Gefühl hatte, gelockert und gestärkt zu sein und jene spezielle Spannung der Unverwundbarkeit in sich zu spüren, die ihm verhandlungstechnische Höchstleistung garantierte. Aus der Innentasche seines Jacketts, das er über die Rückenlehne seines Sessels gehängt hatte, nahm er seine leere Pillendose, öffnete sie, gab ein paar von denen aus der Schreibtischschublade hinein. Als er nach seinem Handy griff, um in den Kontakten nach einer bestimmten Datei zu suchen, rief sein Chef an und bat ihn in sein Büro. Bevor Cornelius Mayer hinüberging, löschte er Klaras private Mobilnummer aus seinem Telefon.
DAS GESPRÄCH MIT MANFRED SINGER UND DEM ANWALT
Auf dem Gang zu Singers Büro begegnete er dem feisten Waldemar Grego, grinste dem alten Mann breit und professionell entgegen. Dann klopfte er an Singers Tür, wartete eine halbe Sekunde lang ab und trat ein, kurz bevor sein Chef ihn hereinrief. Beide taten so, wie wenn sie dieses kleine Machtspiel nicht bemerkt hätten. Manfred Singer hieß Mayer zu einer kleinen Sitzgruppe mit drei weißen Lederfauteuils zu gehen, auf dem kleinen Tisch in deren Mitte standen Mineralwasserflaschen und Gläser, daneben lagen ein Stapel kleiner Notizblöcke und ein paar Bleistifte, alles mit dem eleganten Namenszug der Agentur versehen, der Innenausstatter des Büros hatte, wie bei der Gesamtgestaltung, auch bei diesen Kleinigkeiten Zurückhaltung walten lassen.
Im Gegensatz dazu bildete die Person des Firmeninhabers, der als einer der brillantesten Investmentexperten Mitteleuropas galt, ein absurdes Konglomerat an Exzentrik. In der geschmeidigen Atmosphäre nobler Schlichtheit seines Büros wirkte Manfred Singer wie ein Schandfleck. Er war klein und gedrungen, sein von unbezähmbarer Energie geladener Körper steckte in einem maßgeschneiderten silbernen Anzug, seine Cowboyboots waren auf Hochglanz poliert. Er hatte längeres schwarzes Haar, das sich am Oberkopf lichtete und an den Schläfen ergraute, seine Frisur glich der eines Gigolos, glatt und pomadiert nach hinten gestrichen, zu einem kleinen Zopf zusammengefügt. Cornelius Mayers Chef war, selbst im großzügigsten Sinne, alles andere als ein Sympathieträger, das machte ihm aber nichts aus, er wollte ohnehin nicht geliebt werden. Sollte ihn jemand mögen, sagte er, so wäre ihm der suspekt. Er zog die Anhänglichkeit langbeiniger Wesen auf hohen Absätzen und in knapper Kleidung vor.
Manfred Singer war unverheiratet, reich und eisig, eine beneidenswerte Mischung, dachte sich Cornelius Mayer nicht zum ersten Mal, als er seinen Chef auf dem zweiten Lederfauteuil Platz nehmen sah. Und wie so oft fragte sich Cornelius auch diesmal, ob hinter der Fassade nicht doch etwas wohnte, das sein fast fünfzigjähriger Chef vor seinen Gegnern und vor sich selbst zu verbergen trachtete. Cornelius Mayer fragte sich, ob das Singer’sche Universum tatsächlich nur aus Protzen und Prahlen bestand, oder ob es nicht doch sorgfältige Tarnung seines Wesens war, die auch noch unbändigen Spaß zu machen schien.
Auf dem dritten, noch leeren Stuhl sollte der Firmenanwalt Fritz Enghalt sitzen, mit dem Cornelius vom Auto aus telefoniert hatte. Er trat ein, kurz nachdem Mayer eine der Mineralwasserflaschen geöffnet und direkt aus der Flasche einen Schluck genommen hatte. Der hagere, grauhaarige Anwalt ließ sich mit einem herausfordernden Ächzen bei den beiden anderen nieder, klappte sein Notebook auf seinem Schoß auf und wartete darauf, dass sich das System hochfuhr. Währenddessen griff er in seine Jackentasche, öffnete eine Pillendose, die ähnlich aussah wie die Mayers, reichte sie reihum. Mayer schüttelte den Kopf, gab zu verstehen, dass er bereits versorgt wäre, Manfred Singer nahm eine der Tabletten, zerkaute sie und schluckte sie ohne Wasser hinunter. Enghalt tat dasselbe. Es geschah dies mit einer Selbstverständlichkeit, die Cornelius inzwischen, nach vielen Jahren Mitarbeit in der Agentur, nicht mehr in Frage stellte.
Mayer skizzierte, um Manfred Singer auf den letzten Stand zu bringen, in wenigen Worten nochmals seine Vorstellung, wie die noch vorhandenen Widerstände des Biobetreibers Murauer gebrochen werden konnten. Er gab sich gelassen, als wäre ihm die Zurschaustellung seines Einfallsreichtums gleichgültig. Enghalt schwieg eine Weile, Cornelius sah dem Anwalt an, wie der seine Macht des Wissens um nahezu sämtliche Schlupflöcher des Wirtschaftsrechts genoss. Fritz Enghalt hatte inzwischen ein paar Dokumente auf seinem Computer aufgerufen und las dann die rechtliche Situation vor, interpretierte sie, veränderte sie gewandt wie ein Zauberkünstler, als sei alles nur ein Spiel. Mayer ahnte, dass der Schwering-Murauer-Vertrag dem Rechtsanwalt mit dessen vielen Jahrzehnten Berufserfahrung tatsächlich nur ein weiterer Zeitvertreib war, der alte Mann hätte sich, wenn nicht etwas in ihm nach ständiger Provokation gierte, schon längst zur wohlversorgten Ruhe setzen können. „Ich lass euch beiden dann einen Vertragsentwurf zukommen“, meinte Enghalt schließlich, nachdem die drei Männer das Für und Wider der vorgeschlagenen Vorgehensweise eine Stunde lang besprochen hatten.
„Wenn nichts dazwischenkommt“, sagte Singer euphorisch „dann können wir am Freitag Abend feiern.“
„Was soll schon dazwischenkommen“, meinte Enghalt.
„Wir haben Murauer im absoluten Schraubstock“, schloss Mayer.
Singer nahm sein Mobiltelefon zur Hand, rief Rudi Murauer an und teilte ihm mit Bedauern in der Stimme mit, dass auf seine Rücktrittsforderungen leider nicht eingegangen werden könnte, Singer hätte jetzt gerade wieder sämtliche Überredungskünste versucht, um seinem Klienten Schwering ein gewisses Entgegenkommen abzuverlangen, gerade eben hätte er mit Hans Schwering persönlich telefoniert, um den alten Milliardär noch umzustimmen und Murauer aus dem Deal zu entlassen, jedoch beharre Schwering unerbittlich auf seinem Recht und den unvorsichtigerweise vorab von Murauer akzeptierten Bedingungen. Es sei, so hauchte er warmherzig wie ein Seelenhirte in sein Telefon, leider nichts mehr rückgängig zu machen.
Für den kommenden Freitag Abend wurde also der reservierte Termin für die Feier des erfolgreichen Abschlusses in den Räumen der Agentur fixiert. Mayer wollte einwerfen, dass bis jetzt nur eine Art Vorvertrag unterzeichnet wäre, jener verhängnisvolle handgeschriebene Zettel, der Murauer in den Ruin treiben würde, akzeptierte der nicht zur Gänze Schwerings Übernahme-Angebot. Er zögerte, hasste sich für sein Zögern, fragte sich, ob er mit seinen 41 Jahren nun alt würde, weil ihn eine ungute Ahnung überfiel, einer Warnung gleich, dass es ein Sakrileg wäre, zu früh zu feiern. Er ignorierte seinen Einwand, denn er war davon überzeugt, in Kürze, sobald er den Schwering-Murauer-Deal zur Zufriedenheit seines Arbeitgebers über die Bühne gebracht hatte, den verwaisten Partner-Platz zu übernehmen, der seit dem überraschenden Tod von Manfred Singers vorherigem Kompagnon förmlich auf ihn zu warten schien.
Singers langjähriger Freund und integerer Teilhaber war vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, zu diesem Zeitpunkt beschäftigten sich die Wirtschaftsteile der österreichischen Medienlandschaft gerade mit der hierzulande größten Firmenübernahme aller Zeiten: die multinationale Holding Monoseed wollte das österreichische Schwering-Imperium aufkaufen. Die neutrale Agentur Singer & Partner hatte die Vertragsverhandlungen zwischen den beiden Firmenvertretern mit Präzision und Schärfe durchgeführt und angenommen, nach dem Zustandekommen entweder Monoseed oder dessen Tochterfirma Schwering zu ihren neuen Kunden zählen zu können. Über die Verhandlungsmodalitäten war es zwischen Singer und seinem Partner zu gewissen Differenzen gekommen, der altmodische Geschäftsmann, dessen Name launigerweise Hannes Partner lautete, wollte stets als Singers moralische Instanz fungieren. Singer hatte den Schock über Partners Tod mit Wodka und Champagner hinunter gespült und sich eine Woche lang in volltrunkenem Zustand von einer Bar zur nächsten gehangelt. Schließlich, nach dieser Woche, verkam sein einziger Kommentar über den Tod seines Freundes zum makaberen Running Gag: „Wir müssen nicht mal das Firmenschild ändern“, grunzte er, als er am Montag nach seiner Trauerwoche mit nüchterner Aggressivität die Agentur betrat, „über kurz oder lang will ich einen neuen Partner, und dessen Name ist mir scheißegal.“
Bis jetzt hatte Singer keinen neuen Partner, vertrat seit damals sowohl die Monoseed-Holding als auch deren nunmehriges Subunternehmen Schwering und gab Mayer die unausgesprochene Zusicherung, ihn definitiv an seiner Seite haben zu wollen.
Als Cornelius in sein Büro zurückging, um sich seinen anderen Kunden zu widmen, rief Gretes Bruder an: „Sehen wir uns heute Abend wieder mal? Auf eine Partie?“ Es war schon einige Zeit her, seit Cornelius das letzte Mal mit Ludwig Schach gespielt hatte. Er stimmte zu und freute sich auf die geistige Herausforderung, denn Ludwig war ein exzellenter Spieler. Außerdem sehnte er sich nach einem der in den letzten Wochen seltener gewordenen Gespräche mit seinem sonderbaren Freund und Schwager.
ABENDESSEN MIT GRETE UND LUDWIG
Er folgte der akkuraten, klaren Stimme Gretes durch das Vorzimmer, durch das Wohnzimmer, über einen weiteren kleinen Gang bis zur Küche, wo er sie telefonierend fand. Sie stand an dem Block in der Mitte des kühl gestalteten modernen Raums, schnitt Gemüse klein, sorgfältig und konzentriert, ihre gepflegten Hände und deren routiniertes Tun zeugten von alltagsgewohnter Küchenarbeit und regelmäßiger Maniküre zugleich. Grete kochte gerne und ausgesprochen gut. Ihr Headset am Ohr, hörte sie zu schneiden auf, lächelte ihrem Mann erfreut zu und stemmte die eine Hand in ihre Hüfte, während die andere das Küchenmesser wie ein Siegesschwert in die Höhe hielt. Cornelius setzte zum Sprechen an, sie schüttelte den Kopf, senkte gespannt die Augen, stellte ihrem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung mit eindringlichem Nachdruck eine Frage. Sie interviewte offenbar gerade einen ihrer vielen Kontakte aus der Wiener Gesellschaftsszene. Sie legte das Messer auf die Arbeitsfläche des Küchenblocks, Cornelius trat zu ihr, umarmte sie leicht und gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange, deutete ihr, dass er sich umziehen ginge.
Zum dritten Male an diesem Tag stand er dann unter der Dusche, die erste hatte er in der Früh gleich nach dem Aufwachen genommen, die zweite mittags in Klaras Appartement und nun stand er wieder unter dem von oben herab kommenden, dampfend warmen Wasser, wie wenn sich ein Kreis geschlossen hätte, der Kreislauf des fließenden Elements.
Er war froh, mit dem Abschied von Klara einer Verpflichtung entkommen zu sein, die ihm zugegebenermaßen sehr angenehm war, ihm jedoch zu eng zu werden drohte. Er hoffte, nein, er wusste, dass seine zukünftige Zusammenarbeit mit der Bank in geregelter Weise verlaufen würde, weder er noch Klara wollten sich Emotionalitäten leisten, die ihrem Arbeitsziel entgegenwirkten.
Wieder einmal beglückwünschte er sich für seine gute Wahl, was Frauen betraf. Er hatte Grete Fuhrer-Fuhrmann geheiratet, eine sowohl intelligente als auch kluge Frau; seine Gespielinnen suchte er, wenn das Äußere entsprach, nach dem Gesundheitszustand ihres Gemüts aus, mit Hysterikerinnen wollte er nichts zu tun haben. Sorgfältig seifte er seinen Schritt ein und dachte an einen Film aus den 80er Jahren, der vom Seitensprung eines verheirateten Mannes handelte: der erfolgreiche Anwalt Dan begann eine Affäre, die bald einen verhängnisvollen Lauf nehmen sollte, denn seine Geliebte hielt sich nicht mehr an die Spielregeln, drehte durch und lief schließlich Amok.
Als er sich abgetrocknet hatte und vor den Spiegel trat, um die noch etwas feuchten Haare nach hinten zu kämmen, betrachtete er sich, als begegnete er diesem Mann dort zum ersten Mal in seinem Leben, er suchte nach Unstimmigkeiten in den ausdruckslosen dunkelgrünen Augen, die ihn aus dem leicht beschlagenen Spiegel ansahen.
Eine verhängnisvolle Affäre war das letzte, das ihn interessierte, er hatte außerdem für sich selbst schon lange entschieden, dass er, sollte ihm tatsächlich so etwas geschehen wie dem Anwalt in jenem Film, sofort Grete informieren würde, er war keiner, der die perfekte Struktur seines Lebens in Gefahr brächte, niemals. Cornelius gefiel der englische Originaltitel des Films besser, Fatal Attraction. Der besagte wirklich, dass die Attraktion, der der Protagonist erlag, eine fatale war, unabdingbar, unwiderruflich dem Schicksal des Drehbuchs ausgeliefert. Mayer konnte sich nicht vorstellen, je von einer Frau so angezogen zu sein, dass er sein jetziges Leben aufs Spiel setzen könnte. Die Passivität des fragwürdigen Filmhelden, der sich fast willenlos einer verrückt gewordenen Frau auslieferte, widersprach Cornelius, denn er selbst zog sich seine Freundinnen zu, nicht sie köderten ihn. Cornelius Mayer hütete seine Lebensstruktur unerbittlich, sie war eine der fundamentalen Säulen seiner Existenz.
Immer noch betrachtete er dieses fremde Gesicht im Spiegel und er fragte sich, ob
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 11.03.2014
ISBN: 978-3-7309-9263-0
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