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Prolog

"Der Weg zu allem Großen, geht durch die Stille."
Friedrich Nietzsche

Wir leben in einer lauten Welt. Ihr Schrei schallt blechern in unseren Köpfen. Eigens konstruiert, lernen wir, sie zu ertragen. Ratternde Straßenbahnen, grölender Verkehr, hastende Menschen, die über die Straßen fliehen. Blind und taub taumeln wir umher. Erbauen Gebäude, die bis in den Himmel ragen, während der Graben der Gesellschaft immer tiefer zerreißt. Wir leben ein Leben auf der Überholspur. Wir füttern unsere Kinder mit Bergen von Wissen, vergessen dabei es ihnen zu vermitteln. Von klein an passen wir uns der Gesellschaft an. Gemeinschaft vor Individuum. Wir verdrängen, dass wir nicht eins sind. Jeder von uns ist besonders, auf seine eigene Art und Weise. Gefangen im Hamsterrad vergessen wir unseren Individualismus. Unaufhörlich hasten wir durch das Leben, bis wir plötzlich stolpern. Der Aufprall ist hart und unbarmherzig. Orientierungslos liegen wir auf den Rücken. Umgeben von Gitterstäben erkennen wir die Ausmaße unseres eigens geschaffenen Käfigs.

Mein Name ist Caroline. Dies ist meine Geschichte. Wie sie enden wird, kann ich noch nicht sagen. Doch sie beginnt mit einem zaghaften Stolpern. Vorerst ist das nichts Ungewöhnliches. Viele von uns verloren schon einmal den Halt. Danach heißt es: Aufstehen, Staub abklopfen und weiterlaufen. Wir fallen und stehen wieder auf. Ich fiel und stand wieder auf, den Weg fest im Blick. Meine Narben sind zahlreich und ich trage sie mit Stolz. Sie sind Zeichen des Sieges. Ich besiegte den Kummer der ersten Liebe, stellte mich dem " anders sein" und besiegte den selbstauferlegten Hunger. Selbst in der Ferne konnte ich mich behaupten.
Nach langem Kampf wog ich mich in trügerischer Sicherheit. Endlich war das Ziel in Sichtweite. Ich war im 3. Semester meines Studiums, besaß eine eigene Wohnung und einen gut bezahlten Nebenverdienst. Mit Adam an meiner Seite hatte ich einen Platz in der Welt gefunden.
Doch stolpern ist leicht und manchmal kann einem das Aufstehen schwerfallen.

Stille

 Nach meinem Praktikum bei unserem stadtbekannten Festival beschloss ich, mir eine kleine Auszeit zu nehmen. Vier Jahre hatte ich mühsam Geld gespart für eine 4-tägige Reise durch Südengland. Mit einem Mietauto ging es von Southampton nach Salisbury und zurück. Jeden Tag verbrachte ich an einem anderen Ort. Ich bestieg den höchsten Punkt des Maiden Castle und durchstreifte die mystische Natur des Dartmoor-Nationalparks. Ostersonntag verbrachte ich auf einer einsamen Farm mit Blick auf Dutzenden kleinen Feuern, die den Nachthimmel erleuchteten. Selbst Stonehenge ließ ich mir nicht entgehen. So viel wie möglich sehen in kürzester Zeit war meine Devise. Vier Tage später und mit leichtem Sonnenbrand im Gesicht trat ich meine Heimreise an. Ein drei Stunden Flug und zwei Stunden Zugfahrt lagen hinter mir, als wir endlich die vorletzte Haltestelle erreichten. Während die Landschaft an mir vorbeieilte, schrieb ich eine kurze Nachricht an Adam. Vielleicht würde er am Bahnhof auf mich warten. Vielleicht mit einem kleinen Geschenk, einen Strauß Blumen, oder einen starken Kaffee.
Meine Gedanken verweilten an unseren letzten gemeinsamen Abend. Bis spät in die Nacht hatte ich vor meinem Laptop gesessen und geschrieben. Adam hatte in seinen Sessel gesessen, den Controller fest in den Händen und auf sein Spiel konzentriert. Erst viel später bemerkte ich, dass die Hintergrundgeräusche verstummt waren. Als ich mich umblickte, sah er mich an, den Kopf nachdenklich auf die Hand gestützt.
„Wirst du mich es irgendwann lesen lassen?“
„Vielleicht, wenn ich fertig bin.“
Er schenkte mir sein schiefes Lächeln. „Du lächelst!“
Ich hörte auf zu tippen und sah ihn an.
„Wie meinst du das!“
„Wenn du schreibst. Du lächelst, ganz anders als sonst!“
Das blecherne Zwitschern riss mich aus meiner Erinnerung und kündigte von seiner Antwort. „Ich Pizza Döner gehen.“
Ich runzelte die Stirn. Nicht die erste seltsame Nachricht, die er mir in den letzten Tagen geschickt hatte. Doch ich dachte mir nichts dabei. Ich wusste, dass er seit zwei Tagen mit seinen Jungs unterwegs war. Geduldig wartete ich auf das Stoppen des Zuges. Meine Erwartungen wurden enttäuscht. Der Bahnhof war leer, niemand der auf mich wartete. Erschöpft von der Reise trat ich den Weg zu meiner Wohnung an. 15 Minuten später warf ich meinen Rucksack auf die Couch und mich daneben. Es war später Nachmittag, doch noch lange nicht Nacht. Ich stapfte in die zweite Etage und schloss die Tür zu seiner Wohnung auf.
In der Wohnung war es finster, die Gardinen noch zugezogen. Über seine beachtliche Schuhsammlung stolpernd suchte ich mir den Weg ins Wohnzimmer. Ohne Vorwarnung riss ich die Vorhänge auf. Es roch sauer und nach kaltem Rauch. Erst als sich meine Augen an das Tageslicht gewöhnten, sah ich das Chaos. Asche und Zigaretten lagen neben dem Aschenbecher auf den Boden verteilt. Gläser lagen umgestürzt auf den klebrigen Tisch. Neben dem Bett, in Kissen und Decke gehüllt lag ein Häufchen Elend. Der ordentlichste war er nie gewesen. Chaos beherrschte bekanntlich das Genie. Aber das sprengte den Rahmen jeder Vorstellung. „Was zur Hölle?“ ,brach es aus mir heraus.
Ein Stöhnen begrüßte mich aus dem Deckenhaufen.
Ich stapfte über die klebrigen Flecke. An manchen Stellen war der Fußboden schon aufgeweicht. Die Ränder des Laminats krümmten sich nach oben. Angewidert stellte ich Becher und Gläser auf den Tisch und räumte mir den Weg zu Adam frei. Sein schiefes Lächeln lugte unter der Decke hervor.
„Alles in Ordnung?“
„Hilf auf.“ , gab er als Antwort.
Ich stemmte ihn an den Rand des Bettgestelles. Er rieb sich die Augen. „Da?“
„Offensichtlich. Kannst du mir erklären was los ist? Wie lange habt ihr denn gefeiert?“
Er schüttelte dumpf den Kopf und hievte sich aufs Bett. Mir fiel auf, dass er seinen rechten Arm nicht richtig bewegen konnte. Nichts Ungewöhnliches, nach einem ausgiebigen Pogo Abend. „Was ist mit deinem Arm?“
Es gab keine Antwort, nur ein schiefes Lächeln. Seine Haare fielen ihm fettig ins Gesicht. Er roch nach Schweiß und Urin. Wer bitte lässt seinen Freund in einen solchen Zustand zurück, schoss mir durch den Kopf. Ich betrachtete die Gläser und die Unordnung. Sie mussten hier gefeiert haben, also mussten sie sich seines Zustandes doch bewusst gewesen sein? Wer weiß, in welchen Zustand sie gewesen waren.
Meine Augen spähten über das Chaos, während mein Magen vom Gestank rebellierte. Allein würde ich ihn nicht in die Dusche hieven können. Also tat ich, was ich vorerst tun konnte. Ich blieb ruhig. „Ich räum erstmal auf und dann erzählst du mir was hier los ist!“
Also tat ich, was getan werden musste. Ich kehrte den Boden, ließ das klebrige Zeug, wo es war, denn Wischen war das Letzte, woran ich gerade dachte. Ich säuberte die Küche, brachte ihm ein Glas Wasser, warf ihm Decke und Kissen aufs Bett, öffnete das Fenster und setzte mich auf die Bettkante. Und wartete, minutenlang. Er strich über meinen Rücken. „Sauer.“
Ich begriff nicht, vielleicht wollte ich nicht, vielleicht konnte ich nicht. Ich wusste es einfach nicht!
„Wie lange habt ihr denn bitte gefeiert?“
Keine Antwort. Ich sah auf die Uhr. Es war 16 Uhr, ich hatte nichts im Kühlschrank, sein Kühlschrank war chronisch leer. Erschöpfung lähmte meinen Körper. Doch Erholung war nicht angesagt. Ich musste Essen, er musste Essen. Ich ging in die Küche, nahm die letzte Wasserflasche und stellte sie neben sein Bett. „Ich muss einkaufen, Wasser steht neben dem Bett, trink bitte was. Ich bin gleich wieder da.“
„Hmmm.“
Er streckte sein Arm aus und sah mich an. Es dauerte eine Weile, bis ich verstand. „Handy?“
„Hmmm.“
Ich nahm sein Handy vom Tisch, seine Exfrau hatte ihm geschrieben. Meine Augen erspähten die ersten Zeilen des Textes. „Du solltest dich schämen. Ich mute meinem Kind keinen Alkoholiker als Vater zu....“
Ohne zu kommentieren, ohne richtig sehen zu wollen reichte ich ihm sein Handy. Er versuchte zu tippen, ohne zu lesen.
„Ich geh jetzt, bis gleich.“
Seine Antwort wartete ich nicht ab. Ich ging in meine Wohnung, schnappte mir Portmonee und Tasche, schluckte meinen Frust herunter und lief los.
Im Laden erhielt ich seine SMS.
„Kuchen.“
Ernsthaft? Ich ignorierte seine Bitte, kaufte stattdessen Magnesium, und ausreichend Lebensmittel für ein Abendbrot Nudel, Lachs und Spinat; das musste reichen. Es war mittlerweile 18 Uhr. Mit gepackten Tüten stand ich vor der Tür, versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, doch es wollte mir einfach nicht gelingen. Vielleicht ahnte ich, was kommen würde. Vielleicht wusste ich es schon, wollte es nur nicht wahrhaben.
Seine Augen waren geschlossen, als ich die Wohnung wieder betrat.
Ich nahm die Magnesiumtablette, ließ sie in sein Glas fallen und sah zu, wie sie sich sprudelnd auflöste. Den Teller mit frischem Obst stellte ich ihm auf das Regal neben seinem Bett. Ich setzte mich auf die Bettkante und starrte in den Fernseher. In Gedanken fasste ich zusammen. Wir waren alle schon einmal betrunken gewesen. Ich selbst wusste, wie es sich anfühlte, ich wusste, wie es aussah. Doch so sah es nicht aus. Betrunkene verhielten sich anders. Er war nicht betrunken. Ich schloss die Augen, für einen Augenblick, bevor ich ihn vorsichtig weckte. Er wurde wach, blinzelte, versuchte zu lächeln, als er mich sah.
Ich legte meine Hand auf seinen Arm. „Adam. Iss bitte was und trink was.“
Er mühte sich in eine sitzende Position. Lächelte mich verschmitzt an. Hob sein Arm mit den anderen, ließ ihn wieder fallen und lächelte fassungslos. Das war nicht normal. Nichts von dem war normal. Aber er aß, er trank. „Kannst du mir bitte sagen was passiert ist?“
Er lächelte, versuchte, meine Sorgen wegzuwischen. Ein Bild bohrte sich in mein Gedächtnis. Schwindelanfälle vor drei Wochen, einer war so schlimm gewesen, dass er auf Arbeit kurz ohnmächtig gewesen war. Ich hatte ihn gebeten, zum Arzt zu gehen, doch er hatte nicht hören wollen. Nur Schwindel, hatte er gesagt. Ich erinnere mich an die Diskussion, die damit endete, dass ich sagte: ,,Es ist deine Gesundheit, nicht meine!“
Ich betrachtete ihn, sah ihn in die Augen, versuchte nicht, zu weinen. Er aß, er trank. Der Teller war leer.
„Möchtest du noch was essen?“
„Mh, mh.“ , er schüttelte den Kopf.
Ich atmete tief durch, sah ihn an, sah mich im Zimmer um. Nichts war normal.
Ich sprach so langsam und so deutlich ich konnte. „Adam! Etwas stimmt nicht, ich mache mir Sorgen! Ich ruf jetzt den Arzt!“
Ich nahm Handy und Teller, ging in die Küche. Einen kurzen Moment hielt ich die Luft an, bis mein Herz einen Moment lang aufhörte zu schlagen. Gab ein, was ich wusste. Ich las, ohne lesen zu können. Ich sah nicht, was da stand.
Meine Finger wählten die Nummer des Rettungsdienstes. Ich beschrieb, was ich sah, nannte die Adresse und wartete. Ich setzte mich aufs Bett, strich über seinen Arm. „Es tut mir Leid, aber ich mache mir Sorgen.“
Er hielt meine Hand und wir warteten. Nicht lange, und lange genug. Der Rettungsdienst kam, Fragen wurden gestellt. Und meine Welt brach, sie bröckelte und fiel in einzelne Stücke. Ich hörte, wie Ziegel für Ziegel fiel. Ich sah die Fenster bersten, das Dach zu Boden krachen. Ich sah den Haufen Schutt, der übrig geblieben war, bis der Wind Staub und Dreck mit sich nahm und nichts blieb. Als der Krankenwagen fortfuhr, war nichts mehr da. Stille kehrte ein. Ich wagte es nicht, in seine Wohnung zurückzukehren. Ich stand im Flur des Hauses und starrte auf meine Tür. Sie war braun. Eher beige. Vielleicht Eiche. Ja, Eiche. So nannte man das.

Funktionieren

 Funktionieren. Ein Verb. Funktionieren bedeutet, intakt zu sein und durch Zusammenwirken bestimmter Vorgänge die Funktion zu erfüllen, für die sie bestimmt ist. Maschinen funktionieren, bis sie es nicht mehr tun. Menschen können funktionieren, bis sie es nicht mehr tun.
Dienstagmorgen. 8:00 Uhr. Ich fühlte das harte Holz des antiken Stuhles. Generationen von Studenten haben hier Platz genommen und ihre Initialen oder Gedanken in das Pult geschnitzt. Erinnerungen für die Ewigkeit. Meine Augen waren auf die geschnitzte Blume gerichtet. Sie zählten Blütenblatt für Blütenblatt. Die Worte des Professors drangen aus weiter Ferne an mein Ohr. „Gustav Wasa.....König von Schweden..“
Die Köpfe der Studenten waren auf ihre Notizen gerichtet, eifrig saugten sie seine Worte auf. Ihre Stifte flogen über das Papier. Doch meiner blieb still.
Ein Gong schallte durch das Auditorium. Bewegung kam in den Saal. Papiere und Stifte wurden zusammengesucht. Worte gewechselt, Treffen arrangiert, Sorgen und Freude geteilt. Jemand lachte. Einem Rudel Schafe gleich strömten sie aus dem Saal. Eilig musste es gehen, denn bis zum nächsten Seminar blieb nicht viel Zeit. Drei Seminare lagen noch vor mir. Nichts hatte sich verändert! Alles hatte sich verändert!
Mir war übel. Ich wandte mich an Anna. „Ich geh jetzt nach Hause. Könntest du mir vielleicht heute Nachmittag helfen, beim aufräumen. Ich muss Adams Wohnung in Ordnung bringen.“
„Ja klar, so gegen drei?“
Sie strich tröstend über meinen Arm. „Danke.“
Ich packte meine Sachen und trat den Heimweg an. Zu Hause angekommen war es 10:30 Uhr. Ich warf meine Tasche auf die Couch, versorgte Jack. Er rieb sich an mir, wusste, das etwas nicht stimmt. Sah mich an mit fragendem Blick. Doch ich funktionierte noch. Ich musste, denn ich hatte keine Zeit.
Ich nahm Putzzeug, Eimer und Lappen und betrat Adams Wohnung. Seine Mutter hatte gelüftet um, den Uringeruch loszuwerden. Ich stellte alles ins Bad und setzte mich auf seinen Sessel. Dann starrte ich auf die fleckigen Fenster. Ich saß da und starrte, zwei Stunden lang. Da waren sie wieder. Weiße Wände.
Ich füllte den Eimer mit Wasser und Essig, zog das Bett ab, befüllte die Waschmaschine, stellte sie ein. Ich räumte die Schränke und Geräte beiseite. Befreite den Urin, Asche und Klebrigkeit vom Boden. Säuberte die Küche und setzte mich in seinem Sessel, bis es an der Tür klingelte.
Einige Stunden später waren wir in meiner Wohnung. Es war spät geworden, die Sonne ging langsam unter. Ich wusste, dass Anna gehen musste, ich wollte sie nicht länger aufhalten. Angezogen und mit schlechtem Gewissen stand sie in der Tür. „Brauchst du noch etwas?“
„Danke, du hast mir wirklich geholfen.“
Sie streichelte erneut tröstend meinen Arm. Doch ich bemerkte ihre Berührung nicht einmal. „Wenn du noch was brauchst, ich bin immer da!“
„Ich weiß, danke.“
Sie wollte gehen, sie konnte nicht gehen. „Geht es dir gut?“
Nein! „Ich weiß es nicht!“
Sie nickte zustimmend, senkte den Kopf und ließ mich zurück. Ich schloss die Tür, stellte die Dusche an, öffnete die halb leere Weinflasche, setzte mich auf den Teppich vor meine Couch und lauschte dem Regen. Ich funktionierte.

Menschen

Zeit vergeht, wenn wir vergessen zu fühlen, sie fliegt dahin und rinnt durch unsere Finger. Wir vergessen zu sehen, zu hören und zu atmen. Es ist, als säßen wir in einem dunklen Raum und starren aus dem einzigen Fenster. Wir können es nicht öffnen, noch den Blick abwenden. Wir starren hinaus, sehen Schatten, die vorbei huschen. Die Sonne scheint, doch ihre Strahlen erreichen uns nicht.
Neun Monate später funktionierte ich immer noch tadellos. Ich stand auf, wusch mich zog mich an, ging in die Uni, ging zur Arbeit und starrte an die weißen Wände meines Zimmers.
Es war Frühling, die Tage wurden wieder länger. In einer Woche waren Prüfungen. Zwei Monate zuvor hatte ich mit dem Lernen angefangen. Ich funktionierte, ich war gut im Funktionieren.
Meine Augen hafteten auf dem Organon-Modell von Karl Bühler. Ein Sender, ein Empfänger, in der Mitte das Zeichen. Signal, Symbol, Symptom. Ein Symptom. Müdigkeit war ein Symptom. Lustlosigkeit auch, sowie Desinteresse. Vor meinen Augen verschwammen die Bilder. Eine Sprachnachricht erlöste mich. Ich öffnete die App, drehte den Lautsprecher auf und drückte auf abspielen. Gebrochenes Deutsch schallte ihr entgegen.
"...Kannst du mal helfen. Isch brauche Hilfe bei Hausaufgabe Erörterung. Kannst du mal suchen das ist. Versteh ich nicht die Aufgabe."
Erörterungen. Linear und dialektisch. Ob es dazu Übungen, oder Erklärungen gab? Meine Augen huschten zur Uhr. Wie immer rechtzeitig. Eilig öffnete ich meinen Laptop und suchte nach Aufgaben zum Thema. Die vorbereiteten Blätter legte ich beiseite für die nächste Stunde. Die Blätter waren ausgedruckt und verschwanden in meiner Tasche.
Ich musste mich beeilen, bald ging die Uni los. Zum Glück hatte ich nur zwei Seminare. Die zweite Tasse Kaffee war schnell geleert. Ein kurzer Blick ins Bad und in die Küche. Alle Geräte waren aus, der Abwasch musste bis Abends warten. Noch 30 Minuten, genug Zeit, um mir ein Brötchen vom Bäcker zu kaufen.
Ich suchte meinen Schlüssel, nahm meine Tasche, schenkte Jack einen Abschiedskuss und war schon zur Tür raus. Die Haustür fiel zu und alle anderen Wohnungstüren vibrierten im Takt. Kaum war ich um die Ecke verschwunden, blieb ich stehen. Hatte ich das Fenster geschlossen? Hatte ich das Glätteisen aus der Steckdose gezogen. Ich wusste es nicht mehr. Ich schloss die Augen. Es war Zeit für mein alltägliches Ritual.
Zurück in der Wohnung absolvierte ich meinen Kontrollgang. Nichts in oder an den Steckdosen, das Fenster zu, die Kaffeemaschine aus, den Kühlschrank zu, die Herdplatte aus, das Licht aus, das Glätteisen kalt. Ich diktierte mir meine Schritte. Kontrollierte ein zweites Mal, bevor ich bereit war, zu gehen. 15 Minuten bis zur Uni. Frühstück fiel mal wieder aus.
Tür zu, Schloss verriegelt, Haustür geschlossen und eilig Richtung Universität. Veronika wartete schon ungeduldig auf ihren Platz. Die vollen Locken fielen wild herab. Markenpullover, zerrissene Markenjeans, Buffalo Sneaker und eine Haut wie Milch und Honig. Mit perfekt geschminkten Augen sah sie mich an. „Ich dachte schon du würdest mich allein lassen.“
„Entschuldige, wollte mir noch etwas zu Essen holen.“
"Ich muss dir dringend noch was erzählen. Gestern Abend war so genial..."
Vanessa erzählte von ihren nächtlichen Abenteuern, die jedes Mal damit endeten das sie betrunken und zu mit einem fremden heißen Typen in ihrem Bett aufwachte, dem sie fortan als die Liebe ihres Lebens bezeichnete. Ich hörte nicht zu, meine Gedanken hingen noch immer an dem Glätteisen. Hatte ich es wirklich raus gezogen? Was wenn es auf den Teppich fällt und die Wohnung Brand setzt? Hatte ich den Herd ausgemacht? Ob ich nochmal zurückgehe?
Der Professor unterbrach meine Panik. Zu spät. Ich hatte ja alles ausgemacht. Und die Wohnung abgeschlossen. Niemand kam raus und niemand rein. Alles war gut! Versuchte ich mich zu beruhigen. Er klatschte seine Tasche auf das Rednerpult und öffnete seine Präsentation. Wiederholung und offene Fragen. Prüfungsvorbereitung. 90 lange quälende Minuten. Meine Gedanken schweiften ab, mich auf irgendwas zu konzentrieren hatte ich schon längst aufgegeben. Linguistik war einfach nicht meine Stärke. Durch die Prüfung würde ich sowieso fallen. Ich hatte bis dahin noch nie eine Prüfung nicht bestanden. Vielleicht war es mal an der Zeit. Für fünf Prüfungen hatte ich dieses Semester lernen müssen. Irgendwann waren auch mal meine Energiereserven erschöpft.
Die Stunde war vorbei und ab in die Pause. Ich folgte Vanessa vor die Tür. Unser kleines Ritual. Eine kurze Raucherpause, bevor der Tag weiterging. Sie kramte in ihrer schwarzen Bauchtasche, ohne wirklich zu suchen. Ich wusste sofort, was sie wollte. Und prompt kam ihre übliche Frage.
"Hast du mal eine Zigarette, meine sind alle."
"Na klar."
Ich gab ihr eine meiner besonderen Zigaretten. Schwarz und mit Schokogeschmack am Filter. Für sie waren es einfach nur „fancy“ Zigaretten, wie sie es nannte. Für mich waren sie mehr. Erinnerung an Sommer, Erinnerung an unser jährliches Treffen der alten Freundschaft. Neun Leute, drei Tage, Zelte und Musik. Drei Tage im Jahr, an denen ich einfach ich sein konnte. Drei Tage im Jahr, wo meine Gedanken nur mir gehörten. Kein Streit, kein Stress, keine Sorgen. Doch bis dahin war es noch eine lange Zeit.
"So fancy die Dinger." , nahm sie den Stängel mit spitzen Fingern entgegen.
Ich entflammte eine Erinnerung. Mit jedem Zug erschienen die Bilder vor meinen inneren Augen. Metallkonstruktionen, die bei Tag keinen Sinn ergaben. Doch nachts, wenn die Lichter angeschaltet wurden, entstanden Elfen, Trolle und Feen in wallenden Gewändern aus Stahl.
"...Und was hast du als Nächstes?"
"Schwedisch."
"Ich muss jetzt zu Kunstgeschichte. Kein Bock. Ich hab so wenig geschlafen. Was machst du heute Abend?"
"Ich werd noch was für die Uni machen und dann ab ins Bett."
"Wir können doch mal wieder in den Keller..."
Wir wurden unterbrochen von Vanessas Clique. Ein Mädchen künstlicher und dünner als das andere. Wie sie wohl aussahen ohne Make-up?
"Heyyyy." ,begrüßten sie sich in einem unerträglich hoch fiependen Ton und ewig dauernden Begrüßungsgehabe. Ich wurde gekonnt ignoriert. Ich passte nicht rein. Ich hatte nie irgendwo richtig reingepasst.
"Voll schönes Oberteil. Schwarz steht dir."
"Hab ich mir gestern gekauft. Aber der Ausschnitt ist echt gewagt..."
Ich wollte schon abschweifen, als mich eine ansprach. „Du bist doch die mit dem Schlaganfall...“ Wie bitte? Ich versuchte, nicht meine Mimik entgleisen zu lassen. Noch war es nicht vorbei.
„Voll scheiße. Siehst auch voll fertig aus. Ich wüsste nicht was ich in der Situation machen soll. Tut mir echt Leid.“
Schon war ihre Zuwendung erschöpft. Gerädert von ihrer guten Tat schwang sie ihre Haare nach hinten, bevor sie mit ihren langen künstlichen Nägeln eine Zigarette aus der Tasche fingerte. Ihre Augen fixierten Vanessas Zigarette. "Wie cool. Was rauchst du denn?"
"Black Devil. Ist mit Schoko."
"Schmeckt das denn?"
"Richtig lecker. "
"Lass mal kosten."
Sie nahm einen Zug. "Ja voll strange. Ach ja, willst du heute Abend mit an den Hafen. Ist zwar kalt, aber who cares."
Vanessa blühte auf. "Ja klar. Ich bring Gin mit, können wir einen chilligen Abend machen."
"Ja voll gern. Hab ich richtig Bock drauf."
Ich wandte mich ab, hatte genug gehört. Kurz wandte ich mich an die fremdartige Truppe. „Ich muss weiter. Bis später.“
Niemand hatte mich bemerkt. Wieso auch?!
Auch der letzte Kurs des Tages war vorbei. Doch der Tag war es längst nicht. Ich parkte mein Auto auf dem Parkplatz vor dem Wohnkomplex. Dafina beobachtete mich schon aus dem Küchenfenster. Kurz schloss ich die Augen. Nur für einen Moment wollte ich durchatmen. Nur noch 90 Minuten, dann bist du wieder zu Hause, sprach ich mir Mut zu. Ich betrat das Wohnhaus, zurrte meine Mundwinkel nach oben und schritt über leere Verpackungen, Taschentüchern und halbherzig zusammengefegten Staub. Finger auf die Klingel, ein poltern, Rufe und eine sich öffnende Tür. Lächeln ermahnte ich mich immer wieder. Der Geruch von frischen Fladenbrot und schwarzem Tee kroch mir in die Nase, während ich mir mit einem aufgesetzten Lächeln die Schuhe auszog. Dafina schaute um die Ecke ihres Zimmers, das sie sich mit ihrer Schwester teilte. "Hast du gefunden?"
"Natürlich."
"Komm rein. Komm rein."
Funktionierend legte ich Aufgabenblätter, Federtasche, Notizblock und Handy auf den Tisch, während man mir einen Tee reichte. Dafina eilte herein, das Handy immer in ihrer Hand. Sie nahm Platz und tippte wild auf dem Display. Ich betrachtete sie eine Weile, wie das iPhone malträtierte. Nachricht für Nachricht kam hereingeflogen.
Mein Magen knurrte ungeduldig. Sie sah auf. „Hunger?“
Ich ignorierte ihre Frage.
"Denk dran. Handy aus während der Stunde."
"Du hast deines auch an."
"Ich schaue auch nicht aller zwei Minuten drauf."
Dafina schob mir ihr Aufgabenblatt vor die Augen. „Und hast du gefunden?"
„Hat die Lehrerin noch irgendwas dazu gesagt.“
„Ne. Na nur das benotet wird. Aber keiner weiß was die von uns will.“
Ich las mir die Aufgabe noch einmal durch, bevor ich anfing.
„Also, du hast den Text und dazu eine Fragestellung. Hast du den Text schon gelesen?“
„Ne, war zu lang!“
„Gut, also. Was ist die Überschrift?“
„Einheitslook in Klassenzimmern.“
„Gut, behalte das im Hinterkopf. Das kannst du auch gleich auf deinen Zettel als Überschrift schreiben.“
Sie schrieb eifrig los. Ich wartete, sah auf die Uhr.
„Fertig.“
„Gut, vorlesen.“
„Den ganzen Text.“
„Ja.“
Sie las vor, ich notierte. Pro und Contra Argumente für Schuluniform. Dialektisch. Als sie fertig war, sah sie mich fragend an. Ich half. „Also, du hast hier eine dialektische Erörterung. Das heißt, im Text gibt es Argumente für das tragen von Schuluniformen und dagegen. Richtig.“
„Ja.“
„Dann streiche mir mit blau die Argumente dafür und mit rot die Argumente dagegen an.“
Eine Stunde später hatte ich mein Möglichstes getan. Sie wusste die Argumente und die Beispiele. Sie wusste, was eine Einleitung war und wie sie den Hauptteil zu schreiben hatte. Und doch war ihr Blick fragend leer.
„Ja, aber woher soll ich wissen von Regeln. Schreibst du auf!“
"Und was soll ich in Einleitung schreiben?"
Ich suchte ihr ein Arbeitsblatt heraus und reichte es ihr. „Hier hast du ein Beispiel für eine Einleitung. Das musst du nur noch deinem Thema anpassen. Okay?“
„Können wir nicht zusammen machen?“
„Du machst das schon. Schreib zuerst die Einleitung und schreib in eine Tabelle auf eine Seite die Vorteile, auf die andere Seite die Nachteile von Schuluniformen raus. Am Donnerstag bin ich wieder da und dann machen wir den Rest.“
„Ja gut. Schaff ich.“
Sie wand sich auf ihren Stuhl hin und her. „Ich hab Zeugnisse, willst du sehen?“
„Dann zeig mal her.“
Dafina eilte in die Küche, nur um wenige Augenblicke später freudestrahlend ihre Halbjahresnote fest in den Händen zu halten. „Rat mal.“
„Zeig mal!“
„Nein, rate mal. Mathe...“ ,sang sie freudig.
„Eine drei?“
Sie legte mir das Zeugnis auf den Tisch. „Neee, aber fast. Voll gut trotzdem.“
Ich schaute über ihre Noten. „Besser als eine fünf. Und die drei schaffen wir auch noch! Haben sich deine Eltern gefreut.“
„Ja, aber drei besser.“
Zehn Minuten später saß ich endlich wieder im Auto. Es war später Nachmittag, die Sonne ging langsam unter. Licht an, Motor an. An der Ampel links, im Kreisverkehr, an der Ampel links. Freien Parkplatz suchen. Motor aus. Tür zu. Tür auf, Tasche auf den Boden geworfen. Sitzen und starren. Weiße Wände. Etwas weiches strich an meinem Bein, hüpfte auf die Couch. Meine Beine wurden schwer und warm. Ich sah hinab und zwei runde gelbe Augen sahen mich an. Ein klägliches Maunzen ertönte. Meine Hand kraulte über seinen grauen Kopf. „Du hast ja Recht. Wir sollten was Essen.“
Als ob er mich verstand, hüpfte Jack hinab und lief zu seinem Napf. Ich folgte und öffnete eine Dose des besten Futters, das ich mir leisten konnte. Schmatzend bekundete er seine Zustimmung. Für mich musste Brot mit Käse reichen. Ein paar Scheiben Gurken, und frische Tomaten. Mein Handy piepste.
„Kaffee?“
„Heute nicht. Ich bin fertig. Morgen, okay?“
„Okay.“
Ein schnelles Abendbrot. Mein Blick wanderte erneut zu den weißen Wänden. Farbe. Ich brauche Farbe. Und eine Leinwand. Pinsel. Ich hasste weiß. Eine Müdigkeit überkam mich, dass ich kaum noch klar denken konnte. Mühsam schleppte ich meinen Körper in das kleine Bad und unter die Dusche. Ich stellte die Musik ein und drehte das Wasser voll auf.
Heiße Tropfen benetzten meine Haut und spülten die Tränen weg. Ich bemerkte sie kaum, zu oft hatte ich in den letzten Monaten im Stillen geweint. Niemand sollte es sehen. Wer war denn auch da es zu sehen. Ich setzte mich auf den kalten Boden und spürte die Wärme auf meinen Rücken. Fest umschlang ich meine Beine, während der Rest der Welt hinter Regentropfen verschwand. Für einen Moment ließ ich mich fallen, ließ los, zu was ich loszulassen bereit war, während gelbe Augen mich sorgenvoll beobachteten.
Mit neuer Kraft entstieg ich dem stärkendem Regen, und hüllte mich in wärmende Sachen. Mein Lieblingspullover schmiegte sich an meine nasse Haut. Leider war er mir bei meinem ersten alleinigen Waschgang etwas eingegangen, doch an seinem kuschelig grünen Charme hatte er nicht verloren. Dieser Pullover, war das erste gewesen, was ich mir von meinem eigenen Geld geleistet hatte. Er hatte mich durch gute und schlechte Zeiten bekleidet. Bis nach Neuseeland war er mit mir gereist und wieder zurück. Eine greifbare Erinnerung.
Es klingelte an der Tür. Ich setzte mein Lächeln auf, wischte mir die Tränen aus den Augen und öffnete. Mein Nachbar stand mit blutigem Finger vor mir. „Hast du vielleicht ein Pflaster?“
„Klar. Warte kurz.“
Ich kramte in meiner Küchenschublade und gab ihn die Reste in der Packung. „Kannst du behalten, ich hab noch eine Packung!“
Er schenkte mir ein Lächeln. „Danke.“
Ich verschloss die Tür, zog den Vorhang zu, zauberte aus meiner Couch ein bequemes Bett und schaltete das Licht aus. Mit nassen Haaren und heißem Gesicht kuschelte ich mich in mein Bett. Der Fernseher spendete mir Licht. Kaum war ich zur Ruhe gekommen, spürte ich schwere Pfoten über mich steigen. Kurz suchte Jack einen perfekten Platz, er fand ihn auf meinem Bauch und rollte sich zusammen.
Mein Handy zwitscherte. Eine Videonachricht. Vanessa erschien auf dem Display, mit einer Zigarette in der Hand. Ihre Lippen bewegten sich zu einer Schnulze, die im Hintergrund trällerte. Ihr Gesicht ging nah ans Display. "Ich hab Emotionalen!"
Dann hob sie die Weinflasche und zwinkerte ihr zu. Ende der Nachricht. Es war kurz vor 21 Uhr. Jack´s Pfote schnellte auf das Display meines Handys und drückte es herunter. Ich lächelte, kraulte seinen Kopf. „Du hast ja Recht.“
Stumm, aus und weg. Sein Kopf drückte sich schnurrend gegen meine Hand. „Ich hab dich auch lieb. Und morgen werden wir etwas malen. Morgen machen wir die weißen Wände bunt.“

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 13.04.2021

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