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Prolog

Brandon starrte an die Decke seines Zimmers. Die nächtlichen Schatten tanzten im Gleichklang seines verebbenden Sehvermögens. Unbarmherzig rüttelte der Wind an den Fensterläden vor seinem Fenster. Kummer erfüllte sein Herz, als er begriff, dass sein Leben in wenigen Tagen oder Wochen gänzlich aus Finsternis und Schatten bestehen würde. All die Dinge, die er noch nie gesehen hatte, würde er nun niemals mehr bestaunen können. Er starrte in die Flamme seiner kleinen Kerze und versuchte die flackernden Gestalten, welche in seinem Zimmer umherwanderten zu erahnen.
Wie es wohl sein würde zu erblinden? Niemals mehr könne er ein Buch lesen, die Gesichter seiner Eltern erblicken, oder die Blumen mein morgendlichen erwachen betrachten. Dies alles würde er nur noch in seiner Erinnerung sehen. Würden seine Träume auch bald erblinden, oder bleiben ihm seine Abenteuer erhalten? Er hatte so viele Fragen, doch niemand der sie ihm beantworten konnte.
Seit Monaten musste er zusehen, wie seine Welt immer dunkler und dunkler wurde. Als er nicht mehr alleine hinausgehen durfte, verschwanden auch seine wenigen Freunde. Wer wollte schon mit jemanden spielen, der zum Rennen und Fangen einen Stock benötigte? Einzig der Fremde war ihm geblieben. Sehnsüchtig wartete er jede Nacht auf seine Ankunft. Er hatte es nie gewagt ihn mitleidig zu betrachten, ungeachtet der quälenden Schmerzen, die ihm jede Nacht heimsuchten und ihn wach hielten. Nie hatte er sich von ihm abgewandt, angesichts des drohenden Unheils und der Hilflosigkeit, die ihm bald ereilte.
So kam es, auch diese Nacht, dass er auf die Kerze starrte und darauf wartete, dass ihr Schein flackernd innehielt. Als die große Uhr im Wohnzimmer laut den Anbruch des neuen Tages ankündigte, hörte er das Schlagen der geflügelten Krähe, die auf den Fensterrahmen landete und leise an die Scheibe klopfte. Augenblicklich schien das Flackern der Kerze zu verstummen, wie auch jegliches Geräusch und jeder Schatten.
Brandon lauschte dem dumpfen Flüstern der nächtlichen Stimme und wartete, bis sein fremder Freund das Zimmer betrat. Er trug einen edlen Mantel und war von eindrucksvoller Statur. Seine Augen funkelten in den Farben des Schnees und des saftig grünen Mooses. Sein bleiches Haar umspielten sein kantiges Gesicht, während er aus dem Schatten ins Licht der Kerze trat. An jeden Finger trug er einen stattlichen Ring, sodass es jedes Mal metallisch klimperte, wenn er sie bewegte. Einzig der linke Ringfinger zeugte von einem blassen Rand, wo einst ein ebenso prächtiger Ring sich befunden haben musste.
Brandon hatte niemanden etwas von dem Fremden erzählt. Er wusste, dass es nur eine seiner kindlichen Fantasien war. Doch wohl einer seiner angenehmsten, weshalb er es vermied, diese Lüge auffliegen zu lassen. Zu gern lauschte er den Geschichten und Gesprächen des seltsamen Fremden. Wirkte sein Auftreten bedrohlich, verbreitete seine Stimme eine Atmosphäre der Freundlichkeit. Und doch hatte sie zugleich etwas Kaltes und Sanftes. „Mein Lieber Brandon. Wie ist es dir ergangen?“
Bram richtete sich in seinem Bett auf. „Wo warst du? Ich habe lange auf dich gewartet!“
Der Fremde trat an seine Seite und schob den Stuhl dicht an das Kinderbett des Jungen. Sein Blick trug tiefe Traurigkeit in seinem alten Lächeln. „Lieber Brandon...“
„Wie ging die Geschichte aus? Hat der Rabe das Mädchen retten können?“
Der Fremde lehnte sich zurück und betrachtete das langsam verstummende Licht. „Die Geschichte...“ ,murmelte er leise mit abwesend Blick. Trüb starrte er in die Flamme. Der Rabe landete kreischend auf seiner Schulter und begutachtete den Jungen neugierig.
„Es ward verschwunden in des tiefsten Nachtes Wald. Kein Licht gar fand ihren Weg. Weit hingen die Flügel und schwangen Schatten über das sterbende Laub. Kein Lied gar flüsterte der Wind, die Sonne ward nicht mehr...“
Brandon lauschte der Geschichte. Es war seine Mutter, die plötzlich sein Zimmer betrat. Mit besorgtem Blick trat sie an sein Bett und strich über seine fiebrigen Wangen. „Du solltest längst schlafen.“
Doch er blickte sie nur verwirrt an. Wie konnte sie ihn nicht sehen? Saß der Fremde doch direkt vor ihr. „Ich...“
„Kein ausreden mehr mein Lieber. Du solltest schlafen!“
Augen, in denen eisiges Feuer und Leere brannten, betrachteten sie neugierig. Nun hatte der Junge die Bestätigung. Sein einziger Freund, war nur eine Einbildung seiner Fantasie. Traurig vergrub er sich tiefer unter seine warme Decke.
Brandon wagte es, erst zu sprechen, als seine Mutter gegangen war. „Warum bist du hier?“
„Weil du mich gerufen hast!“
Der Fremde stand auf und setzte sich neben ihm auf das kleine Bett, dabei krächzte der Rabe laut auf, sodass Brandon fürchtete, seine Mutter würde sie ein weiteres Mal unterbrechen.
Doch die Tür blieb geschlossen. „Sie kann dich nicht sehen.“, stellte er, seinen Verstand anzweifelnd, fest. „Bist du nur eine Einbildung?“
„Nur diejenigen, die glauben können mich sehen.“ , antwortete er ihm trocken. Seine Hand fuhr schwach über seinen verschwitzten Kopf. „Das wird das letzte Mal sein, dass ich dich heute besuche...“
„Aber ich lausche so gern deinen Geschichten!“
„Du hast sie alle schon einmal gehört!“
„Erzähl sie mir nochmal!“
Der Fremde schenkte ihm ein Lächeln. „Ich möchte dir etwas schenken! Doch im Gegenzug, brauche ich etwas von dir!“
„Ich besitze nichts.“
„Du besitzt so vieles, du kannst es nur nicht wertschätzen.“
Klebrig und feucht strich der Daumen des Mannes über die Lippen des kränklichen Jungen. Plötzlich durchfuhr Brandons Augen ein stechender Schmerz. Ein kleines Rinnsal seines eigenen Blutes floss seine Wange hinab. Der Fremde wischte die blutigen Tränen ab und zeichnete etwas auf seine Stirn. Plötzlich überkam ihn eine nebelige Müdigkeit. Die Worte des Mannes drangen dumpf an sein Ohr. „Du wirst schlafen, all unsere Worte wirst du vergessen. Nur als kindliche Träume wirst du sie erleben. Wenn du morgen aufwachst, wirst du sehen. Durch deine Augen werde ich dir folgen. Du wirst das Grün des Waldes erblicken und das Blau des fließenden Wassers. Keine Schatten werden dich auf deinen Weg begleiten. Und eines Tages werden wir uns ein letztes Mal begegnen!“
Brandon bemerkte die plötzliche Müdigkeit, die ihn ergriff und in die Kissen drückte. Er weigerte sich, sich dem Schlaf zu ergeben. „Verrate mir deinen Namen! Ich möchte mich an dich erinnern!“
Doch seine Augen schlossen sich, noch ehe der Fremde ihn antworten konnte. Brandon sank in tiefe Träume hinab. Der Flügelschlag eines nächtlichen Wesens begleitete ihn und hinterließ neblige Vergessenheit.

 

1. Kapitel

Cathrine betrachtete die kleinen roten Eichhörnchen im Park. Ruß aus den Schornsteinen der Stadt hatte ihr Fell dunkel gefärbt und ihre Augen verblassen lassen.
Ihre nackten Füße ruhten auf dem vom sauren Regen vergilbten Gras. Selbst hier, im letzten Fleck der Natur sah man die Folgen der industriellen Revolution. Stählerne Konstruktionen erhoben sich aus den Boden, Kohlewolken verdunkelten den Himmel. Mensch und Maschine erschufen eine immer schneller wachsende Existenz aus Eisen und Schuld. Sie machten sich eine wehrlose Welt zu eigen, und doch sehnten sie sich nach der friedlichen Stille, die Mutter Erde ihnen gebar.
Ihr Blick schweifte zu den Enten, die unbekümmert Brotkrumen fischten. Ob sie sich ihrer Existenz bewusst waren? Ahnten sie, dass höhere Wesen ihnen diesen Ort geschaffen hatten? Der Mensch selbst behauptete, das höchste auf der Welt wandelnde Individuum zu sein. Welche Empörung ausbrechen würde, sollte er herausfinden, dass er sich irrte.
Eine Elite der Elite, wie ihr Onkel es nannte. Verborgen stolzierte er unter ihresgleichen. Die Neigung des Menschen, Klassen zu erschaffen, wo keine waren, empfand sie seit jeher grotesk. Jedes Lebewesen hatte ein Bewusstsein. Und jede Seele sollte gleich behandelt werden. Unentwegt schwirrten seine Worte durch ihren Kopf. „Priviligiert. Wir sind priviligiert!“
Stetig tickend ruhte die Taschenuhr ihres Vaters in ihren Händen. Der graue Staub der Stadt bedeckte das zerbrechliche Glas. Cathrine betrachtete das einzige Andenken ihrer Eltern. Ihre Finger drehten das kleine Rädchen. Zögerlich ertönte das Schlaflied ihrer Mutter, verdrängte die Erinnerung ihres nächtlichen Albtraumes. Wie real er sich angefühlt hatte, als man ihr die Augen entrissen hatte. Noch immer meinte sie die Klinge auf ihrer Haut zu spüren, wie sie sich in ihr Fleisch schnitt.
Einen Moment lauschte sie der friedlichen Melodie, bevor sie ihren Weg fortsetzte. Da sie die Fähigkeit der Astralmagie beherrschte, lag es in ihren Aufgabenbereich, jegliche Formen von Erscheinungen zu untersuchen, dokumentieren und kategorisieren. Dies beinhaltete zu ihrem Leidwesen häufige Besuche von Friedhöfen sowie Orte der Heimsuchung. Als Erholung empfand sie dagegen die ländlichen Reisen. Cathrine genoss die Ruhe der abgelegenen Dörfer und Anwesen. Doch zu selten verschlug es sie außerhalb Londons.
Mr. Felbs erwartete sie schon ungeduldig vor den Toren seines Refugiums. Nervös rieb er über das abgenutzte Holz seiner Schaufel. Die Jahre des Schaufelns hatten seinen Rücken gekrümmt und seine Haut faltig werden lassen. Begrüßend entblößte er seinen kahlen Kopf. Gelbe Zähne blitzten ihr entgegen.
„Miss Morgan. Ich habe sie schon erwartet.“
Cathrine weigerte sich, seine schmutzige Hand zu schütteln. „Entschuldigen Sie die Verspätung.“
Mr. Felbs öffnete das rostige Tor. „Nicht doch! Die Toten haben keine Eile mehr.“
Gemeinsam betraten sie den alten Friedhof am Rande der Stadt. Mit zittriger Stimme führte er sie an den Gräbern vorbei zum Ort der nächtlichen Unruhen.
„Es ist schon lange nichts mehr passiert. Aber ich dachte, ich sollte sie darüber informieren. Zunächst wollte ich sie nicht behelligen, aber es scheint doch wichtig zu sein. Sie haben das letztens ja auch...“ , er zögerte es, auszusprechen, „...Sie wissen schon. Ich wollte es selbst lösen, aber das konnte ich dann doch nicht.“
Cathrin betrachtete die Altersflecken auf seiner Haut, beobachtete das nervöse Zucken seiner Hände, jedes Mal, wenn er versuchte, sich ihr zuzuwenden, und es dann doch vermied. Ihr Blick huschte über die monumentalen Gedenkgräber, deren Grabsteine gepflegt wirkten. Jemand kümmerte sich um ihre letzte Ruhestätte. Daneben lagen kleinere Gräber. Die Jahre hatten den Stein bröckelig werden lassen, der Regen ihre Namen verwaschen. Vergessen moderten sie vor sich hin.
Cathrine wandte den Blick ab. „In ihren Brief erwähnten sie nächtliche Ruhestörung. Wurde Vandalismus ausgeschlossen?“
„Ja, ja. Ich selbst hielt einige Male die Nachtwache.“
„Was genau ist vorgefallen?“
Mr. Felbs stoppte einen Moment, schien zu überlegen, welche Richtung er einschlagen sollte und folgte dann einen kleinen Trampelpfad.
„Ich habe Mrs. Iwanow vor Monaten selbst in die kalte Erde gebettet. Einige Zeit passierte nichts und dann an einem Morgen war ihr Namen aus dem Stein gekratzt. Ich meine Abdrücke von Fingernägeln erkannt zu haben. Die Blumen waren herausgerissen...“
Cathrine unterbrach ihn barsch. „Gab es Fußspuren?“
„Nur die meinen.“
Mr. Felbs hielt inne und deutete auf einen frischen Grabstein. „Da ist es. Keine zehn Pferde mehr bringen mich in die Nähe davon.“
Sie setzte den Weg allein fort. „Keine Sorge, ich kümmere mich darum.“
Er wandte sich ab. „Ist gut Miss. Ich warte vor der Kapelle.“
Cathrine untersuchte das verwüstete Grab. Die Blumen lagen vertrocknet auf den aufgewühlten Boden. Ihr Blick ruhte auf den tiefen Einkerbungen des Steines. Es waren tatsächlich Kratzspuren zu erkennen. Jemand hatte versucht, den Namen aus dem Stein zu entfernen. Sie betrachtete die Umgebung genauer. Der Regen hatte sämtliche Fußspuren hinweggespült. Als sie ihre Hand auf den kalten Grabstein legte, konnte sie die Unruhe spüren, die von ihm ausging. Jemand oder etwas versuchte, mit ihr zu kommunizieren. Doch ohne weitere Nachforschungen würde sie hier nichts erreichen.
Der Blick auf die Uhr trieb sie zur Eile an. Sicherlich warteten Arthur und Silva schon auf ihren Unterricht. Doch ihre chronische Unpünktlichkeit waren sie gewohnt.

2. Kapitel

Klatschend trafen ihre Füße auf die nassen Pflastersteine. Durch die dunklen Gassen eilend, klopfte sie an jede Tür, in der Hoffnung, jemand möge ihr Flehen erhören. Ohne Unterlass rief sie um Hilfe, bettelte um Schutz, ihren Verfolger stets im Nacken. Doch kein Licht brannte in den Fenstern, niemand wagte es, ihr Obdach zu gewähren.
Ihre Füße stolperten über einen Schatten. Etwas polterte und rollte davon. Zu Boden gerissen kroch sie weiter, bis ihre Knie blutig waren. Endlich vernahm sie ein Licht am Ende der Gasse. Der Nachtwächter drehte seine Runde. Wenn sie ihn nur rechtzeitig zu erreichen vermochte. Näher und lauter erklangen die Schritte ihres Verfolgers. Sie schienen zum Takt ihres Herzens zu tanzen. Panisch kämpfte sie sich durch Matsch und Unrat.
Humpelnd und weinend kroch sie dem entschwindenden Lichtschein entgegen. Sie rief zu ihm herüber. Das Licht stoppte und leuchtete in die Gasse. Er hatte ihren Ruf vernommen. Erneut schrie sie aus vollen Lungen. "Bitte, helfen sie mir."
Sie erkannte sein forschendes Gesicht im Schein der Lampe. Rettung beflügelte ihre Mühen. Er schien zu weit entfernt, um sie zu erkennen. Sie wollte ein weiteres Mal rufen, doch jemand riss an ihrem Haar, packte ihre Kehle und presste sie an den kalten Stein der Hauswand. Unbarmherzig bedeckte seine Hand ihre Lippen, erstickte ihren Schrei.
Kalter Atem drang an ihr Ohr. „Nicht doch, Liebes. Wir wollen ungestört bleiben!“
Fest umschlossen ihre Finger das Medaillon um ihren Hals. Ein letztes Mal richtete sie ein Gebet an Götter, bat um Gnade. Doch ihr stummer Ruf wurde nicht erhört. Das rettende Licht verschwand.
Seine leblosen Augen hafteten auf ihr Schmuckstück. „Es ist unklug ein solches Geschenk dieser Tage unbewacht zu lassen. Wie nachlässig von dir alter Freund.“
Gewaltsam riss er es ihr vom Hals. Mit letzter Kraft versuchte sie sich seinem Griff zu wehren, doch es wollte ihr nicht gelingen. Hart schlug er ihren Kopf gegen den Stein. Sterne tanzten vor ihren Augen. „Du wirst unseren gemeinsamen Freund eine Nachricht überbringen.“
Ihre Finger gruben sich in seine Haut, kratzten tiefe Wunden. Ein stechender Schmerz explodierte in ihrer Brust, nahm ihr den Atem. Sie spürte ihr Herz in seiner Hand schlagen, nach Leben fordernd. Ein letztes Mal, bevor es ihren Körper entrissen wurde. Dort lag es blutend in seinen Händen, während seine Zunge ihr verbleichendes Dasein kostete.
Ihr Leib sank dumpf zu Boden, den Blick auf ihren Peiniger gerichtet. Genüsslich leckte er sich die blutigen Lippen. „Wie kostbar doch der letzte Augenblick im Moment des endgültigen Todes.“
In Dunkelheit versank ihre Welt. Ihre Zeugen, dunkelrot schimmernde Fußabdrücke der nächtlichen Abendstille.

 

3. Kapitel

Cathrine beobachtete die tanzende Flamme ihrer Kerze. Blutrot ergoss sich das Wachs über die Kante ihres Studiertisches.
Ihr Finger ruhte auf dem letzten Wort des Satzes. Jemand hatte es durchgestrichen und durch ein anderes ersetzt. "vigesmusque" war "excitare" gewichen. Gedeihe, erwache. Sie nahm die Nadel und stach sich in ihren pochenden Zeigefinger. Ein Blutstropfen quoll hervor. Sie ließ ihn auf den verdorrten Farn fallen und betrachtete, wie es den braunrot gesprenkelten Fächer entlangglitt und in der trockenen Erde verschwand.
„Excitare.“, entfuhr es flüsternd ihren Lippen. Doch das Leben schien die arme Pflanze nicht erreichen zu wollen. Frustriert schloss sie das alte Buch, welches sie heimlich aus der Bibliothek entwendet hatte, und beförderte den Farn in den Papierkorb. „Ich habe es zumindest versucht.“
Offensichtlich war sie keine Pyromantikerin, wie ihre Mutter einst. Sie musste wohl eine andere Möglichkeit finden, um mit der verstorbenen Mrs. Iwanow zu kommunizieren.
Cathrine vernahm ein zögerliches Klopfen. „Miss Morgan? Ihr Onkel bittet um ihre Anwesenheit.“
„Ich komme sofort.“
Ein Blick aus dem Fenster, offenbarte ihr, dass ein neuer Tag angebrochen war. Sie hatte völlig die Zeit vergessen. Eilig wusch sie sich das Gesicht mit kaltem Wasser, doch ihre Augen blieben gerötet. Sie beließ es bei ihrer gestrigen Garderobe, um Zeit zu sparen. Rasch glitt sie mit der Bürste ihrer Mutter, durch das krause Haar und verließ das Zimmer.
Sie eilte die Treppe ihres Hauses hinab, dass ihre Eltern ihr überlassen hatten und ihr Onkel nun verwaltete. Dieser Tage war es Frauen nicht gestattet sich derlei Anstrengung auszusetzen; wie eine Hausverwaltung oder sich gar einem Beruf zu widmen. Es schädige ihr Gemüt. Sie waren nütze zum lesen, sticken und Klavier spielen. Alles ander überfordere sie. Zumindest war dies die Meinung ihres Onkels und jener hochbetagten Gelehrten, deren Einbildungen die Frauen ohnmächtig ausgeliefert waren.
Mrs. Strandford erwartete sie schon ungeduldig auf dem Fuße der Treppe. „Er wirkt sehr aufgewühlt, Liebes!“ , offenbarte sie ihr ihre Sorge.
Cathrine betrat die Bibliothek. „Ich kümmere mich schon darum.“
Richard schien förmlich hinter dem massigen Schreibtisch ihres Vaters zu verschwinden. Seine Schultern hingen schlaff herab, tiefe Sorgenfalten durchzogen sein Gesicht. Das halb leere Brandyglas an seine Lippen gelegt, sah er sie bekümmert an.
Cathrine trat Näher an ihn heran. „Was ist passiert?“
Er blickte zu ihr auf. Furcht, Gram und Schuld verschmolzen in seinem Blick. Mit dem Ausdruck von Müdigkeit versuchte er seine wahren Gefühle zu unterdrücken. „Die Vorbereitungen der Zeremonie sind wahrlich kräftezehrend! Mr. Finch verlangt ein abgelegenes Einzelzimmer, Mrs. Rosewater erwartet Rosengestäcke vor jedem ihrer Fenster. Jeder ist offensichtlich der Meinung, ihm stehe der begehrte Platz am Ende der Tafel zu.“
„Ich könnte dir zur Hand gehen...“
Richard verneinte ihre Bitte strikt. „Mrs. Anderson möchte dich sprechen. Sie warten zu lassen, wäre eine unkluge Wahl. Ich komme schon zurecht.“
Richard hievte sich aus seinem Sessel und stolperte zu den kleinen gut bestückten Servierwagen. Offensichtlich war dies nicht sein erstes Brandyglas gewesen, das er diesen Morgen geleert hatte.
Cathrine ignorierte eine Bemerkung hinsichtlich seiner Verfassung. Eine Diskussion wäre nur vergebene Liebesmüh. Als sein Mündel war sie stets im Nachteil, was das letzte Wort betraf. „Ich mache mich sofort auf den Weg.“
Richard murmelte in das volle Brandyglas. „Tu das, Liebes!“

 

4. Kapitel

 Burlington House, im Jahre 1664 erbaut und 1668 von Richard Boyle im Auftrag des Cullenzirkels erworben. Seither beherbergte diese stattliche Residenz den Sitz der Obersten, wie auch eine beachtliche Sammlung okkulter Bücher und Schriften. Cathrine betrachtete die mit Kohlenstaub bedeckte Fassade. Dank verborgener Magie und der Zusammenarbeit mit der Royal Arts Academy war dies nun ein Treffpunkt anerkannter Gesellschaften. Einen Augenblick genoss sie es, ein Teil von etwas Größerem zu sein. Ein kleines Rädchen, verborgen im Untergrund. Doch die Pflicht rief.
Festen Schrittes stolzierte sie die Steintreppe hinauf. Die Pförtner öffneten Cathrine verbeugend die Tore. Ihr Medaillon begann zu vibrieren, als sie die Barriere durchschritt und in die Empfangshalle des verborgenen Areals trat. Massive Säulen aus Bronze umgaben die Seitenwände. Der Boden aus schwarzem Marmor, prächtige Fresken an den Wänden. An der Decke das zauberhafte Himmelsbild mit glimmenden Sternkonstellationen. Wie aufgeregt sie gewesen war, als sie diese ehrwürdigen Hallen das erste Mal betreten hatte. Eine riesige Treppe führte hinauf zu den Zimmern der Angestellten, dem pompösen Versammlungssaal und dem heiligsten Bereich des Gebäudes, dem Büro der Obersten. Im hinteren Teil des Anwesens erstreckte sich die riesige Bibliothek, die Galerie sowie einige selten genutzte Unterrichtsräume. Miss Carter empfing sie wie üblich mit mürrischen Blick. „Miss Morgan, sie sind zu spät! Mrs. Anderson erwartet sie bereits.“
Ohne ein Wort des Grußes eilte Cathrine die Treppe hinauf. Den langen Flur entlang begleiteten sie die Porträte vergangener Oberster. Cathrine klopfte an die massive zweiflügelige Tür zu Adaras Büro. Die versilberten Hirsche lösten ihre verworrenen Geweihe und gewährten ihr Einlass. Mit ehrfürchtigem Blick betrat sie das Refugium der Obersten.
Mrs. Anderson hatte ihr den Rücken zugewandt und betrachtete das riesige Fresko. „Treten sie ein!“
Ein Feuer prasselte im Kamin und schenkte den hunderten von Büchern und Sammlerstücken aus der ganzen Welt einen mythischen Glanz. Das polierte Glas der Vitrinen warf ihr Abbild, als sie an ihnen vorbeiging. Die Maske des Anubis verfolgte ihre Schritte mit seinen onyxfarbenen Augen. Ein Geschenk des Anarchen anlässlich ihres Regierungsantrittes.
Adara wandte sich ihr zu, die Arme auf ihren Schreibtisch gestützt. „Miss Morgan, sie sehen erschöpft aus! Gibt es Neuigkeiten bezüglich des Westminster Friedhofes?“
Mrs. Anderson war in einem dunkelgrün schimmernden Kleid gekleidet. Schwarze Stickereien aus Samt zogen sich von der Taille aufwärts bis zu ihrer Halskrause, die ihre Narbe am Hals verdeckte. Ihr naturrotes Haar war streng zusammengebunden. Zusammen mit ihren edlen Lippen und dem gedeckten Teint wirkte sie erhaben und königlich. In Angesicht ihrer Eleganz schien Cathrines bibliothekarische Blässe grau und unbedeutend. „Noch konnte ich keinen Kontakt zu Mrs. Iwanow herstellen. Doch eine Gefahr stellt sie nicht dar. Ihre Modifikation beschränkt sich auf die Umgebung ihres Grabes!“
„Gut. Gut!“
Adara strenge Schönheit verblasste im Schatten des prachtvollen Gemäldes. Jahrzehnte musste seine Fertigstellung gedauert haben. Zu sehen waren die vier Elemente. In ihrem Zentrum prangte ein riesiger Baum mit breitem Fächerdach. Jedes Mal wenn Cathrine es betrachtete, schien sie ein neues Detail zu entdecken. Dieses Mal entdeckte sie die Raben, die sich zwischen den Ästen verbargen.
Adara unterbrach die friedliche Stille, die Cathrine beim Anblick des Bildes empfand. „Es ist wunderschön nicht. “
„Ja, das ist es.“
„Eine Maßanfertigung aus den letzten Urbäumen Islands. Es war ein Geschenk des ersten Obersten. Aaron van Horn. Ein Geistlicher des 17. Jahrhunderts.“
Sie deutete auf die Porträts ihrer Vorgänger. „Ihm folgten sieben weitere Patriarche. Es dauerte 200 Jahre, bis eine Frau den Titel der Obersten erlangen konnte. Aber das wissen sie sicherlich schon. Nicht wahr?“
Adara griff unbewusst an ihre Narbe. „Ich war in ihren Alter, als ich das Opfer erbrachte. 30 Jahre ist das her. Und nun, wird ein anderer meinen Platz einnehmen. Wie gierig sie ihre Finger schon danach ausstrecken.“
Cathrine wusste nicht recht zu antworten, doch die Stille schien ihr unerträglich. „Wenn ich ein anderes Mal wiederkommen soll....“
Adara wischte ihren nachdenklichen Augenblick beiseite und nahm auf ihren riesigen Sessel Platz. „Nein, dieser Moment ist zu bedeutend um ihn verstreichen zu lassen. “
Mit verachtenden Blick betrachtete sie das Porträt des Anarchen, welches über den Kaminsims prangte, bevor sie fortfuhr. „Wie sie wissen, findet in wenigen Wochen die Weihungszeremonie statt. Die Vorbereitungen sind im vollen Gange. Bei der Ankunft des Anarchen muss alles perfekt ablaufen. Doch leider ereignete sich gestern Abend ein bedauerlicher Zwischenfall. Eine junge Frau wurde ermordet aufgefundne, ihre Haut mit Runen überseht, das Herz herausgerissen. Vor wenigen Wochen gab es einen ähnlichen Vorfall unweit von Dudley. Dem jungen Mann wurden die Augen entfernt. Seine Haut war ebenfalls mit Runen versehen. Leider konnten wir den Mord nicht weiter evaluieren, da seine Leiche bereits verbrannt wurde. Mr. Colleny mein, es handle sich um einen bedauerlichen Zufall. Und doch möchte ich sicherstellen, dass es zu keinem weiteren Vorkommnis dieser Art kommt. Sie haben die Aufgabe, diese Morde genauestens zu untersuchen und den Schuldigen zu finden, bevor sie die Zeremonie überschatten. Schaffen sie das?“
Cathrine versuchte die Flut an spärlichen Informationen zu verarbeiten. Herausgerissene Augen und Herz? Etwas kam ihr daran seltsam vertraut vor. Doch vorahnende Träume hatte sie bisher noch nie erlebt. Zufälle gab es nicht. Adara unterbrach forsch ihren Gedankengang. „Miss Morgan?“
„Ich werde den Vorfall untersuchen!“
Anderson betrachtete sie mit prüfendem Blick, bekannt dafür keinen Widerspruch gelten zu lassen. „Helfen sie mir auf die Sprünge. Sie haben sich dem Studium der Rituale verschrieben. Ist es nicht so?“
„Das ist korrekt.“
„Ich habe mich immer gefragt wieso. Wieso diese alten Schriften? Sie sind kaum erforscht und das Meiste vergessen.“
„Und doch sind sie ein Teil unserer Kultur. Ich finde es wichtig, die Wurzeln unserer Vergangenheit zu bewahren!“
„Waren sie jemals in Skandinavien? Vielleicht haben sie ihre Eltern auf ihren Forschungsreisen begeleitet?“
Cathrine irritierte Andersons plötzlicher Themenwechsel. Doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. „Nein. Ich habe England nie verlassen. Damals war ich noch zu jung, um sie begeliten zu können.“
„Haben sie nie Interesse entwickelt, die Forschungen ihrer Eltern fortzuführen?“
„Mein Onkel meinte es sei zu gefährlich.“
„Ihr Onkel ist ein Dummkopf. Wäre unser Zirkel nicht so erpicht auf Tradition bedacht, hätte er den Titel ihres Vaters nie erhalten.“
Anderson schenkte sich ein Glas Scotch ein und wanderte zu den zwei Sesseln, die kunstvoll vor dem Kamin drapiert waren. Sie ließ sich auf den Sessel nieder und betrachtete die züngelnden Flammen des Feuers, bevor sie fortfuhr. „Setzen sie sich.“
Cathrine setzte sich auf den freien Sessel und harrte schweigend der Geheimnisse, die sich ihr offenbarten. Adara nahm einen tiefen Schluck ihres Drinks, bevor sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf Cathrine richtete. „Ich habe sie nicht nur wegen ihrer Kenntnisse für diesen Fall ausgewählt. Ihre Mutter war mir Zeit ihres Lebens eine gute Freundin gewesen. Sie hatte sich für Schulen eingesetzt. Ihre Rede gegen die Tradition der Säuberung ist legendär. Doch die verstaubten Ansichten des Rates zu durchbrechen ist ein Meilenstein, den sie nie hatte erreichen können. Wenn sie nicht... Sie haben vieles von ihr geerbt. Mit Sicherheit auch ihre unbändige Neugier.“
Cathrine sah bedrückt zu Boden, angesichts der unerwarteten Worte. „Ich versuche es.“
Adara nahm einen weiteren tiefen Schluck. „Ich möchte sicherstellen, dass sie sich der Tragweite ihrer Aufgabe bewusst sind. Ich möchte, dass sie alles tun, um den Schuldigen für diese Abscheulichkeit zu finden und ihm seiner gerechten Strafe zuzuführen.“
Cathrine verstand die kryptischen Aussagen der Obersten nicht. Verwirrt runzelte sie die Stirn. „Gewiss.“
Adara lachte abfällig. „Im Falle eines Scheiterns, haben sie sich nicht nur vor mir zu rechtfertigen. Sie haben ihn noch nie persönlich gegenübergetreten, nicht wahr?“
„Nein, bisher wurde mir diese Ehre nicht zuteil!“
Adara stand auf und trat erneut vor das Bildnis des Baumes. „Sie sollten dankbar dafür sein!“
„Ich bin mir sicher, es ist eine Ehre...“
Sie unterbrach Cathrine barsch. „Albernes Geschwätz. Götter sind undankbar und gierig. Es sind Kinder im Körper eines unzerstörbaren Wesens. Und wir sind ihrer Gnade unterstellt...“
Cathrine betrachtete das Porträt des Anarchen, während sie Adaras Worten lauschte. „Doch Lucian kennt keine Gnade...“

5. Kapitel

 Cathrine überquerte rasch die Straße. An der letzten Kreuzung hatte sich eine Glocke schaulustiger Passanten gebildet, die den täglichen Verkehr zum Hauptmarkt behinderten. Die wenigen Polizisten hatten Mühe, den Tatort vor neugierigen Blicken abzuschirmen.
Ihre Schützlinge Silva und Arthur, folgten ihr unauffällig. Wie stolz sie auf ihre Wandlung war. Nichts mehr erinnerte an ihre düstere Vergangenheit. Vor sechs Jahren hatte sie sie während der Säuberungen entdeckt. Ohne Familie und Dach über den Kopf versuchten sie, nichtsahnend ihrer Kräfte, ein Feuer zu entfachen. Doch Silva hatte die Kontrolle verloren. Eine flammenförmige Narbe zierte nun die Hälfte ihres Gesichtes, als stete Erinnerung. Wäre Cathrine ihnen nicht zur Hilfe geeilt und hätte sich nicht vor den Ältesten für sie eingestanden, wäre dies ihr Ende gewesen. In den sechs Jahren waren sie zu Novizen aufgestiegen. Bald würden sie sich bei ihrer zweiten Prüfung gegenüberstehen. Nur einer von ihnen würde den Rang des Adepten erhalten. Dem Anderen jedoch erwartete das Schicksal des Vergessens.
Wehmütig erinnerte sich Cathrine an ihren eigenen Ritus, dessen glücklichen Ausgang sie nur einem Zufall verdankte. Hätte sie ein anderes Buch gewählt, als dieses am Abend davor, säße sie heute gelähmt im Rollstuhl. Stattdessen war es Elisa gewesen, die nun am Grund der Themse ihre Wurzeln schlug. Sie hatte nicht gewollt sie zu verletzen. Doch es war ihr keine andere Möglichkeit geblieben. Cathrine vertrieb die Erinnerung aus ihren Gedanken.
Silva brummte verstimmt. "Es sind zu viele Leute."
"Dann legen wir einfach die ganze Stadt lahm." , erwiderte Arthur.
Cathrine schüttelte den Kopf. „Lasst das meine Sorge sein.“
Kurz bevor sie die Absperrung erreichten, stach sie sich in ihren geschundenen Finger. Sie berührte ihre zwei Begleiter. "Condere obductis!" , flüsterte sie leise.
Ungesehen schlich sie unter der Abgrenzung hindurch und ermahnte ihre Schützlinge. „Tretet nicht zu Nahe an sie heran. Und auf keinen Fall berühren, ich brauche keine geistliche Hysterie.“
Arthur betrachtete einen der jungen Polizisten genauer, studierte sein grün anlaufendes Gesicht, als dieser die Leiche sah. „Der wird es nicht lange machen.“
Eilig musste er beiseite springen, als dieser sich unvermittelt übergab.
Silva verdrehte die Augen, während sie sich dem toten Mädchen zu wand. "Idiot!"
Cathrin trat an die Seite des Inspektors. „Etwas mehr Respekt, wenn ich bitten darf. Das ist ein Tatort.“
Thomas kniete neben dem armen Mädchen, studierte die Wunden, die man ihr zugefügt hatte. Seine Haare waren fettig, sein Blick müde und ausdruckslos. Sein Atem roch nach Wein. Sie hatte so sehr gehofft, ihm seine Trauer genommen zu haben. Doch der Kummer über den Verlust seiner Tochter war zu stark gewesen. Lange hatte Madeleine gegen die Tuberkulose gekämpft, die auch ihre Mutter dahingerafft hatte. Nach drei Jahren zähen Kampfes, hatte sie verloren. Sie starb und er hatte sich dem Alkohol zugewandt. Selbst ihr Zauber hatte ihn nicht heilen können. Thomas war ein willensstarker Mann mit dem Herzen am rechten Fleck. Dieses Leid hatte er nicht verdient.
Sie mochte es mit ihm zusammenzuarbeiten, auch wenn er sich nicht an sie erinnerte. Sein Scharfsinn hatte ihm den Grad des Inspektors eingebracht. Nun begann er langsam mit der Dunkelheit der Stadt zu verschmelzen. Seine Wangenknochen traten stärker hervor, sein Körper wirkte mager, seine Haut fahl. Silva bemerkte ihren forschenden Blick. „Er ist hübsch!“
Cathrine ignorierte Silva Grinsen und wandte sich der Leiche zu. „Er hat ein gutes Herz.“
Dumpf drangen die Stimmen der anderen an ihr Ohr, während sie in die Augen der armen Frau blickte. „Sie hatte keine Angst im Moment des Todes. Beinahe friedlich.“
„Ihr wurde das Herz herausgeschnitten!“ , bemerkte Arthur beiläufig.
Cathrine kramte in ihrer Tasche und reichte Silva ihren Block und Stift. „Zeichne die Runen so gut es geht. Von links nach rechts.“
„Ich kann nicht alle erkennen.“
„Versuche es.“
Diese komplexe Darstellung von Runen, war selbst ihr nicht geläufig. Doch sie wusste, wen sie fragen konnte. Alberts Wissen und Fähigkeiten umfassten das Spektrum der Obersten und gingen weit darüber hinaus.
Thomas begutachtete die klaffende Wunde in ihrer Brust. Seine Lippen murmelten stumm. „Das Herz wurde herausgerissen, nicht geschnitten!“
Zustimmend nickte der Leichenbeschauer. Thomas hob den Kopf ungläubigen Blickes. „Wie reißt man einem Menschen das Herz heraus.“
„Es bedarf, großer Anstrengung das Brustbein zu durchbrechen. Mit bloßen Händen ist das unmöglich.“
Cathrines Blick folgte Thomas knorrigen Fingern, die das Brandmal oberhalb ihres Brustbeines betasteten. Ein schmaler Streifen führte um ihren Hals. Der Anmerkung des Leichenbeschauers stimmte er nicht zu.
„Vielleicht wurde sie erdrosselt.“
„Nein, die Male liegen tiefer. Sie scheinen in das Fleisch gebrannt worden zu sein. Wie bei einem Medaillon.“ , Thomas wandte sich an die umstehenden Polizisten, „Hat jemand eine Kette, oder ein Medailion gefunden?“
Kopfschüttelnd wurde seine Frage verneint. In Abwesenheit eines Blockes zeichnete sie den Abdruck, den das Medaillon auf der Haut des Mädchens hinterlassen hatte, auf ihren Handrücken.
Arthur schaute ihr über die Schulter. „Mondkind.“
„Was?“
„Das Märchen Mondkind. Unsere Heimleiterin hat es uns jeden Abend vorgelesen.“
Silva betrachtete ihre Hand. „Ja, ich erinnere mich.“
„Wieso sollte eine Frau so etwas um den Hals tragen?“
„Vielleicht eine Erinnerung an etwas, oder aus Nostalgie?“
Ihr Blick wanderte erneut zu den Runen, die Shiva mühsam versuchte zu skizzieren. Dumpf drangen Thomas Worte an ihr Ohr. „Man hat eine Klinge benutzt um ihr die Unden zuzufügen. Wieso hat der Täter nicht den Dolch verwendet um auch ihr Herz zu entfernen?“
Cathrine entdeckte etwas kleines Schwarzes, das im fahlen Fleisch einer Wunde steckte. Eilig öffnete sie ihre Hand und flüsterte. „Ire Hiking“
Der schwarze Splitter transformierte sich in ihre Handfläche. Arthur nahm ihn ihr ab, drehte ihn im Licht der Sonne. Er schien zu schimmern. „Stahl?“
Sie wog ihn in ihrer Hand, befühlte seine gesplitterten Konturen. Es fühlte sich nicht an wie Stahl. „Nein, eher Stein.“
„Eine steinerne Klinge?“
Sie verstaute den Splitter vorsichtig in ihrer Tasche. „Wir werden ihn später genauer untersuchen.“
Cathrine bemerkte gerade noch rechtzeitig, wie Thomas die Frau mit einem Leinentuch bedeckte und aufstand. Beinahe hätten sie sich berührt, wäre sie nicht beiseitegetreten. Seine blauen Augen blickten durch sie hindurch.
Dann wandte sie sich an Silva. „Konntest du alles skizzieren?“
Sie zeigte ihre ihre Zeichnung. „Nicht genug!“
„Das muss vorerst reichen.“
Ihre Finger fuhren die Runen entlang. „Fottur i mørket....gave.“
„Was bedeudet das?“
„Wanderung in der Finsternis und etwas von Gabe!“
„Gabe?“
„Ein Geschenk, oder Schenkung.“
Als Cathrine von den Notizen aufsah, bemerkte sie die blutige Fußspur. Der nächtliche Regen hatte sie weitesgehend verwaschen.
Silva folgte den verbliebenen Spuren. „Sie kam aus der Gasse!“
Cathrine betrachtete Thomas ein letztes Mal, der sich eine Zigarette anzündete und die gaffende Menge aus leeren Augen inspizierte. Seine offenkundige Verachtung war nicht zu übersehen.
Ihren Begleitern folgend, stoppte sie vor einem geronnenen Blutfleck. „Sie ist hingefallen.“
Die Gasse entlang folgten sie den Spuren. Doch als die Straße den Hügel hinabführte, verebbten sie. Cathrine betrachtete die rauchenden Dampfer. Die Gasse führte zum Hafen hinab. Das Schlagen von Metall aus den Fuhrwerken war zu vernehmen.
„Sie kam aus dem Hafenviertel.“
Cathrine kniete vor den letzten sichtbaren Blutfleck. „Memoriae“
Ein Schatten erwachte vor ihren Augen zum Leben und rannte an ihr vorbei. Sie hatte kaum Laufen können. Sie klopfte an jeder Tür, flehte um Hilfe. Doch niemand hatte ihr geöffnet. Atemlos bettelnd kniete der Schatten auf den Pflastersteinen. „Hilf mir. Hilf mir! Hilf mir.“
Cathrine flüsterte ihre letzten Worte und sah, wie ihr Schatten zwischen den Menschenmassen verschwand.
Dann wandte sie sich Arthur und Shiva zu. „Hilf mir. Sie sagte: Hilf MIR!“
„Vielleicht der Schock.“
Lauernde Schritte erweckten Cathrine´s Aufmerksamkeit. Jemand war ihr gefolgt, den ganzen Weg vom Hafen. Im frostklirrenden Nebel wogend lief der Schatten ihres Verfolgers an Cathrine vorbei. Eine seltsame Kälte ging von ihm aus. Etwas Unheilvolles lag in seiner Aura.
Silvas Worte drangen durch den Dunst, der sie umgab. „Kannst du ihn erkennen?“
„Nein, sie hat sein Gesicht nicht gesehen. Aber diese Kälte. Etwas stimmt hier nicht!“
„Kalt? Wie meinst du das?“
„Ich kann es nicht erklären. Wir sollten von hier verschwinden. Ich muss die Oberste sprechen.“

6. Kapitel

Das leidende Röcheln seiner Tochter drang durch die geschlossene Tür. Die vergangenen Tage hatte sich ihr Zustand zunehmend verschlechtert.
Ihr Leid nicht mehr ertragend, wünschte er sich ein rasches Ende herbei. Zu einem stummen Gebet rieb er seine Hände, versuchte sie rein zu waschen, von seinen unreinen Gedanken. Hilflos flogen seine Augen durch den dunklen Raum, auf der Suche nach Hoffnung. Er fand sie in dem Buch seiner verstorbenen Frau. Jeden Abend hatte sie ihrer ungeborenen Tochter daraus vorgelesen. Nach ihrem Tod hatte er ihre Tradition fortgeführt.
Erneut hustete sein kleines Glück, stöhnte und röchelte. Er konnte es nicht ertragen, ein weiteres Mal zu ihr zu gehen, ihr Leid zu sehen, ohne eine Möglichkeit es ihr zu nehmen. Alles würde er geben, um ihren Platz einnehmen zu können.
Salzige Tränen flossen über seine Finger. Thomas erhob sich und griff das Buch, wiegte es in seinen Händen, betrachtete den ledernen Einband. Er öffnete es, befühlte das kalte Metall des Medaillons seiner Frau. Nie hatte sie es abgenommen. Von Generation zu Generation wurde es weitervererbt. Auch Madeleine sollte es einmal erhalten, sobald sie zur Frau werden würde. Doch ob sie diesen Tag erleben würde, war ungewiss.
Tröstend drang die Erinnerung in seine Gedanken.
Die Sonne schien an diesen Tag im Park. Sie streichelte behutsam ihren Bauch, während sie auf der Bank saßen und die spielenden Kinder betrachteten. Immer wieder griff sie nach dem Medaillon, als fürchte sie sein verschwinden. Er hatte sie gefragt, was es bedeute? „Meine Mutter hat es mir vermacht, bevor sie starb und ihre Mutter davor ihr. Un eines Tages wird es Madeleine gehören.“
Sie lächelte seltsam, als glitten ihre Erinnerungen in weite Ferne. „In dunklen Momenten deines Lebens wird es sich dir offenbaren. Eine Gabe wird dir gereicht, sie anzunehmen wird dir obliegen.“
Die Bedeutung ihrer Worte hatte er nie verstanden. Caroline hatte es kein Glück gebracht. Einsam und unter Schmerzen war sie gestorben. Im Angesicht des Todes hatte sie das Medaillon fest umgriffen auf Hoffnung wartend. Es konnte ihre Mutter nicht retten. Wie sollte es dann Madeleine helfen?
Mit einem wütenden Aufschrei warf er das verfluchte Objekt gegen die Wand. Nur um es wenige Sekunden später zu bereuen.
Vorsichtig hob er es auf und fuhr über die filigranen Linien. Ein einzelner Baum mit krummen Ästen umgeben von Eichenblättern, die zu einem Ring geformt waren. Symbole schimmerten in dem dicken Stamm. Doch sie waren zu fein, um ihre Bedeutung zu erkennen.
Bei dem Aufprall musste sich ein Eichenblatt aus seiner Fassung gelöst haben, denn die spitze Kante schnitt in seinen Finger. Thomas beobachtete, wie der einzelne Tropfen auf die Krone des Baumes tropfte und über die Symbole glitt.
Die Erschöpfung schien seine Sinne zu verwirren, denn für einen Augenblick meinte er ein Flackern zu erkennen. Vorsichtig säuberte er den Anhänger und schloss die Augen. Verzweiflung breitete sich in seinem Herzen aus. Schlaf. Er brauchte Schlaf!
Aus dem Nebel seiner Ohnmacht drangen eine fremde Stimme an sein Ohr. In unverständlichen Worten flüsterte sie, lockte ihn in das Zimmer seiner Tochter. Jemand war im Haus! Alarmiert griff er nach seiner Dienstwaffe. Beinahe hätte er sie fallen lassen, als er ihre Kammer betrat.
Jemand saß verborgen im Schatten auf der Bettkante seiner Madeleine. Beruhigend strich seine Hand über ihr schweißnasses Haar. Zum ersten Mal seit langer Zeit sah Thomas seine Tochter friedlich schlafen.
Die Waffe im Anschlag wagte er es nicht sie zu wecken. Der seltsame Mann beendete sein Lied. Ein Lächeln lag auf Madeleines Lippen. Alles Leid schien von ihr gewichen.
Funkelnde Augen waren auf Thomas gerichtet. „Sie hat wunderschöne Träume. Wir sollten sie ein wenig schlafen lassen, sie ist erschöpft.“
Der Mann erhob sich von ihrem Bett. „Keine Sorge, sie kann uns nicht hören.“
Thomas entsicherte seine Waffe mit zittrigen Händen. „Was wollen sie? Wer sind sie?“
„Sparen Sie sich ihre Kugeln Thomas. Sie waren es, der mich gerufen hat.“
„Ich habe niemanden gerufen.“
Der Mann trat in das Licht der flackernden Kerze. Seine breiten Schultern spannten den schwarzen Gehrock. Unzählige Ketten glimmerten unter seiner bestickten Weste hervor. Die einzelnen Ringe seiner Finger schimmerten glühend. Seine Augen waren hinter einer dunklen Brille verborgen. Sein gepflegtes Antlitz verlieh ihn eine adlige Würde. Und doch umgab ihn eine Aura des Bedrohlichen, einem Wolf gleich, der in den Schatten lauerte. „Wir sollten uns ein wenig unterhalten.“
Kein Laut trat von den sonst knarrenden Dielen, als er das Zimmer durchquerte. Thomas folgte ihm in die spärlich eingerichtete Wohnstube, unfähig zu begreifen. Verwirrten Blickes ließ er sich auf einen Stuhl nieder. Doch der Mann unternahm keine Anstalten sich zu setzen. Neugierig inspizierte er den Raum. Seine Finger huschten über die Tasten des alten Klavieres und spielten eine hastige Melodie.
„Das Klavier ihrer Frau, nicht wahr?“
„Ja. Sie gab Klavierstunden.“
„Jetzt ist es verstimmt. Wie schade, ihr Spiel war entzückend. Sie sollten es ihrer Tochter beibringen.“
„Ich kann kein Klavier spielen.“
Seine Augen funkelten bedrohlich durch die dunklen Gläser. Thomas lief es kalt den Rücken herunter. „Sie sollten es lernen. Pianisten sind begehrt bei Witwen jeglichen Alters.“
Thomas hatte genug von der Scharade. „Wer sind sie und was wollen sie?“
„Sagen wir, ich bin ein Freund ihrer Frau.“
„Haben sie auch einen Namen, Freund?“ , langsam verlor er die Geduld.
Das Lachen des Fremden ging ihn durch Mark und Bein. „Ich habe viele Namen. Aber sie können mich Lucian nennen.“ , sein Blick schielte zu Thomas Waffe, die er noch immer in seiner Hand hielt, „Und eines sollten sie von mir wissen, Thomas. Ich verabscheue törichtes Verhalten. Legen sie endlich die Waffe weg!“
Widerwillig legte er die Waffe auf den Tisch. Wachsam verfolgten seine Augen jede Bewegung des Fremden. Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, versuchte er die Situation zu begreifen, in der er sich befand. War er eingeschlafen und träumte nur? Hatte der Kummer ihn wahnsinnig werden lassen?
Lucian beugte sich über ihn, starrte tief in seine Augen, als Suche er einen greifbaren Gedanken. „Oh nein mein Freund. Ihr seid hell wach und bei klarem Verstand.“
„Woher kennen sie meine Frau?“
Sein starrender Blick durchbohrte ihn. „Sie hat mich einst gebeten ihr zu helfen. Sie wollte ein Kind. Ihnen die Freuden der Vaterschaft zu gewähren war ihr sehnlichster Wunsch. So oft haben sie es versucht, doch es hat nie funktioniert. Es hat sie wütend gemacht. Nicht wahr? Sie schämten sich der Unfruchtbarkeit ihrer Frau. Ist es nicht so gewesen?“
Thomas schüttelte erzürnt über seine Dreistigkeit den Kopf. „Nein. Ich...“
„Sie haben sie geschlagen, aus Hass auf die ganze Welt. Dabei waren sie es, der keine Leistung erbringen konnte! Prächtig, aber nutzlos. Sie wagten es nicht, es ihr zu sagen!“
„Nein.“
Schmerz durchdrang Thomas ganzen Körper, als die Hand des Fremden sein Gemächt unbarmherzig umschloss. „Lügen sie mich nicht an.“
Thomas gab der schmerzhaften Wahrheit nach. Sein Schoß pochte unaufhörlich. „Ja. Ich habe sie geschlagen. Doch es war meine Schuld. Es ist... meine Schuld.“
Endlich gab er ihn frei und ließ sich elegant in den Sessel nieder. Einen Moment wartete er geduldig schweigend, bis Thomas zu Atem kam.
„Ihrer liebreizenden Frau zu liebe, werde ich ihnen helfen.“
Aus trockener Kehle versuchte er zu antworten. „Wie wollen sie mir helfen?“
„Ich werde die Krankheit ihrer Tochter lindern. In wenigen Wochen wird sie vollständig genesen und ein langes glückliches Leben führen.“
Thomas spuckte die bittere Galle auf die Dielen seines Hauses. „Niemand kann ihr helfen.“
„Ich kann es!“
Seine Finger spielten mit den Flammen der Kerze, ließ sie flackernd tanzen. Ein Gedanke ergriff Thomas. „Habe ich den Teufel in mein Haus gebeten.“
Lucian lachte verzückt. „Ein interessanter Gedanke nicht wahr?“
Einen Moment blieb es still, während der seltsame Mann mit den Hoffnungen eines verzweifelten Mannes spielte. „Was verlangt ihr dafür?“
„Eure Augen.“
„Meine Augen?“
Lucian lehnte sich, die Beine überschlagend, entspannt in den staubigen Sessel. „London ist eine rasant wachsende Stadt. Schnelllebig und gierig. Ich benötige zuverlässige Augen. Sie werden für mich sehen was ich sehen will.“
„Wie?“
„Lassen sie das meine Sorge sein.“
Thomas dachte über das Angebot des Fremden nach. Waren die Konsequenzen mit dem Geschenk des Lebens zu vereinbaren? Er wusste es nicht. Konnte er es ertragen, auch seine Tochter zu verlieren.
Lucian schien seine innere Zerrissenheit zu bemerken. "Lassen sie sich Zeit. Ich werde ein weiteres Mal zu ihnen kommen."
Thomas vernahm die Stimme seiner Tochter. "Dad?"
Sein Blick wandte sich nur für einen Augenblick von ihm ab. Als er sich erneut umdrehte, war der Sessel leer und der Fremde verschwunden.
Thomas stand verwirrt auf, unsicher ob es nicht doch ein Albtraum gewesen war. "Dad?", rief seine Tochter ein weiteres Mal.
Er betrat das Zimmer seiner Tochter. Mit rosigen Wangen lächelte sie ihn an. Ihr Fieber schien verschwunden. Zum ersten Mal seit Tagen wirkte sie gesund.
„Wie geht es dir, Liebes?“ , fragte er ungläubig, seinen Augen misstrauend.
Verschlafen blinzelte sie ihn an. „Ich habe geträumt. Jemand hat gesungen.“
Er legte sich zu seiner Tochter, hielt sie fest in seinen Armen. „Schlaf weiter Liebes.“

7. Kapitel

 Aaron betrachtete das Bildnis des Erzengels Michael, der seinen Speer in Luzifers Körper rammte. Der ewige Kampf zwischen Licht und Finsternis, war ein beliebtes Motiv des religiösen Glaubens. Nicht, weil es von der Wahrheit sprach, sondern die Urangst des Menschen vor der Dunkelheit schürte. Verängstigte Wesen waren leichter, zu bändigen, wenn man ihnen die Erlösung versprach. Furcht lockte sie in ihre geheiligten Hallen, wo es warm und sicher war. Vor der Nacht verbarrikadierend beteten sie, auf das der Teufel nicht ihr Haus betrete, um sich ihrer Seelen zu bemächtigen. Und doch sahen sie nicht, dass die Dämonen längst unter ihnen wandelten. Absolution und Seelenfrieden verteilend schlüpften sie in goldene Roben. Menschliche Teufel, verdorben von Gier und glänzender Macht. Sie erbauten sich ihre Hallen aus Gold und Blut des Krieges. Abscheu hinterließ einen bitteren Geschmack auf seiner Zunge, als er die blutigen Knie des hockenden Betenden zu seinen Füßen betrachtete. Wie er dem wimmerigen Gebet des Priesters lauschte, fragte er sich, ob es nicht das Recht der alten Götter war, jene Sünden zu bestrafen. Grotesk fand er die Vorstellung, in den Augen der falschen Dämonen ein Teufel zu sein, jedoch nach ihres Gottes Gesinnung ein Racheengel.
Aaron beobachtete den heuchlerischen Priester, wie er um sein Leben bat, nackt vor dem ehrwürdigen Altar. „Ich bitte dich, oh Heer. Wasche mich rein von meinen Sünden, denn...“
Schweiß und Blut drang aus jeder seiner Poren. Würden seine Lippen auch nur eine Sekunde still stehen, löste sich ein weiterer Streifen Haut von seinem Rücken. Die Knochen seiner Wirbelsäule blitzten schon weiß hervor. Eine sichtbare Wunde und eine Warnung an jene, die ihre eigenen Gebote missachteten.
Er blickte in die betörenden Augen seines kindlichen Daseins. Gleichwohl erregte ihn der Anblick seiner ersten Bestrafung. Wie gleichgültig sein jüngeres Ich auf das zitternde Wesen vor seinen Füßen blickte. Süßer Messwein benetzte seine prallen Lippen. Aaron kannte die Gefahr, die jugendliche Schönheit barg. Er kannte die Versuchung der niederträchtigen Lust. Sich der Unschuld zu bemächtigen war ein berauschendes Gefühl. Aaron betrachtete den kleinen Jungen, der an der Schwelle des Erwachsenwerdens stand. Er sah die Narben seiner Seele, die ihm der alte Mann all die Jahre zugefügt hatte. Noch heute zierten sie seinen Rücken.
Ein weiterer Riss bildete sich auf den Bogen seiner Rippe, als der Priester sich seinem Schützling zu wand. Mit vor Schmerz bebenden Lippen und tränenden Augen warf er sich vor die Füße des Knaben. „Ich bitte dich mein Junge, beende meine Qual. Ich erkenne meine Fehler, meine grausige Schande. Vor Gottes Augen bitte ich dich um Vergebung. Bitte, Vergebung!“
Schluchzend wurden seine Worte leiser und krächzender, als er endlich seine Schuld gestand. Sein Körper wirkte müde und brach unter der Last seines Glaubens. Salz floss in Strömen von seinen Wangen und Lippen, während die große Glocke den neuen Tag ankündigte. Dröhnend schallte ihr Ruf durch die Hallen des scheinheiligen Hauses.
Aaron betrachtete sein junges Ebenbild, wie es sich genüsslich an den Schmerzen des Geistlichen labte. Der Heilige klammerte sich an seinen Rosenkranz, küsste die goldenen Perlen blutig. „Ich...bitte euch... habt erbarmen mit einem alten Sünder. Mein Leben im Dienste des Herren. Richte mich, oh Herr, denn ich bin ein Sünder.... Und geheiligt sei sein Name!“ , würgte er vor Schmerzen heraus, während seine Haut sich unbarmherzig schälte. Doch noch ehe er die Früchte seiner Tat bestaunen konnte, drang eine kalte Stimme durch seine Gedanken. „Es obliegt dir allein, dein Leiden zu beenden!“
Die Illusion seiner Vergangenheit löste sich und riss Aaron in die Gegenwart. Das weiche Bett unter ihm und der sternenklare Himmel über ihn lag er in den geborgenen Armen seines Herren. Seine beringten Finger strichen ihm beruhigend durchs Haar. „Seine Schmerzen sind auch deine Schmerzen.“
Aaron küsste die muskulöse Brust seines Gebieters, liebkoste die einzelnen gespannten Muskelstränge. „Und doch sehe ich ihn zu gern leiden!“
„Die Vergangenheit birgt gefahren!“
Aaron ignorierte Lucians Warnung. Seine Hand fuhr unter die leichte Decke und ruhte auf seinem sich aufbäumenden Gemächt. Lustvoll flüsterte er ihm ins Ohr. „Richtung Norden würde er gehen und sie alle würden ihm folgen. Götter und Menschen werden fallen, Sonne, Sterne und Mond. Tag wird Finsternis und Licht zu Schatten, wenn der Tod erwacht. Denn es gibt nur einen Gott und nur vor einem werden sie sich beugen.“
Zweifarbige Augen begutachteten ihn neugierig, wie seine Lippen hinab wanderten einen Augenblick auf seinem Nabel verweilten, bevor sie seine Männlichkeit küssten.
Aaron wusste um die Begierden seines Herren, doch etwas schien ihm zu bekümmern. Desinteressiert wandte er den Blick Richtung Himmel. Er unterbrach sein Freudenspiel begutachtete Lucians sorgenvolles Gesicht. „Etwas plagt euch!“
„Das hat dich nicht zu kümmern!“
Aaron ließ gekränkt von ihm ab. Sein Blick fiel auf den verblassten Ring. „Was kümmert euch ein verlorener Schützling? Eure Macht ist und bleibt grenzenlos! Lasst mich euch eure Sorgen nehmen!“
Erneut wagte er ein Vordringen. Aarons Finger strichen durch das mondbleiche Haar seines Geliebten, spielten mit seinen feinen Wellen. Seine Lippen küssten die seinen, auch wenn sie sich weigerten.
Ein Schrei peitschte durch seine Gedanken. „Hilf mir!“ ,schallte es in seinen Ohren. Aarons Körper wurde unliebsam zur Seite gestoßen, als Lucian sich schmerzgegeißelten Gesichtes aufrichtete. Er hielt seine krampfende Brust, während ein weiterer Stein an seiner Hand zerbrach.
Wütend schlug er auf das Bett ein. Aaron kannte den Zorn seines Herren. Er wusste, dass niemand in diesen Zustand sich ihm nähern sollte. Schweratmend verließ er das Bett ihrer Zweisamkeit. „Ich fürchte jemand bedarf meiner Aufmerksamkeit!“
Aaron stieg aus dem Bett, die kalte Nachtluft ließ ihn zusammenfahren. „Soll ich euch begleiten?“
„Nein. Du wirst Hestia für mich aufsuchen und um ein Treffen bitten!“
Kaum hatte er seinen Satz beendet, war er schon im kalten Nebel verschwunden. Aaron antwortete den sich auflösenden Schatten. „Ja, mein Herr!“

8. Kapitel

 Cathrine betrat das Haus ihrer Eltern, die Knochen steif von der nächtlichen Kälte. Haar und Mantel waren vom englischen Regen bedeckt. Im Flur des alten Hauses wurde sie von einer wohlig heimischen Wärme umgeben. Mrs. Strandford begrüßte sie freundlich. „Miss Morgan. Das Abendessen ist vorbereitet.“
„Vielen Dank Mrs. Strandford. Es wird wohl noch eine Weile dauern. Ist Richard schon eingetroffen?“
„In der Bibliothek.“
Mrs. Strandford half ihr aus den Mantel. Mit geübten Blick erkannte sie ihre tiefen Augenringe. „Ihr seht erschöpft aus!“
„Es war ein langer Tag!“
„Dann werde ich einen Tee aufsetzen.“
Wortkarg huschte sie eilig zurück in die Küche. Cathrine rieb sich ihre müden Augen und lief den Flur entlang. Die Malereien ihrer Mutter begleiteten sie auf ihren Weg in die Bibliothek. Sie klopfte an die geschlossene Tür. „Richard?“
„Komm rein, Liebes.“
Sie öffnete die Tür und trat ein. Das Feuer des Kamins brannte lodernd. Auf und um den Schreibtisch verteilt lagen Stapel von Büchern. Ihre Augen glitten über das systemlose Chaos. Er schien auf der Suche nach etwas. Gedankenversunken saß Richard auf den ledernen Sessel seines Bruders, die Augen vergraben in den Seiten eines alten Buches. „Ich werde später zu Abend essen.“
„Wir müssen uns unterhalten!“
Er sah nicht einmal auf, während er mit ihr sprach. „Lass uns morgen reden, ich bin beschäftigt!“
Cathrine atmete tief durch, entschlossen sich nicht abwimmeln zu lassen. „Ich benötige deine Hilfe! Es ist wichtig.“
Richard zog es weiterhin vor sie zu ignorieren. „Ich bin mir bewusst, dass es von größter Bedeutung ist, doch...“
„Es geht um den Anarch!“
Endlich hatte sie seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Ihre Dringlichkeit bekräftigend, ließ sie sich auf den Sessel ihrer Mutter nieder. Noch immer verströmte der Stoff den Duft ihres Parfumes. Richard schluckte. Das Buch zur Seite legend schlug er einen ernsten Ton an. „Was hast du mit dem Anarchen zu tun?“
„Adara hat mich mit der Untersuchung eines Mordes beauftragt. Das Mordopfer trug die Othala-Rune auf ihrer Stirn. Sicherlich ist dir das Symbol geläufig.“
Richard ignorierte ihre patzige Antwort. „Ein Mord in London?“
„Eine junge Frau vor zwei Tagen. Für mich sieht es nach einem Ritualmord aus.“
„Unmöglich. Ritualmagie ist strengstens verboten. Zudem ist dieses Wissen nur dem Hohen Rat bekannt. Sicherlich ist dir irgendwo ein Fehler unterlaufen.“
Cathrine verschränkte zornig die Arme. „Meine Untersuchungen sind gründlich. Sei es, wie es ist. Ich benötige die Aufzeichnungen meiner Eltern. Ich weiß, dass du sie aufbewahrst!“
„Diese Dokumente...“
Sie unterbrach ihn schroff. „In wenigen Wochen wird die Zeremonie stattfinden und der Anarch wird ebenfalls anwesend sein! Sollte es weitere Vorfälle dieser Art geben, werde ich mich dafür verantworten müssen, Onkel! Ich bin dir unterstellt, also wird es auch auf dich zurückfallen!“
Richard rang mit sich. Deutlich sah sie die tiefen Falten, die sich zwischen seinen Augenbrauen bildeten. „Ich hätte dir nie davon erzählen sollen!“
„Das hast du aber!“
Er erhob sich aus dem Sessel und trat an das Regal. Seine Finger vollführten eine Formel, die ein verborgenes Fach öffnete. Zielstrebig griff er nach dem darin enthaltenen zusammengerollten Pergament. Er schaffte sich Platz auf den Schreibtisch und entrollte es. Cathrine folgte seiner stummen Aufforderung und trat an den Tisch. Er gab ihr etwas Zeit, die unvollständige Aufzeichnung genauer zu betrachten. „Dies ist der Teil eines Schriftstückes aus der Bibliothek von Alexandria. Dein Vater hat es auf einen Basar in Ägypten erstanden. Es beschreibt ein Ritual zur Befreiung einer Gottheit. Es ist jedoch unvollendet. Ob es tatsächlich funktioniert hat, ist nicht überliefert. In einem anderen Text ist die Aussage eines Jungen festgehalten. Eines Tages soll er die Stimme eines Gottes vernommen haben, die ihm befahl, ihn zu befreien. Zum Dank versprach das Wesen ihm Reichtümer unvorstellbaren Ausmaßes. Er wurde jedoch, direkt nach seiner Aussage wegen Gotteslästerung verurteilt und hingerichtet.“
Richard bedeckte das Pergament mit der Chronik ihres Zirkels. „Aus der Aufzeichnung eines der Ältesten des ersten Rates geht hervor, dass es tatsächlich jemand gelungen war, jenen Gott aus der Verbannung zu befreien. Was diese Menschen jedoch nicht wussten, ist, dass sie sich damit unbeabsichtigt in einem Krieg der Götter einmischten. Sie hatten eine Seite gewählt ohne eine Wahl zu haben. Was in den folgenden Jahrhunderten passierte, ist undokumentiert, doch es führt uns direkt zum Entstehungsgrund unseres Zirkels. Mit Hilfe einer List des ersten Rates, gelang es dem Anarch, seinen Widersacher in eine Art Schlaf zu bannen. Als Dank gründete er unseren Orden und gab den Ältesten einen Teil seiner Fähigkeiten. Aber das ist dir sicherlich schon bekannt.“
Cathrine unterbrach die Zusammenfassung ihres Onkels. „Und was hat es mit dem Symbol auf sich.“
Richard entrollte ein weiteres Dokument. Eine einzelne Seite in fremder Sprache. „Ich bin des Niederländischen nicht mächtig, aber es handelt sich um einen Tagebucheintrag von Aaron van Horn, der beschreibt, dass sie zur Erweckung des Gottes einen Körper benötigten. Während des Rituals brannten sich Runen in die Haut des Opfers. Auf seiner Stirn, jenes Symbol.“
Richard tippte auf die Kohlezeichnung. Wenn seine Linien auch verwaschen waren, konnte Cathrine deutlich die Ähnlichkeit erkennen. „Wieso sollte jemand den Anarchen erwecken? Er ist doch längst befreit!“
Richard verstaute die Aufzeichnungen an ihren versteckten Platz, füllte zwei Gläser Whiskey und warf sich erschöpft in den Sessel. „Mehr kann ich dir zu dem Thema auch nicht sagen! Eigentlich sollten diese Dokumente gar nicht existieren. Welchen Schaden sie deinen Eltern zufügten, muss ich dir sicherlich nicht erläutern!“
Cathrine nahm das Glas, welches er ihr reichte und tat es ihm gleich. „Und doch hast du sie behalten!“
„Ich dachte, sie wären irgendwann zu etwas nütze!“
Schweigend starrten sie eine Weile in die Flammen. Richard nahm einen tiefen Schluck. „Wie wirst du weiter vorgehen?“
„Ich bin mir nicht sicher! Es existieren noch zu viele Fragen.“
Cathrine nippte an den Whiskey, der eine leicht süßliche Note aufwies, bevor sie sich zum Gehen aufmachte. Kaum ruhte ihre Hand auf der bronzenen Klinke, vernahm sie Richards warnende Worte. „Egal was du auch tust. Von einem Besuch bei Albert würde ich dir abraten!“
Sie ließ seine Warnung unkommentiert, denn sie beide wussten, dass ihr keine Möglichkeit blieb. Ritualmagie war sein Fachgebiet. Niemand sonst würde ihr nützlichere Informationen liefern.
Cathrine betrachtete Richard, dessen Blick im Schein des züngelnden Kaminfeuers versank.

9. Kapitel

Adara betrachtete die unansehnliche Narbe an ihrem Hals. Tief hatte Lucians Klinge durch ihre Haut geschnitten. Binnen weniger Sekunden hatte sich ihr ganzes Leben geändert. Sie hatte den Tod durchlitten und war mit neuen Kräften wiedergeboren. Doch in 20 Tagen würde man ihr die Macht gewaltsam entreißen. Ein anderer würde an ihrer statt regieren. Betrachtete sie die unkompetenten Anwärter, sah sie eine düstere Prognose heraus. Unfähig waren sie allesamt.
Im dämmrigen Kerzenlicht wanderte ihr Blick hinab zu ihrer Taille. Mag das enge Korsett ihr auch die Luft zum Atmen nehmen, verlieh es ihr eine stolze Erhabenheit. Sie begutachtete den feinen Stoff aus Italien. Das Satin schimmerte in dunklem Grün und hob den Glanz ihres roten Haares hervor. Deutlich waren die kleinen Fältchen, um Mund und Augen zu sehen. Die Jugend verschwand, das Alter rückte mit jedem Tag näher und näher. Doch noch war ihre Zeit nicht gekommen. Sie würde es sein, die dieser patriarchalischen Gesellschaft einhalt gebieten würde. Sie würde nicht tatenlos zusehen, wie der Zirkel in die Verdammnis geriet. Die Zeit der Veränderung war gekommen und sie würde sie einleiten!
Adara hob das unvollständige Medaillon in das Licht der Kerzen. Drei der 10 Teile waren verschmolzen zu einem wirren Wurzelwerk des Weltenbaumes. Deutlich konnte sie Lucians Kraft fühlen, die das Wurzelsystem glühend durchdrang. Sie befestigte es an dem Verschluss ihres Halsbandes und verbarg es unter ihrer Halskrause. Kaum berührte das sengende Metall ihre Haut, da verschwanden die Falten ihres Alters. Grau wich dem feurigen Rot der Jugend.
Richard erschien im Rücken ihres Spiegelbildes. Liebeslüstern betrachtete er ihren eleganten Körper. „Uns bleibt zu wenig Zeit um die restlichen Teile zu finden!“
„Mach dir keine Sorgen. Ich werde mich darum kümmern! Hast du ihr die Aufzeichnungen gezeigt?“
Seine schlanken Muskeln spannten sich, als er ihre schmale Taille umgriff. Gierig verlangte er nach mehr. Doch sie wies ihn zurück. Mag er von stattlicher Statur sein, konnte er seinem Bruder selbst im Tod nicht das Wasser reichen. Der Kelch der aristokratischen Eleganz war am ihm vorüber gereicht worden. Übrig geblieben waren die verschlagenen Augen und sein zu gleichen Teilen rückratloses wie auch zu seinem Vorteil bedachtes Handeln. Zurückgewiesen machte er sich daran, seine Kleider anzuziehen. „Keine Sorge, ihre Neugierde ist geweckt.“
„Ihr Scheitern zum richtigen Augenblick ist von größter Wichtigkeit! Der zweite Mord sollte Lucian zum Handeln zwingen. Wie ich ihn kenne, wird dies sicherlich bald der Fall sein.“
Adara beobachtete Richards Bemühungen des Ankleidens. Sein Erregungszustand bereitete ihn dabei größere Schwierigkeiten, als gedacht. Sie beschloss, ihm zur Hand zu gehen. Energisch schloss sie Knopf für Knopf seiner Hose. Sich seiner Ergebenheit vergewissernd umgriff sie sein bebendes Gemächt und strich verführerisch über die markante Wölbung seiner Hose. „Du wirst dich doch nicht im entscheidenden Moment umentscheiden. Ist es doch deine eigene Nichte, die du ans Messer liefern wirst.“
Mit den Fingern löste er eine einzelne Strähne ihres streng zurückgebundenen Haares. „Sie war stets nur ein Mittel zum Zweck. Dir allein gehört meine Ergebenheit!“
Schleimen konnte er, das musste sie ihm zugestehen. Doch sie wusste, dass er sich ein Stück vom Kuchen erhoffte, sollte sie den Anarchen endlich gebannt haben. Abrupt brach sie ihre Zärtlichkeiten ab, schenkte ihm einen Kuss zum Abschied, bevor sie von ihm abließ. „Nun geh, ich werde schon erwartet!“

 

10. Kapitel

Beißender Rauch umhüllte den weiten Raum, als Lucian die Pforte zu Cleopatras Gemach durchquerte. Rot und Orange leuchtete das sanfte Licht ihrer illusionierten Welt. Die heiße Wüstenluft drang durch die offenen Fensterbögen.
Cleo schwenkte den lieblichen Wein, während sie sich auf der mit Kissen ausstaffierten Liege regelte. In den Jahrhunderten seit ihres letzten Treffens hatte sie sich kein bisschen verändert. Ihr durchsichtiges Gewand zeigte die Vorzüge ihres göttlichen Körpers. Der seidene Stoff umspielte ihre wollüstigen Kurven und prallen nackten Brüste. Goldenes Geschmeide klimperte in ihrem schwarzen Haar. Neugierig betrachtete sie die elfenfarbige Frau, die sich elegant in dem zu einer Schaukel geformten Tuch räkelte. Die Sonne umspielte ihren verführerischen Tanz zum Klang des kratzigen Grammophons.
Cleopatra wandte den Kopf, um ihn betrachten zu können. Abfälligen Tones widmete sie sich erneut der Tänzerin zu. „Dein Hündchen hat mir deine Nachricht überbracht! Was willst du?“
In den Jahrhunderten seiner Abwesenheit schien sich ihr Zorn nicht geschmälert zu haben.
Seine Finger spielten mit den saftigen Trauben, die in einer Schale auf den Tisch standen. Offensichtlich schwelgte sie noch immer in den Erinnerungen ihrer gemeinsamen glorreichen Zeit. Endlose Nächte, prunkvolle Feste und Ausschweifungen. Lucian spielte mit den Gedanken, sie zu verführen, war sie doch im erregten Zustand eher einer Versöhnung zugeneigt. „Was täte ich für eine Nacht der gottesgleichen Verehrung.“
Doch Cleo schien seine List zu durchschauen. Kühl blockte sie seine Avancen ab. „Bemüh dich nicht der Freundlichkeit. Sag, was du zu sagen hast und dann verschwinde. Ich habe noch zu tun!“
Energisch setzte sie sich auf, wobei der durchsichtige Stoff von ihren Schultern rutschte und ihre wohl geformten Brüste freilegte. Ihre Hand lockte die elfenfarbige Schönheit an ihre Seite. Goldenes Haar bedeckte ihre nackte Haut, während das Mädchen ihren schmalen Nacken massierte.
Lucian ignorierte ihr sinnliches Spiel der Verführung. „Ich habe zwei meiner Schützlinge verloren!“
„Was kümmert mich das?“
„Soweit ich mich erinnere, habe ich dir diese Bürde zu verdanken!“
„Du hast sie verdient. Oder solltest du da anderer Meinung sein?“
Lucian wusste um die Schwere seiner Schuld und das Leid, das er ihr zugefügt hatte. War es doch seine Hand gewesen, die den Tod ihres Sohnes verursacht hatte.
Unverhohlen äußerte er seinen Verdacht. „Ich komme nicht umhin zu vermuten, dass du mit den Vorfällen in Verbindung stehst.“
Er hatte den Faden überspannt, wie er an ihrer Reaktion erkennen konnte. Zornig erhob sie sich, den Tisch in seine Richtung schleudernd. „Du wagst es mich zu verdächtigen?“
Porzellan und Glas flog durch die Luft. Es bedurfte ihn einiger Anstrengung, den Geschossen auszuweichen. „Nach Jahrhunderten des Schweigens, der Abwesenheit. Woher nimmst du dir das Recht...“
Lucian gelang es, sie an den Armen zu packen. Unsanft presste er sie an die Wand, hielt sie fest, sodass sie unfähig war, sich zu bewegen. „Ich habe lediglich eine Vermutung geäußert. Beruhige dich.“
Sie spuckte ihm ins Gesicht. „Verrotten hättest du sollen in deinem Grab!“
„Brigid.“
Den Tränen nahe, wandte sie sich von ihm ab.
„Du hast kein Recht mich so zu nennen! All die Jahre, ohne ein Zeichen von dir...“
Lucian sah den Schmerz der Jahrtausende in ihren Augen. „Ich hatte nicht vor dich zu verletzen!“
„Und doch hast du es getan!“
Seine Finger strichen die wirren Strähnen ihres vollen Haares aus ihrem Gesicht. Abweisend widersetzte sie sich ihm. Kraftvoll zwang er sie, ihn anzublicken, indem er ihr Kinn umfasste. Erneut wiederholte Lucian seine Worte. „Ich hatte nicht vor, dir Leid zuzufügen. Niemals.“
Ihr Blick wurde sanfter, ihre Abwehr schwand. Betörend wie Honig schmeckten ihre Lippen, als er ihr einen Kuss aufzwang. Seinen Drängen nachgebend, löste sie ihre Widerspenstigkeit. Mit geöffneten Mund empfing sie seine Zunge. Ihre Handgelenke noch immer fest umklammert, lockerte er seinen Griff. Seine freie Hand löste den Knoten ihres Kleides. Erneut begann sie sich anzuspannen.
„Nicht!“, entfloh es ihren Lippen.
Sie ruhten in ihrer Zusammenkunft, während er ihre Arme freigab. Doch sie vergrößerte ihren Abstand nicht. Sein Blick haftete auf ihren bernsteinfarbenen Augen. Cleos Finger öffneten Frack und Bluse, bevor sie sie ihm über den Kopf streifte. „Ich werde dir niemals vergeben!“
Lucian schenkte ihr ein verführerisches Lächeln, als sie die Knöpfe seiner Hose öffnete. Stürmisch umfasste sie seine Erektion und ließ ihre Hand auf und ab gleiten. Erregt verbanden sich ihre Lippen. Seine Finger glitten über ihre weiche Haut, hinab zu ihren wohl geformten Hüften. Stöhnend öffnete sie ihre Beine, während er mit einem Finger in sie eindrang. Ihre scharfen Fingernägel gruben sich in sein Haar, als sie ihr Becken an ihn presste. Sie warf ihren Kopf nach hinten, sodass seine Lippen ihren Hals küssen konnten.
Kraftvoll drehte er sie an die Wand, damit sie ihm ihren vollen Hintern präsentierte. Lucian nutzte ihre Beugung und drang ungestüm in sie ein. Lustvoll bog sie sich ihm entgegen, vergrub ihre Finger in sein Deckhaar. Seine Hände streichelten sinnlich ihre weichen Brüste.
Lucian nutzte den Moment, zog sie an sich, löste die Illusion und erschuf seine Eigene. Das römische Etablissement war verschwunden und den ägyptischen Gärten gewichen, in denen sie so manche erstrebenswerte Höhepunkte erlebt hatten. Elegant warf er sie in die goldenen Kissen ihres ehemaligen Bettes. Er folgte ihr, platzierte sich hinter ihre kniende Haltung. Seine Finger gruben sich in ihr schwarzes Haar, zogen sie an sich, während er erneut in sie eindringen wollte. Doch sie entzog sich ihm, platzierte ihren Fuß oberhalb seines Gemächtes. „Ich bin nicht dein Hund!“
Lucian hob ihr Bein an seine Lippen. Versöhnlich küsste er ihr Sprungbein. „Er ist viel zu zärtlich für einen Hund.“
Küssend bahnte er sich seinen Weg zu ihrer Scham, bis seine Lippen den äußeren Rand ihrer Mitte liebkosten. Spielerisch entlockte er Cleo verzückende Erregung. Wollüstig beugte sie sich ihm entgegen. Seine Lippen glitten ihren Körper entlang, bis sie auf ihre Lippen trafen. Langsam drang er in sie ein, spürte die Wärme ihrer bebenden Mitte. Ihre Hand ruhte auf seiner Wange, während er seine Hüfte hob und sank. Immer kraftvoller drang er in sie ein. Tief gruben sich ihre Fingernägel in seinen Rücken, als sie ihren Höhepunkt erreichte. Er spürte die glühende Hitze ihres Körpers unter sich. Am höchsten Punkt seiner Erregung entzog er sich ihr, ergoss seinen Samen in die Wolle des Bettes. Atemlos trafen sich ihre Lippen. Ein verzücktes Lächeln bildete sich um die Winkel ihres Mundes. „Nach all den Jahren bringst du mich noch immer um den Verstand.“
Lucian blickte sie schweigend an. Er wusste keine Erwiderung auf die Worte ihrer Zuneigung. Das Gefühl der Liebe war ihm fremd geworden. Vielmehr war es ihre Ergebenheit, derer er sich versichern wollte. Das sie in diesem Falle recht ansehnliche Vorzüge bot, war ein köstlicher Nebenaspekt seiner Bemühung.
Nun, da er sich ihrer Unschuld bewusst war, musste er sich einer weiteren Unliebsamkeit widmen. Der Mord zweier seiner Schützlinge war dem Zirkel sicherlich nicht verborgen geblieben.

11. Kapitel

Den ganzen Tag hatte sie in der Bibliothek verbracht, das halbe Archiv hatte sie durchsucht auf der Suche nach Hinweisen auf jene Ritualmagie, die dem Mädchen ein so grausames Ende beschert hatte. Noch weigerte sie sich, Albert einen Besuch abzustatten, denn sie wusste um seine Abneigung gegen die Mitglieder des Zirkels. Doch mit der schwindenden Aussicht auf Erfolg, schien es ihr unausweichlich.
Cathrines Finger ruhten auf dem Einband des Märchenbuches. Das Buch an sich wirkte recht unscheinbar. Es gab keine Hinweise auf einen Verfasser, noch war es aufwendig gearbeitet.
Sie schlug die erste Seite auf. Die Illustration eines bleichen Kindes war zu sehen, dass zusammengekauert unter einem alten Baum lag. Ihre Lippen flüsterten die Zeilen. „Weine nicht, mein Kind, liegest flehend am Grabe unter schützend Eichenbaum.“
Stirnrunzelnd blätterte sie auf die nächste Seite. Die Strahlen des Mondes waren abgebildet.
„Während das Licht des Mondes durch dich dringt, halt ich meine Hand hütend über deinem Haupte.“
Silva stand plötzlich an ihrer Seite, sie hatte sie nicht einmal bemerkt. „Recht düster, wenn du mich fragst!“
Erschrocken hielt Cathrine inne. „Kein passendes Buch für ein Kind.“
Sie blätterte weiter. Dunkle Schatten lagen auf den zusammengesunkenen Körper des Mädchens. „Sich die Nacht, deines Lebens beraubte.“
Eine Seite weiter sah Cathrine das Bild eines Sarkophages. Das Kind mit silbernem Haar schlief neben dem steinernen Abbild einer Frau. Silva las die Worte laut vor, sodass sie von den hohen Wänden der Halle widerhallten. „So schlafest du, silbern tränend dein Haar, harrend in vergessener Stille.“
Die letzte Seite zeigte den steinernen Baum, umgeben von den Elementen.
„Bis gewahr, dies Opfer ich verhehl.
zur Rettung deiner Seel,
ich dies vollbringe, so ist´s mein freier Wille.“
Cathrine blätterte weiter, doch die folgenden Seiten waren leer.
„Wie soll uns dieses Gedicht nur weiterhelfen?“ ,vergrub sie ihr Gesicht kapitulierend in ihren Händen.
Silva blätterte zu dem Symbol auf der ersten Seite. „Es könnte zumindest dasselbe Zeichen sein, wie das Medaillon des Mädchens.“
„Es könnte auch nur ein Zufall sein.“
„Es hat sich in die Haut des Mädchens eingebrannt.“
Silva setzte sich neben sie und blätterte Seite um Seite, während sie ihre Gedanken äußerte. „Also, worum geht es. Ein Mädchen mit silbernen Haar liegt an einem Grab. Und Mondlicht. Beide Morde geschahen während des Neumondes. Und das Mädchen...“
Cathrine unterbrach sie kopfschüttelnd. „Bei Neumond zeigt sich die Schattenseite des Mondes.“
„Kein Mondlicht also.“ , Silva klappte das Buch zu.
„Und kein Mädchen mit silbernen Haar. Kein Grab, kein alter Baum. Nichts dergleichen.“
„Es gibt also keine Gemeinsamkeit!“
Cathrine verbarg resignierend ihr Gesicht in ihren Händen. Erschöpfung legte sich über ihren Körper. „Keine Anhaltspunkte. Keine Spur, nur Irrwege. Wenn wir nur...“
Cathrine verspürte eine plötzliche Kälte, die sich durch ihre Adern schlängelte und ihre Glieder zum Erstarren brachte. Ihre Worte erstarben im Moment des Augenblickes. Ihre Lungen füllten sich mit Eis, drohten zu bersten. Mühsam versuchte sie, ihre Finger zu bewegen, doch sie widerstrebten ihren Befehl. Vor ihren Augen verwandelte sich die Bibliothek in eine neblige Welt aus Frost. Sie hörte, wie die massiven Bibliothekstüren gegen die Wände schlugen, als sie gewaltsam geöffnet wurden. Ein Funken Hoffnung entflammte in ihrer Brust. Jemand war der Starre entkommen! Sie wollte um Hilfe rufen, doch ihre Worte verebbten zwischen ihren erstarrten Lippen. Schritte hallten an den vereisten Wänden wieder. Jemand kam näher.
Aus den Augenwinkeln vernahm Cathrine die heraufziehenden Nebelschwaden, die das Wesen umgaben. Seine Gestalt verbergend durchquerte es seelenruhig die Bibliothek. Doch selbst als es die Halle verlassen hatte, blieb die frostige Starre bestehen.
Cathrine schrie innerlich, so laut sie konnte, denn sie wusste, dass sie alle in Gefahr schwebten. Eine Kreatur, die sich einem solch beachtlichen Zauber bemächtigte, war dem Zirkel sicher nicht freundlich gesinnt.
Cathrine spürte, wie die Kälte sich in ihre Gedanken fraß, ihren Geist zu lähmen drohte. Doch sie durfte nicht nachgeben. Beharrlich versuchte sie, die Kälte zurückzudrängen. Ihre Schreie wurden lauter und lauter. Sie spürte die Vibrationen in ihren ganzen Körper. Doch ihr Geist glitt an den Rand der Erschöpfung. Sie fühlte die drohende Ohnmacht. Mit letzter Kraft entfesselte sie einen erlösenden Schrei. Noch während sich das Eis endlich von ihrem Körper löste, registrierte sie, dass sie sich im freien Fall befand. Der Aufprall war hart und nahm ihr den Atem. Ihr Ellenbogen zuckte vor Schmerzen, als sie versuchte aufzustehen.
Sich mühsam aufrichtend, blickte sie sich um. Der Frost hatte sich allen Anwesenden bemächtigt. In der Bewegung erstarrt, verharrten sie im Augenblick. Ihre einzige Chance war Adara. Sie musste dem Wesen zuvorkommen. Mit tauben Gliedern schleppte sie sich mühsam durch das lähmende Eis.

12. Kapitel

 Adara konnte sie spüren, die eisige Kälte, die sich durch das Gebäude wand. Flackernd kündeten die Kerzen von seinem Erscheinen. Lucian kam keine Sekunde zu früh. Routiniert nahm Adara zwei Gläser und eine Karaffe ihres besten Weines, stellte sie auf den Tisch. Geduldig schaute sie zu, wie der Barolo granatrot in die Kristallgläser floss. Kaum hatte sie ihre Vorbereitungen beendet, sah sie aus den Augenwinkeln die Nebelgestalt durch die Tore schreiten.
Begrüßend reichte sie ihm eines der Gläser. Kaum hatte er dessen Schaft ergriffen, formierte sich seine menschliche Gestalt. „Wie immer eine ausgezeichnete Wahl, Mrs. Anderson.“
„Willkommen in London, Lucian!“
Zweifarbige Augen begutachteten ihr achtsam gewähltes Kleid. Seine Lippen kosteten den edlen Wein. „Vollmundig im Charakter. Alterlos, wie eh und je!“
Adara ignorierte seine Bemerkung. „Was verschafft mir die Ehre eures frühzeitigen Erscheinens? Ihrem Auftreten zufolge, scheint es kein offizieller Anlass zu sein!“
Elegant ließ Lucian sich auf dem breiten Sofa nieder. „In der Tat. Ich befinde mich in einer prekären Situation. Zwei meiner Schützlinge hat das Leben verlassen, sicherlich haben sie diesbezüglich schon Untersuchungen eingeleitet?!“
Cathrine erschien im richtigen Augenblick. Sie hätte es nicht besser planen können. Atemlos und hochrotem Kopfes stand sie im Türrahmen. „Mrs. Anderson...“
Adara nahm siegessicher einen Schluck des unverschämt teuren Weines und harrte der Ereignisse, die sie mühevoll inszeniert hatte.
Schamesröte stieg in Cathrines Wangen, während sie verlegen zu Boden blickte. „Entschuldigung, ich...“
Adara bemerkte Lucians verzückten Blick. „Faszinierend!“
Sie bat sie herein und positionierte das vom Bann sichtlich erschöpfte Kind im rechten Licht. „Wenn ich vorstellen darf: Miss Morgan. Sie untersucht die erwähnten Vorfälle.“
Lucian erhob sich neugierig aus seinem Sessel.
Seine Missachtung ihrer Anwesenheit ignorierte sie. Interessiert umkreiste er das ahnungslose Ding. „Das Geschlecht der Morgans war schon immer recht widerspenstig. Ich bin gespannt zu erfahren wie sie sich aus meinem Bann befreien konnten!“
Adara trat beiseite, beobachtete das Spiel ihrer Figuren. Miss Morgan wusste nicht recht, wie sie sich in Anwesenheit eines Gottes zu verhalten hatte. Ungelenk verbeugte sie sich, was ihm ein amüsiertes Lächeln hervorlockte. Seine Lippen hauchten einen Kuss auf den Rücken ihrer Hand. „Es freut mich sie kennen zu lernen Miss Morgan!“
Erneut färbten sich ihre Wangen in einem verlegenen Rot. „Ich hatte nicht erwartet...“
Lucian schmunzelte. „Wäre es Ihnen lieber, ich trete in Form eines brennenden Busches vor Ihnen?“
„Lesen sie bitte nicht meine Gedanken.“
„Eine alte Angewohnheit. Entschuldigen Sie.“
Endlich richtete der Anarch seine Aufmerksamkeit auf sie. „Ich muss gestehen, auch ich hatte Sie mir etwas anders vorgestellt. Etwas feuriger, wie ihre Mutter. Doch ich vertraue ihren Urteil. Sie hatten sicherlich ihre Gründe Sie mit dem Fall zu betreuen.“
„Miss Morgan widmet sich dem Studium von Ritualen!“
Verwundert zuckte seine Augenbraue. „Was haben Rituale mit dem Mord zu tun?“
Miss Morgan meldete sich zu Wort. „Wir vermuten die Morde wurden im Zuge eines Rituales begannen!“
Einen kurzen Moment schien Lucian in Gedanken versunken. „Dieses Detail sollten sie mir zu einem anderen Zeitpunkt näher erläutern.
Doch dazu haben wir noch genug Zeit. Ich werde sie bei ihren Ermittlungen eine Weile begleiten, wenn es ihnen Recht ist. Sicherlich werden Sie dann endlich Erfolge erzielen. Wie gedenken sie weiter vorzugehen.“
Cathrine verhielt sich unbeeindruckt seiner Rüge. „Ich werde mir die Leiche des Mädchens genauer ansehen.“
Ein anerkennendes Lächeln fuhr eine Sekunde über seine Lippen. „Fabelhaft, dann werde ich sie morgen früh abholen. Wenn es Ihnen recht ist.“
Cathrine begann im angesichts seines unverhohlenen Vorpreschens zu stolpern. „Ich...“
Adara schritt ein, denn Lucians Ablenkung sollte nicht wegen Cathrines Unerfahrenheit scheitern.
„Wunderbar, dann wäre das ja geklärt. Das wäre dann alles Miss Morgan!“
Adara ließ sich in den Sessel nieder, während Cathrine verwirrten Blickes das Büro verließ.
Siegessicher trank sie einen weiteren Schluck des vollmundigen Weines. 

13. Kapitel

 Lucian beobachtete den gebrochenen Mann, der einsam die zu Broten geformten Teigwaren in den brennenden Ofen schob. Routiniert vollführte er die Abläufe seiner täglichen Arbeit. Die herzliche Freude war aus seinem Blick gewichen, tiefster Kummer hatte ihren Platz eingenommen.
Demütig erhob Lucian seine Stimme. „Cornelius.“
Der Bäcker, dessen Gesicht von Furchen der Trauer durchzogen waren, blickte sich um. Zu Fäusten geballte Hände bearbeiteten die Teigfladen. „Ihr wagt es mein Haus zu betreten?“
„Ich bin gekommen, um dich um Verzeihung zu bitten, alter Freund.“
Sein schlohweißes Haar fiel ihm ins Gesicht. Cornelius hielt einen Moment inne, betrachtete die Teigklumpen. „Vergebung wirst du an diesen Ort nicht finden!“
Lucians Blick haftete auf den zerbrochenen Stein seines Ringes. „Ich habe mein Versprechen gebrochen. Ich kann es nicht mehr gut machen.“
Cornelius strafender Blick traf ihn, bevor er seine Arbeit fortsetzte. „Nein! Es gibt nichts mehr, was ihr ändern könntet. Nicht wahr?...Sie war meine Tochter! Sie... “
Seine Stimme versagte ihm den Dienst. Lucian entfernte das tote Metall von seinem Finger und legte es auf die hölzerne Arbeitsplatte. Es gab nichts, was er sagen konnte, um die Trauer seines Freundes zu schmälern. Stumm wollte er sich abwenden, doch Cornelius Worte hielten ihn zurück. „Man hat ihr das Herz herausgerissen. Die Polizei sagte, sie sei ein Zufallsopfer gewesen. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Doch es war kein Zufall, nicht wahr?“
„Nein.“
Cornelius schob weitere Teigfladen in den brennenden Ofen. „Es habe einen ähnlichen Mord gegeben. In Dudley glaube ich.“
„Ja.“
Endlich wagte es Cornelius, Lucian in die Augen zu blicken. „Jemand macht Jagd auf dich! Ist sie deswegen gestorben?“
„Ja.“
„Kennst du ihren Mörder?“
„Ich habe eine Vermutung!“
Cornelius schürzte abfällig seine blassen Lippen. „Eine Vermutung. Mehr hast du nicht zu sagen?“
„Ich werde den Verursacher finden und seiner gerechten Strafe zuführen.“
„Das wird sie mir auch nicht zurück bringen!“
Cornelius trat seinen alten Freund gegenüber. Mit fester Stimme formulierte er seine Worte. „Ich habe dir lange und treu gedient. Meine Rechnung ist beglichen! Ich will dich nicht mehr sehen! Von nun an werden sich unsere Wege trennen.“
Lucian akzeptierte die letzte Bitte seines alten Freundes. „Ich verstehe!“
„Es steht mir nicht zu, einem Gott einen Rat zu erteilen. Um der alten Zeiten Willen. Erkenne die führende Hand des Dolches, der sich langsam in deinen Rücken bohrt! Freund und Feind verschmelzen dieser Tage.“
Lucians Hände ruhten auf den schlaffen Schultern seines Freundes. „Ich danke dir. Für alles!“
Cornelius schenkte ihm ein versöhnliches Lächeln. „Mach es kurz und schmerzlos. Abschiede liegen uns beiden nicht!“
Lucian schloss die Augen in kurzer Erinnerung verweilend, bevor er in Cornelius Gedanken drang. „Du wirst angemessen um deine geliebte Tochter trauern. Du wirst sie beerdigen in den Wissen, das sie jetzt glücklich an der Seite ihrer Mutter ist. Sie hat nicht gelitten. Sie leidet keine Schmerzen mehr. Sie ist an einem besseren Ort. Du wirst sie in glücklicher Erinnerung behalten. Du wirst Kummer und Schmerz vergessen und ein glückliches Leben führen. Du wirst mein Gesicht vergessen, meinen Namen, jede Erinnerung an unsere Freundschaft. Nichts mehr wird uns verbinden.“
Lucian löste sich aus seinen Gedanken und gab Cornelius frei. Mit leeren und fragenden Blick sah ihn sein alter Freund an. „Entschuldigen Sie. Was wollten sie?“
„Ich wollte Ihnen mein Beileid bekunden. Ihre Tochter hat oft in meinem Pub gesungen. ihre Stimme war zauberhaft!“
Cornelius strich sich verwirrt die weißen Strähnen aus seinem Gesicht. „Vielen Dank für ihre Anteilnahme. Sie war ein besonderes Kind!“
Lucian schenkte ihm ein tröstendes Lächeln. „Ja, das war Sie! Ich möchte sie nicht weiter stören. Wie ich sehe, haben sie noch viel zu tun.“
Cornelius sah sich um, bevor er nach dem Ofenschieber griff. „Es gibt immer etwas zu tun. Doch die Arbeit bringt mich auf andere Gedanken.“
Lucian wandte sich zum Gehen. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.“
Doch Cornelius hielt ihn zurück, als er das Schmuckstück auf der Arbeitsplatte bemerkte. „Ihr Ring Sir!“
„Behalten sie ihn. Er wird die Kosten ihres Begräbnisses decken.“
„Das kann ich nicht annehmen!“
„Es ist das Mindeste was ich tun kann!“
Cornelius murmelte sichtlich verwirrt in seinen Bart. „Vielen Dank.“
Lucian verließ die Backstube durch den Hintereingang, der ihn auf einen kleinen Hof führte. In finstrer Abgeschiedenheit betrachtete er die verblassenden Sterne. In wenigen Stunden würde die Stadt zu neuem Leben erwachen. Ein weiterer Tag, eine weitere Nacht. Auf Ewigkeit in Unendlichkeit.

14. Kapitel

London bei Nacht war ein leidlicher Ort. Die Gassen waren dunkel und der Nebel des Hafens kroch kalt an den dichten Häuserfassaden hinauf. In den Schatten lauerte Abschaum und namenlose Gefahr. Verlorene Seelen streiften durch die nebeligen Straßen, auf der Suche nach Ablenkung des Lebens, oder gebrochenes Glück.
Doch Thomas folgte anderen Gelüsten. Auf der Suche nach Antworten nicht gestellter Fragen, schlich er ungesehen durch die Schatten. Den Blick stets auf Sie gerichtet, folgte er unbemerkt auf den alten Friedhof der Stadt. Fortwährend umgab Sie ihr verräterischer Duft. Rose und Flieder. Am Fundort der Leiche und in der Pathologie hatte er ihn wahrgenommen. Er hatte Sie gesehen, wie sie sich vom Tatort geschlichen hatte. Hatte sie Burlington House betreten sehen, doch sie nirgends vorfinden können. Ein Schatten gleich, entglitt sie ihm fortwährend. Thomas folgte seinen Instinkten, die ihn stets zu der unscheinbaren Frau führten. Endlich schien er einen Schritt Näher an der Lösung des seltsamen Falles.
Zielstrebig durchquerte sie das Labyrinth der Toten und stoppte vor einem unauffälligen Grab. Einen Moment ruhte ihre Hand auf den kalten Stein, bevor sie die zerwühlte Erde mit Kerzen umstellte. Sich in den Finger stechend flüsterte sie in fremder Sprache. Eisige Kälte kroch in seine Knochen, der Wind hörte auf zu flüstern. Die Flammen entflammten und bildeten einen flimmernden Lichtkreis. Thomas verbarg sich tiefer im Gebüsch, als das Licht seine Anwesenheit drohte zu enthüllen. Verborgen im Schatten beobachtete er das seltsame Wesen, das aus dem schimmernden Rauch trat.
Die Haut hing ihr in Fetzen von den Knochen. Leere Augenhöhlen starrten ins Nichts. Die Kleidung klebte schlaff an ihren Gebeinen. Die Frau sprach zu ihr, doch ihre Worte waren kaum zu vernehmen. „...bitte dich....berichte....Leid....“
Das unheimliche Wesen schwieg, ihre knorrigen Finger deuteten in die Ferne.
„Ich....nicht.“
Über ihre Worte schien sie erzürnt, begann ihren Stein zu zerkratzen. Unerbittlich lähmte ihr stummer Schrei seinen Körper. Die Frau versuchte das Wesen mit versöhnlichen Worten zu beruhigen, doch es wollte nicht hören. Schon erloschen das flammende Licht und der Spuk war vorbei.
Sichtlich erschöpft sammelte die Frau die Kerzen ein, bevor sie sich von dem Grabstein verabschiedete.
„Ich sehe dein Leid! Es bleibt nicht ungelöst!“ , versprach sie dem Grab und wandte sich ab. Thomas wartete im Schatten, bevor er sich hinauswagte. Im Licht des Halbmondes trat er an die Grabstätte. Ihre Kratzspuren waren deutlich zu erkennen. Thomas las den eingemeißelten Spruch. Anna Iwanow, geliebte Mutter und sorgende Ehefrau.
Wenig herzlich waren ihre andenkenden Worte. Erst vor zwei Monaten war sie beigesetzt worden. Er konnte keine Verbindung zu den Morden schaffen. Gerne hätte er den Ort näher untersucht, doch er durfte die geheimnisvolle Frau nicht aus den Augen lassen.
Eilig folgte er ihr durch die nächtlichen Straßen. Zielstrebig schien sie erneut auf Burlington House zuzusteuern. Er musste sie abfangen. Thomas bog in die Gasse, beschleunigte sein Tempo und gelang auf die Hauptstraße. Sollte er sich nicht irren, würde Sie in wenigen Augenblicken seinen Weg kreuzen. Im mageren Licht der Laternen kam sie eiligen Schrittes auf ihn zu. Ihren Kopf gesenkt, bemerkte sie nicht, dass sie direkt auf ihn zusteuerte. Ein wenig Geschick und schon rempelte er sie unsanft an der Schulter. Aus ihren Gedanken gerissen, sah sie erschrocken auf. Ein charmantes Lächeln aufsetzend entschuldigte er sich höflich. „Entschuldigen Sie.“
Verlegen strich sie die lose Strähne ihres Haares aus dem errötenden Gesicht. „Ich habe mich zu entschuldigen, ich war in Gedanken versunken.“
Sie wollte weitergehen, doch Thomas ließ all seinen Charme spielen. „Eine Dame sollte nicht allein durch die Nacht streifen!“
Sie lachte verlegen. „Ich bin auf den Heimweg.“
„Wenn Sie erlauben, würde ich Sie gern sicher nach Hause begleiten.“
„Das ist nicht nötig!“
„Die Nacht ist voller Gefahren.“
„Ich kenne nicht einmal ihren Namen.“
Thomas reichte ihr die Hand. „Inspektor Brown.“
Sie nahm seine Hand entgegen. „Was treibt einen Inspektor des Nachts auf die Straße?“
„Schlaflosigkeit! Und Sie, Miss..?“
„Morgan. Cathrine Morgan. Ich fürchte, dasselbe wie sie.“
Thomas deutete in die Richtung, in die Sie gehen wollte. „Dann lassen Sie uns gemeinsam die Nacht durchstreifen, Miss Morgan. Ein anregendes gespräch soll schlaffordernd wirken, habe ich gehört.“
„Wenn Sie es so ausdrücken Mr. Brown, kann ich wohl schlecht ablehnen.“

 

 

15. Kapitel

 Weitere Kapitel folgen

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 12.03.2021

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Lieber Leser, dieser Roman enthält religiöse Diskrepanzen, Darstellung von Gewalt, sowie sexuelle Handlungen. Solltest du diesen Text nicht in einem neutralen Kontext lesen können, rate ich dir ab, dich mit diesem Roman zu befassen. Anderen Lesern wünsche ich ein aufregendes Lesevergnügen.

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