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Zehn Jahre sind vergangen, seitdem Diego in die Disco gegangen ist, und ich das Schreckliche erlebt habe. Und Mikkel. Und seit zehn Jahren versuche ich ein halbwegs normales Leben zu führen. Die Conny, welche es miterleben musste schloss ich weg. Anfangs kamen Fragen in mir auf, ob ich es hätte verhindern können, wenn ich nicht so stocksteif dagestanden hätte, aber diese wurden im Laufe der Zeit weniger. Ich verdrängte sie, so gut es mir möglich war. In meinem Kopf blieb nur ein Wort zurück. Mikkel. Warum war er nicht da. Was war los mit ihm? Ich denke oft an ihn. Sehr oft. Und wenn ich an ihn denke, dann schweifen meine Gedanken in zwei Richtungen ab. Die erste, in welcher er Frau und Kinder hat und in der ich nicht einmal eine Fußnote in der Geschichte bin, und die zweite ist die, in der er tot ist. Und im Laufe der Jahre bin ich mir sicher, dass es nur die zwei Möglichkeiten gibt.

Natürlich habe ich versucht vieles über das was geschah in Erfahrung zu bringen. Ich durchsuchte Onlinearchive. Schrieb Mails und Briefe an dutzende Journalisten. Aber ich erhielt immer dieselbe Antwort. Das es keinen Hinweis auf ein Verbrechen gebe.

 

Doch ich weis es besser. Ich war dabei. Ich habe es gesehen. Ich kann mir das nicht eingebildet haben. Denn dann hätte ich mir auch Mikkel eingebildet. Und das kann nicht stimmen. Nein. Nein. Nein. Es war real. Er war real. Meine Kopfschmerzen setzen wieder ein. Seit fünf Jahren quälen sie mich. Es ist wie ein Stich im Gehirn. Der unvermittelt kommt. Sich aus dem Dunkel anschleicht und mich gnadenlos erwischt. Anfangs hatte ich mich dann riegeros zurückgezogen. Alles verdunkelt und bin für Tage nicht aufgestanden. Nach einer Weile habe ich aber festgestellt, dass es besser wird, wenn ich viel Wasser trinke. Also ging ich in die Küche und lies mir ein Glas kaltes Wasser ein. Es durchströmt mich und ich bekomme neue Kraft. Und nach dem zweiten oder dritten ist der Schmerz weg. Ich denke dann immer zurück an meine Kindheitsfantasie. Das ich die Tochter einer Meerjungfrau bin, welche ihr Kind zurücklassen musste. Und dass das Wasser, welches ich gegen den Kopfschmerz trinke mich daran erinnert wer oder was ich eigentlich bin.

 

Mein Telefon klingelte. Es war Natalia. Drei Stockwerke unter mir.  Sie zog zu derselben Zeit wie ich in dieses Haus, und aus irgendeinem, mir nicht erfindlichem Grund, machte uns das ihrer Meinung nach so etwas wie Freundinnen. Natalia und Conny gegen den Rest der Welt. Kitschiger geht es kaum. Natalia meinte, sie habe Kuchen gebacken und ob ich etwas davon haben möchte. Russischer Zupfkuchen. Original Oma Rezept. Natalia und ihre Angehörigen, denn eine direkte eigene Familie, so mit Mann und Kind hat sie nicht, stammen aus Kaliningrad. Und wurden vertrieben. Ich kenne jede Einzelheit in der Geschichte. Angefangen von Onkel Igors Lieblingsrezept für Bortschsch bis hin zu Tante Anastasias Geheimzutat für den Honigkuchen nach Art des Hauses. Es ist eine Winzigkeit Tannennadelhonig.

 

Ich lehnte ab. Erfand eine Ausrede. Kopfschmerzen. Das zieht immer. Ja ich habe Tabletten. Ja ich kenne das Geheimrezept von Tante Elina. Ja ich weis, sie hatte ein starkes Alkoholproblem. Und ja ich weis das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Auf Wiederhören Natalia. 

 

Ich darf nicht aufgeben. Ich war doch dort. Ich kann mich nicht irren. Ich habe es mir auch nicht eingebildet. Und wenn ich noch so viele Absagen bekommen von noch so vielen Redakteuren und Journalisten. Es gab die Leiche. Es gab die Frau und es gab Mikkel.

 

Ich setze mich an meinen Laptop und öffne den Browser. Es gibt kein Suchwort, keinen Begriff, keine Begriffkette die ich nicht verwendet habe. Der Cursor blinkt und ich halte inne. Die letzten zehn Jahre haben mich gezeichnet. Ich bin jetzt sechsundzwanzig. Sehe aber aus wie sechsundvierzig oder noch älter. Meine Haare hängen einfach an mir herunter. Und meine Augen sind eingefallen. Es ist also ob die Zeit durch mich druchgerast wäre und dass die Schäden sind die man sehen kann. Ich hatte auch nie eine Beziehung. Also nie eine richtige. Mit achtzehn verlor ich dann meine Unschuld. Ein Typ Namen Mick oder Rick, aus Wells-next-the-Sea war der Glückliche, oder zumindest der, welcher es tun durfte. Passiert war es auf Mallorca. Ich war mit meiner damaligen besten Freundin, Nicole dort. Ich sollte, ihrer Meinung nach, „mal auf andere Gedanken kommen“. Hatte ja auch ganz gut geklappt. Rick, oder Mick, sah ich danach nie wieder. Tat auch nicht Not, so gut war es dann doch wieder nicht.

 

Und ich hänge in einem Beruf fest von dem ich nicht weis ob er es nun wert ist oder nicht. Ich bin Buchhalterin in einem Autohaus für asiatische Kleinwagen und Motorräder. Auch Sonntags geöffnet. Ich bin froh das ich so wenig wie möglich Kontakt zu meinen Kollegen habe, denn wie gesagt, ich kann den Beruf nicht leiden. Wenn ich die Möglichkeiten hätte, dann wäre ich gern Reisebloggerin. Ferne Ziele. Exotische Gerichte. Was ist das? Schorpo? Nie gehört, klingt lecker. Scheckt fantastisch. Hey Leute und das müsst ihr auch testen: Manty, kleine Teigtaschen mit Fleisch und Gemüse. Last ein Like und ein Abo da für mehr leckere Sachen und mehr ferne und noch fernere Ziele. Eure Conny. (und Mikkel)

 

Ich schalte den Laptop aus. Es hat keinen Sinn. Keinen wirklichen. Ich habe alles getan. Alles gesucht. Ich stehe auf und gehe an das Küchenfenster. Der Übergang von Sommer zu Herbst ist da. Die ersten Blätter färben sich bunt. Braun. Rot. Orange. Ich liebe das. Herbst ist die Zeit der Veränderung. Es ist nicht mehr richtig warm, aber auch noch nicht kalt. Und die Erlebnisse des Sommers sind noch frisch. Und der Winter noch weit.

 

Während ich aus dem Fenster starrte, meldet sich mein Mobiltelefon. Meine Mutter hat geschrieben. Ob ich am Samstag Lust auf einen Mutter-Tochter-Tag habe, mit shoppen und so. Seit sie und mein Vater einvernehmlich getrennte Wege gehen, glaubt sie in den Jungbrunnen gefallen zu sein. Ist sie aber nicht.

 

Ich möchte ihr absagen. Sagen, dass ich keine Lust auf diesen Schwachsinn habe und dass ich besseres zu tun habe. Nur, das habe ich nicht. Also sage ich mangels an geeigneten Ausreden zu.

 

 

II

 

Mitten in der Nacht werde ich wach. Ein Knall. Ähnlich wie der einer Explosion. Das kommt hier in der Gegend hin und wieder vor. Was genau es ist, weis ich nicht. Das weis offenbar niemand, denn jedes mal wenn ich das Gespräch darauf bringe, zum Beispiel bei Natalia, sagt sie, dass sie nichts gehört habe, und dann kommt wieder die Geschichte von ihrem Cousin Andrej, der auch immer ein Geräusch gehört hatte, jede Nacht. Auf dem Dachboden. Über viele Nächte hinweg. Und dass er eines Nachts, als er wieder gehört hatte nicht mehr ausgehalten hat und nachschauen gegangen ist, und es sich herausgestellt hatte, dass es eine übergroße Ratte war, welche auf dem Dachboden gelebt hatte. Und das er sie dann mit einer Schlinge gefangen hat und wieder ausgesetzt hatte im Wald. Was für ein Held.

 

Ich denke ja, dass es war ein Sumpfbiber war, aber, ich will mich da nicht einmischen. Jedenfalls, das Geräusch. Der Knall. Die Explosion hatte mich aus meinem Schlaf gerissen. Mein Herzschlag war erhöht, aber nur kurz. Dafür war mein Kopfschmerz wieder da. Nach fünf Minuten des Hoffens auf einen selbsständigen Rückzug des Kopfschmerzes, gab ich es auf und stand auf. Ein Glas Wasser. Die Allzweckwaffe. Ich lies es ein und trank es gemächlich während ich aus dem Küchenfenster sah. Keine Menschen weit und breit. Eine Katze welche unter der Laterne durchhuschte war das einzige Lebewesen welches ich ausmachen konnte.

 

Ich war wach. Schlaf sinnlos. Also tat ich das, was ich in der Situation für das Vernünftigste hielt. Ich schaltete den Fernseher an. Zappte zwischen einer Weltraumdoku, einem Klassikonzert, und leicht bekleideten Mädchen, welche unbedingt wollten dass man sie anruft hin und her. Blieb dann aber bei dem Nachrichtenkanal hängen. Vielleicht, so meine Hoffnung gab es in der Politik etwas entscheidendes, und ich wäre eine der ersten die es hörten.

 

Was ich jedoch hörte, lies mich erst erstarren und mich dann übergeben.

 

Zehn Jahre ist es her, dass eine unbekannte Frauenleiche am Louns Sö gefunden wurde. Und noch immer tappen die Ermittler im Dunkel. Es gibt bis heute keine Anhaltspunkte darauf, wer die Frau ist oder was ihr genau zugestoßen ist. Die Polizei von Lögstör in Dänemark bitte alle die zu der Zeit vor zehn Jahren in der Gegend waren sich zu melden. Vielleicht ist der entscheidende Hinweis dabei, und sei er noch so gering, dass der Fall aufgeklärt und die Unbekannte endlich in Frieden Ruhen kann.

 

Alles in meinem Kopf drehte sich. Um sich. Und in sich. Alles. Ich fing an zu zitter und eine nie gekannte Kälte durchfuhr meinen Körper. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein, das konnte nicht sein. Ein Irrtum. Es muss ein Irrtum gewesen sein, was ich da hörte. Hatte mein Gehirn etwas gehört und es dann mit bereits Vertrautem zu einem Wunsch verworren? Mein Innerstes rebellierte. Wie durch einen Stromschlag angetrieben rannte ich in mein Badezimmer, riss den Toilettendeckel nach oben und entleerte meinen Magen.

Wie oft hatte ich der Polizei in Lögstör geschrieben? Hastig öffnete ich den Schrank in welchem ich den Ordner mit dem ganzen Schreibkram verstaut hatte. Unzählige Briefe inklusive der Briefumschläge hatte ich sorgfältig katalogisiert und eingeheftet.  Elf Ordner füllten meine Sammlung. Alles dokumentiert. Ich griff den Ordner welchen ich „Schriftverkehr PR Lögstör“ nannte und blätterte wild darin herum. Ich fand was ich gesucht hatte. Überflog die Anfangshöflichkeitsfloskeln und kam zu der entscheidenden Stelle:

 

Leider gibt es keinen Hinweis auf das von Ihnen zu besagtem Zeitraum geschilderte Verbrechen. Es ist uns auch nicht bekannt, dass eine Person welche auf Ihre Beschreibung passt als vermisst gemeldet wurde oder als verschwunden gilt. Mit freundlichen Grüßen Poul Jespersen.

 

Erneut begann sich alles zu drehen. Als wäre mein Kopf in einer in sich drehenden Zentrifuge gefangen ohne die Möglichkeit sich zu befreien. Ich schloss meine Augen und hielt meine Hände an meine Schläfen. Nein, das konnte nicht sein. Ich konnte das nicht gehört haben. Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto stärker drehte sich alles. Vor meinem inneren Auge entstanden Farbkreisel in sämtlichen Neontönen. Dazu ein Rauschen in meinen Ohren. Lange hielt ich es nicht aus und ich fiel in Ohnmacht.

 

III

 

Ich weis nicht, wie lange ich ohnmächtig auf dem Boden gelegen hatte. Irgendwann kam ich zu mir. Mir fiel es schwer die Augen zu öffnen und als es mir dann doch unter enormer Kraftanstrengung gelang, sah ich alles in Nebel getaucht. Ich hörte eine Stimme welche „hier trink, das wird dir helfen“, sagte und nahm die Umrisse einer Person wahr welche sich von mir entfernte. Aber das konnte nicht sein. Niemand war in meiner Wohnung. Nicht zu dieser Zeit. Natalia und meine Eltern haben zwar einen Reserveschlüssel, aber um diese Zeit schlafen sie alle. Ich wollte rufen, aber ich bekam keine Laut aus meiner Kehle. Ich kniff meine Augen zusammen und hatte das Gefühl das Millionen Ameisen in meinem Kopf wild durcheinander laufen. Mein Herz schlug an der obersten Grenze des machbaren. Ich versuchte mich aufzurichten und schaffte es mich auf meinen rechten Arm zu stützten. Erneut öffnete ich unter großen Kraftanstrengungen die Augen. Mein ganzer Körper war ein einziger großer Schmerz. Ich versuchte mich zu konzentrieren. Mein Name? Conny. Gut. Mein Alter? 26. Dadurch, dass ich mich sowohl an meinen Namen als auch an mein Alter erinnern konnte, schlussfolgerte ich, dass ich keinen großen Schaden genommen hatte. Ich wandte meinen Kopf nach rechts. Da stand es. Erneut durchfuhr ein stechender Schmerz meinen Kopf. Ich konnte ihn förmlich verfolgen wie er von rechts nach links und dann von oben nach unten in meinem gesamten Gehirn sich ausbreitete. Das konnte nicht sein. Es war unmöglich. Aber doch stand es dort. Ein Glas Wasser. Irgendjemand war in meiner Wohnung. Irgendjemand war irgendwie in meine Wohnung gekommen. Aber warum das Glas Wasser? Ich verstand es nicht. Und wollte auch nicht trinken. Vielleicht war eine Droge darin. Ganz klar, das musste es sein. Ich musste es schon vorher zu mir genommen haben, und dadurch kamen die Wahnvorstellungen, dass es den Aufruf im TV gab und das ich in Ohnmacht gefallen war und… Nur, ich hatte die Wohnung nicht verlassen. Keinen Schritt. Nichts.

 

Meine Zunge klebte ein meinem Gaumen. Ich wägte ab. Was hatte ich zu verlieren? Ich kam zu dem Schluss, dass ein paar weitere Stunden Bewusstlosigkeit besser sind, als weitere Stunden stechenden Kopfschmerzes inklusive einer am Gaumen klebenden Zunge. Mit meiner linken Hand nahm ich das Glas Wasser, zumindest vermutete ich, dass es Wasser war, hoffte es sogar, und trank es.

Als das Wasser meine Lippen und dann meine Zunge berührte, fühlte ich eine große Energie mich durchströmen. Mit jedem Schluck den ich trank wurde ich stärker. Meine Kopfschmerzen waren wie weggeblasen. Der Schmerz, welchen ich durch den Sturz verspürte war ebenfalls weg. Ich bekam eine Energie welche mich förmlich erschlug. Ich sprang auf, rannte in mein Schlafzimmer und öffnete das Fenster. Es hatte angefangen zu regnen. Einzelnen Tropfen trafen mich und verschafften mir zusätzlich einen Boost. Die Luft roch sauber und frisch. Ich atmete tief ein und hielt die Luft so lange an bis es anfing in meinen Lungen zu schmerzen. Dann lies ich sie langsam ausfahren. Es war mitten in der Nacht, aber ich konnte nicht schlafen. Ich konnte einfach nicht. Ich war voller Energie. Ich musste etwas tun. Ich ging zurück in mein Wohnzimmer und sortierte die Blätter, welche aus dem Ordner gefallen waren wieder zurück und stellte ihn in den Schrank. Ich nahm mein Mobiltelefon und schickte Natalia eine Nachricht. Ich war davon überzeugt, dass sie es war, welche in meiner Wohnung war und mir das Glas Wasser gegeben hatte. Wahrscheinlich hatte sie irgendeinen Verwandten im Sinn, dem es genauso gegangen war und da hatte auch einfaches klares Wasser geholfen ihn wieder fit zu bekommen. So musste es gewesen sein. Vielleicht wollte sie in der Nacht zu mir. Vielleicht war sie draußen und hatte gesehen, dass Licht bei mir gebrannt hatte und wollte kurz Hallo sagen. Mir nochmals den Kuchen schmackhaft machen. Und dann hatte sie dieses Ton gehört, welchen ich beim Aufschlagen auf dem Boden von mir gegeben habe. Sie bekam Angst und schloss auf um nachzusehen. Ja, genauso muss es gewesen sein. Ich meine, was für eine Erklärung sollte es sonst geben? Das meine Meerjungfraumutter gekommen war und mir geholfen hat? Das ist absurd. Lächerlich. Unmöglich. Conny, reiß dich zusammen.

Liebe Natalia, vielen Dank das du mir geholfen hast. Das Wasser tat gut. Aber du hättest ruhig noch dableiben können. Deinen Kuchen nehme ich selbstverständlich gern. Komm doch heute zu mir. Ich koche Kaffee für uns. LG C.

 

Nachdem ich die Nachricht abgeschickt hatte, stand ich noch für einige Zeit am offenen Fenster. Ich hörte dem Regen zu und genoss die einzelnen Tropfen auf meiner Haut. Irgendwann legte ich mich schlafen. Ließ aber das Fenster offen. Ich hatte noch nie in meinem Leben so gut und fest geschlafen wie in dieser Nacht.

 

IV

„Ich war nicht in deiner Wohnung. Ich habe geschlafen“, sagte sie, nachdem ich ihr alles erzählt hatte. Ich sah sie entgeistert an. „Aber jemand war in meiner Wohnung. Jemand hat ein Glas Wasser mir gebracht und gesagt, dass ich es trinken soll und dass es mir danach besser gehen wird“, sagte ich. Sie sah mich an, dann auf ihren Teller wo nur noch ein paar Restkrümel davon zeugten, dass Kuchen auf ihm war. „Weist du Conny, mein Onkel Boris, dem ging es ähnlich“, fing sie an und in Gedanken dachte ich, dass ich nicht schon wieder so eine Geschichte aus ihrer Verwandtschaft hören möchte. Sagte aber nichts. „Er hatte starke Halluzinationen. Er war davon überzeugt, dass Fernseher und Radios und sogar die Werbeblätter mit ihm reden. Dann, eines Tages, meine Tante Elena kam gerade nach Hause, war er im Garten und hat ein riesiges Loch gegraben. Als meine Tante ihn fragte, warum er das getan hatte, sagte er nur, dass der Mann im Fernseher es ihm befohlen hatte, da ein Angriff bevorstand. Dann hat sie ihn einweisen lassen. Du kannst dir vorstellen, dass er weniger begeistert, davon war. Aber es war nur zu seinem Besten. Im Krankenhaus hat man dann festgestellt, dass er an einem zu hohen Innendruck im Kopf litt, ich weis nicht wie das genau heißt, aber jedenfalls, wurde er mit Medikamenten darauf eingestellt. Und so lange er sie nahm, war alles gut.“ Ich sah sie an. „Natalia, ich bin nicht verrückt. Ich weis was ich gesehen und was ich gehört habe. Es war definitiv jemand bei mir in der Wohnung.“ Warum glaubte sie mir nicht. Nur weil einer ihrer irren Verwandten glaubte das Fernsehen hätte ihm befohlen ein Loch zu graben? Das ist absurd. Mir hat das niemand befohlen. Außerdem grabe ich keine Löcher. Wo auch? Ich habe nicht einmal ein Grundstück für so etwas. Sie griff nach ihrer Tasse Kaffee, ich hatte kolumbianischen gekocht. Ich trinke keinen anderen und fand, dass er perfekt zu dem russischen Zupfkuchen passte. Omas Rezepte sind immer noch die besten, da hatte ich ihr zugestimmt. „Hast du noch mit jemand anderem darüber gesprochen?“, fragte sie mich und setzte die Kaffeetasse an um zu trinken. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, noch nicht. Aber ich habe einem Shoppingtrip mit meiner Mutter zugesagt. Vielleicht sage ich es ihr“, antwortet ich. Sie stellte die Tasse ab und nickte.

Natalia hatte meine Wohnung dreißig Minuten später verlassen. Das weitere Gespräch drehte sich um allgemeines. Wir vermieden es, das angeschnittene Thema noch einmal aufzurufen. Ich konnte ihr ansehen, dass es ihr unbehaglich war darüber zu sprechen. Aber ich bin nicht verrückt.

 

Natürlich lies mich Natalias Aussage nicht los. Sollte ich wirklich unter Halluzinationen leiden? Aber dann musste das doch schon früher aufgetreten sein. Vielleicht habe ich mir das Ganze doch eingebildet? Nein, das konnte nicht sein. Mikkel war real. Wir hatten uns geküsst. Und die Frau war auch real. Alles war real. Ich musste den Shoppingtrip, so ungern ich ihn wollte, nutzen um mehr herauszufinden. Vielleicht wusste meine Mutter mehr. Und wenn ja, warum hat sie es vor mir geheim gehalten? Ich kann mich nicht erinnern, jemals in einer Klinik gewesen zu sein. Oder Medikamente genommen zu haben. Das ist doch absurd.

 

V

 

Wir trafen uns auf dem Parkplatz vor dem Einkaufszentrum. Gefühlt eintausend Plätze hat es zur Verfügung. Ich parkte bei dem Schild „Sonne“. Da kann man schnell den Überblick verlieren. „Conny, Schatz, schön dich zu sehen, wie geht es dir?“, fragte sie und ich antwortete, dass es mir gut geht. Ich musste taktisch vorgehen. Auf keinen Fall durfte ich mit der Tür ins Haus fallen. Ich wusste was dann passiert. Das typische blockieren. Abwiegeln. Herunterspielen. Ich fragte sie ob sie etwas bestimmtes bräuchte oder ob sie nur so auf gut Glück aus war etwas zu finden. „Ich wollte nur etwas Zeit mit dir verbringen“, war die Antwort, und ich fand sie mehr als merkwürdig.

 

Im ersten Geschäft, es verkaufte Schuhe, sondierte ich die Lage. Fragte nach den letzten Tagen, ob es ihr auch gut geht. Und hoffte auf eine positive Rückmeldung. Welche ich auch bekam. „Nein Mama, ich brauch keinen neuen High-Heels. Und erst recht keine mit zehn Zentimetern Absatz“, sagte ich. Ich könnte darin sowieso nicht laufen, fügte ich in Gedanken hinzu.

 

Im zweiten Geschäft, von dem ich überzeugt bin, dass es seine Kunden hasst, denn es verkauft zu enge Kleidung an sie, brachte ich das Gespräch langsam in die Richtung, in welche es gehen sollte. „Mir ist da etwas merkwürdiges passiert“, fing ich an. „Ach ja?“, antwortete sie. „Ich konnte nicht schlafen und bin deshalb aufgestanden und, ich will dich mit Details nicht langweilen, aber ich bin in Ohnmacht gefallen und hatte das Gefühl, dass jemand in meiner Wohnung war, jedenfalls, stand plötzlich neben mir auf dem Fußboden, dort wo ich lag, ein Glas Wasser“, erzählte ich frei raus. Sie sah mich an und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. „Was? Ach das hast du dir nur eingebildet“, war ihre Antwort. Abwiegeln, wie so immer, dachte ich mir. Aber ich blieb dran. „Nein, auf keinen Fall. Ich weis, dass ich mir kein Glas Wasser selber geholt habe. Wie auch, ich war ja ohnmächtig. Jemand war ganz sicher in meiner Wohnung.“ Sie sah mich an. „Kindchen“, fing sie an aber ich unterbrach sie. „Nenn mich nicht so. Ich bin sechsundzwanzig.“ Sie räusperte sich. „Conny, wer in alles in der Welt soll denn bitte in deiner Wohnung gewesen sein?“, fragte sie. Ich sah sie an. „Ich weis es nicht. Aber da war jemand. Jemand hat mir ein Glas Wasser hingestellt. Und weist du was noch interessanter ist? In dem Moment, als ich das Glas ansetzte um zu trinken, und die ersten Tropfen meine Lippen berührten, durchströmte mich eine unglaubliche Energie.“ Bei den Worten verfinsterte sich ihr Blick „Ach jetzt hör aber auf. Das ist doch Unfug. Erst sagst du, dass du nicht weist, woher das Glas kam, dann soll jemand in deiner Wohnung gewesen sein und jetzt das? Was soll ich davon halten? Bist du verrückt geworden?“, wehrte sie ab.

Natürlich hatte ich damit gerechnet das sie abwehrt und es herunterspielt. Jedoch war die Vehemenz für mich selber überraschend. Wir verließen das Geschäft, ohne etwas gekauft zu haben. Sie hatten nichts das passte. Alles war zu eng. Nachdem wir außerhalb eine Weile ziellos von Schaufenster zu Schaufenster gelaufen waren, fragte sie mich, ob wir uns ein Stück Kuchen gönnen wollen? Auf ihre Kosten? Ich willigte ein.

Ich bestellte ein Stück Quarksahne, dazu einen Milchkaffee, während meine Mutter Apfelkuchen mit Schlagsahne bestellte. Dazu einen Espresso. Während wir warteten kam sie auf meine Äußerungen zurück. „Warum sollte jemand bei dir in er Wohnung gewesen sein. Und vor allem wer?“ Ich lehnte mich zurück in meinem Stuhl und breite die Hände aus. „Ich weis es nicht. Das ist es ja“, sagte ich schließlich, mehr als resigniert. „Ich glaube, dass du dir das einbildest“, sagte sie. Jetzt, und unter diesen Umständen war der Moment für mich gekommen. Ich musste es wissen. „Hatte ich das früher schon? Das ich mir so Sachen eingebildet habe?“, fragte ich. Sie sah mich an. Und zum ersten Mal konnte ich den Blick welcher mir begegnete nicht deuten. „Wie meinst du das?“ Ich lehnte mich vor. „Na so wie ich es gesagt habe. Habe ich mir früher schon Sachen eingebildet. Fantasiert. Zum Beispiel vor zehn Jahren?“ Sie runzelte ihre Stirn. „Vor zehn Jahren?“, fragte sie während unsere Bestellung kam. „So, der Apfelkuchen?“, fragte die Kellnerin. Meine Mutter hob kurz den Arm. „Dann ist das Stück Quark-Sahne für Sie“, sagte sie. Und ich nickte. „Für mich ist der  Espresso“, fügte meine Mutter hinzu. Und wir bekamen auch unseren Kaffee so wie wir ihn bestellt hatten. Ich nahm meine Gabel und kostete. Er war großartig. Sehmig und Sahnig. Der Boden hell und feinporig. Nicht zu trocken. Das ist mir sehr wichtig. „Also, was ist jetzt“, sagte ich mit halb vollem Mund. „Ich, ich kann mich an vor zehn Jahren nicht erinnern“, wich sie aus. „Was war denn vor zehn Jahren?“, fragte sie. Ich legte sie Gabel ab und wandte meinen Blick nach links. „Ach komm schon. Vor zehn Jahren waren wir in Dänemark. In Louns. Da wo alles schiefging. Da wo ich mich veränderte. Ihr müsst doch etwas gemerkt haben. Irgendetwas.“ Sie legte ihre Gabel ab. „Nun, du warst schon immer“, sie hielt inne und suchte nach dem richtigen Wort, „anders, so will ich es mal nennen“, setzte sie fort „Was meinst du damit?“, fragte ich. „Conny, liebes, du hast schon immer in deiner Welt gelebt. Für dich war schon als Kind alles anders. Du hast die Welt anders wahrgenommen. Hast was von Meerjungfrauen erzählt wenn du im Wasser warst und das du Regentropfen mit einer Hand führen kannst. All so was eben.“ (ANM: Das einfügen weiter oben). „Und ihr habt das als Fantasie abgetan?“, fragte ich. „Ja, aber was denn sonst? Kindliche Fantasie eben. Nur hörte es bei dir eben nicht auf“, fuhr sie fort. „Und?“, fragte ich und nahm ein weiteres Stück Quark-Sahne. „Wir hatten darüber gesprochen, dich zu einem Arzt zu bringen, aber dein Vater war dagegen. Und so blieb es dann auch. Wir versuchten dich abzulenken, aber das gelang uns nicht. Du warst eben anders“, sagte sie. Ich sah sie an. Mir blieb fast das Stück Kuchen im Hals stecken. „Anders? Ich war anders?“, fragte ich mit immer lauter werdender Stimme. „Liebes, bitte mach jetzt nicht so einen Auftand. Versetzt dich doch mal in unsere Lage“, sagte sie und versuchte mich zu beruhigen. Wütend sprang ich auf. Ich spürte wie meine Augen sich mit Wasser füllten und rannte raus. Ich wollte weg. Weg. Weg. Einfach nur weg. Wie konnte sie nur so etwas sagen? Mein Herz raste und die Tränen liefen mir über das Gesicht. Anders. Das war es also. Ich war anders. Meine Gedanken überschlugen sich in meinem Kopf während ich rannte und rannte. Ich hatte mich auch immer so gefühlt. Anders. Andere waren lieber in der Sonne. Ich im Regen. Andere liebten die Wärme. Ich die Kälte. Aber war ich so auffällig? War ich so schlimm? Ich konnte mich an keine Begebenheit erinnern, in welcher ich mich daneben benommen hatte. Keine einzige kam mir in den Sinn.

Irgendwann verließ mich die Kraft zu rennen und Tränen hatte ich auch keine mehr. Ich blieb stehen und sah mich um. Weit gekommen war ich dank meiner geringen Ausdauer nicht. Ich war noch auf dem Parkplatz zum stehen gekommen. Nach kurzer Unsicherheit wusste ich wo das Auto stand und lief darauf zu. Meine Mutter erwartete mich dort. „Es tut mir leid“, sagte ich. „Ach halb so wild. Komm setz dich erstmal und iss auf. Ich habe es dir einpacken lassen“, sagte sie und öffne die Türen ihres Autos. Ich setzte mich und nahm den Kuchen.

 

Ich aß ihn, ohne etwas zu sagen. Ich musste meine Gedanken erst einmal ordnen. Was hätte ich auch sagen können? Dass ich mich belogen fühle? Das, … ich wusste es nicht. Ich wollte, dass das Essen dieses Stückes nie aufhört, denn ich wusste, dass, wenn es alle war, ich etwas sagen musste. Irgendetwas. Ich ermahnte mich selber dazu nachzudenken. Mittlerweile hatte ich die Hälfte gegessen. Und ein wohliges Gefühl breitete sich in meinem inneren aus. Es war, als fiele ich auf eine Blumenwiese in den Wolken. Meine Augen wurden schwer und alles verschwamm vor ihnen. Auch begann sich alles zu drehen. „Mir, … mir ist übel“, brachte ich noch heraus, dann fiel das Stück Kuchen auf meinen Schoß und ich lehnte meinen Kopf zurück an die Kopfstütze des Sitzes. Das letzte, was ich hörte war meine Mutter als sie sagte, dass es das Beste für mich ist, und dass ich es verstehen muss. Sie mache sich Sorgen, aber sie versprach das alles besser wird, wenn ich wieder wach bin. Und dann gab es nur noch mich auf der Blumenwiese in den Wolken.

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Tag der Veröffentlichung: 11.09.2022

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