Cover

1

Es begann an einem Montag im November.

 

Der Schriftsteller Rasmus Rasmussen, von seinen Freunden, Bekannten, einigen wohlgesonnenen Arbeitskollegen und Verwandten nur RaRa genannt, da, so vermutete er, die Kreativität in seiner Familie wohl eine Generation übersprungen hatte, trank eine Tasse Kaffee. Wie jeden Morgen. Es war aber kein Morgen wie jeder Morgen für den Schriftsteller Rasmus Rasmussen. Es war einer der letzten Tage vor seinem Verschwinden.

 

I

 

Das Dinner

 

Jener Rasmus Rasmussen, oder kurz RaRa, hatte eine feste Gewohnheit. Er aß einmal im Monat mit seinem Verleger Dinner. Einmal wählte er das Lokal, das andere Mal sein Verleger. Hans Jakobsen. War dreiundfünfzig und damit exakt dreiundzwanzigeinhalb Monate älter als RaRa. Und im weiteren Vergleich zu RaRa fehlten ihm sowohl die Haare auf dem Kopf als auch die Sehstärke in den Augen. Aber so ist das wohl im Alter, hatte der Verleger einmal bemerkt. Mehr als süffisant wie RaRa dachte.

 

Das heutige Dinner fand im „Olde Peppersack“ statt. Moderne Küche. Etwas gehoben im Preis.

 

„Ich werde bedroht“, fing RaRa ansatzlos an. „Aha“, antwortete der Verleger, ohne den Blick von der Speisekarte zu lösen. „Ich meine es ernst“, fügte der Schriftsteller hinzu, und dachte, dass das Steak mit Pfefferbutter und Kräuterkartoffeln perfekt zu einem leichten Rotwein passt. „Ich habe es vernommen“, meinte Hans Jakobsen und wählte in Gedanken die Kaninchenleber mit dem Mohrenschmorgemüse. „Von einem Mann“. „Dachte ich mir“, oder doch lieber Lamm? „Weil ich mit seiner Frau geschlafen habe“. „Weswegen sonst?“, nein Kaninchenleber. „Also, ich habe nicht wirklich mit ihr geschlafen, verstehst du?“ Der Verleger hob seinen Blick. „Nein, das tue ich nicht“, sagte er und sah ihn an. Beide schwiegen. „Wie kann man mit einer Frau falsch schlafen?“, beendete er das Schweigen.

 

Das Ereignis

 

Um seiner Schreibblockade Abhilfe zu schaffe fuhr der Schriftsteller nach Oulu. Oder besser gesagt, er flog nach Oulu. Über Helsinki. Wie jeder weiß. Die Provinz, sofern man Oulu, mit seinen reichlich zweihunderttausend Einwohner, als Provinz bezeichnen konnte, bot kreative Ablenkung und war daher bestmöglich dafür geeignet. Dachte er. Natürlich brauchte man als Schriftsteller einen gewissen Standard, das versteht sich von selbst. Vier Sterne. Minimum. Spa Bereich, um die Gedanken fließen zu lassen. Selbigen nutzte er gern in den Abendstunden, nach getaner Arbeit. Das Werk, an welchem er gerade saß, und welches ihn erneut auf die Bestsellerlisten bringen sollte, war eine Novelle. „Himbeeren sind die anderen Erdbeeren“. Worum es im Einzelnen ging, da war sich der Schriftsteller noch nicht sicher. Es sollte aber auf jeden Fall einen Mord geben, denn, so hatte ein großer schwedischer Autor, welchen RaRa gern als Kollegen ansah, einmal erklärt, „[garantiert] der Tod eine Geschichte“. Außerdem gab es eine weibliche Hauptrolle. Vielleicht eine Journalistin. Oder eine alte Dame mit einem Blütenhut. Leicht schrullig. Jedenfalls schwebte dem Schriftsteller so etwas vor.

 

Die ersten zwanzig Seiten waren geschrieben. Dann konnte man sich Entspannung gönnen. Gesagt. Getan. Was im Nachhinein der erste Schritt zum Verschwinden war. Er genoss den Whirlpool, als die Tür aufging und die weibliche Hauptrolle in seinem Verschwinden den Raum betrat. Blond. Einladende Hüften. Bikini. Selbiger in grün. Dunkelgrün, um es zu präzisieren. Als sie den Raum betrat, in welchem er Entspannung suchte, hatte sie ihr Mobiltelefon am Ohr und ein endlos erscheinender Schwall an Worten fand den Weg von ihrem Mund in das Telefon zum Empfänger. Irgendwann war sie fertig, legte das Telefon auf einem am Whirlpool stehenden Tisch und betrat den warmwassersprudelnden Bereich. Über ihrem rechten Knöchel trug sie ein Tattoo. Eine langstielige Rose. Nach einer kurzen Zeit des peinlichen Schweigens, war sie, die Frau im dunkelgrünen Bikini, es, welche das Gespräch eröffnete. Sie sagte etwas auf Schwedisch. Oder finnisch? Mit starkem Akzent. Er erwiderte auf Englisch, dass er aus Dänemark sei, und sie nicht verstehe. Sie sah ihn mit einem Blick an, als hätte er ihr gerade erklärt, dass Elvis noch lebt und mit Kennedy eine Farm betreibe. Was sie nicht abhielt weiter auf ihn einzureden. Nur etwas lauter. Aber auch mit erhöhter Lautstärke verstand er kein Wort. Sie zeigte auf sich. „Maleen.“ Und dann auf ihn. „Rasmus“. Das Spiel wiederholten sie, bis alle wichtigen Fragen geklärt waren. Inklusive der Frage nach dem Beziehungsstatus.

 

Geschieden.

Verheiratet.

 

Sie zeigte ihren Ring. Ein großer Diamant zierte ihn. „Mein Mann ist Diamantenhändler. In Südafrika. Ich habe ihn seit mehr als drei Monaten nicht mehr gesehen“, sagte sie mit Händen und Füßen. Sie setzte ein schiefes Lächeln auf und strich sich eine in ihr Gesicht gefallene Haarsträhne hinter ihr rechtes Ohr.

Das Dinner

 

„Und da hast du beschlossen mit ihr zu schlafen? Also bei dem Gespräch?“, fragte Hans Jakobsen und schnitt erneut ein Stück Kaninchenleber ab, wischte sie durch den Rotweinjus und führte dies alles in Kombination zu seinem Mund. „Nein, lass mich ausreden“, erwiderte der Schriftsteller. Hans deutete ihm mit einer Geste an fortzufahren.

 

Das Ereignis

 

Als das Sprudeln im Pool nachließ, musste eine Entscheidung getroffen werden. Sauna oder Aromadampfbad. Mit weniger Hitze. Dafür mehr Feuchtigkeit. Sie verständigten sich auf die Sauna. Der Schriftsteller versuchte zu erklären, dass er früher, als Kind, öfter, um genauer zu sein, einmal in der Woche, in die Sauna ging, aber die Sprachbarriere war für diese Information zu hoch. Maleen, die Finnin? Schwedin? Åländerin mit starkem Akzent legte sich bäuchlings auf die obere Sitzreihe und öffnete ihr Oberteil, da niemand außer ihr und dem Schriftsteller in der Sauna war. Letztgenannter war sehr erstaunt, über das ihm entgegengebrachte Vertrauen. Sie hob ihren Kopf. Mit zwei englischen Wörtern fragte, sie ihn, ob er es mag, und mit ihren Händen zeigte sie auf den Innenraum. Er nickte. Wieder verging etwas Zeit, in welcher beide schwiegen und zumindest für sich konnte der Schriftsteller sagen, dass er überlegte, in welche Richtung es sich entwickelte.

 

Das Dinner

 

„Das ist doch klar, was du gedacht hast“, sagte Hans und zerdrückte eine Kartoffel im Jus. Der Schriftsteller hielt kurz inne. „Das wäre verfrüht das zu sagen.“ „Achso?“, fragte Hans. Der Schriftsteller nahm sein Weinglas führte es zum Mund, roch an dem Wein, von dem er wusste, wie er schmeckt, da er schon mehrere Schlucke getrunken hatte. Hauptsächlich diente diese Geste ihm dazu Zeit zu gewinnen, um eine Antwort zu formulieren. Was ihm aber so direkt nicht gelang. Und er beschränkte sich auf ein „Es ist kompliziert.“

 

Das Ereignis

 

Der Schriftsteller Rasmus Rasmussen und die schwedisch finnische Åländerin Maleen lagen zusammen im Bett. In ihrem Bett. Er trug seine mittlerweile getrocknete Badehose und sie das, was man in Åland ebenso trägt, wenn man ins Bett geht, um zu schlafen. Zwei halb geleerte Flaschen Wein standen an jeder Seite des Bettes. Er trank etwas Stärkeren. Sie etwas Schwächeren. Sie hatte ihm ein Bild von ihrer Tochter gezeigt. Und mit einer Sprachübersetzungsapplikation war es beiden nun möglich eine Konversation zu führen. Wobei Maleen der hauptsächlich fragende, und RaRa der hauptsächlich antwortende Teil war.

 

Irgendwann im Laufe des Abends war die Fragerunde beendet. Maleen Frederiksdotir-Hansen, so ihr vollständiger Name, von allen aber nur MaFreHa gerufen, welchen sie ihm kurz vor dem Ende bekanntgegeben hatte, nachdem der Schriftsteller ihr mit „RaRa“ auf die Frage nach seinem Spitznamen geantwortet hatte, legte ihr Mobiltelefon beiseite, nahm das Glas mit dem Wein und prostete ihm zu. Er nahm sein Glas und beide stießen an. Sie hatte eisblaue Augen. „Nunc est bibendum“, sagte der Schriftsteller und sie hatte Mühe ihren Wein nicht über ihr Bett zu verteilen. Nachdem beide ausgetrunken hatten, nahm sie sein Glas und stellte es mit ihrem auf den Nachttisch neben sich.

Der Schriftsteller lag wach. In seinem Arm lag Maleen Frederiksdotir-Hansen. MaFreHa. Das klang in seinen Ohren nach einer Trendfrisur oder einem neuen Medikament gegen, ja gegen was eigentlich? Das Vergessen? Herzattacken? Leber- und Nierenversagen im Anfangsstadium? Vielleicht. Es war aber auch der Name einer Frau, welche spielend leicht sein Herz erobert hatte. Welche jedes Hindernis, das er im Laufe der Jahre zum Selbstschutz errichtet hatte, einfach niederriss. Als ob nie ein Hindernis auf diesem Weg war. Der Schriftsteller wusste, dass er ihr hilflos ausgeliefert war, und das war ein Gefühl, ja, das war ein Gefühl. Er gab sich dem Moment hin, versuchte keine Erklärung dafür zu finden, dass er in Oulu in einem Doppelbett mit der Frau eines Diamantenhändlers aus Åland saß. Wein trank. Fragen beantwortete, und diese, die Frau, gleich küssen würde. Denn sie war wach geworden, und drehte ihren Kopf zu ihm. Ihre Blicke trafen sich. Dann küsste der Schriftsteller die Frau des Diamantenhändlers. Mit geschlossenen Augen. Natürlich. Erst zaghaft. Dann fand eine Zunge die andere.

 

Das Dinner

 

„Okay, also ihr habt euch geküsst. Und dann?“, fragte der Verleger und stocherte in seinem Nachtisch herum. Baiserhaube in Erdbeersuppe mit Früchten und Vanilleeis. Der Schriftsteller hatte keinen Nachtisch. Er genoss die nachwirkenden Aromen des Steaks mit Pfefferbutter. „Wir sind dann eingeschlafen“, sagte er. Hans Jakobsen legte den Löffel weg und setzte seine Brille ab. Diese Geste kannte Rasmus Rasmussen. Sie sollte Inteligenz darstellen. Das Ergebnis hielt sich meist in Grenzen. „Und was genau hat die Drohung damit zu tun?“ So auch heute. „Ich meine“, dann stockte er, weil sein Verleger maximal zwei Schritte vorwärts denken kann. Ob das auf alle Verleger zutrifft, da war sich der Schriftsteller nicht sicher. Bei seinem war es jedenfalls so. Zwei Schritte. Nicht mehr.

 

Der Schriftsteller sah seinen Verleger an, welcher wieder die Brille aufsetzte, was das Zeichen war, das von ihm nichts Großes mehr zu erwarten war und widmete sich wieder seinem Nachtisch.

 

II

 

Wie das Ereignis weiterging und was geschah

 

Der wehrlose Schriftsteller und die Frau, welche alle seine Mauern eingerissen hatte, fuhren am nächsten Tag dort fort, wo sie den Tag zuvor aufgehört hatten, fortzufahren. Sie hatte ihre rechte Hand auf seine nackte Brust gelegt und fühlte seinen Herzschlag. Der Schriftsteller zog sie noch weiter an sich heran und küsste ihr Haar. Es roch nach Agave. „Ich liebe dich. Ich möchte nicht, dass du gehst. Es bricht mir das Herz“, sagte er auf Dänisch. Und die Frau, welche in seinem Armen lag, antwortete in ihrem harten Alandakzent. Er wusste nicht, was sie sagte, nur, dass das was sie sagte, wahr war. Unabhängig von der Sprache.

 

Die Frau des Diamantenhändlers aus Aland, welcher jetzt gerade, während sie in den Armen des Schriftstellers lag, Gehaltsverhandlungen mit der führenden Gewerkschaft der Minenarbeiter in Südafrika führte, eröffnete ihm nicht nur, dass er dies schon seit seiner Abreise vor drei Monaten mehr oder weniger erfolglos versucht, sondern auch, dass sie heute einen Termin habe. Bei einem Kardiologen. Ihr Herz schlage unregelmäßig. Und der Kardiologe hier in Oulu wäre ihr empfohlen wurden. In Mariehamn. Von ihrem Hausarzt. Ein Studienfreund des ouluschen Kardiologen. Man kennt sich. Man schätzt sich. Man hilft sich. Natürlich.

 

Und so verbrachte der Schriftsteller Rasmus Rasmussen den Tag mit Warten. Mit Gedanken an Maleen. Mit dem Laufen durch Oulu, und damit Maleen Frederiksdotir-Hansen eine Kette zu kaufen. Aus Silber. Mit einem roten Schmetterling.

 

Sieben Minuten nach siebzehn Uhr sahen sich der Schriftsteller und die Frau des Diamantenhändlers wieder und fielen sich in die Arme.

 

Maleen erzählte ihm, dass es kein eindeutiges Ergebnis gab. Unregelmäßigkeiten, ja. Aber die könnten auch eine natürliche Ursache haben.

Welche?

Ein Genfehler.

Aha.

Eine leicht zu dicke Herzklappe.

Und ist das gefährlich?

Nein, nicht wenn man damit aufgewachsen ist.

Und was hat der Kardiologe empfohlen?

Ich soll es beobachten. Und wiederkommen, wenn es schlimmer wird.

Ich habe Angst um dich.

Musst du nicht.

 

Er streichelte über ihren rechten Arm. „Ich habe ein Geschenk für dich“, sagte er. Sie legte ihre Stirn in Falten. Auf dem Stuhl neben ihm, war seine Tasche und darin die Schachtel mit der silbernen Kette und dem roten Schmetterling.

Schließ die Augen.

Dreh dich um.

Er legte ihr die Kette um und sie öffnete die Augen. „Crazy Rasmus“, sagte sie, drehte sich zu ihm, legte die rechte Hand auf den Schmetterling und die linke auf ihren Mund. Ihre Augen leuchteten und der Schriftsteller wusste, dass er genau das richtige Geschenk herausgesucht hatte. Sie umarmten sich und keiner war gewillt, den anderen loszulassen.

 

Der Spaziergang nach dem Dinner

 

Der Verleger rauchte eine Zigarette. Der dreiundzwanzigeinhalb Monate jüngere Schriftsteller rauchte nicht. Hatte es noch nicht einmal probiert. Beide liefen über eine lichtgeflutete Allee in der Innenstadt. „Also habt ihr nun miteinander geschlafen oder nicht?“, fragte er, blieb stehen und führte mit seiner rechten Hand die Zigarette zum Mund, um einen kräftigen Zug zu inhalieren, während seine linke Hand in seiner Hosentasche verschwunden war. „Das ist nicht wichtig“, sagte der Schriftsteller. „Doch, natürlich ist es das“, fiel ihm der Verleger ins Wort. Der Schriftsteller nahm einen tiefen Atemzug und sah sich um. „Ich habe noch nie eine Frau wie sie getroffen. Kennst du das, wenn man glaubt, dass die Sonne ein bisschen heller scheint, nur weil eine andere Person dabei ist?“ Hans Jakobsen nahm einen letzten Zug und drückte die Zigarette unter seinem Schuh aus. Er stieß den Qualm aus und sah Rasmus Rasmussen an. „Du liebst sie wirklich, oder?“ Der Schriftsteller nickte. „Ja, das tue ich. Ging mir so, als ich Nelly kennenlernte. Damals. In grauer Vorzeit.“

 

Wie das Ereignis weiterging und was geschah

 

Er spürte ihren Atem auf seiner Brust und verglich das Gefühl mit einer Daunenfeder, welche vor und zurück geführt wird. Er hatte seinen Arm um sie gelegt und hielt sie fest. Er drehte seinen Kopf nach links und sah, dass der Wecker neben seinem Bett ein Uhr dreiundvierzig anzeigte. An diesem Abend hatten sie sich geliebt. Und wenn er daran zurückdachte, glich alles einem einstudieren Ballett. Erst waren sie essen. Rentier für ihn. Norwegischen Lachs für sie. Gebraten auf der Haut. Nur mit Salz gewürzt. Dazu Petersilienkartoffeln für sie. Reis für ihn. Wein? Ja. Eine Flasche? Wir teilen. Nachtisch? Nein. Vorspeise? Nicht für ihn. Für sie eine Suppe. Nach Art des Hauses.

 

Die Frau des Diamantenhändlers und der Schriftsteller, dessen Schreibblockade sich löste, redeten nicht viel. Als sie das Lokal verließen, legte er seinen Arm um sie und drückte sie an sich. Sie folgte ihm in sein Zimmer. Er half ihr aus dem Mantel und legte ihn über einen Sessel. Seinen legte er halb neben ihren, halb darauf. Er trat an sie heran und berührte ihren rechten Oberarm. Ihre Lippen kamen sich näher und berührten sich erneut. Dann fanden auch ihre Zungen wieder zueinander.

 

Während der den Abend Revue passieren lies, sprang die Uhr zwei Minuten weiter. Maleen fing an im Schlaf zu reden und ihr Körper begann ruckartig zu zucken. „Alles ist gut“, sagte er leise, drückte sie an sich und küsste ihr Haar.

 

Der Spaziergang nach dem Dinner

 

„Ihr habt ja doch miteinander geschlafen. Erst hast du doch noch gesagt, dass ihr nicht miteinander geschlafen habt. Also im klassischen Sinne. Und nun doch. Was ist denn nun wahr?“, fragte ein sichtlich aufgebrachter Hans Jakobsen. Nahm seine Zigarettenschachtel und stecke sich eine Weitere an. „Es ist passiert, ja. Ich musste dich in die Irre leiten, denn nur so konnte ich mir sicher sein, dass du mir zuhörst und meine Situation verstehst. Und das ist wichtig“. Der Verleger nahm einen kräftigen Zug. „Und was ist dann passiert?“

 

Wenn der Abschied näher rückt

 

Im Laufe des nächsten Vormittags ging es Maleen immer schlechter. Ihr Puls beschleunigte sich auf einhundertdreiundachtzig. Kalter Schweiß auf der Stirn. Fieber. Über die Rezeption wurde ein Krankenwagen gerufen und der Kardiologe wurde informiert. Vielleicht ist es nicht immer ratsam, an Studienfreunde zu vermitteln, dachte Rasmus Rasmussen. Und sah den Krankenwagen sie von ihm wegbringen.

 

In welches kommt sie?

Oulun yliopistollinen sairaala

Ist das gut? Kann man den Ärzten vertrauen? Kennen Sie den Kardiologen?

Ja, das kann man. Es ist sehr gut.

Wird sie wieder gesund?

Die Ärzte tun ihr Bestes.

Ab wann darf ich zu ihr?

Das entscheidet der Arzt.

 

Der Dialog mit dem Fahrer des Krankenwagens war nicht sehr aufschlussreich für ihn.

 

Fünf Stunden und dreißig Minuten später stand er an ihrem Bett. Sie schlief und Geräte überwachten ihre Körperfunktionen. Vorzugsweise ihr Herz. Irgendwann, er wusste nicht, wie lang er neben ihrem Bett gestanden hatte, öffnete sie ihre Augen. „Hey“, sagte sie und hustete. Er hielt ihre linke Hand und streichelte sie leicht mit seinem Daumen. „Hey“, antwortete er. Er musste nicht fragen, wie es ihr ging. Denn das sah man ja. Dunkle Augenringe. Eingefallene Wangen. Es ging ihr nicht gut. „Ich liebe dich“, sagte er stattdessen und fand, dass es das Klügste und Vernünftigste war, was er seit langem von sich gegeben hatte. Sie drückte seine Hand. „Minäkin rakastan sinua“. Er beugte sich über sie und küsste ihre Stirn.

 

Die Nacht verbrachte er neben ihr auf einem Stuhl. Eigentlich ist das nicht gestattet, aber es war sonst niemand im Zimmer und von daher war es „ok“, wie der leitende Oberarzt Janne Manninen meinte.

 

Zwei Tage später, und trotz eindringlicher Warnungen von Oberarzt Janne Manninen und ihrem Kardiologen, dessen Namen er sich nicht merken konnte, verließ Maleen Frederiksdotir-Hansen zusammen mit Rasmus Rasmussen das Krankenhaus. Sie müsse nach Aland zurück, wolle aber ihren letzten Tag in Oulu nicht im Krankenhaus verbringen, hatte sie gesagt.

 

Das Taxi, welches er per Mobiltelefonapplikation bestellt hatte, brachte beide zum Hotel zurück. „Ich brauche etwas Ruhe“, sagte sie als sie auf ihrem Zimmer waren und umarmte ihn. Sie zog ihren Mantel aus und ließ sich ins Bett fallen. So wie sie war. Er betrachtete sie. Beugte sich wie schon im Krankenhaus zu ihr und küsste sie. Ihre Lippen waren etwas weicher, fand er. Der Lippenberührung folgte tiefes Einatmen. Umarmungen gefolgt von noch tieferem, heftigem Atmen. Dann legte er sich zu ihr. In Jeans und T-Shirt. Manchmal, dachte er, manchmal ist Intimität mehr, als einen nackten Körper auf einen anderen nackten Körper zu legen.

 

Der Schriftsteller träumt. Surreal. Von ihr. Wie sie in einem Pool schwimmt. Lacht. Wie er zu ihr will. Wie ein spontan auftretender Strudel sie in die Tiefe zieht.

 

Der Schriftsteller ist wach. Schwitzt und atmet schwer. Seine Augen schauen starr die Decke über ihm an. Einige Minuten vergehen. Er dreht den Kopf nach rechts. Sie schläft. Tief. Fest. Ruhig. Er nimmt ihre Hand und drückt sie fest. Ich lass dich nie mehr los denkt er. Nie mehr.

 

Der Spaziergang nach dem Dinner

 

„Es ist dir richtig ernst mit ihr?“, fragte der Verleger. Nach seiner zweiten Zigarette hatte er keine weitere sich mehr angesteckt. Der Schriftsteller nickte. „Ja, absolut.“ Beide blieben vor einem Geschäft stehen, welches sich darauf spezialisiert hatte, zu enge Kleidung an seine Kundschaft zu verkaufen, und schwiegen. „Du sagtest, dass du bedroht wirst“, beendete der Verleger die Stille. „Ja, das stimmt“, antwortete Rasmus, öffnete seinen Mantel und holte ein Bündel Briefe hervor. „Hier, das sind alle. Bis jetzt. Fünf Stück“, sagte er und reichte sie ihm. „Du kannst sie behalten. Ich kenne sie auswendig. Beim letzten ist ein Foto dabei.“

 

III

 

Die Zeit nach Oulu

 

Rasmus Rasmussen saß in seinem Arbeitszimmer und vollendete Kapitel elf seiner Novelle „Himbeeren sind die anderen Erdbeeren“, als es an seiner Tür klingelte. Da das Geräusch der Klingel an seiner Wohnungstür ein anderes ist, als an der Eingangstür zu dem Mietshaus in welchem er wohnt, stand er auf und ging zur Gegensprechanlage. „Ja“, meldete er sich. „Ein Einschreiben“, antwortete eine männliche Stimme am anderen Ende. Vielleicht ein wichtiges Schreiben vom Verlag, in welchem die Antwort auf seine Bitte nach seinem Vorschuss beantwortet wird, dachte er. Wohlwollend beantwortet. Himbeeren sind die anderen Erdbeeren, wäre der Garant für Platz eins der Bestsellerlisten. Aber, so dachte er ein zweites Mal nach, so etwas kam nie per Einschreiben. Geschweige denn per Post.

 

Der Brief war für ihn. Seine Adresse sauber per Hand geschrieben. Zweifellos eine männliche Handschrift. So viel war sicher. Der Absender war ein gewisser Jörn Hansen. Aus Mariehamn. Der Inhalt war nur eine Seite.

 

Ich kenne euer Geheimnis. Ihr werdet dafür bezahlen.

 

Rasmus Rasmussen las den Brief, oder besser gesagt, die zwei Sätze fünf Mal. Mindestens. Seine Atmung verflachte sich. Her Herzschlag erhöhte sich und im Magen war dieses Achterbahngefühl. Diese Übelkeit, wenn es vom höchsten Punkt steil nach unten ging. Er wollte sich übergeben, aber sein Magen war leer. Er hatte keinen Hunger verspürt nach dem Aufstehen. Er ging in sein Wohnzimmer, öffnete den Wandschrank und nahm einen Whiskey heraus. Das brauchte er jetzt.

 

Jetzt, nachdem er zwei Gläser getrunken hatte, saß er auf seinem Sofa und starrte vor sich in das Nichts. Er wusste, dass es irgendwann an das Tageslicht gekommen wäre. Nicht, dass er naiv war. Aber so schnell? Und was sollte die Drohung? Er musste mit ihr reden. Sofort.

 

Dein Mann!

Mein Mann?

Hat mir geschrieben.

Ich weiß.

Er bedroht mich. Uns.

Ich weiß.

Hat er dir wehgetan?

Nein.

Was tun wir jetzt?

Ich weiß es nicht.

Ich liebe dich!

 

Sie hatte die Nachricht gelesen, aber nicht geantwortet.

Drei Tage vergingen. Dann kam ein weiterer Brief.

 

Hör auf, ihr zu schreiben! Sie gehört mir! Und niemand nimmt sie mir weg! Wenn ich mir dir fertig bin, wirst du dir wünschen, sie nie kennengelernt zu haben! Sie gehört mir! Mir allein!

 

Und da war es wieder. Dieses Achterbahngefühl. Und dieses mal hatte er etwas im Magen, was sich seinen Weg durch seine Speiseröhre nach oben bahnen konnte. Und das tat es auch.

 

Dass dies keine leere Drohung war, wurde Rasmus Rasmussen bewusst, als er vor seinem Auto stand. Darauf war ein Totenkopf mit Farbe angebracht, wie er normalerweise Piratanflaggen ziert. Er fotografierte das Ergebnis und verschickte das Bild.

 

Er meint es ernst, oder?

Was? Was ist das?

Mein Auto?

Was?

War dein Mann.

Er war die ganze Nacht hier.

Dann war es jemand, den er beauftragt hat.

Und jetzt?

Werde ich Anzeige erstatten.

Nein, bitte. Tu das nicht.

Warum?

Ich habe Angst. Das ihn das mehr reizt.

Und was soll ich tun?

Kannst du es reinigen lassen?

 

Er konnte. Für zwölftausend Kronen. Und zehn Tage Autoverzicht.

 

Auf einen Drink bei Hans Jakobsen

 

Der Verleger Hans Jakobsen wohnte im Souterrain eines Wohnhauses im Gammelmosvej. Sie saßen in seinem Wohnzimmer und hatten jeder ein Whiskeyglas vor sich stehen, gefüllt mit einem Tropfen aus dem House of MacDuff aus Schottland. Hans hatte sein Glas schon zum zweiten Mal gefüllt. „Und was willst du unternehmen? Ich meine, ich bin die Briefe jetzt nur überflogen. Aber sie sind sehr konkret. Vor allem der letzte mit dem Foto. Wie hast du das so lange ausgehalten?“, fragte er und leerte das Glas in einem Zug. Der Schriftsteller lehnte sich auf dem Sofa zurück. „Sie hat mich darum gebeten. So einfach“, sagte er. „So einfach“, wiederholte sein Freund. „Jedoch“ setzte der Schriftsteller erneut an, „jedoch lässt mich letzterer Brief nicht mehr so einfach stillhalten:“ Hans atmete tief durch. „Kann ich gut verstehen. Sie sieht auch übel zugerichtet aus.“ Beide schwiegen. Das Foto aus dem letzten Brief zeigte eine Frau mit blau unterlaufenen Augen, einem gebrochenen Nasenbein und einer aufgeplatzten Ober- und Unterlippe. „Hat sich deine Schreibblockade gegeben? Oder hast du dich festgefahren?“, fragte er. „Ich komme gut voran, wenn es das ist, was du meinst.“ Hans Jakobsen stand auf und ging zu der Balkontür. „Hat sich Nelly nochmal gemeldet?“, fragte der Schriftsteller. „Nein. Nein. Seit vier Wochen ist Funkstille.“ Mit Nelly war Hans siebenundzwanzig Jahre verheiratet. Jetzt war sie vermutlich irgendwo in Indien. Trommeln gegen das Virus, was die ganze Welt beherrschte. Kurze Zeit, nachdem das Virus auch Europa und damit Dänemark erreicht hatte, beschloss sie, oder wurde ihr klar, dass man nur durch Liebe und Trommeln das Virus, oder die, die es den Leuten einreden wollten, besiegen kann. Wie sie ausführte. Packte ihre Koffer und verschwand. Zwar meldete sie sich in unregelmäßig regelmäßigen Abständen, aber auch das schlief langsam ein.

 

„Das gibt sich wieder“, sagte RaRa. Hans ließ die Aussage unkommentiert stehen. „Solum qui vere diligit caritas novit. Liebe kennt nur der, der wirklich liebt“. Er drehte sich von der Balkontür zu ihm. „Gibt es irgendetwas, mit dem ich dich dazu bewegen kann, nicht das zu tun, was du gewillt bist zu tun?“ Der Schriftsteller dachte einen Moment nach. „Ich denke nicht“, sagte er und stand auf. „A man’s gotta do what a man’s gotta do“, fügte er hinzu.

 

Die rekonstruieren Protokolle

 

Ich muss mit dir reden.

Ich kann nicht.

Bitte.

Ich habe Angst. Du weißt, was passiert ist!

Ich liebe dich.

Ich habe Angst, dass er mich erschlägt.

Das lasse ich nicht zu!

Ich liebe dich auch

 

 

Zwei Tage später

 

Er hat mich geschlagen. Gestern. Vorgestern. Heute. Nur diesmal heftiger. Ich dachte er bringt mich um.

Was? Wo bist du?

Im Krankenhaus.

Du siehst furchtbar aus. Es muss enden!!

Ich kann nicht mehr. Bitte. Ich kann nicht mehr.

Vertrau mir.

 

Bericht aus der Ålandsposten

 

Die Polizei von Åland bittet um Ihre Mithilfe. Seit vergangenen Donnerstag wird die sechsunddreißigjährige Maleen Frederiksdotir-Hansen vermisst. Die Polizei geht von einem Entführungsfall aus, da die Wohnung in welcher sie und ihr Mann, Jörn Hansen, ein weltweit angesehener Diamantenhändler lebt, verwüstet aufgefunden wurde. Spürhunde der Polizei hatten zuvor die Witterung aufgenommen, diese dann aber am Hafen verloren. Wenn Sie die Gesuchte gesehen haben, melden sie sich bitte bei der örtlichen Polizeibehörde. Es gab in letzter Zeit Gerüchte, dass sie eine Affäre mit einem Dänen haben könnte, ihr Mann widersprach dem aber entschieden.

 

„Nein, so etwas sieht Maleen gar nicht ähnlich. Wir sind ganz normale Leute. Wir haben keine Feinde. Ich weiß nicht was passiert ist. Bitte, wenn Sie das lesen. Bitte lassen Sie meine Frau gehen.“

 

18

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 04.12.2021

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Die Handlung entspringt zu 100% der Fantasie des Autors. Jedwede Übereinstimmung mit Lebenden oder toten Personen ist reiner Zufall und wurde vom Autor so nie beabsichtigt. Jedoch existieren die genannten Städte, so weit der Autor sich sicher ist und man ihm vertrauen kann.

Nächste Seite
Seite 1 /