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Conny - Teil 1

Kapitel 1
„Echt? Ihr fahrt nach Dänemark?“, fragte Nicole, meine Freundin, während im Hintergrund der Sommerhit des Jahres lief und wir uns kaum zurückhalten konnten, nicht aufzustehen und mit zu tanzen. Ich nickte. „Oh man Conny, hast du es gut. Ich muss nach Dresden, zu meiner Tante und ihren beiden merkwürdigen Töchtern. Sie können seit neuestem Farben schmecken. Hast du das gewusst? Das sind totale Freaks“, sagte sie, während sie ihren Kopf schüttelte. „Jedenfalls hat das meine Tante am Telefon behauptet. Ich glaube ja das hat was mit damals zu tun. Mit dem, was passiert ist. Erinnerst du dich noch? Die sind doch beim Tennis zusammengestoßen im Doppel. Seit dem ist da eine Schraube locker.“ Sie nahm sich eine weitere Praline. „Oh man Dänemark, Conny, hast du gewusst, dass die Jungs dort alle blonde Haare und blaue Augen haben? Du musst mir schreiben. Jeden Tag. Und nicht nur eine SMS mit dem Inhalt das es dir gut geht. Du weist was ich hören will, ja? Also alle Einzelheiten. Mit wem. Wann. Und was“, sagte sie und fing an zu lachen. „Nicole, du bist so blöd, ich fahre doch nicht dorthin um rumzumachen. Außerdem fahren wir in so ein Dorf. Dort, gibt es bestimmt keine Jungs. Ich glaube da gibt es nur Ferienhäuser und Urlauber aus allen möglichen Ländern“, sagte ich. Sie sah mich an. „Na klar. Conny, das brave Töchterchen“, meinte sie, mit ihrem speziellen Blick und wir brachen in heftiges Lachen aus, während im Hintergrund Diego in die Disco ging.


Kapitel 2
Ja, ich denke, mit dieser Unbeschwertheit kann man beginnen, davon zu erzählen, was geschah. Das Schreckliche. Das Unbeschreibliche. Das, worüber nicht geredet wurde. Vielleicht hätte man darüber reden sollen, denn dann wäre alles vielleicht anders gekommen wie es am Ende kam ist. Aber das sind nur Spekulationen.

Wir hatten uns im Januar dafür entschieden nach Dänemark zu fahren. Unsere Wahl fiel auf Lovns. Ein kleines Ferienhaus. In geschützter Lage. Lovns war kein „normaler“ oder „gewöhnlicher“ Ort. Mit Fleischer. Bäcker und Schule. Es war mehr eine Ansiedlung von Ferienhäusern. Und bis 2007 gehörte Lovns zur Gemeinde Farsö. Selbiges wurde 2007 wiederum zu Vesterhimmerland fusioniert. Aber das nur am Rande. Jedenfalls buchten wir für dort unseren Urlaub. Zwei Wochen im August. Zugegeben, für eine Fahrt von mehr als zehn Stunden, ist dies kein sehr langer Urlaub. Aber mehr konnten wir uns nicht leisten. Mein Vater arbeitete in der ortsansässigen Tochterfirma einer Schuhfabrik als Besohler für Schuhe, welche von den Insassen der örtlichen Irrenanstalt getragen wurden, im Schichtdienst. Und meine Mutter arbeitet als zweite Prüferin in der Akkumulatorenfabrik der Japaner, welche hier angesiedelt war. In Teilzeit. Von 9 bis 15 Uhr in der einen Woche und von 15 bis 21 Uhr in der anderen.

Vom 10. bis 24. August hatten wir also das Haus in Lovns gebucht. Und wenn ich jetzt so darüber nachdenke, hätten wir es nicht buchen sollen. Aber man kann nicht in die Zukunft schauen.

Ich will auch nicht langweilen und erzählen, was wir jeden einzelnen Tag getan haben. Das ist unwichtig und spielt keine Rolle.

Die Ereignisse nahmen erst so richtig am 21. August fahr auf. Nach dem Mittagessen, es gab Scholle, welchen wir aus einer kleinen Räucherei aus Hvalpsund mitgebracht hatten. Meine Eltern konnten Hvalpsund nicht aussprechen und sagten immer „Havelsplund“, ein Umstand, welcher mich mehr als nur einmal zum Lachen gebracht hatte. Jedenfalls war ich spazieren. Vorbei an den anderen Ferienhäusern, über eine Wiese auf welcher ich Unmengen von Insekten und Vögeln wahrnahm. Ich kam an eine Holztreppe welche direkt zum Lovns Sö führte. Ich liebte das Wasser schon immer. Als Kind hatte ich mir vorstellt, dass ich in Wirklichkeit die Tochter einer Meerjungfrau bin, und das man mich an Land vergessen hatte. Vielleicht wurde meine Mutter überrascht von etwas und musste fliehen, und in der Eile wurde ich vergessen. Denn manchmal, wenn ich am Meer stehe, dann habe ich das Gefühl beobachtet zu werden und dann kann ich manchmal sehen, wie die Wasseroberfläche durchbricht, so als ob da jemand wäre.

Ich ging also zum See hinunter. Es war unglaublich warm und so hatte ich nicht die Hoffnung mich abkühlen zu können, wenn ich meine Füße in das Wasser hielt. Ich tat es trotzdem. Es wurde nicht kühler.

„Wenn du abkühlen willst, dann musst du früh kommen, und nicht um diese Uhrzeit“, sagte eine Stimme in einiger Entfernung auf dänisch an mich gerichtet. Ich verstand aber kein Dänisch. Jedenfalls nicht soviel und nicht so schnell. Also lächelte ich und sagte auf Englisch, das ich ihn nicht verstand. Und er wechselte auf deutsch. Entweder hatte er geraten, oder mein Akzent hatt mich verraten. „Du mußt am Morgen kommen, wenn das Wasser kalt ist“, wiederholte er. Ich antwortete mit „Ok“ und verfluchte mich im selben Augenblick dafür. Aus irgendeinem Grund kam er zu mir rüber. „Ich bin Mikkel aus Lögstör, was machst du hier?“, fragte er mich. „Ich gehe spazieren“, sagte ich. „Oh, und mein Name ist Conny“, fügte ich hinzu. „Ich angel dort drüben“, sagte er und zeigte leicht nach hinten rechts gedreht auf die Stelle von welcher er kam. „Willst, willst du mitkommen?“, fing er an zu stottern. Ich nickte. Und wir gingen zusammen zu der Stelle wo er seine Angel in den See hielt. „Wenn ich einen fange, dann essen wir ihn. Wir können ein Feuer anzünden. Über offenen Feuer schmecken sie besonders gut“, sagte Mikkel aus Lögstör.

Und wir, besser gesagt er, fing einen. Ich weis nicht mehr, was für ein Fisch es war. In meiner Erinnerung schmeckte er jedenfalls köstlich. Vielleicht lag es aber auch nur an ihn.

Ich vergaß mit ihm die Zeit. Ich wollte ja nur einen kleinen Spaziergang nach dem Mittagessen unternehmen. Und nicht eine halbe Ewigkeit wegbleiben. Das wurde mir aber erst bewusst, als die Sonne anfing, langsam unterzugehen. In Dänemark. Im Sommer.

Und ich bekam zu hören, was jeder Teenager in meinem Alter zu hören bekommt. „Sag mal wo warst du denn? Wir haben uns Sorgen gemacht um dich“, war die Begrüßung meines Irrenanstaltinsassenbesohlenden Vaters. Meine Akkumulatorenprüfmutter in Teilzeit schwieg. Ich rollte die Augen. „Es tut mir leid“, sagte ich. „Hast du dich etwa mit jemandem getroffen? Was habt ihr gemacht?“, fragte mein Vater nach. Und an dem Punkt wurde es mir zu blöd. „Ich bin sechzehn Jahre! Wenn ich jemanden treffe, dann treffe ich ihn. Und selbst wenn ich mit demjenigen rumknutschen sollte, dann geht dich das nichts an“, sagte ich etwas patzig und ging in mein Zimmer. Und knallte die Tür. Anschließend entfuhr mir noch ein „Gute Nacht“. Entnervt hatte ich mich auf mein Bett fallen lassen. Mein Kopf war in diesem kurzen Augenblick völlig leer. Was aber nur für gefühlte zwei Sekunden der Fall war, denn dann schoss mir Nicole durch den Kopf und ich griff blind nach meinem Handy. Obwohl ich es vor vier Tagen aufgeladen hatte, war der Akku noch immer halb voll. Fünf SMS hatte sie mir geschrieben. Ich fragte mich, ob sie wusste, dass ich dafür mitzahle. Und alle hatten den fast identischen Inhalt: Hey Conny, lange nichts gehört. Bist wohl beschäftigt ;-)? Wie heißt er? Sieht er gut aus? Was habt ihr gemacht? Meine farbenschmeckenden Cousinen sind echt krank. Sie sagen, dass sie Musik sehen können! Kannst du dir das vorstellen? Nicht hören! SEHEN!!! Krank. Gruß N.
Kapitel 3
Am nächsten Morgen wartete ich so lange wie möglich damit aufzustehen. Ich lag eine Ewigkeit wach. Und dachte nach. Dachte an Mikkel. Den Fisch. Den gestrigen Tag. Und die Diskussion, welche mich gleich erwarten wird. Und allein der Gedanke daran, lies mich länger im Bett verweilen. Aber irgendwann konnte ich es nicht länger hinauszögern und stand auf. Außerdem war der Lärm, welchen meine Eltern fabrizierten kaum auszuhalten. The Art of war. Ich gab nach. Sie hatten gewonnen. Glückwunsch.

„Da ist ja unser Langschläfer. Wir wollten heute nach Lökken zum Abschlussbaden“, sagte meine Mum, als ich aus der Tür trat. „Du musst doch hungrig sein“, ergänzte mein Vater. Ich setzte mich kommentarlos zu ihnen und nahm ein Brötchen. Ich hatte keine Lust auf Baden in Lökken. In Dänemark hat man es geschafft, um Luft herum einen winzigen Teig zu bekommen, welcher auseinanderbröselt sobald man auch nur mit einem Messer in seine Nähe kommt. „Ich hasse diese Brötchen“, sagte ich. „Junge Dame, du redest nicht in so einem Ton“ sagte mein Vater. „Edgar“, versuchte meine Mum ihn mit Worten und dem auflegen ihrer linken Hand auf seinem rechten Arm zu beruhigen. Was auch für einen Moment funktionierte. „Warum musst du jetzt deine Trotzphase haben? Ausgerechnet jetzt?“, fing mein Vater erneut an und stand erbost auf. Ich sah von meinem zerbröselten und mit Boysenbeermarmelade überlagerten Brötchen auf . „Ich habe doch gesagt, dass es mir leid tut, dass ich gestern so spät gekommen bin. Was denn noch? Warst du nie jung? Zumindest warst du nie ein 16-jähriges Mädchen“. Daraufhin fing ich mir eine Ohrfeige. Es kam aus dem Nichts. Und so überraschend, dass die Zeit für einen Moment still stand. „Edgar“, schrie meine Mutter und stand auf. „Es tut mir leid“, entschuldigte er sich sofort. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, glaub ich ihm. Er hatte es nicht gewollt. Aber es war geschehen. Ohne zu essen, stand ich auf und ging.

Ich rannte über das Feld zum See. In der Hoffnung Mikkel zu treffen. Und ich traf ihn. Er war wieder Angeln. Als er mich sah kam er mir entgegen gerannt. „Hey“, sagte er zur Begrüßung und ich spürte ein gewisses Kribbeln im Magen. War ich verliebt? Und ob. Würde ich Nicole davon erzählen? Nein. Naja, vielleicht. Aber nur um sie neidisch zu machen. Ich wollte ihn umarmen aber stattdessen sah ich nur verlegen auf den Boden und strich mir eine Strähne hinter mein linkes Ohr. Ich lief rot an. „Und hast du schon einen Fisch gefangen?“, fragte ich ihn um den peinlichen Moment zu beenden. Er sah mich an. Ich sprach wahrscheinlich zu schnell und mein Dialekt tat den Rest zum Nichtverstehen dazu. Ich sah wie er überlegte. Dann verneinte er. Ich sah ihn direkt an. Sah, dass seine Pupille sich weitete und er für den Bruchteil einer Sekunde erschrak, als er meine rote Wange realisierte. Aber er sagte nichts. Und ich auch nicht. Ich erwähnte nur, dass wir heute nach Lökken zum Baden fahren wollten, als Abschluss des Urlaubs, es aber verschoben. „Du musst wieder nach Hause?“, fragte er. Ich nickte nur. Ich wollte es nicht aussprechen. Denn, dann war es gesagt und unabenderbar. Mir gefiel es hier zu gut, als das ich diesem Gedanken Raum geben wollte.

Ich blieb erneut den ganzen Tag. Alles war so unbeschwert mit Mikkel. Wir aßen den Fisch, welchen er angelte. Lagen auf der Wiese in der Sonne. Und die Insekten schwirrten um uns. Nachmittags holte er aus dem kleinen Kaufmannsladen einen Marzipankuchen und Schokoladenmilch. Und ich dachte, dass so mein Leben sein soll. Und mir kam eine Zeile aus einem Buch von einem schwedischen Autor in den Sinn: Das Leben soll sein, wie ein Schmetterling an einem Sommertag.

Irgendwann ging aber auch an diesem Tag die Sonne unter und wir mussten uns trennen. Und Mikkel küsste mich. Es passierte einfach so. Ohne Vorwarnung. Mein Kopf explodierte förmlich. Farben. Formen. Gerüche. Alles passierte auf einmal. Er küsste mich eine Ewigkeit, jedenfalls hatte ich das Gefühl, dass es eine Ewigkeit war.

In der folgenden Nacht hatte ich einen Alptraum. Ich träumte, wie eine große schwarze Kreatur nach mir griff. Ich versuchte davonzulaufen, kam aber nicht von der Stelle. Sie streckte ihren rechten Arm aus und packte mich. Mit einem Schrei wachte ich auf. Schweißgebadet und nach Luft schnappend. Die Uhr zeigte 3:11. Ich lies mich auf mein Bett zurückfallen. Mein Herz schlug bis zum Anschlag und in mir kam eine düstere Vorahnung auf.

Kapitel 4
Wir redeten nicht viel am Tisch. Meine Eltern sagten nur, dass sie heute das Abschlussbaden in Lökken nachholen, welches für gestern angesetzt war. Und dass sie es begrüßen, wenn ich mitkäme, es aber auch verständen, wenn ich nicht mitkomme. Ich aß kommentarlos meine Luft mit Brötchenteig und packte zwei weitere in Alufolie, um sie mitzunehmen. Zu Mikkel. Es gab nur noch eine Frage für mich zu klären. Was um alles in der Welt sollte ich anziehen? Ich war ja im Urlaub und hatte leider nicht meinen gesamten Kleiderschrank mit. Nur einen Teil. Ich entschied mich für eine weiße Shorts und ein schwarzes Top mit Spaghettiträgern. Ich war mir sicher, dass Mikkel das gefiel. „Ich nehm einen Schlüssel mit“, sagte ich, stand auf, verstaute die Alufolienpäckchen in einem Beutel und ging.

Irgendetwas lag an diesem Tag in der Luft. Man konnte es förmlich schmecken, wenn man draußen war. Die Vögel sangen anders. Melancholischer. Dunkler. Und die Insekten schwirrten nur sporadisch. Gerade so, als vermieden sie alles, was nicht notwendig sei. Und die Sonne schien in einem undefinierbaren Licht. Fast so, als wäre alles in Sepia getaucht. Die Luft war heiß und trocken und ich hatte das Gefühl, dass das Gras unter meinen Füßen über Nacht vertrocknet war. Ich trat aus der Tür und sah zur Sonne. Sie blendete mich, aber nicht so stark wie in den letzten Tagen. Eine leichte Brise wehte über mein Gesicht.

Die Luft flimmerte, als ich über die Wiesen lief, und war irgendwie elektrisch aufgeladen. Etwas stimmte nicht, da war ich mir sicher. Ich lief weiter und je näher ich zu unserer Stelle kam, desto größer wurde das Unbehagen in meinem Inneren. Und als ich angekommen war, an unserem Platz, war ich allein. Mikkel war nicht da. Nun, dafür konnte es mehrere gute Gründe gegeben haben, und welcher es war, wurde mir erst viel später klar, aber zu diesem Zeitpunkt, als 16-jähriges Mädchen, war es mir unbegreiflich. Panik ergriff mich. Ist Mikkel etwas zugestoßen? Ein Unfall? Dann Wut. Wie konnte er mich nur versetzten. Nach unserem Kuss. Selbstzweifel. Habe ich etwas falsch gemacht? Trauer. Warum hat er mich versetzt. Und schließlich resignierte ich. Ich durchlief das alles in kürzester Zeit.

Nachdem ich die Resignationsphase abgeschlossen hatte, lief ich ziellos am See entlang. Ich sah wie Fische immer wieder die Oberfläche kurz durchbrechen und Wasserläufer, welche die Oberflächenspannung nutzten, um über dem See zu laufen.

Dann hörte ich einen Schrei. Und es fuhr mir durch Mark und Bein. Es war ein entsetzlicher Schrei. Von einer Frau. Mein Herz schlug bis zum Hals und höher. Ich blieb wie angefroren stehen. Mein ganzer Körper wurde schlagartig kalt. Dann hörte ich noch einen Schrei. Diesmal erstickender. Als würde jemand nicht wollen, dass der Schrei gehört wird. Meine Beine gehorchten mir wieder und ich rannte in das Schilf am See. Ich versuchte so wenig wie möglich zu atmen, da ich dachte, dass meine Atmung mich verriet, und ich die nächste wäre, deren erstickende Schreie verhallen. Wieder durchfuhr mich die Kälte. Meine Füße standen im Wasser und ich hatte das Gefühl, als krieche es an mir hoch. Ich hörte keinen Vogel mehr. Und auch keine Insekten. Es war so, als ob jegliches Leben mit einem Schlag eingefroren wurde.

Es war still. So unheimlich still. In meinem Kopf herrschte eine unglaubliche Leere. Dann durchfuhr mich ein Gedanke. Wie ein elektrischer Schlag durchfuhr er mich. Über einen Rücken hoch zu meinem Kopf und in meine Gedanken. Was, wenn er mich doch bemerkt hatte. Was, wenn ich die Nächste bin. Meine Lippen bebten. Ich streckte meinen rechten Arm aus und schob das Schilf um mich herum zur Seite. Alles lief ab wie in einem Film. Als wäre alles nicht real. Vorsichtig setzte ich ein Bein vor das andere. Und stieg langsam aus dem Wasser. Ich ging in die Richtung, von welcher ich annahm, dass der Schrei kam. Völlig irrational, wenn ich jetzt darüber nachdenke. Ich hätte in die andere Richtung rennen sollen. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Aber ich tat es nicht. Schritt für Schritt ging ich weiter. Und ich hoffte, dass mich niemand sah. Alles um mich herum war still. So, als wäre ich aus der Zeit gefallen. Kein Vogel. Kein Insekt. Nicht mal ein Auto in der Ferne. Die Zeit war einfach stehen geblieben. Kurz blickte ich zum Himmel auf. Ein Flugzeug kreuzte den Himmel und hinterließ einen Kondensstreifen in einiger Entfernung. Die letzten Überlebenden, nachdem die Zeit stehen blieb, dachte ich. Dann ging ich weiter. Ein Zweig zerbrach unter meinem Fuß und ich hielt inne. Wieder schlug mein Herz bis zum Hals und ich konnte Blut schmecken. Hat er mich gesehen? Ich sah mich um. Nichts geschah. Ich ging weiter. Langsam. Um mich herum waren Sträucher von Hagebutten und hohes Gras. Mein Ziel war ein Baum, welcher ungefähr zehn Meter oder zwölf Meter halb rechts vor mir stand. Ich war schon auf halben Weg zum Baum, da hörte ich einen weiteren Schrei. Es klang wie ein Hilfeschrei, aber da mein dänisch sehr lückenhaft war, konnte es sich auch um etwas anderes gehandelt werden. „Mörder“ zum Beispiel. Oder „lass das“, „hör auf“, ich weiß es nicht und weis es bis heut nicht. Ich rannte zum Baum und presste mich mit meinem ganzen Körper fest an ihn. Mein Blut hämmerte in meinen Ohren. Ich schloss die Augen. Das Geräusch eines dumpfen Schlages dran zu meinem Ohr vor und ein starker Wind wurde ausgelöst. In meinen Ohren wurde es immer lauter und mein Sichtfeld verengte sich bis zu dem Punkt, das ich nichts mehr sehen konnte. Dann kam ein weiterer Schrei und holte mich zurück. Der Schrei war mit weniger Kraft. Er klang sterbend. Ich schaute ein wenig hinter dem Baum hervor. Dort wo vor kurzem noch das Ende einer Hagebuttenhecke war, ragte jetzt auf dem Rücken liegend der Oberkörper einer Frau hervor. Sie hatte schwarze lange Haare und ich konnte sehen, dass ihr Gesicht voller Blut war. Sie legte ihren Kopf auf die rechte Seite und sah mich direkt an. Sie sah mir direkt in die Augen. Und ich sah eine unendliche Leere. Wir beide wussten in diesem Moment, dass sie sterben wird. Dann, sah ich ihn. Er beugte sich über sie und flüsterte etwas in ihr Ohr. Ich sah nicht viel, nur einen Leberfleck unter seinem linken Auge. Ich zog bei dem Anblick sofort zurück. Drehte mich um und lehnte mich gegen den Baum. Mein Herz war drauf und dran zu zerspringen. Und wartete. Hatte er mich auch gesehen? Nichts passierte. Ich drehte mich um, sah erneut hervor. Er war verschwunden. Nur die Frau war noch da. Ihr Kopf lag noch immer zu mir gedreht aber ihre Augen waren geschlossen. Ich weis nicht ob sie gespürt hatte, das sich sie erneut ansah, aber sie öffnete ein letztes Mal ihre Augen. Und sah mich an. In ihrem Blick lag etwas Endgültiges. Etwas, das nicht rückgängig gemacht werden kann. Dann schloss sie ein letztes Mal ihre Augen. Ich zog mich wieder hinter den Baum zurück. Wollte schreien. Wollte weinen. Aber ich konnte nicht. Ich hielt meine Hände vor mein Gesicht. Wo nur um alles in der Welt war Mikkel. Warum war er nicht da. Zu zweit hätten wir ihr helfen können. Aber ich allein? Als 16-jähriges Mädchen? Ich spürte Tränen, die über mein Gesicht rannen. Ich bekam eine Luft mehr. Panik machte sich in mir breit. Ich musste weg. Also rannte ich los. Auf meinem Weg nahm ich im Vorüberrennen meinen Picknickbeutel mit. Ich wollte keine Spuren hinterlassen. Verrückt, oder? Und ich rannte. Und rannte. Und rannte.

Meine Lungen brannten. Ich kam bei unserem Haus an und holte mit zitternden Händen den Schlüssel aus meiner Hosentasche. Ich hatte so eine Panik, dass ich nicht aufschließen konnte und der Schlüssel mir herunterfiel. Ich wollte schreien. Wimmerte aber nur vor mich hin. Ich ging in die Knie, hob den Schlüssel auf und schaffte es beim zweiten Anlauf in das Haus. Ich stürmte in das Haus. Die Eingangstür fiel hinter mir in das Schloss und ich verbarrikadierte mich in meinem Zimmer. Mit dem Gesicht auf meinem Kissen versuchte ich die Bilder, welche sich unauslöschlich in mein Gedächtnis gebrannt hatten wegfließen zu lassen.

Und ich war allein. Und noch nie in meinem Leben hatte ich mir so sehr gewünscht wie jetzt, es nicht zu sein. Aber ich blieb es bis zum Abend. Ich hörte sie heimkommen. Sie redeten darüber, wie schön es war, und das es mir bestimmt auch gefallen hätte, wenn ich dabei gewesen wäre. Im Nachhinein wünschte ich mir, ich wäre mitgegangen. Unbedacht öffnete meine Mutter meine Tür. Ich lag auf dem Rücken und starrte die Decke an. Meine Augen waren rot und verquollen. Ich wusste nicht, wie lange ich geweint hatte, aber es war so lange, bis ich leer war. Immer wieder spielten sich die Szenen vor meinem inneren Auge ab. Vor allem der Moment, als die Frau die Augen schloss und starb lief in Endlosschleife. Meine Mutter hatte irgendetwas gesagt, aber ich hörte nicht was es war. Ich konnte nichts aufnehmen. Mein Vater kam dazu. Vielleicht hatte sie ihn gerufen. Beide redeten auf mich ein. Aber ich konnte ihnen nicht antworten. Ich war 16! Und hatte einen Mord gesehen! Was hätte ich sagen sollen? Irgendwann drehte ich mich auf meine linke Seite zur Wand. Und irgendwann gingen sie.

Kapitel 5

Um 04:30 Uhr am nächsten Morgen startete mein Vater unser Auto. Wir fuhren heim. Geschlafen hatte ich nur vor Erschöpfung. Und auch nur ein paar Stunden. Während der Fahrt sagte ich kein Wort. Ich sah nur aus dem Fenster und sah wie der Tag über dem Limfjord erwachte. Vielleicht hatte man schon ihre Leiche gefunden. Vielleicht aber auch nicht. Wir passierten nach vier Stunden Fahrt die Grenze und ließen Dänemark hinter uns. Nur ich nahm ein dunkles Geheimnis mit.

Mein Eltern glaubten, dass ich und Mikkel uns gestritten hatten, oder das er etwas wollte, wozu ich nicht bereit war. Was aber nicht stimmte. Ich war mehr als bereit dazu. Was mich in all den Jahren beschäftigte, war die Frage, wo Mikkel war. Zusammen, hätten wir das, was geschehen war verhindern können. Da bin ich mir sicher.

Während der Fahrt liefen mir die Tränen über das Gesicht. Und ich wusste, dass es für mich so etwas wie ein normales Leben nie wieder geben würde.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.04.2021

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Widmen möchte ich diese Story allen, die meine Werke lesen, egal wo sie leben. Ob in Deutschland, der EU oder vlt in Venezuela. Natürlich geht mein Dank wie immer an Sol Stein mit heraus und Daniel Rausch, ohne den ich nie zum Schreiben gekommen wäre. Danke Daniel.

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