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osculum mihi

Es war mal wieder soweit und der Karneval hielt auch in seiner Stadt erneut Einzug. Der Name der Stadt ist nicht wichtig. Und sein Name auch nicht. Sind es eh doch nur aneinander gereihte Buchstaben, welche einen Laut in der Kehle verursachen, die das Gegenüber wohlklingend aufnimmt. Er ist kein Freund vom Karneval an sich. Die krampfhaft lustigen oder unlustigen Reden welche von Wahnsinn strotzenden, verkleideten Personen vorgetragen werden. Dazu bei jeder noch so sinnloser Pointe ein „Tata“, nein Karneval ist nichts für ihn. Aber er schätzt die Umzüge. Die Wagen. Die Mühe. Die Arbeit die darin steckt. Die kleinen versteckten Details, welche erst auf den zweiten, oder sogar erst auf den dritten Blick erkennbar sind. Ja, das ist es, was er am Karneval schätz.

 

Am Tag des Umzugs, des traditionellen, stand er wie jedes Jahr in der ersten Reihe. Der Umzug setzte sich pünktlich in Bewegung. Und Süßigkeiten, in der Stadt Kamelle genannt, wurden in großer, nicht zählbarer Masse in die Umherstehenden geworfen. Die Umzugswagen begleiteten wie jedes Jahr die Mitglieder der Garde, welche singend, hüpfend um die Wagen herumtanzten. Das hatte etwas Rituelles, fand er. Eine Art Beschwörung einer Gottheit. Harlekina. Doch die Freude der tanzenden Harlekina Beschwörer, fand ein jähes Ende als der Regen einsetzte. Vermutlich war sie nicht wohlgestimmt und wollte ihren Unmut zum Ausdruck bringen. Wer wusste das schon? Jedenfalls regnete es in der Stadt und er hatte keinen ausreichenden Schutz vor Harlekinas Zorn dabei. Und nachdem er sich in der Masse der Menschen umgesehen hatte befand er sich in guter Gesellschaft. Es goss in Strömen und das Wasser rann nur so über seine Haare und seinen Kopf. Und er war sich sicher, dass der Besuch des Umzugs in einer mittelschweren, bis sehr schweren Erkältung, wenn nicht noch schlimmeren enden würde.

 

Unvermittelt tauchte sie vor ihm auf. Er erschrak sich und wich einen Schritt zurück. „osculum mihi“, sagte die weibliche Stimme hinter der Maske. Offensichtlich sollte sie Harlekina, die Faschings- und Liebesgöttin persönlich darstellen. Wenn man von ihr auserwählt war, musste man sie küssen. Der Brauch besagt, dass Harlekina nur mit geschlossenen Augen geküsst werden darf. Dies, so die Legende, bringe ein erfülltes Liebesleben, da man ihr Vertrauen entgegenbrachte. Wer es aber wagte, die Augen zu öffnen und ihr Angesicht sah, der bekam ihre Wut zu spüren und war verdammt sein Leben in Einsamkeit zu verbringen. Was das jedoch anging, war man geteilter Meinung. Einige behaupten man könne Harlekina nach dem Umzug mit ein paar Gläsern Alkohol besänftigen, andere wiederum waren sich sicher, dass einzig und allein ein inniger Kuss sie besänftigt. Die Maske war zweifarbig. Ihre Wangen und der untere Teil ihrer Nase waren weis. Über ihre Augen war durchgängig großflächig Gold verteilt. Ebenso über ihre Lippen. Kleinere Ornamente aus Gold und Schwarz verzierten ihr Gesicht. Umrandet wurde ihr Kopf von schwarzem Samt, so dass er völlig verschlossen war und keinen Blick auf das Gesicht dahinter frei gab. Nur ihre Augen sah er. Sie waren grün. Dazu hielt sie einen Fächer aus Pfauenfedern in ihrer rechten Hand.

 

„Osculum mihi“, wiederholte sie. Er schloss seine Augen. Er hörte, wie sie ihre Maske nach oben schob. dann berührten sich ihre Lippen. Dann ihre Zungen. Sie schmeckte nach Kokos mit einer Spur von Orange. Er atmete tief ein. Ihr Parfüm, eine Mischung aus frisch geduscht und einer Spur Zitrone gelangte bis in den hintersten Winkel seines Kopfes. Doch so schnell wie es begonnen hatte, so schnell war es auch wieder vorbei. Noch bevor er die Augen öffnen konnte, waren ihre Zungen und ihre Lippen voneinander getrennt und ihre Maske wieder über ihrem Gesicht. Für einen Augenblick sahen sie sich in die Augen. Dann drehte sie sich um und verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war. Ihr Parfüm und der Geschmack des Kusses war alles was von ihr blieb.

 

Der Regen nahm stetig zu. Und die Besucher rund um den jährlichen Umzug lösten sich langsam in alle Himmelsrichtungen auf. Nur er blieb zurück und dachte an sie. Als ob Raum und Zeit keine Rolle mehr für ihn spielten blieb er einfach dort stehen, wo er stand. Der Regen durchnässte ihn. Erst seine Jacke, dann sein Shirt. Und seine Hose. Irgendwann drehte er den Kopf in die Richtung, in welche sie verschwunden war. Er zog kurz seine Nase hoch, wischte sich den Regen von den Augen und ging los. Auf der Straße, auf welcher er lief, befand sich kein Mensch. Er dachte, dass alle zu Hause oder in irgendeiner Kneipe waren, um sich zumindest von innen zu wärmen. Er blieb an der ersten Kneipe stehen und sah von außen nach innen durch ein Fenster. Er wusste nicht, wie weit er gelaufen war, oder wieviel Zeit vergangen war. Wie gesagt, Zeit spielte keine Rolle mehr für ihn. Drinnen beobachtete er viele Leute wie sie tranken, tanzten und sangen. Auf einem Fernseher an der Wand lief eine Sportübertragung, aber dieser wurde kaum bis keine Beachtung geschenkt. Die Menschen, die er erblickte, waren teils maskiert, teils unmaskiert. Aber sie war nicht unter ihnen. Enttäuscht ging er weiter. Sogar seine Schuhe waren jetzt vom Regen durchnässt. Mit gesenktem Kopf ging er durch die Straßen der Stadt, welche die Laternen an den Seiten in ein bedrohliches orange getauft hatte. Es wird schnell dunkel hier. Zum Regen zog Nebel auf. Was für die Stadt nicht ungewöhnlich ist. Liegt sie doch zu einer Hälfte am Meer. Und wen der Nebel erst einmal in der Stadt Einzug gehalten hat, dann weicht er so schnell nicht wieder, denn zur anderen Seite ist sie von einem Gebirgsmassiv umgeben, welches den Nebel am Abzug hindert. Im zweiten Weltkrieg war die Stadt strategisch wertvoll. Unter dem Schutz des Nebels konnten die verbündeten Streitkräfte ungesehen an Land gehen. Das hatte ihnen einen immensen Vorteil gegenüber dem Feind verschafft. Und manchen behaupten sogar, dass die Stadt maßgeblich daran beteiligt daran war, den Krieg zugunsten der verbündeten Streitkräfte zu entscheiden.

 

Er erblickte sie in der letzten Bar, welcher er auf seinem Weg nur begegnen konnte. Sie trug noch immer die Maske und küsste einen nach dem anderen. Alle aufgereiht schritt sie sie ab. Augen zu. Dann hob sich die Maske ein Stück. Es folgte der Kuss. Und die Maske senkte sich erneut über das Gesicht. Ihr Fächer lag neben ihr auf einem Tisch. Und zwischen jedem Kuss drehte sie sich kurz um, hob die Maske und trank, entgegen dem Brauch, denn soweit er es sehen konnte, sah niemand sie an, während des Küssens, einen Schnaps. Wie versteinert blieb er stehen und betrachtete das sich ihm bietende Schauspiel. Irgendwann war es zu Ende und sie trank ihren letzten Schnaps und ging. Mit Maske über dem Gesicht. Wie lang er da stand und ihr zusah wusste er nicht. Als sie aus der Tür trat hielt sie sich die Hand über den Kopf, um sich vor dem Regen zu schützen. Was aber nur mäßigen Erfolg hatte. Als sie ihren Kopf auf die linke Seite drehte, kurz bevor sie los ging, erblickte sie ihn. Sie erkannte ihn sofort. Ein kurzer Blick reichte und beide wussten Bescheid. Worte waren überflüssig. Er folgte ihr in einem Abstand von sieben Schritten. Die Straßen waren menschenleer. Vermutlich lag es am Regen, dachte er. Oder am Nebel. Oder an beidem. An der nächsten Kreuzung bog sie rechts ab in eine Gasse. Hier gab es keine Laternen. Hier war es finster. Nass. Neblig. Und kalt. Sieben Schritte später bog auch er ab. Und noch bevor sich seine Augen an die Dunkelheit gewähnt hatten, griff sie ihn bei seinem Kragen. Hielt ihn fest schob die Maske nach oben und küsste ihn mit noch stärkerer Intensität als beim Festumzug. Er schlang seine Arme um sie. Ihr Kuss schmeckte diesmal nach einer Mischung aus Vodka und Pfefferminzpastillen. Hastig lösten sie sich voneinander. Er hatte seine Augen geschlossen, um ihr Gesicht nicht zu erblicken. Das Geräusch, welches beim Herunterziehen der Maske entstand, war für ihn das Zeichen die Augen zu öffnen. Beide wussten was als nächstes passiert. Sie zog ihre schwarze Netzstrumpfhose bis zu ihren Knien hinunter und er öffnete eilig seine Hose und schob sie bis zu seinen Oberschenkeln hinunter. Durch den Regen klebte sie an seinen Beinen. Sie drehte sich um und beugte sich nach vor während sie sich mit beiden Händen an der Wand abstütze. Seine Unterhose platzierte er an kurz über seiner Hose. Er schob das dezente Stück Stoff, welches ihr Becken umgab beiseite und wurde eins mit ihr. Und der Regen fiel. Und der Nebel legte einen Schleier über das stattfindende Liebespiel. Es hatte nichts Sinnliches an sich. Es war die reine Gier, die beide dazu trieb. Und nach ein paar heftigen Bewegungen im Beckenbereich war es vorbei. In der Fernen läuteten die Kirchenglocken. Sie richtete ihren Slip zurecht und zog ihre Netzstrumpfhose hoch. Auch er ordnete seine Sachen. Nasse Kleidung auf schwitzender Haut ist ein sehr unangenehmes Gefühl wie er feststellte. Sie drehte sich zu ihm um, legte ihre linke Hand auf seinen rechten Arm, sah ihm in die Augen. „Osculum mihi“, sagte sie mit leicht erstickender Stimme und er verstand. Schloss seine Augen und beide küssten sich zum Abschied. Diesmal schmeckte der Kuss bitter. Dann löste sie sich von ihm und bog um die Ecke und verschwand.

 

Wie fest gefroren stand er da und dachte über das nach, was geschehen war. Versuchte es zumindest, denn es entfloh im immer wieder. Er konnte seine Erinnerung daran nicht festhalten. Ruckartig drehte er den Kopf nach links. In die Richtung war sie verschwunden. Er musste ihr nach. Er musste sie finden. Musste ihren Namen wissen. Musste er das?

 

Er lief los. Er hatte sie schon einmal aus den Augen verloren. Noch einmal durfte ihm das nicht widerfahren. Aber Harlekina war nirgends zu sehen. Niemand war zu sehen. Nur der Regen fiel und der Nebel legte einen immer größeren Schleier auf die Stadt. Das Laternenlicht brach sich im Nebel und so wurde es noch schwieriger sie wieder zu finden. Unbewusst fing er an zu rennen. Es war fast so, als hätten seine Beine und Füße ein Eigenleben entwickelt. Nur um sie wieder zu finden. Eine Straße nach der anderen lies er hinter sich. Aber niemand war dort. Sie war verschwunden. Es war fast so, als hätte sie nie existiert. „Du musst mich gehen lassen“, erschallte es plötzlich hinter ihm. Er hielt inne. Wagte es aber nicht den Kopf zu drehen. „Du musst mich vergessen“, sagte die Stimme und kam näher. Sie legte ihre rechte Hand auf seine linke Schulter. Hielt kurz inne und ging an ihm vorbei. Nach wenigen Metern verschwand sie im Nebel. Irgendwo bellte ein Hund. Aber nach wie vor war kein anderer Mensch zu sehen. Plötzlich hatte er ein Bild vor Augen. Er stand an einer Anhöhe. Einem Hügel, welcher zu einem Schloss führte. Es sah grau aus. Gotischer Stil. Er sah sich um. Der Himmel war bedeckt und weit und breit war niemand zu sehen. Eine Möwe krähte von irgendwoher. Wieder zog Nebel auf. Er hatte das Gefühl, das alles in dem Nebel zu ersticken drohte. Dann sah er sie. In weiß. Sie tanzte durch den Nebel. In ihrer Maske. Drehte sich halb im Kreis, nur um gleich wieder im Nebel zu verschwinden. Ihr Kleid war lang. Mit kurzen Ärmeln. Erneut trat sie aus dem Nebel. Wie ein Geist. Er hörte ihr Lachen. Jemand stieß ihn von hinten an. „Pass doch auf“, sagte er, und bog in eine Gasse ab. Die Schritte verhallten. Er stand einsam auf der Straße. Im Regen. Im orangefarbenen Nebel. Langsamen Schrittes ging er vorwärts und dachte an die merkwürdige Szene, welche sich in seinem Kopf abgespielt hatte.

 

Ein markdurchdringender Schrei holte ihn zurück in die Wirklichkeit. Er erkannte sofort ihre Stimme. Dann hörte er eine männliche Stimme. In einer Sprache, welcher er nicht verstand. Oder sein Gehirn nicht verstehen wollte. Er folgte dem Klang der männlichen Stimme durch die Gasse. Dann sah er sie. Mit gebeugten hängenden Schultern stand sie da. Die Maske lag zerstört auf dem Boden. Der Mann, welcher ihr gegenüber stand startete zu einer weiteren verbalen Attacke und er sah wie ihr Körper zu zittern begann und von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt wurde. Die männliche Stimme entpuppte sich als grässlicher Anblick. Er hatte eine Halbglatze. Die Haare von rechts auf links gekämmt, um es zu kaschieren. Im Nebellicht wirkte es fast grotesk. Er trug ein vermutlich weißes fleckiges Unterhemd und eine Jogginghose, welche nicht einmal in der Zeit modern waren, in welcher sie vom Großteil der Bevölkerung, aus welchem Grund auch immer, getragen wurden. Und er wog schätzungsweise dreißig Kilo zu viel. Was bewog eine Frau wie sie dazu, sich für jemanden wie ihn zu entscheiden? War es das Geld? Oder war er Künstler und jettete normalerweise um die Welt, um seine was auch immer es für eine Kunst sei, anzupreisen und zu verkaufen? Oder hatte er andere Qualitäten? Er wusste es nicht und war auch nicht darauf aus, es herausfinden zu wollen. Die dreißig Kilo übergewichtige Halbglatze zeigte drohend mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand auf sie und schleuderte Partikel von Spucke ihr entgegen. In dem Moment konnte er nicht mehr an sich halten. Er trat aus dem Nebel. Beide drehten den Kopf in seine Richtung. Die Frau und der übergewichtige Mann. Er sah aber nur sie. Mit ihrer linken Hand wischte sie sich die Nase und deutete ein leichtes Kopfschütteln an. Ihre Augen flehten ihn an zu gehen. Sie wollte nicht, dass er das mit ansehen sollte. Die Halbglatze kam zu ihm. Festen Schrittes vom Regen gezeichnet und sprach ihn an. Er verstand die Worte nicht. Irgendetwas osteuropäisches vermutete er. Die übergewichtige Halbglatze beschimpfte ihn. Das nahm er jedenfalls an und tippte bedrohlich mit dem Zeigefinder seiner linken Hand auf seine Brust. Er hatte eine Knollnase und seine Augenbraun waren zusammengewachsen. Es war durch und durch kein angenehmer Anblick. Er versuchte ihn abzuschütteln. Sagte etwas in Richtung, er sollte ihn in Ruhe lassen. Der übergewichtige Mann schnaubte verächtlich und blitzschnell gab er ihn mit beiden Händen einen heftigen Stoß das er in Stolpern geriet und nach hinten in eine Pfütze fiel. Die Halbglatze lachte als er das sah.

Als er in der Pfütze lag begegneten sich ihre Blicke erneut. Sollte sie je einen Funken Hoffnung auf Besserung in ihrem Leben gehabt haben, dann war er in dem Moment gestorben, als er in der Pfütze saß. Im Dreck. Im Morast. Im fallenden Regen. Er sah wie sie in sich zusammensank und wie die übergewichtige Halbglatze festen Schrittes auf sie zuging. Dann flog ihr Kopf auf die linke Seite, nur um anschließend auf die gegenüberliegende Seite in selben Geschwindigkeit zu fliegen. Er schlug mit so heftiger Gewalt zu, dass er glaubte ihr Kopf reiße jeden Moment ab. Ihr Weinen war unüberhörbar. Er wusste nicht, was sie mit Tränenerstickter Stimme versuchte zu sagen, aber vermutlich wollte sie, das er aufhört. Sie hielt ihre Arme über ihren Kopf, um sich zu schützen. Dann traf sie erneut ein Schlag und sie ging zu Boden.

Das Geräusch, wenn ein schwerer Stein einen Schädel trifft ist fast lautlos. Er sank einfach zusammen. Mit offenen Augen. Erst auf die Knie. Er verdrehte die Augen. Dann fiel er auf seine linke Seite. Der Mann, welcher noch vor kurzem im Morast gelegen hatte und die Frau schauten auf ihn, wie er da lag. An der Stelle, wo er getroffen wurde, rann Blut aus seinem Kopf. Er war tot. Beide sahen sich an. Sie hatte Sommersprossen. Er hielt immer noch den Stein in der Hand. Und der Regen fiel. Und der Nebel legte sich auf die Stadt. Und irgendwo läuteten die Kirchenglocken.

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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.09.2020

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Geschichte widme mich dem unvergleichlichen Hakan Nesser.

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