1996
Charlottes Tagebuch
Frühjahr 1996
„Ich werde nach Andalsnes gehen und den Sommer über in einer Bar arbeiten“, hatte ich vor ein paar Tagen am Frühstückstisch gesagt. Da war was los. Protest von allen Seiten. Noch zu jung. Zu weit weg. Bla. Bla. Bla. Das Übliche eben. Ich! Bin! Achtzehen! Jahre! Alt! Über eine Stunde ging die Diskussion. Dann gaben sie nach. „Tja, unsere Charlotte kann sehr hartnäckig sein, wenn sie etwas will“ hatte meine Mama gesagt. (Mama und Papa aber auch, das möchte ich nur mal so erwähnen). „Sara kommt auch mit“, war mein Argument welches wahrscheinlich am Ende den Ausschlag für ihr Nachgeben war. Obwohl das ja gar nicht stimmt. Das hatte ich nur so gesagt, um sie zu beruhigen und um mich durchzusetzen. „Außerdem habe ich auch schon die Zusage für die Stelle in der Bar“, hatte ich in einem Nebensatz fallen lassen. „Willst du den ganzen Sommer dortbleiben?“, fragte meine Mama und biss von ihrem Brötchen ab. Sie hatte es mit Kümmelkäse und Orangenmarmelade belegt. „Ja, warum nicht“, hatte ich ihr geantwortet. Beide sahen sich danach an und mein Papa zuckte mit der Schulter und bestrich eine weitete Scheibe Roggenvollkornbrot mit Butter.
Ich bin wirklich aufgeregt. Ich habe meinen Koffer schon gepackt. Auch das neueste Buch von Richard Bachman ist dabei. Es heißt Regulator. Ich kann es kaum abwarten. Ich werde mindestens vier Wochen nicht daheim sein. Natürlich habe ich so meine Zweifel. Aber ich freue mich auch. In einer Bar arbeiten. In einer Bar schlafen. Also im Gästezimmer. Und ich werde neue Leute kennenlernen. Vielleicht sogar den einen oder anderen gutaussehenden Touristen. Ich habe gehört das Spanier unglaublich gute Liebhaber sein sollen.
Die meisten Gedanken mache ich mir im Moment aber um Sara. Ich hoffe inständig, dass sie mich nicht hängen lassen wird. Sara und ich kennen uns aber schon so lange. Sara. Kaum einer, der uns kennt versteht warum ausgerechnet wir beide befreundet sind. Wir sind so verschieden. Sara weis immer was sie will. Keine Zweifel was Mode betrifft. Oder wenn es darum geht neue Leute kennenzulernen. Sara war vierzehn als sie ihre Unschuld an einen Schweden verlor, den sie auf einem Volksfest in Bergen im Sommer kennengelernt hatte. Ich war so neidisch. Ich hätte mich das nie getraut. „Bist du verrückt“, hatte ich damals zu ihr gesagt. „Was denn“, war ihre Antwort. Das ist Sara.
Apropos gepackte Koffer. Blaue Shirts. Schwarze Shirts. Rote und weiße. Fünf Hosen. Drei Röcke (wenn man mal Freizeit hat) und einen großen Berg an Unterwäsche (auch die mit feiner Spitze). Ich hatte es nicht für möglich gehalten, aber alles hat in meinen Koffer gepasst.
Ich kann es kaum abwarten. XXX
Charlottes Tagebuch
Frühjahr 1996
„Was? Bist du verrückt?“, hatte Sara mich gefragt, als sie durch einen rosafarbenen Strohhalm von ihrem Eiskaffee schlürfte. „Ich gehe nach Andalsnes. Um dort zu arbeiten. In einer Bar. Und ich will das du auch dort hinwillst, aber kurz vorher nicht kannst. Bitte Sara“, flehte ich sie an. Ich wusste das ich eine Menge verlange. Selbst für „Sara-Verhältnisse“. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah nach draußen. „Du bist komplett irre. Vier Wochen“, waren ihre ersten Worte gewesen nachdem sie mit „aus dem Fenster schauen“, fertig war. „Bitte Sara. Außerdem bist du mir etwas schuldig. Ich habe dich damals auch nicht verpfiffen. Bei deinen Fummelspielen mit diesem Engländer, obwohl du mit Magnus zusammenwarst“, entgegnete ich ihr. Das saß. Das wusste ich. Magnus war sehr eifersüchtig und es hätte böse enden können, wenn er Wind davon bekommen hätte. „Du bist nicht der Typ dafür“, sagte sie und sah mich direkt an. Schließlich gab sie nach. „Na schön. Aber du musst dich regelmäßig bei mir melden und mir alles erzählen. Und ich meine alles. Hast du verstanden? Und im Gegenzug erzähle ich dir alles von Finnland“, sagte sie und musste anfangen zu lachen. Ich hob mein Glas und sagte „Auf uns.“ Dann stießen wir an.
Ich schaue gerade aus dem Fenster. Es ist kurz vor Mitternacht. Und der Zeitpunkt meiner Abreise rückt näher. Nachdem Sara und ich uns getrennt hatten (sie musste noch irgendwas für ihren Opa kaufen), habe ich auf dem Heimweg leichte Zweifel bekommen. Was, wenn Sara recht hat. Was, wenn ich nicht der Typ dafür bin? Was, wenn es mir zu viel wird? Das alles lässt mich nicht schlafen. Und ich müsste dringend schlafen. Aber ich kann nicht. Was wenn ich mich damit übernehme? Andalsnes ist irgendwo im nirgendwo. Sara hat recht, das ist verrückt. Mehr als nur verrückt. Aber was, wenn ich später keine Zeit mehr habe? Nein, ich muss es tun. Und der Sommer ist perfekt dafür.
Charlotte
I
Der Tag, an welchem die Leiche von Charlotte Johansson gefunden wurde, begann für Kriminalhauptkommissar Jakob Olafson nicht erfreulich. Seine fünfjährige Tochter Alina wurde nachts um halb drei mit Verdacht auf Bronchitis in das städtische Krankenhaus eingeliefert. Er verbrachte den Rest der Nacht zusammen mit seiner von ihm lebenden Frau Julie und ihrem neuen Liebhaber damit, die Untersuchungen und Diagnose abzuwarten. „Er wird Alina`s Zimmer nicht betreten“, hatte Jakob Olafson gesagt als er Kjell-Bjarne das Krankenhaus betreten sah. „Er wird mit warten“, hatte Julie ihm entgegnet. „Er wird ihr Zimmer nicht betreten, hast du das verstanden“, gab Jakob Olafson zurück. Julie setzte zu einer Antwort an als ihr Kjell-Bjarne zuvorkam „Ist gut“, sagte er, legte kurz seine linke Hand auf ihre rechte Schulter drehte sich weg und setzte sich im Wartebereich auf einen Sessel, neben dem ein Zeitschriftenständer mit Automagazinen stand.
Bis kurz vor Sonnenaufgang hatte es gedauert, dann war sich Dr. Fridtjof sicher. „Alina braucht eine Spenderlunge. Und das dringend“. Mukoviszidose. Das Wort, welches im Raum stand, wirkte wie ein Hammerschlag. „Und bei Alina, wie lange geben Sie ihr?“, fragte Julie. Dr. Fridtjof sah erneut auf seine Unterlagen. Nicht, dass er die Zeit nicht gewusst hätte, welche Alina noch verbleiben sollte, sofern keine Ersatzlunge gefunden wird. Es war eher, um den Eltern das Gefühl zu geben keinen Fehler zu begehen, sich noch einmal zu versichern. Die Fakten sprechen zu lassen. „Sechs Monate, wenn wir Glück haben, Pseudomonas aeruginosa, ein Keim, kommt bei ihr erschwerend hinzu“, war seine Antwort gewesen und Jakob Olafson hatte das Gefühl, dass ihm seine Beine entgleiten und er falle.
II
Leif Arnuldson und Rogar Emmersson waren wie jeden Tag vor Jakob Olafson im Büro. Rogar ging joggen. Jeden früh. fünf Kilometer. Und weil er danach nicht noch einmal nach Hause wollte war sein Ziel das Büro. Wie jeden früh so aß Leif Arnuldson auch an diesem Morgen einen Burger mit Ei und Speck. „Ich verstehe nicht, wie du das jeden Tag runter bekommst“, fragte Rogar ihn und entblätterte einen Kaugummi aus Japan. Rogar kaute nur diese eine Sorte Black Black. Von Lotte. Mit Koffein. Er ließ sie sogar importieren, was nicht all zu billig war. Leif quittierte dies mit einem Schulterzucken und einem weiteren Biss in den Burger. Mit Ei und Speck. Jakob betrat das Büro. Rogar schaute auf seine Armbanduhr. „So früh?“, fragt er. Und Leif ergänzte mit vollem Mund: „Du siehst furchtbar aus.“ Jakob ließ sich auf seinen Stuhl fallen und atmete tief durch. „Kaffee?“, fragte Rogar während Leif immer noch mit vollem Mund ihn fragte ob es ihm gut gehe. Jakob sah einen Moment vor sich in die Leere was Rogar Zeit gab den Kaffee mit genau fünf Tropfen Milch zu holen und ihm zu reichen. Der warme Kaffee durchströmte ihn und ließ ihn aufleben. Er stelle die Tasse ab und sah beide an. „Alina liegt im Krankenhaus. Sie braucht eine Spenderlunge. Die Ärzte geben ihr noch sechs Monate oder so. Und dieser Kjell-Bjarne war auch noch dabei. Kjell-Bjarne, was ist denn das für ein Name“.
Weder Leif Arnuldson noch Rogar Emerson konnten etwas sagen. Beide waren wie erstarrt nach dem was Jakob Olafson ihren gerade gesagt hatte. Beide kannten sie Alina. Und beide mochten sie Alina. Blaue Augen. Blondes langes Haar. Mit einer Lücke zwischen ihren Schneidezähnen. Alina war ein Kind was man einfach gernhaben musste. Und jetzt sollte sie nur noch sechs Monate zu leben haben? Es wirkte auf beide surreal.
Das Klingeln des Telefons im Büro unterbrach die Situation. „Rogar Emerson Kriminalpolizei“. Mit einer Handbewegung deutet er an das beide ruhig sein sollen und mit einer weiteren, dass er einen Stift benötigt. „Alles klar. Wir kommen“, sagte er und legte auf. „Wer war das?“, fragte Leif Arnuldson. „Das war der Chef. Der Staatsanwalt persönlich. Es gab einen Leichenfund. Am Isfjord. Isfjördsvegen. Leif, du fährst“, sagte er. Zwanzig Minuten später trafen sie.
III
Am Tatort wartete wie immer rauchend bereits Staatsanwalt Hans Jensen. „Hans“, sagte Rogar und reichte ihm zur Begrüßung die Hand. „Rogar, hallo“, erwiderte Hans die Begrüßung. Rogar und Hans kannten sich aus dem Badmintonverein wo sie jeden Donnerstag spielten und einmal im Jahr eine Feier hatten. Bei dieser Feier im letzten Jahr hatte Rogar Hans in flagranti mit Judith seiner Sekretärin erwischt als er sich gerade noch ein Bier aus dem Stauraum holen wollte. Beide waren sich aber einig, dass dies unter das Gentleman Agreement fällt mit der kleinen Einschränkung das Rogar zwei Gehaltsklassen höher steigt. An mehr Verantwortung war er jedoch nicht interessiert. „Was haben wir hier?“, fragte Leif und gab Hans ebenfalls die Hand. Jakob hingegen begnügte sich mit einem kurzen Kopfnicken. Hans deutete auf einen Haufen Steine zu seiner rechten bei welchem eine Öffnung in der Mitte zu sehen war. Hans ging in die Knie und zeigte mit seinem rechten Zeigefinger auf die Öffnung. „Eine Leiche haben wir hier Leif. Eine tote junge Frau. Nackt. Ungefähr achtzehn bis zwanzig Jahre alt. Mehr wissen wir im Moment noch nicht.“ „Irgendwelche Zeugen?“, schaltet sich Jakob Olafson in das Gespräch mit ein. Hans kam wieder nach oben und drehte sich zu ihm. „Nein, niemanden. Bis jetzt. Aber das kann sich ja noch ändern“, sagte er. „Wer hat sie denn gefunden?“, wollte Rogar wissen. Hans machte eine Kopfbewegung nach rechts. „Die zwei Kinder dort. Sind noch ganz verstört. Hatten irgendwie einen Ball verloren und wollten ihn suchen. Und dann sind sie auf den Haufen Steine gestoßen und der Entdeckergeist hat sie ergriffen“, sagte er und zündete sich eine weitere Zigarette an. Alle vier schwiegen. Und alle vier wussten, dass vor ihnen kein einfacher Fall liegt.
Tag 3 der Ermittlungen im Fall Charlotte Johansson
„Die Spurensicherung hat Teile menschlichen Gewebes unter ihren Fingernägeln gefunden“, sagte Leif Arnuldson. Jakob Olafson saß ihm direkt gegenüber und starrte ins Leere. Seiner Tochter Alina ging es von Tag zu Tag schlechter, was sich negativ auf seine Konzentration auswirkte. Rogar Emmersson betrat das Büro mit einer neuen Packung Kaffee in seine rechte Hand und einer mit Wasser gefüllten Kaffeekanne in seiner linken. „Jakob, du siehst aus als könntest du einen starken hier von gebrauchen“, sagte er und deutete auf die Packung Kaffee in seiner rechten Hand. Jakob nickte nur und Leif hatte meinte das er nicht wirklich anwesend war. „Kann denn die Spurensicherung weitere Einzelheiten dazu ausführen?“, fragte Rogar Emmersson aus dem Nebenzimmer in welchem er den Kaffee aufgesetzt hatte. „Nein, zu wenig Material und viel zu unrein, sagen sie“, antwortete Leif. „Wann starten die ersten Zeugenbefragungen?“ fragte Jakob. „Heute“, sagte Leif und packte seinen Burger aus. Wieder mit Ei und Speck. „In Honig gebratener Speck“, sagte Leif und nahm einen kräftigen Bissen. „Wo bleibt der Kaffee Rogar?“, fragte er mit vollem Mund. „Ich führe die Befragung durch“, sagte Jakob. „Bist du dir sicher?“, fragte Rogar. „Ja, Rogar hat Recht. Die Sache mit Alina ist nicht gerade leicht. Und dann der Fall. Wie geht es Alina überhaupt?“, fügte er hinzu. Jakob zuckte mit den Schultern. „Kaum verändert. Sie trägt eine Maske, über die sie Sauerstoff bekommt“, sagte er. „So hier ist der Kaffee.“ Rogar Emmersson kam mit drei Tassen Kaffee zurück und stelle jedem eine hin. „Wird auch Zeit“, sagte Leif und nahm einen großen Schluck. „Verdammt Rogar, der ist kochend heiß“, sagte er und konnte ein Ausspucken gerade noch vermeiden. Rogars Telefon klingelte. „Ja, Rogar hier“, sagte er. Leif, welcher einen weiteren Bissen von seinem Burger nahm sah Jakob an, welcher seine Hände hob, um anzudeuten, dass er nicht wüsste worum es in dem Gespräch ginge. „Ist gut“, sagte Rogar und legte auf. „Was wollte er?“, fragte Jakob. „Es war Hans. Es soll eine große Sonderkommission geben. Hans will veranlassen, dass alle Fotos die von den Urlaubern gemacht worden uns zur Verfügung gestellt werden. Hans meint das wir vielleicht darauf etwas entdecken. Den Täter. Die Tat an sich. Im Hintergrund. Oder so“, gab Rogar das Gespräch kurz wieder. Alle drei sahen sich an. „Über wieviel Fotos reden wir hier?“, fragte Jakob. „Tausende“, sagte Leif und legte den Burger ab während Rogar einen Kaugummi aus seiner Hosentasche zog. „Mit extra Koffeinpulver“, sagte er. Jakob nickte als er Leifs Antwort vernahm, dachte aber an Alina. Sechs Monate. Ihm blieben sechs Monate. Dann würde Alina sterben, sofern kein Spenderorgan gefunden wird. Aber danach sah es im Moment nicht aus.
Charlottes Tagebuch
13. Juli 0:13 Uhr
Es ist anstrengender als ich es mir vorgestellt hatte. Jeden Tag von neun bis Mitternacht. Und Freitags und Samstags von zehn bis zwei. Meine Füße bringen mich um. Echt!!! Ich hatte noch keine Zeit etwas zu lesen, dabei hatte ich es mir fest vorgenommen. Richard Bachmann wartet noch immer auf mich. Nach meiner Schicht falle ich immer halb tot ins Bett und schlafe bis die neue beginnt. Vielleicht hatte Sara doch Recht. Vielleicht ist das nichts für mich. Vielleicht bin ich verrückt. Wer, wenn nicht eine Verrückte sucht sich so einen Job. Und kennengelernt habe ich auch noch niemanden. Klar, wie auch. Bin ich vom Pech verfolgt? Könnte man manchmal denken. Ich glaube ich sollte mich schon mal drauf einstellen als alte Jungfer zu sterben. Das sollte die Sache erleichtern. Glaube ich. Nicht mal beim Schreiben hört die Uhr auf weiterzulaufen. Ist jetzt kurz vor halb eins. In acht Stunden muss ich aufstehen. Spätestens. Dann fängt alles wieder von vorn an. Ich wünschte ich wäre tot!!!
Eins muss ich aber noch schreiben, bevor mir die Augen zufallen. Meine Mum hat mir ihre Kette geschenkt. Das Erbstück in unserer Familie. Sie hatte es von Oma zu ihrer Hochzeit bekommen. Und jetzt habe ich es. Ich bin unglaublich stolz darauf. XXX
Auszug Akte Charlotte Johansson
19.08.1996
Das Opfer ist achtzehn Jahre alt. Gefunden wurde das Opfer unter einem Steinhaufen, was die Knochenbrüche erklärt. Am Hals sind verschiedene Würgemerkmale erkennbar. In den Augen sind Einblutungen erkennbar. Das Opfer weist darüber hinaus
Verletzungen im Intimbereich auf was auf eine Vergewaltigung schließen lässt. Außerdem finden sich zahlreiche Hämatome am ganzen Körper. Unter den Fingern des Opfers konnten Hautmaterialien gesichert werden. Diese wurden nach Oslo in das gerichtsmedizinische Labor gesandt.
Zusatznotiz: Opfer wurde nackt gefunden. Wo Kleidung? Fotos? Touristen vernehmen.
Aktennotiz Fall Charlotte Johansson. August 1996
Labor kann Hautmaterial nicht endgültig bestimmen
Wurde im Labor aufgehoben
Erdspuren wurden am Körper des Opfers im Nachgang gesichert und an Labor versandt. Noch in Arbeit
Akte Charlotte Johansson
Datum: 21. August 1996
Zeugenbefragung Malin Hansen
Tonbandmitschnitt
Anwesend bei der Befragung der Zeugin Malin Hansen war Kommissar Jakob Olafson
JO: Nennen Sie bitte Ihren Namen, Ihr Alter und Ihre gegenwärtige Adresse
MH: Mein Name ist Malin Hansen. Ich bin siebenundvierzig Jahre alt und wohne in der Havnegata sieben in Andalsnes. Person hustet
JO: Schildern Sie mir bitte was Sie an dem besagten Tag, dem Todestag von Frau Johansson gesehen und erlebt haben. Jedes Detail ist wichtig.
MH: Ja, also ich bin am Isfjord spazieren gegangen
JO: Allein?
MH: Nein. Mit meinem Hund. Caspar. Er braucht viel Auslauf. Wissen Sie er ist noch so jung. Erneuts Husten
JO: Ja, verstehe. Bleiben Sie aber bitte bei der Sache.
MH: Ja also ich ging mit Caspar spazieren.
JO: Könnten Sie mir bitte sagen wie spät es war.
MH: Nachmittag. So gegen vier. Ich gehe mit Caspar immer um vier spazieren. Er ist dann immer ganz aufgeregt. Ich hatte die ganze Zeit über ein komisches Gefühl. Der Mann, den ich sah, wirkte so nervös. Nach einer Weile war er aber aus meinem Sichtfeld verschwunden. Aber Caspar war so komisch. Er wedelt sonst immer mit seinem Schwanz. Aber diesmal nicht. Jedenfalls gingen wir dann weiter. Die Runde ist immer groß, wissen Sie. Ich muss mich manchmal sehr beeilen. Jedenfalls, wir waren kurz vor Ende unserer Runde, da taucht dieser Mann plötzlich wie aus dem Nichts vor uns auf. Und Caspar fängt an zu bellen. Ich bekam einen höllischen Schreck. Das können Sie sich sicher vorstellen.
JO: Ja, und dann? Wie ging es dann weiter? Hat er Sie angesprochen? Etwas gesagt? Irgendetwas? Können Sie ihn beschreiben?
MH: Er hat nach der Uhrzeit gefragt. Auf deutsch. Das kam mir komisch vor. Ich habe auf Deutsch geantwortet. Ich spreche es ja. Mein Ex Mann war Deutscher. Ja ihn beschreiben. Es entsteht eine Pause auf dem Band. Er war groß. Mindestens 1.80m braune Haare. Nicht zu kurz. Aber auch nicht so lang.
Ich mag Männer mit langen Haaren nicht verstehen Sie? Er sah normal aus. Trug eine Jeans. Blau. Und ein Shirt. Weiß. Es tut mir leid. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Es ist so furchtbar was dem Mädchen passiert ist. Ich denke immer an sie. Vielleicht hätte ich sie retten können. Nur wie?
JO: Ja vielen Dank Frau Hansen. Unser Zeichner wird Sie noch einmal befragen. Dann können wir ein Phantombild anfertigen.
Aufnahme bricht ab.
Akte Charlotte Johansson.
Aussage der Mutter Sybille Johansson
Wir wollten nicht das Charlotte dort arbeitet. Wir waren dagegen. Aber wir wussten auch, dass wenn sich Charlotte etwas in den Kopf gesetzt hat, sie kaum davon abzubringen ist. Außerdem hatte sie uns gesagt, das Sara mitfährt. Hätten wir doch nur nachgefragt. Also ich meine mehr nachgefragt. Sie müssen uns für schlechte Eltern halten. Charlotte hat uns immer mal wieder angerufen. Hat von der Arbeit erzählt. Das
sie viel zu tun hat. Aber auch dass es ihr Spaß macht. Und dass sie ja Sara hat und sich deswegen auch nicht so allein fühlt. Im Übrigen war Sara zu der Zeit im Ausland. Erst in Finnland und dann wollte sie noch mal zu Charlotte. Wir wissen nicht ob sie bei ihr war oder nicht. Wir konnten sie leider noch nicht sprechen. Wir konnte sie nicht sehen. Wir dachten sie wäre bei ihr. Charlotte hat nie etwas von einem Freund oder eine Bekanntschaft erzählt. Wir hatten am Anfang schon den Verdacht das es da jemanden gab. Ich meine sie war achtzehn. Und hat in einer Bar gearbeitet wo immer Touristen sind.
Als wir sie identifiziert haben, also mein Mann und ich, da haben wir festgestellt, dass sie ihre Kette nicht mehr trug. Haben Sie sie gefunden? Es ist ein Erbstück. Sie ist von meiner Mutter. Ich bekam sie damals zur Hochzeit und habe sie Charlotte geschenkt, zwei Tage bevor sie wegfuhr. Sie trug sie jeden Tag. Aber sie hatte sie nicht mehr. Ich glaube nicht, dass sie sie verloren hat. Finden Sie diese Kette, bitte. Es ist ein Erbstück. Sie ist aus Gold und hat drei Rubine eingefasst. Ich habe ein Bild mit. Sie können es gern bekommen.
Akte Charlotte Johansson
Datum: 22. August 1996
Zeugenbefragung von Sara Larson
Tonbandabschrift
Anwesend bei der Befragung der Zeugin Larson war KHK Jakob Olafson
JK: Nennen Sie bitte Ihren Namen, Ihr Alter und Ihre gegenwertige Adresse
SL: Mein Name ist Sara Larson. Ich bin 18 Jahre alt und wohne in der Strandgata in Horö. Für mich ist das ein Alptraum.
JK: wie gut kannten Sie das Opfer?
SL: Das Opfer, wie das klingt. Es ist Charlotte. Charlotte ist ihr Name. Sie ist doch kein Opfer Zeugin bricht in Tränen aus
JK: Ja, also wie gut kannten Sie sie nun. Charlotte.
SL: Sie war meine beste Freundin.
JK: Und wann haben Sie Charlotte da letzte Mal gesehen oder mit ihr Kontakt gehabt?
SL: Als ich sie besuchen war. Im Juli.
JK: Wie hat sie da auf sie gewirkt? War sie wie immer oder war sie anders?
SL: Was soll das heißen anders?
JK: Aufgeregt? Oder unruhig?
SL: Nein sie war wie immer.
JK: Hatte sie Ihnen gegenüber etwas erwähnt in Richtung Freund? Bekanntschaft?
SL: Nein. Ich wollte das Gespräch aber darauf lenken. Hatten sie gefragt, ob sie jemanden kennengelernt hatte. Bei all den Touristen sollte das ja kein Problem sein, aber sie wechselte schnell das Thema. Ich hatte kurz den Eindruck sie wollte etwas verbergen, aber hab es so belassen.
JK: Haben Sie ihr das geglaubt?
SL: Nein
JK: Viel es ihr schwer neue Leute kennenzulernen?
SL: Schon, ja. Sie war keine graue Maus oder so. Aber sie las mehr. Bücher waren eher ihre Sache. Das von diesem Bachman hatte sie ja mitgenommen.
JK: Ja, das haben wir gefunden. Hätte Charlotte sich auf eine Affäre eingelassen? Sagen wir mit einem verheirateten Mann?
SL: Charlotte? Nie im Leben. Wenn ich mich nicht täusche war sie ja noch Jungfrau
JK: Sie täuschen sich.
SL: Was?
JK: Sie täuschen sich. Schauen Sie. Charlotte war jung. Weit weg von daheim. Keiner um sie herum der sie beobachtet.
SL: Ja, aber, das passt gar nicht zu ihr.
JK: Möglicherweise kannten Sie sie doch nicht so gut, oder?
Schweigen
JK: Charlotte hatte seit kurzem eine Kette. Sie haben sie nicht zufällig?
SL: Nein, warum sollte ich?
JK: Aus Freundschaft. Was weis ich. Sie sollten vielleicht darauf aufpassen bis sie sich wiedersehen.
SL: Nein.
JK: Das wars wir sind fertig. Danke. Sie können gehen.
Charlottes Tagebuch
27. Juli 1:13 Uhr
Sara war da. Wollte schauen was ich so mache. Arbeiten, was sonst? Aber langsam gewöhne ich mich daran. Natürlich macht es
mir keinen Spaß, aber ich habe mich nun einmal dafür entschieden. Und so lange bin ich ja auch nicht mehr hier. Obwohl. Schade ist es schon. Ich habe jemanden kennengelernt. Sara wird Augen machen, wenn ich ihr das erzähle, aber sie ist ja schon wieder weg. Sie war nur einen Tag da. Ich möchte jetzt nicht zu viel verraten, aber er sieht unglaublich gut aus. Ich habe ihn in der Bar kennengelernt, (wo auch sonst). Wir wollen uns treffen. Nach der Arbeit. In ein paar Tagen. Er sagte er kenne da eine Stelle wo man ungestört wäre. Ich bin sehr aufgeregt. Ob es da passieren wird? Mein erstes Mal? Ich kann es kaum erwarten. Ich kann nicht einmal schlafen vor Aufregung.
XXX
Tag 25 der Ermittlungen im Fall Charlotte Johansson
Bericht Aftonblatt
21. September 1996. Mehr als vier Wochen sind vergangen seitdem schrecklichen Verbrechens, welches die Kleinstadt Andalsnes am Isfjord erschütterte. Die achtzehnjährige Charlotte Johansson wurde brutal ermordet. Die zuständige Polizeibehörde unter der Leitung von Staatsanwalt Hans Jensen hatte versprochen so schnell wie möglich den Täter zu finden. Das Personal sollte aufgestockt werden. Eine „große Sonderkommission“, wie er es nannte sollte ins Leben gerufen werden, um Hinweisen nachzugehen und Fotos auszuwerten. „Ich denke, dass wir schon in zwei Wochen einen Durchbruch erzielen werden“, sagte er damals. Jetzt, noch einmal vierzehn Tage später stand er für ein Interview nicht zur Verfügung, „aus terminlichen Gründen“, wie er uns über seine Sekretärin, Judith Tande mitteilen ließ. Aftonblatt stellte eine weitere Anfrage an die Behörde, in welcher es um das Personal ging, welches mit dem Fall betraut wurde. „Wir arbeiten mit den Recourcen die uns zur Verfügung stehen rund um die Uhr. Eine Erhöhung weder des Personals noch der finanziellen Mittel ist absehbar nicht geplant“, war die Antwort gewesen. Aftonblatt fragt daher: Kann man die Bevölkerung und vor allem die Eltern so hinter das Licht führen? Warum sollten wir noch Vertrauen in unsere Behörden haben? Große Versprechungen werden getätigt, aber die Einhaltung lässt sehr zu wünschen übrig. Aftonblatt fordert daher mehr Polizei. Weniger Aktionismus und mehr Realitätssinn ständen den Beteiligten, vor allem Staatsanwalt Hans Jensen gut zu Gesicht, findet Aftonblatt. Wir bleiben dran!
„Das ist eine Katastrophe“, sagte Staatsanwalt Hans Jensen nach dem er den Bericht laut vorgelesen hatte. Danach war die Zeitung in hohem Bogen durch den Raum geflogen und neben dem Papierkorb gelandet. „Das ist eine absolute Katastrophe“, wiederholt er seine Worte, nur lauter und mit deutlich vernehmbarer Pause zwischen den einzelnen Wörtern, welche dadurch die Wirkung von Ambosschlägen bekamen. „Fünfundzwanzig Tage. Und was können wir vorweisen? Nichts!“, fügte er seine Aussage hinzu. „Hans, wir tun was wir können“, versuchte Rogar Emmersson die Situation zu entspannen. „Das reicht aber nicht, Rogar. Das reicht verdammt noch mal nicht. Nicht für die Angehörigen und nicht für diese Geier vom Aftonblatt“, wurde die Stimme von Hans Jensen lauter. „Wir sind nur zu dritt“, versuchte Jakob Olafson seinen Kollegen zu schützen. Leif Arnuldson legte seinen eingepackten Burger zur Seite. „Hans, du hast doch gesagt, was du alles machen willst. Personal. Geld. Und nichts ist passiert. Wir sind nicht deine Prügelknaben“, sagte er und nahm sich seinen Burger. „Und auch wir haben ein Privatleben. Und selbst du müsstest die Erfahrung haben, um zu wissen, dass vierzehn Tage für einen Mordfall utopisch sind. Weißt du wieviel Fotos wir auswerten müssen? Zu dritt, Hans, zu dritt“, fügte er hinzu und biss von seinem Burger ab. Jakob Olafson Telefon klingelte. „Wenn du weniger dieses Zeug in dich rein schlingst“, setzte Staatsanwalt Hans Jensen an, ließ es aber den Satz zu vollenden. Jakob Olafson legte auf. „Ich muss los. Das war das Krankenhaus“, sagte er und stand auf. „Wo willst du hin? Du kannst nicht so einfach verschwinden“, entgegnete ihm der Staatsanwalt. „Meine Tochter liegt im Krankenhaus. Und das war der Arzt. Ihr geht es schlechter. Ich muss los“, sagte Jakob Olafson zog sich seine Jacke an und ging zur Tür. Staatsanwalt Hans Jensen atmete kurz durch und stemme seine Hände in die Hüften. „Jakob wir haben hier einen Fall. Du kannst nicht für deinen Familienkram einfach gehen“, sagte er. Jakob trat auf ihn zu und packte ihn an der Krawatte. „Meine Tochter hat noch sechs Monate, wenn es gut kommt. Was weist du schon“, sagte Jakob Olafson, stieß Hans Jensen weg so dass er gegen den Tisch von Leif Arnuldson stieß und dessen Kaffee verschüttete. Ging zur Tür und schloss diese hörbar ab. „Der Kaffee läuft über meinen Akten und meine Hose“, wurde Leif Arnuldson laut und sprang auf. Dabei ließ er seinen Burger fallen welcher in den Kaffee gelangte und sich voll sog. Rogar Emmersson stand auf und lief Jakob hinterher.
II
Der beißende Geruch des von KHK Olafson Erbrochenen stieg ihm trotz mehrfachen Ausspülens seines Mundes immer noch in die Nase. Rogar Emmersson trat durch die Tür der Herrentoilette und legte seine rechte Hand auf die Schulter seines Kollegen. „Wie geht es Alina?“, fragte er. Jakob Olafson spuckte erneut aus. Er nahm ein Papierhandtuch und wischte sich den Mund ab. „Was glaubst du denn wie es ihr geht?“, antwortet er. Rogar Emmersson atmete tief ein. „Jensen meint das nicht so. Er hat sich eben selbst in eine schwere Lage gebracht. Er hat zu viel versprochen und kann nicht mit Ergebnissen kommen“, sagte er. Jakob sah ihn an. „Aber das ist nicht mein Problem“, sagte er und warf das Papierhandtuch weg. Jakob Olafson drehte sich in Richtung Tür. „Jakob“, sagte Rogar Emmersson und Jakob hielt kurz inne mit seiner rechten Hand auf der Türklinke. „Das mit Alina wird wieder. In zehn Jahren lachen wir darüber. Dann ist sie ein Teenager und wird dich hassen. Und wir werden ihn bekommen. Und wenn es zwanzig Jahre dauert. Aber wir werden ihn bekommen“, sagte Emmersson und der Duft seines Kaugummis erfüllte den Eingangsbereich der Herrentoilette. Jakob Olafson nickte. „Sicher“, war alles was er sagte, drückte die Türklinke und trat heraus. Rogar Emmersson blieb noch eine Weile vor dem Spiegel stehen. „Sicher“, wiederholte er leise und strich sich über sein Gesicht. Er bekam Falten. Vielleicht sollte er doch mal eine Feuchtigkeitscreme probieren, dachte er.
III
Leif-Lasse und Sybille Johansson saßen auf zwei Stühlen vor dem Büro des Leiters von Tatort-NOR, Gunnar Solskjaer. Selbiger stand kurz vor der Rente und hatte die Begeisterung für seinen Beruf, oder Berufung, wie er es früher gern nannte, schon längst verloren. Denn die Rate der Fälle die wirklich gelöst wurden, ging schon lange unter die zehn Prozent Marke. Woran das lag, wusste Gunnar auch nicht so genau. Vielleicht an der Gleichgültigkeit der Leute, vielleicht an der Sendezeit. Sonntag. Zweiundzwanzig Uhr. Zu spät. Aber die Dinge ändern sich eben. Dieser Fall jedoch war anders. Er weckte den alten Gunnar. Den Bluthund. „Sie sollen reinkommen“, sagte er zu Mia Olsen, seiner Praktikantin, und, wenn es nach ihm ginge, baldigen Stellvertreterin. Mia bat die beiden herein. „Setzen Sie sich“, sagte Gunnar und nickte Mia kurz zu. Das war für sie das Zeichen, Kaffee und eine kleine Stärkung, meist selbstgebackene Kekse von Gunnars Frau aufzutafeln. Gunnar sah an ihrem Gesicht, dass sie in den vergangenen Tagen viel, zu viel Tränen vergossen hatte und das diese jetzt alle waren. Her Johansson legte behutsam seinen linken Arm um seine Frau. „Wir möchten“, fing er an, stockte jedoch nach den ersten Worten. „Wir möchten, dass Sie den Fall bringen. Dass die Öffentlichkeit von Tromsö bis Oslo Bescheid weis. Wir wollen Gerechtigkeit für unsere Tochter“, beendete Frau Johansson den Satz ihres Mannes. Gunnar nickte und nahm sich einen Keks. Mürbteig mit Pistaziencreme. Er liebte diese Eigenkreationen seiner Frau. „Machen wir“, sagte er, nachdem er den ersten Bissen heruntergeschluckt und mit Kaffee von Mia nachgespült hatte. „Die Polizei sagt, dass sie ein Tagebuch gefunden haben, aber sie wollen es nicht herausgeben“, fügte Charlottes Vater hinzu und nahm sich einen der Kekse. Bevor er ihn aß sah er ihn noch eine Weile an. „Charlotte hat immer für uns gebacken. Im Winter“, sagte er dann bis er ab. Gunnar notierte sich die Tagebuchinformation mit einem großen Fragezeichen am Ende und dem Wort warum. „Was können Sie mir denn noch so über Charlotte sagen. Das sie gern Plätzchen gebacken hat weis ich nun. Aber gibt es etwas Spezielles über sie? Wir müssen sie in der Sendung so genau wie möglich zeichnen. Hatte sie einen Freund? Oder nahm sie öfters solche Jobs an?“, fragte er und fand das die Plätzchen-Bemerkung mehr als daneben war. „Nein, nein“, fing Leif-Lasse an. „Das war das erste Mal. Sie sagte, sie wolle das unbedingt tun. Am Frühstückstisch hatte sie uns ihre Pläne erzählt. Sie war nicht der Typ dafür, glauben Sie mir, ließ es sich aber auch nicht wieder ausreden. Sie konnte schon stur sein, wenn sie etwas unbedingt wollte. Außerdem, sagte sie, dass diese Sara, ihre Freundin sie begleiten wolle, was sich im Nachhinein jedoch als eine Lüge herausgestellt hatte“, ergänzte er. „Gab es einen Grund warum sie gelogen hatte“, wollte Gunnar wissen. Sybille Johansson schüttelte leicht ihren Kopf. „Nein. Und Charlotte hatte auch keinen Freund. Sie liebte Bücher. Sie hatte sich extra ein Buch für dort oben gekauft. Von diesem Bachman oder so. Sie war eher introvertiert“, sagte sie und Gunnar machte sich eine weitere Notiz auf seinem Zettel und aß den ganzen Pistazientoppinmürbteigkeks seiner Frau. „Diese Sara, was glauben Sie, warum hat sie gelogen?“, fragte er. „Wissen wir nicht“, antwortete Charlottes Vater und Gunnar notierte es sich. „Wir werden sehr eng mit den Behörden zusammenarbeiten. Könnten Sie sich vorstellen in der Sendung ein Interview zu geben? Zwei oder drei Fragen zu beantworten?“, fragte er und hob seinen Blick vom Blatt nach oben und wartete auf eine Antwort. „Ich glaube nicht“, sagte Charlottes Mutter und richtete ihren Blick wieder auf den Boden in Gunnars Büro. Gunnar nahm sich einen weiteren Keks. „Die Kette“, sagte Charlottes Mutter auf einmal, „wir haben ein Foto davon. Also mehrere. Eins hat die Polizei. Sie können auch eins bekommen. Sie trug eine Kette als sie uns verließ. Es ist ein Erbstück. Aber bei der Identifizierung hatte sie die Kette nicht mehr. Das können Sie zeigen.“ Gunnar nickte. „Das ist gut. Sehr gut“, sagte er und aß den Keks ganz.
Dreißig Minuten später verließen Charlottes Eltern das Büro von Gunnar Solskjaer in der Hoffnung der Aufklärung des Mordes an ihrer Tochter einen Schritt, einen entscheidenden Schritt, näher zu sein. Gunnar selbst, war nach einem weiteren Keks und einer Tasse Kaffee von Mia sich da nicht mehr ganz so sicher. Vielleicht konnte das Gespräch mit Malin Hansen welches er in einer Stunde führen würde mehr Licht in das Dunkel diese Falls bringen.
IV
Jakob Olafson, Rogar Emmersson und Leif Arnuldson hatten sich im Büro von Staatsanwalt Hans Jensen, versammelt, um eine von ihm angesetzte Lagebesprechung durchzuführen. Die drei Ermittler saßen in einem Halbkreis um ein Switchboard vor welchem der Staatsanwalt mit einem Edding in der Hand stand. „Ich wusste gar nicht, dass er Linkshänder ist“, sagte Leif Arnuldson zu Rogar Emmersson und stieß eine Wolke aus Speck und gebratenem Rindfleisch vermischt mit dem Geruch von Zwiebeln aus. „Da alle anwesend sind, denke ich wir können beginnen“, sagte Jensen, wandte sich dem Board wieder zu und schrieb in Großbuchstaben den Namen Charlotte Johansson oben mittig darauf. „Was wissen wir?“, sagte er und drehte sich zurück. Leif Arnuldson räusperte sich und rutsche auf seinem Stuhl von rechts nach links. „Also laut dem Bericht der Pathologie wissen wir, dass sie vergewaltigt wurde. Und wir kennen den Fundort“, sagte er. „Wir haben das Tagebuch“, fügte Rogar Emmersson hinzu. Staatsanwalt Jensen schrieb alles auf die linke Seite des Switchboard. „Wie weit sind wir mit der Auswertung des Tagebuchs?“, fragte Jensen, ohne sich umzudrehen oder das Schreiben einzustellen. „Was denkst du wie weit wir sind, wenn wir nur zu dritt sind?“, sagte Leif Arnuldson und Jensen sparte sich einen Kommentar, wusste er doch das Arnuldson recht hatte. „Die Zeugenaussage dieser Hansen könnte vielversprechend sein. Wir haben ein Phantombild anfertigen können“, sagte Hauptkommissar Olafson. Rogar Emmersson nahm sich die Akte, welche neben ihm auf dem Tisch lag und blätterte darin. „Hans, glaubst du, dass es relevant ist auf die Anzahl der Steine oder auf das Moos etwas zu geben? Ritualmäßig?“, fragte er. Staatsanwalt Jensen dreht sich um und atmete ein. „Vielleicht“, sagte er. „Was ist mit dem Haar und dem Zahn, den wir gefunden haben?“, fragte Jensen nach. „Wir wissen, dass er nicht von ihr ist“, sagte Emmersson. Jensen drehte sich zurück und schrieb die Erkenntnisse auf. „Es ist nur eine Idee, aber meinst du nicht, wir sollten an die Öffentlichkeit gehen? Wir brauchen Fotos. Überall Touristen. Vielleicht hat einer das entscheidende geschossen“, sagte Leif Arnuldson und sah auf die Uhr, in der Hoffnung, dass es bald Mittag ist, und er einen weiteren Burger essen kann. Jensen schrieb diese Bemerkung mittig unter den Namen Charlotte. „Die Idee mit der Öffentlichkeit“, sagte er, stocke und schlug in kurzen Intervallen mit dem Stift auf das Switchboard. „Diese Idee, ist gut, der Zettel hat keine Bedeutung. Ein einfacher Notizzettel, mehr nicht“, ergänzte er seine Aussage und dreht sich zu ihnen zurück. Rogar Emmersson entblätterte einen Kaugummi. „Was ist mit der Aussage über die Sprachkenntnisse?“, fragte er. „Jakob, da bist du doch dran, nicht wahr?“, fragte Arnuldson zu ihn sich drehen. Und Olafson nickte. Die Bürotür ging im selben Moment auf. „Herr Staatsanwalt?“, fragte eine Frau „Ja, was gibt es?“, antwortete der gesuchte. „Hier ist ein Fax für Sie“, sagte sie und reichte es ihm. „Was steht da drauf?“, fragte Emmersson nach. Nachdem Staatsanwalt Jensen das Fax überflogen hatte, sah er ihn an und lächelte. „Wir bekommen die Soko. Sechzig Mann stark, direkt aus dem Justizministerium“, sagte er.
Akte Charlotte Johansson
Bericht Profiler
Verantwortlicher: Ingmar Jönsrud Oslo
Dies ist nur eine Einschätzung auf Grundlage der Fakten, welche mir zur Verfügung stehen
Das Auffinden des Opfers zeugt von Kontrolliertheit und einer beherrschten Herangehensweise. Um das Opfer aus seinem Blickfeld zu schaffen vergrub der Täter es unter fünfzig Steinen und Moos. Dies kann ein Ritual sein, muss es aber nicht zwangsläufig. Die Art und Weise wie das Opfer ums Leben kam zeugt von äußerster Brutalität. Manifestierte Gewaltfantasien sind als Ursache in Betracht zu ziehen. Diese Persönlichkeitsstörung hat sich in der Kindheit früh gezeigt. Der Täter hat mit Gewalt experimentiert. Das Quälen und anschließende Töten von Tieren waren der Anfang. Da es Spuren einer Vergewaltigung jedoch keine Spermaspuren am Opfer gibt ist der Täter nicht in der Lage Sexualität auf normalem Wege auszuüben. Auch an der Vergewaltigung zeigt sich seine Freude an der Qual beziehungsweise an der Demütigung seines Opfers. Durch die Tat kann sich beim Täter ein innerer Damm gelöst haben so dass er eine weitere Veränderung in seiner Persönlichkeit vorgenommen hat.
Tag 125 der Ermittlungen im Mordfall Charlotte Johansson
Der Regen hatte vor genau fünf Tagen und sieben Stunden begonnen und die Erde, auf welcher er stand vor drei Tagen und zwei Stunden in Schlamm verwandelt. Bis zur Hälfte sanken seine Schuhe darin nun ein. Er hatte keinen Schirm. Er stand einfach da. Und sah auf das vor ihm geöffnete Grab. Sie hatte es nicht geschafft. Bis zuletzt hatten sie gekämpft. Ärzte. Pfleger. Krankenschwestern. Seine Exfrau. Und er. Es hatte nicht gereicht. Alina war tot. Sie lag mit einem Prinzessinenkleid in einem mit Samt ausgefüllten Sarg. KHK Olafson wehrte sich noch immer gegen den Gedanken seine Tochter nie mehr wieder sehen zu können. Er hoffte, dass das alles nur ein Traum wäre. Das der Wecker gleich klingelt und es Samstag ist. Im Juli. Dass sie sich auf den Weg zu einem Picknick machen. Das Alina und seine…, es war nicht Samstag. Und es war auch nicht Juli. Und er schlief auch nicht. Der Regen lief über seine Haare in seinen Mantelkragen während er vortrat und eine kleine Schaufel Erde auf ihren Sarg gab. Alina war tot. Und der Regen fiel weiter.
II
Hat die Polizei versagt? – Gastbeitrag von Mia Olsen
Über fünf Monate ist es her, dass die achtzehnjährige Charlotte Johansson tot gefunden wurde. Nach anfänglichen sehr großen Versprechungen und Aktionismus von Seiten der Staatsanwaltschaft, unter der Führung von Hans Jensen, muss die Bevölkerung nun doch erkennen, dass sie keinen einzigen Schritt weitergekommen sind. Protokolle wurden geschrieben. Zeugen vernommen. Fotos gesichtet. Und mit welchem Ergebnis? Nichts. Anfängliche Verdächtige haben sich nach genauer Untersuchung als unschuldig erwiesen. Die sechzig köpfige Sonderkommission, die nur dafür gebildet, und sogar vom Justizministerium höchstpersönlich abgesegnet wurde, hat außer den Steuerzahler stark belastenden Spesenabrechnung nichts herausgefunden. Wie müssen sich die Eltern fühlen? Wie Freunde? Es war mir, Mia Olsen, möglich ein kurzes Gespräch mit einer Freundin von Charlotte zu führen. „Ich denke jeden Tag an sie. Kann kaum schlafen. Ich will Gerechtigkeit für sie“, waren ihre Worte. Sie sagte mir außerdem, dass sie Angst habe so lange der, der dafür verantwortlich ist nicht gefasst ist, und möchte lieber anonym bleiben. Der Schmerz, und die Trauer über den Verlust, verbunden mit der Erkenntnis der Unfähigkeit der Behörden, rauben einem den Verstand. Man hat bei nüchterner Betrachtung schon sehr lang das Gefühl, dass man gar nicht dran interessiert ist, den Fall aufzuklären. Gibt es etwas zu verbergen? Gibt es Geheimnisse, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind? Leider stand, mal wieder, keiner Mitarbeiter der ermittelnden Behörden zu einem Interview bereit. Warum nur? Was gibt es zu verbergen? Vielleicht ist es die Unfähigkeit, mit der an die Sache herangegangen wurde. Die Naivität der Ermittler schnell Ergebnisse zu liefern („innerhalb von vierzehn Tagen“, das waren die Worte des Herrn Staatsanwalt), scheint sie auf die wahnwitzige Idee gebracht zu haben, dass sich ihre Arbeit von selbst erledigt. Das man durch derartige Aussagen sowohl sich, als auch alle anderen unter Druck setzt, liefern zu müssen, scheint sich seinen Weg zum Realitätszentrum im Gedankenapparat nur sehr schwer gefunden zu haben. Dann jedoch mit so einer Wucht, dass alle am liebsten nie mehr darüber reden wollen und es abblocken. Mit Dilettantismus und der schon angesprochenen Naivität ist der Weg gepflastert, auf welchem sich die Behörden befinden. Mit Tatort NOR oder dem Aftonblatt wurde nur einmal gesprochen, nach der Ausstrahlung im TV. Und sonst? Funkstille. Zeigt sich da etwa Stolz? Das ist etwas, was den Hinterbliebenen nicht helfen wird. Wir können alle nur hoffen, dass in absehbarer Zeit greifbare Ergebnisse geliefert werden, sonst die die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in die Behörden, welches bis jetzt schon sehr gelitten hat, in der Bevölkerung komplett verschwunden.
III
Erklärung der Staatsanwaltschaft zum Stand der Ermittlungen im Fall Charlotte Johansson. Tag 125.
Ermittelnder Staatsanwalt: Hans Jensen
Wir suchen die Nadel im Heuhaufen. Es gab die umfangreichsten Ermittlungen, die es in Norwegen je gab. Eine sechzig Ermittler umfassende Sonderkommission hat zehntausende von Dokumenten geprüft. Über viertausend Personen, verteilt über den gesamten Erdball befragt und unzählige Fotos gesichtet und katalogisiert. Verdachtsmomente gab es vor allem nach der Ausstrahlung im TV bei Tatort-NOR, aber alle gegen welche es diese Verdachtsmomente gab, mussten wir später wieder auf freien Fuß setzten da sich diese nicht erhärten ließen. Auf Basis der Faktenlage hat das Justizministerium beschlossen die Soko aufzulösen.
Nichtöffentliches Statement: Das Unterlassen des Zeigens der Kette, welche das Opfer, laut Aussage der Mutter beim Aufbruch bei sich hatte, bei der Obduktion jedoch nicht, war in Wirklichkeit der Dilettantismus, der uns vorgeworfen wurde. Es war und ist ein wichtiges Objekt in dem Fall. Ich habe mich persönlich dafür eingesetzt das der Moderator Gunnar Solskjaer einstweilen in den Ruhestand versetzt wird.
Tag 673 der Ermittlungen im Fall Charlotte Johansson
Wie jeden früh, so stand Lauri Ruuskanen auch an diesem Freitag eine Stunde vor dem Einchecken im Büro auf. Es war die dritte von fünf Wochen seines Praktikums auf dem Kommissariat und außer Kaffee kochen und Akten transportieren hatte Lauri Ruuskanen nicht viel getan. Wie jeden Tag, so war er auch an diesem Montag der erste im Gebäude. Die Stille war das, was ihn anzog, die Stille vor dem Lärm, den dann alle auslösen, wenn sie da sind. Er schaltet das Licht im Büro ein und kochte routiniert den Kaffee für die Kollegen. Staatsanwalt Jensen wollte ihn schwarz. Emmersson und Arnuldson mit Milch. Und er selbst mit viel Zucker. Nachdem er die Kaffeemaschine angeschaltet hatte ging er zu seinem Schreibtisch. Auf selbigen lag ein liniertes A-4 Blatt von Staatsanwalt Jensen. „Akte Johansson archivieren.“ Mehr stand nicht auf dem Blatt Papier. Die Akte Johansson, dachte er. Er hatte sie gelesen. Mehrfach. Hatte gelesen, wann und wie sie gefunden, welche Anstrengungen unternommen wurden. Und er hatte erfahren, aus den Gesprächen mit Emmersson und Arnuldson, dass Olafson am Tod seiner Tochter zerbrochen ist. „Es kam alles zusammen“, hatte Arnuldson gesagt. „Nach Alinas Tod hatte er gekündigt. Um Abstand zu bekommen. Er konnte sich sowieso nicht mehr konzentrieren. Für den Fall keine Hilfe“, hatte Emmersson ergänzt. Jetzt wurde sie archiviert. Bearbeitet wurde sie schon lange nicht mehr. Sie stand im Abstellraum und diente als Zwischenlager für Reinigungsmittel oder hin und wieder als bequeme Annehmlichkeit für Kollegen, welche den Kontakt zu anderen Abteilungen intensivieren wollten, speziell auf Feiern im Kommissariat. Lauri Ruuskanen nahm einen schwarzen Edding und einen Rollwagen. Der Abstellraum befand sich eine Etage höher. Links aus dem Fahrstuhl und dann och drei Zimmer weiter. Er öffnete die Tür, nahm beide Kartons und stellte sie auf den Wagen. Das Archiv befand sich im Keller. Lauri Ruuskanen wusste ganz genau, wo er die Akten hinzustellen hatte. Nach einer Fahrt von fünf Sekunden, ertönte das Zeichen, das er den Keller erreicht hatte und die Türen des Fahrstuhls öffneten sich. Licht brannte. Und das hieß, dass Sigvert, sein „Büro“, wie er es gern nannte bezogen hatte. Lauri bog nach rechts und schloss die zweite Gittertür auf an der er vorbeikam. Er stellte beide Kartons über einander und schrieb das Archiveingangsdatum mit dem Zusatz „geschlossen“ darauf. Als er die Gittertür von außen verschloss und zum Fahrstuhl ging, hatte er das Gefühl, das eine große Traurigkeit den Keller erfüllte.
Tag 5203 der Ermittlungen im Fall Charlotte Johansson
Aftonblatt
Der in Deutschland inhaftierte Serienmörder Hans Keller hat sich gestern in deiner Zelle der JVA Hannover selbst gerichtet. Hans Keller war im Zusammenhang mit mehreren Morden an Prostituierten in den Jahren 2001 und 2006 festgenommen und angeklagt worden. Auch gab es immer wieder Gerüchte, dass er etwas mit dem gewaltsamen Tod von Charlotte Johansson im August 1996 in Zusammenhang stehe. Dies konnte ihm jedoch bis zum jetzigen Zeitpunkt nie nachgewiesen werden. Die Staatsanwaltschaft wollte den Selbstmord nicht kommentieren. Der Fall Charlotte bleibt ein „Cold Case“.
2018
Tag 8097 der Ermittlungen im Fall Charlotte Johansson
Um sie zu sehen fuhr er regelmäßig fünf Stunden mit dem Auto. Zweieinhalb Stunden hin und zweieinhalb Stunden zurück. Und wenn er bei ihr war, dann sprachen sie nicht sehr viel mit einander. Das war auch nicht notwendig. Er wusste wie es ihr ging. Wie es ihr schon sehr lange geht. Ihre Augen waren tot unterlaufen und fielen in die Hohlen. Und ihre Haut war fast durchsichtig. Ihr Haare hingen einfach an ihr hinunter. An guten Tagen gelang es ihr aus ihrem inneren Gefängnis auszubrechen. Und sie konnten ein Stück spazieren gehen. Im Park. Auch, wenn sie sich auf jeder Bank, an welcher sie vorbeikamen, hinsetzen und ausruhen musste. An schlechten Tagen saß sie nur da und sah aus dem Fenster. Heute, bei seinem Besuch, war ein schlechter Tag. „Seit fünf Stunden sitzt sie einfach nur da und schaut aus dem Fenster“, hatte Pflegefachkraft Mette zu ihm gesagt als er sich angemeldet hatte. Ob es ein guter oder schlechter Tag war, hing nicht so sehr vom Wetter ab, aber vom Datum. Wenn es näher rückte, oder wenn auch nur derselbe Tag in einem anderen Monat näherkam, dann kam auch die Dunkelheit zu ihr. Seit über zwanzig Jahren. Er nickte nur und ging zu ihr. Er hatte drei Granatäpfel und ein Buch für sie mit. „Hey“, sagte er, nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben sie. Sie trug einen grauen Jogginganzug und hatte ihr rechtes Bein angewinkelt auf den Stuhl gestellt. „Ist es nicht unbequem so zu sitzen?“, fragte er und wartet auf eine Reaktion. Sie reagierte nicht. Er holte die Granatäpfel heraus und legte sie auf den Tisch, welcher neben ihm stand. „Die sind ganz frisch“, sagte er. Er legte seine rechte Hand auf ihren linken Arm. Bei der Berührung begann ihr linkes Auge zu zucken. Sie drehte ihren Kopf zu ihm. „Ich träume von ihr. Jede Nacht. Es wird schlimmer. Ich halte das nicht mehr aus“, sagte sie und eine Träne lief über ihre rechte Gesichtshälfte. „Ich weis nicht wie lange ich das noch durchhalten kann“, sagte sie und sah nach draußen. In einiger Entfernung fuhr eine Eisenbahn durch ihr Blickfeld. „Ich hätte bei ihr bleiben sollen“, sagte sie. Er wollte etwas antworten, da kam Pflegefachkraft Mette mit Kaffee und zwei Stücken Kuchen. Käsekuchen mit Cranberrys. „Selber gebacken“, sagte sie und zwinkerte ihm zu. „Danke“, sagte er und lächelte.
Neunzig Minuten verließ er den Parkplatz des Krankenhauses. „Ich muss los“, hatte er zur Verabschiedung gesagt und sie umarmt. „Versprich mir, dass ihr den findet der es getan hat“, sagte sie tonlos, umarmte ihn und ging zurück.
„Sie gehen schon?“, fragte Pflegefachkraft Mette und sah von ihrem Computerbildschirm nach oben. „Ja“, sagte er. „Wann kommen Sie wieder?“, wollte sie wissen. „Ich weis es nicht“, sagte er und blieb kurz stehen. „Hat Ihnen der Kuchen geschmeckt?“, fragte sie. Er nickte. „Sie zieht sich immer mehr zurück“, sagte sie. „Können wir das nicht aufhalten?“, fragte er. „Vielleicht, wenn die Ursache beseitigt wird“, antwortete sie. Er schwieg. Wusste er doch, was sie damit meinte. „Einen schönen Tag noch, Mette“, sagte er klopfte kurz auf den Tresen hinter welchem sie saß und ging zur Tür. „Sie sind immer willkommen“, rief sie ihm hinterher, aber da hatte er schon den Eingangsbereich verlassen und die automatischen Türen hatten sich geschlossen. Am Auto angekommen vibrierte sein Mobiltelefon. Er hatte eine Nachricht bekommen. Von ihr. Er überflog sie kurz. Wie es ihm geht, wollte sie wissen. Er drückte sie weg und stieg in sein Auto. Auf eine Antwort musste sie noch etwas warten.
Tag 8099 der Ermittlungen im Fall Charlotte Johansson
„Der Kaffee schmeckt furchtbar“, sagte Per Isakson als Hauptkommissar Hattestad um sieben das Büro betrat. „Dann trink ihn nicht“, antwortete dieser und ging direkt auf seinen Schreibtisch zu. Per Isakson drehte sich in seine Richtung und ging mit Kaffee in der einen und einem Teelöffel zum Umrühren in der anderen Hand zu ihm. „Na vielleicht ist er mit Zucker genießbar“, sagte er und betrachtete den Bildschirm seines Kollegen. „Was machst du da?“, fragte Per Isakson und probierte den zuckerhaltigen Kaffee. „Ich suche nach einer alten Akte“, sagte er und die Bürotür ging auf und Johann Hendrikson betrat mit einem an Essen übervollem Teller aus der Kantine das Büro. „Kann mir einer von euch helfen?“, fragte er und balancierte den Teller auf seiner linken Hand. „Sicher. Zwei Schritte links von dir ist ein Tisch, auf welchem du alles abstellen kannst“, sagte Per Isakson. „Vielen Dank“, kommentierte Hendrikson die Bemerkung. Nachdem er alles auf den Tisch gestellt hatte ging er mit einem halben Salamibrötchen in der Hand zu seinen Kollegen. „Was suchst du?“, fragte er und bis einmal ab. „Einen alten Fall“, antwortete HK Hattestad. „Und welchen genau?“, hakte Hendrikson nach und bis erneut ab. „Charlotte Johansson von 1996“ bekam er zur Antwort welche Hendrikson nur mit einem Schulterzucken quittierte. „Sagt mir gar nichts“, sagte Per Isakson. „Warum ist er dir wichtig?“, fragte Johann Hendrikson. „Einfach so“, antwortet HK Hattestad. „Hat jemand das Spiel gestern gesehen?“, wechselte Hendrikson das Thema und nahm noch einen Bissen von seinem Brötchen. Hendrikson aß immer im Büro, ganz im Gegensatz zu Isakson. „Nein“, antwortete Hattestad. „Ich schon“, sage Isakson. „Hatte hundert Kronen auf Vallerenga gesetzt“. Das Telefon klingelte und unterbrach die Unterhaltung. „Ja, ist gut. Danke“, sagte Isakson und legte auf. „Wer war das?“, fragte HK Hattestad. „Björn vom Fuhrpark. Wollte nur Bescheid sagen, dass die Flotte heute und morgen nicht zur Verfügung steht.“ „Was?“, fragte Hendrikson nach, „und wie soll ich dann nach Bergen kommen?“ Per Isakson hob entschuldigend die Arme. „Frag mich nicht“, sagte er und HK Hattestad beendete die Suche nach der Akte mit einem festen Klick auf die Enter-Taste. „Akte angefordert“, sagte er, stand auf und bediente sich an Hendriksons Frühstück. Sah zu ihm und hob die Hand. „Cheers“, sagte er und drehte sich weg, um sein Lachen zu unterdrücken.
Lauri Ruuskanen hatte sich nie viel von seinem Leben erhofft, aber selbst für ihn war Archivar bei Europol nicht gerade das, was er sich nach seinem Praktikum damals vor zwanzig Jahren erhofft hatte. Wie jeden Morgen begann er den Tag noch immer mit seinem „Kaffeeritual“, wie er es gegenüber Marit, seiner Frau, nannte. Fünf Tropfen weiße Schokoladensirup in die Tasse. Danach den Filter, Porung vier in die Kaffeemaschine. Dazu fünf Löffel kolumbianischen Kaffees auf exakt zwei einhalb Tassen. Mit neun Tropfen Milch verfeinert. Ein Genuss wie er zugab.
Lauri Ruuskanen hatte gerade seine zweite Tasse getrunken, da meldete sich sein elektronischer Posteingang. Jemand forderte eine Akte an. Ein gewisser Hattestad. Als Lauri Ruuskanen las um welche es ging, wurde ihm kurz übel. Um seine erste Archivierung. Ihre Akte. Jemand wollte sie haben. Wie oft hatte er darin geblättert. Wie oft hatte er gehofft, dass sie Frieden fand, wo auch immer sie vielleicht war und wie oft hatte er gehofft, dass es jemanden gab, der sich des Falles noch einmal annimmt. Er stellte die Tasse Kaffee ab und beeilte sich, die Akte zu holen.
II
„Er blättert seit Stunden in der Akte“, sagte per Isakson und aß weiter sein Mittag. Hühnchen mit Kroketten und Gemüse. Johann Hendrikson nickte und nah den Kampf mit den seiner Meinung nach verkochten Spaghetti wieder auf. Dazu eine helle Sauce und Kochschinken, was, so vermutete er eine Carbonara darstellen sollte, dieses Ziel jedoch verfehlte.
„Setzt euch“, sagte HK Hattestad, nachdem sie mit dem Essen fertig waren und das Büro betraten. „Wir rollen den Fall neu auf“, sagte er und hielt die Akte mit seiner rechten Hand nach oben. „Charlotte Johansson. Ermordet 1996. Sehr umfangreiche Ermittlungen. Tatort-NOR hatte sich mit eingeschaltet. Allerdings gab es nie etwas Handfestes. Alles verlief im Sand“, sagte er und wurde von Per Isakson unterbrochen. „Und du hast etwas Handfestes?“, fragt er. „Noch nicht. Man hat damals einen Zahn gefunden. Er wurde in einem Paraffinblock konserviert. Wir lassen eine Isotopenanalyse durchführen und lassen die mitochondriale DNS ermitteln. Die Technik war vor zwanzig Jahren noch nicht soweit, um genetisches Material zu sichern. Heute schon. Ich werde ihn ins Labor geben. In der Zwischenzeit“, sagte er und hielt kurz inne. „In der Zwischenzeit werden wir die Ermittler von damals aufsuchen und sie dazu befragen. Vielleicht können sie uns weiterhelfen“, fuhr er fort. „Warum ist dir der Fall so wichtig?“, fragte Johann Hendrikson. HK Hattestad legte die Akte auf den Tisch und drehte sich zu seinem PC. „Aus persönlichen Gründen“, sagte er. Er konnte ihnen den wahren Grund nicht nenne. Noch nicht. Aber bald.
III
„Also dieser Olafson ist tot. Selbstmord. Hat den Tod seiner Tochter nicht verkraftet. Leif Arnuldson ist auch tot. Das Herz. Und dieser Emmersson ist unbekannt verzogen“, sagte Per Isakson nachdem sie alle drei über vier Stunden damit verbracht hatten herauszufinden was mit den Ermittlern von damals geschehen ist. Alle drei saßen an ihrem Schreibtisch. Isakson und Hendrikson mit Kaffee zu ihrem Kvaefjordkake. Nur HK Hattestad hatte keinen Kaffee. Er genoss den Kuchen pur. Es war eine Art Ritual bei ihnen. Jeden Tag um drei Uhr nachmittags saßen sie zusammen und aßen Kuchen. Immer Kvaefjordkake. „Es gibt noch diesen Staatsanwalt. Einen Moment“, sagte Hendrikson und blätterte in den Papieren auf seinem Schreibtisch. „Jensen. Hans Jensen. Lebt in Tromsö. Den könnten wir befragen“, sagte er. HK Hattestad nickte. „Gut“, sagte er. „Ich weiß was du vorhast. Der Mann ist Rentner. Lass ihn“, sagte Per Isakson. „Ich werden zu ihm fliegen. Irgendeiner muss doch etwas wissen, was uns weiterhilft“, sagte er aß das letzte Stück Kuchen und dachte das es wirklich der Beste Kuchen von ganz Norwegen ist.
Tag 8101 der Ermittlungen im Fall Charlotte Johansson
Zwei Stunden dauerte der Flug von Oslo nach Tromsö. Selbst im Sommer stieg die Temperatur hier 344km Luftlinie über dem Polarkreis selten über die fünfzehn Grad Marke. Als er das Flugzeug verließ wehte ihm ein kalter Wind entgegen. Die Kälte der Arktis war hier oben, in der „arktischen Großstadt“, deutlich wahrnehmbar. Er ging zum Mietwagenschalter und holte sein vorbestelltes Auto, einen Lexus Hybrid ab. „Viel Spaß“, wünschte Elsa und überreichte ihm die Schlüssel. Parkplatz vierundzwanzig. Er stieg ein und konnte den Wagen nicht starten. Egal was er tat, er sprang nicht an. Nach mehreren vergeblichen Versuchen den Wagen zu starten, stieg er aus und sprach einen Parkplatzmitarbeiter an. Selbiger lachte kurz, stieg ein und startet den Wagen innerhalb von Sekunden. „Danke“, sagte HK Hattestad und fuhr los. Er hatte ein Hotel in der Nähe des Hafens gebucht welches, wie er jetzt feststellen musste, keinen Parkplatz besaß. Er stellte das Auto zwei Straßen weiter ab, und kaufe ein Parkticket. HK Hattestad trat an den Hoteltresen. „Ist noch ein Zimmer frei?“ Der Rezeptionist, welcher ein Shirt einer Maskentragenden Band trug, sah in seinen Unterlagen nach. „Ja, aber nur noch ein kleines. In der zweiten Etage“, sagte er und HK Hattestad sah das er auch ein Zungenpiercing hatte, welches ihn zum Lispeln brachte. „In Ordnung. Ich habe nicht vor lange zu bleiben. Kann ich das Auto in der Nähe abstellen?“, fragte er. Der Rezeptionist mit dem Maskenband T-shirt und dem Zungenpiercing sah nochmals in seinen Unterlagen nach. „Ja, in der Tiefgarage in einem unserer Partnerhotels ist noch ein Stellplatz frei“, sagte er, holte eine Visitenkarte des Hotels heraus und gab sie ihm. HK Hattestad nahm sie und die Schlüsselkarte und ging in Richtung Fahrstuhl. „Frühstück gibt es um sieben. Hunderfünfzig Kronen“, sagte er Rezeptionist aber HK Hattestad war schon in den Fahrstuhl getreten und hatte auf die zwei gedrückt.
Das Zimmer, welches man ihm gab bestand aus einem Bett, einem Tisch mit Stuhl und einer Minibar. HK Hattestad setzte sich auf das Bett und holte aus seiner Jackentasche sein Mobiltelefon heraus. Er hatte Jensen Nummer aus dem örtlichen Telefonbuch. Es klingelte vier Mal, dann hob Jensen ab. Viel redete sie nicht. Er legte auf, stand auf und trat an das Fenster. Es hatte begonnen zu regnen und der Nebel zog auf. Möwen kreischten und ein Schiff fuhr in den Hafen ein. Hurtigruten. Touristen welche die Stadt abgrasten wie eine Rinderherde die Weide. Ein Tag. Ganz Tromsö. Das Polarmuseeum. Das Ozeaneum. Die Fjellheisen zum Hausberg Storsteinen. Und verschiedene Geschäfte in welchem man alles bekam, von Elchfleisch, Tee aus Moltebeeren und Fellen von Reentieren. HK Hattestad wandte sich vom Fenster ab und nahm seine Jacke. In einer halben Stunde in O’Learys Sportbar waren Jensen Worte gewesen. Als er aus der Eingangstür des Hotels trat, wurde der Regen stärker. „Das soll so bleiben“, sagte der Rezeptionist. HK Hattestad trat in den Regen, ohne auf seine Worte zu reagieren.
II
O’Learys Sportbar war genaugenommen eine Fußballbar. Sieben Fernseher und auf jedem lief Fußball. Premiere League aus England. Serie A aus Italien. La Liga aus Spanien. HK Hattestad setzte sich abseits in eine Ecke, in welcher der Geräuschpegel nicht so hoch war. Seine vom Regen durchnässte Jacke lag neben ihm. Er sah auf die Uhr. Jensen verspätet sich. Hattestad nahm die von Kellnerin Johanna gebrachte Karte und überflog sie. Die Tür ging auf und Jensen trat ein. Er hatte graue Haare und eine Brille. Er kannte ihn von seiner Personalakte. HK Hattestad hob den rechten Arm und stand auf um anzuzeigen, dass er es war auf mit dem er sich treffen sollte. Jensen trat an den Tisch. „Hauptkommissar Hattestad?“, fragte Jensen. „Ja“, sagte dieser und bot Jensen den Platz ihm direkt gegenüber an. Jensen nickte, zog seine ebenfalls vom Regen durchnässte Jacke aus und setzte sich. „Tragen Sie nie eine Brille“, sagte Jensen, lächelte und nahm sie ab. „Dann putzen sie entweder, oder sie läuft an.“ Kellnerin Johanna trat an den Tisch. „Habt ihr euch was ausgesucht?“, fragte sie. „Ja, ein Bier, und den (Hausburger)“, sagte HK Hattestad. „Ich auch“, fügte Jensen hinzu. „Helles oder dunkles?“, fragte sie. „Helles“, antwortet Jensen und HK Hattestad nickte Kellnerin Johanna tippte alles in ihr mobiles Gerät nahm die Karte und ging.
Jensen faltete seine Hände auf dem Tisch. „Was genau wollen Sie? Es kommt nicht häufig vor, dass Europol sich für einen alten Fall interessiert“, sagte er. „Ich muss alles über die Ermittlungen von damals wissen“, antwortete HK Hattestad. „Warum?“, entgegnete Jensen. „Wir wollen ihn neu aufrollen“, antwortet HK Hattestad. Das brachte Jensen dazu einen Laut auszustoßen, der halb an ein Lachen und halb an ein Entsetzen erinnerte. „Lassen Sie es gut sein. Wir sind vor zwanzig Jahren gescheitert. Die Presse hielt uns für unfähig. Die Soko wurde aufgelöst. Und irgendwann das Team. Das sich einer das Leben nahm, muss ich Ihnen ja nicht erzählen, oder?“ HK Hattestad drehte seinen Kopf nach rechts zum Fenster. „Wir haben den Bericht über den Zahn. Die mitochondriale DNS sagt, dass der, dem der Zahn gehört aus Deutschland ist. Wir können das Gebiet einkreisen“. „Und dann?“, unterbrach ihn Jensen während Kellnerin Johanna das Bier und Popcorn brachte. „Danke“, sagte Jensen und nahm einen Schluck. „Mit den deutschen Kollegen vor Ort“, fing er an, wurde aber erneut unterbrochen. „Ja? Was wollen Sie? Eine DNS-Analyse durchführen? Ein Massengentest? Auf Grund einer Vermutung? In einem über zwanzig Jahren alten Fall? Hören Sie, diese Olsen hat mich angerufen. Weis Gott, hat die Nerven. Tatort-NOR will einen Bericht bringen. Jubiläum wie die es nennen, oder so. Ich habe sofort aufgelegt. Ihr Artikel damals im Aftonblatt war unser Todesstoß. Wie sie über uns hergezogen ist. Wir wären Dilettanten und naiv. Wir haben getan was wir konnten. Mehr war nicht drin. Ich musste mich rechtfertigen. Und um ein Haar hätte mich der Minister zur Verkehrsbehörde versetzt. Fakt ist, danach habe ich keine großen Fälle mehr bekommen. Dieser Fall ist verflucht. Lassen sie ihn in Ruhe“, sagte Jensen und nahm noch einen Schluck Bier. HK Hattestad ließ es auf sich wirken. „Aus der Aussage der Mutter geht hervor, dass Charlotte eine Kette bei sich hatte. Die fehlt. Das ist unser Punkt. Wir werden nach der Kette suchen. Über die Kette zum Täter“, sagte er Jensen sah ihn an. „Ja, die Kette. Vergessen Sie es. Die ist weg“, sagte er. Beide schwiegen. Gebrochen wurde s nur von Kellnerin Johanna welche die Burger brachte. Rindfleisch. Blauschimmelkäse. Bacon. Dazu ein Salatblatt und Tomate. Zwischen zwei aufgebackenen Brötchenhälften. Das war alles. „Laßt es euch schmecken“, sagte sie.
Jensen aß schneller als Hattestad. Er wischte sich mit einer Papierserviette den Mund ab, legte diese auf dem Teller ab und schob ihn von sich in Richtung Tischmitte. Er nahm sein Bier, welches er fast ausgetrunken hatte und stellte es vor sich. Er sah nach draußen und HK Hattestad konnte nur erahnen was in Jensens Kopf vor sich ging. Jensen setzte an und trank sein Bier aus. „Habt ihr die Kette gefunden? Hattet ihr danach gesucht?“, fragte HK Hattestad Jensen schüttelte leicht den Kopf. „Dieser Solskjaer hatte es vergessen in seiner Sendung. Aber wir hatten danach gesucht. Antiquitäten und Schmuckhändler. Nichts. Absolut nichts.“, sagte er. „Ich denke, er hat sie als eine Art Souvenir behalten“, sagte Hattestad. Jensen hob die Arme. „Gut möglich“, sagte er und trank sein Bier aus. „Wissen Sie, ich träume nachts von ihr. Ich träume davon, wie wir sie fanden. Und dann, dann macht sie plötzlich die Augen auf, so als lebe sie noch und bittet mich um Hilfe. Manchmal schreit sie mich auch an, warum ich ihr denn nicht helfe“, sagte Jensen, stand auf und nahm seine Jacke. Er holte seine Portemonnaies und legte dreihundert Kronen auf den Tisch. „Ich kann Sie nicht davon abhalten. Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt“, sagte Jensen, drehte sich zum Ausgang und verließ O’Learys Bar.
Tag 8104 der Ermittlungen im Mordfall Charlotte Johansson
Info@europol.eu an Kathrin.Kubin@staatsanwaltschaft.bautzen.sachsen.de
Betreff: internationale Zusammenarbeit – Fall Charlotte Johansson 1996
Sehr geehrte Frau Staatsanwältin Kubin,
im Zuge einer internationalen Ermittlung im oben genannten Mordfall, möchten wir Sie bitten, umfassend mit unserem Sonderermittler HK Hattestad in allen Bereichen zusammen zu arbeiten, sowie ihm alle Verfügbaren Kapazitäten zur Verfügung zu stellen, die sie haben. Herr Hattestad wird nächste Woche Dienstag bei Ihnen eintreffen. Der Fall Johansson hat oberste Priorität. Herr Hattestad wird Ihnen, alle Sie betreffenden Informationen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit zur Verfügung stellen. Sehr geehrte Kollegin, Sie erhalten außerdem mit dieser E-Mail den Bericht einer Zahnanalyse, welche eine Säule unserer Ermittlungen darstellt.
Europol Oslo
Per Isakson
Anlage
Teil 2
Es war eine klare, kalte Nacht. Das Mondlicht fiel durch die Bäume auf sie. Ihre Sachen klebten an ihrem Körper und ihre Hände waren steif vor Kälte. Ihre Lunge schmerzte so, als stecke ein Messer darin und ihr Herz raste. Streng dich an. Das Loch muss noch tiefer werden, spukte es in ihrem Kopf. Mit ihren erstarten Händen und Fingern grub sie weiter. Tiefer. Doch der felsige Untergrund zwang sie aufzuhören. Es war keine dreißig Zentimeter tief. Aber es musste reichen. Es musste. Sie zerrte den schweren Körper, welcher neben ihr lag, ein Stück in Richtung des Loches. „Hilf mir“, sagte sie zu der Frau, welche ihr gegenüber auf einem Felsen saß. Sie rührte sich nicht. Sie saß einfach nur da und starrte in die Dunkelheit. Sie konnte von ihr keine Hilfe erwarten und so zog sie unter Aufbringung ihrer letzten Kraftreserven den Körper in Richtung des von ihrem ausgehobenen Loche und ließ ihn reinfallen. Sie streckte ihren Rücken durch. Sie schmeckte Blut in ihrem Mund vor lauter Anstrengung. Durch das Mondlicht, welches einfiel konnte sie ihn in dem Loch sehen. Seine Arme und Beine waren merkwürdig verdreht. Glücklicherweise waren seine Augen geschlossen. Sie brauchte Äste und Gestrüpp, um ihn abzudecken. Ihr war klar, dass man ihn finden wird. Nur wollte sie den Zeitpunkt des Auffindens so lange wie es ihr möglich war nach hinten schieben. Insgeheim hoffte sie, dass irgendein Tier ihn finden und zumindest so weit entstellt, dass es nicht mehr möglich ist ihn zu identifizieren. Unbekannte männliche Leiche gefunden. Bitte melden, wenn Sie jemanden vermissen. Sie konnte die Schlagzeilen schon vor sich sehen. Sie musste nicht lange suchen, um etwas passendes zu finden. Sie legte alles darauf was sie finden konnte und in dem Mondlicht betrachtet war sie sicher, dass man ihn darunter nicht sah. „Los komm, wir müssen gehen“, sagte sie zu der Frau auf dem Stein und streckte ihr den Arm entgegen. Ruckartig zog es an ihrem Bein. Eine Hand, welche nach ihr griff und die Frau auf dem Felsen schrie. Ein Arm ragte durch die Äste und packte sie. „Hilf mir“, rief sie zu der Frau auf dem Felsen, aber diese schrie nur in ihrer Panik. Blut und Erde kamen aus dem Loch heraus. „Hilf mir“, flehte sie die schreiende Frau an. Ohne Erfolg. Das Blut und die Erde wurden immer mehr, umschlossen sie und zogen sie mit nach unten.
Das Telefon beendete ihren Alptraum. Ihr Herz raste und ihre Atmung war flach. Schweißtropfen liefen an ihrem Körper herunter. Ein Traum. Es war nur ein Traum, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Mit ihrer rechten Hand fuhr sie sich über ihr Gesicht und wischte sich den Schweiß ab. Sie tastete mit ihrer rechten Hand auf ihrem Nachttisch herum in der Hoffnung ihr Telefon zu finden. „Ja“, sagte sie im Halbschlaf. „Melanie, wo bist du. Ich warte auf dich. Ich habe dir doch gesagt das ich Besuch bekommen habe. Und wir warten im Büro auf dich. Ich hatte dir extra gestern noch gesagt, dass du pünktlich sein sollst. Ich gebe dir zehn Minuten.“ „Kay-Kay, ich“, sagte sie, dann war das Gespräch beendet. Melanie ließ sich zurück auf das Bett fallen. Sie hatte Kathrin Kubin, oder auch Kay-kay wie sie von allen nur genannt wird, war Staatsanwältin und Melanies Vorgesetzte. Das sie ausgerechnet in Kamenz saß hatte sie einer Umsetzung aufgrund mehrfach überhöhten Alkoholgenusses während er Arbeitszeit zu verdanken. Anfangs war Melanie davon wenig begeistert. Mit der Zeit lernten sie einander zu respektieren. Und Melanie konnte KK`s Gereiztheit gut nachvollziehen.
Kamenz war nicht die Stadt, in welcher Melanie vorhatte ihr ganzes Leben zu verbringen. Wenn Sie nur allein an die Räume im Revier dachte, dann war das Wort zufrieden, nicht der richtige Gedanke. Die Schreibtische veraltet und die Technik auch nicht auf dem neusten Stand. Erschwerend hinzu, dass sich hier Fuchs und Hase „gute Nacht“ sagen, denn Kamenz war sehr verschlafen. Die tägliche Arbeit konzentrierte sich auf Verkehrsdelikte und ein paar Einbrüche. Für beide, KK und Melanie nicht gerade der Höhepunkt der Karriere. Für KK eher eine Art erzieherische Vorhölle.
Sie stellte die Dusche an und das warme Wasser floss über ihren Körper. Der Alptraum war vergessen. Jetzt dachte sie an jemand anders. An ihn. Und nur an ihn. Sein Gesicht. Seine Hände. Die Wärme in seiner Stimme. Warum verdammt meldete er sich nicht. Da sie keine zufriedenstellende Antwort auf diese Frage unter der Dusche finden konnte, stellte sie diese aus, trat heraus nahm ihr Badetuch und ging zurück in ihr Schlafzimmer, um sich anzuziehen.
Melanie betrat KK´s Büro mit fünfzehn Minuten Verspätung und einer Box in welcher sich drei verschiedene Sorten Kaffee befanden. „Herrgott Melanie, wo warst du nur?“, fuhr KK sie an. „Es tut mir leid. Ich habe dafür Kaffee mitgebracht. Einen für dich. Einen speziellen für dich. Einen für deinen Gast und einen für mich. Wer ist das überhaupt? Dein Gast? Scheint ja sehr wichtig zu sein.“ KK rollte ihre Augen. Ein Zeichen dafür, dass ihre Geduld am Ende war. „KK klär mich doch erstmal auf, wer ist denn da? Ich weis gar nichts“, sagte Melanie und der Ton in ihrer Stimme wurde forscher. „Europol. Melanie. Europol ist hier“, sagte KK. „Was? Was wollen die hier?“, unterbrach Melanie sie. KK nippte an ihrem Kaffee. „Ist der mit Tuning?“, fragte sie und war gewollt ihn auszuspucken. „Mel du weist das ich auf dünnem Eis stehe deswegen. Herrgott noch eins, der Oberstaatsanwalt wartet nur darauf das ich einen Fehler mache und dass er mich durch einen seiner unfähigen Neffen ersetzen kann“, fügte sie hinzu. „Aber zurück zu dem Typen der wartet. Es geht um einen alten Fall. Ungefähr zwanzig Jahre alt. Eine junge Frau die in einer Bar arbeitete verschwand. Dann wurde ihre Leiche gefunden und irgendwie gibt es neue Spuren. Ich habe auch nicht so genau hingehört. So viele Informationen. Jede Einzelne ist wie ein Nadelstich. Verstehst du das?“, sagte sie und nahm einen großen Schluck Kaffee. „Der ist gut“, sagte sie und blickte zu Melanie. „Und was habe ich damit zu tun?“, fragte Melanie. KK nahm noch einen Schluck. „Man ist der heiß der Kaffee. Jedenfalls, du meine Beste, wirst den Ermittler begleiten“, sagte sie. Babysitter. Das war es also. Melanie meinte fast das KK einen Scherz machte. Aber KK lachte nicht. Ein Anfall von hysterischem Lachen bahnte sich seinen Weg von Melanies innerem nach außen. Bevor es jedoch so weit kommen konnte kam KK ihr zu vor. „Also dann“ sagte KK, „darf ich vorstellen: Melanie von Wehren, das ist“, Melanie erschrak als sie den Europolermittler sah „Thore“, sagte sie und lies ihren Kaffee fallen.
„Ihr kennt euch. Das ist doch super. Dann auf gute Zusammenarbeit“, sagte KK und nahm noch einen Schluck Kaffee. Thore stand reflexartig auf als er Melanie sah und ging auf sie zu. „Ich, ich wusste nicht, dass du hier bist, dass ich auf dich warte“, sagte er etwas unbeholfen, wie KK fand. „Da ihr beiden euch kennt möchte ich euch ungern aufhalten, aber auch der Kaffee wäscht sich leider nicht von allein aus meiner Auslegware hier im Büro“, unterbrach KK die entstandene Situation, welche ihrer Meinung nach stark auf ein peinliches Schweigen hinauslief. KK sah beide an. „Woher kennt ihr euch eigentlich“ fing sie an. „Obwohl, so genau möchte ich es auch wieder nicht wissen“, fuhr sie fort, legte beiden jeweils eine Hand auf die Schulter und drückte sie in Richtung Ausgang. „Mein Auto steht unten“, sagte Melanie, drehte sich um und ging. „Warte“, rief Thore und rannte ihr hinterher.
2
Mia Olsen stand vor dem Eingang in das Redaktionsgebäude und rauchte ihre dritte Zigarette am Stück. Sie dachte an das Telefonat mit dem ehemaligen Staatsanwalt Jensen. Gut lief das nicht. Er wurde laut und legte auf. Dann kam ihr ihre erste Berührung mit dem Johansson Fall in den Sinn. Vor über zwanzig Jahren. Sie war damals noch Praktikantin bei Solskjaer. Mia erinnerte sich auch noch daran, dass die Eltern von dem Mädchen damals in der Redaktion waren und dass es diese Kekse gab, welche die Frau von Solskjaer gebacken hatte. Von einer Kette wurde auch gesprochen und Solskjaer hatte fest versprochen das mit in dem Beitrag unterzubringen. Was er aber vergessen hatte. Sie musste lachen. Und dann der Artikel, welchen sie, und nur sie veröffentlicht hatte. Er hätte ihr Bewerbungsschreiben auf Solskjaers freien Posten werden sollen. Er war nicht mehr tragbar und Mia sah ihre Chance. Im Nachhinein und mit dem Abstand von über zwanzig Jahren betrachtet, war sie vielleicht etwas zu offensiv gewesen. Ihr Instinkt hatte ihr gesagt, dass da noch was kommt in dem Fall. Und so ist es nun ja auch gekommen. Nur diese Sache mit Ola, das passte ihr ganz und gar nicht. Was hatte sich Ragnar nur dabei gedacht sie mit Ola „dem Jungspund“, welcher ihr Sohn hätte sein können, und welcher noch keine fünf Wochen hier arbeitete auf diesen alten Fall anzusetzen. Zwanzig Jahre war diese, wie hieß sie noch gleich, Charlotte oder so nun schon tot. Und ausgerechnet sie, die schon zweimal bei der Besetzung des Chefredakteurs übergangen war, sollte sich nun damit befassen. Ragnar wollte den Fall zum „Jubiläum“ wie er es nannte noch einmal auf Sendung bringen. Mia schüttelte den Kopf. „Du sollst Ola langsam heranführen, ihn in die Geheimnisse unserer Arbeit einweihen“, hatte Ragnar zu ihr gesagt. Jeder Protest ihrerseits wurde abgeschmettert. Mia drückte ihre Zigarette aus und steckte sich eine vierte an.
Was schiefgelaufen ist, dachte sie, das wäre ein guter Titel für ihre Biografie, wenn sie denn jemals eine schreiben sollte. Sie dachte an Christian.
Es war der vierundzwanzigste Juli. In genau einer Woche wäre ihre zweite Scheidung ein Jahr her. Christian, ihr zweiter Exmann lebte jetzt in Oslo. Mit Manghild. Einer dreiundzwanzigjährigen Medizinstudentin. Wie oft hatte sie ihn dafür verflucht. Acht Jahre waren sie ein Paar. Sechs davon verheiratet. „Du bist zu kompliziert, Mia, ich weis manchmal nicht was du willst“, waren seine letzten Worte als er mit gepackten Koffern vor ihr stand. Und Manghild auf ihn wartete.
„Mia?“, holte eine Stimme sie zurück in die Realität. „Ja?“. Es war Ola der neben ihr stand. Ola war unfähig ruhig zu stehen. Eine Hand in der Hosentasche und die andere Hand wischte über sein Hosenbein den Schweiß von seiner Hand. Khakihose und Hemd. Früher hätten wir dich verprügelt, dachte Mia. „Was willst du?“, fragte sie und stieß eine Qualmwolke in seine Richtung. „Ich, ich also ich wollte fragen, wo wir anfangen wollen. Zeugenaussagen. Oder die Akten durchgehen, oder fahren wir noch mal zum Tatort“, stammelte er. Mia sah ihn an. Eine Strähne ihrer braunen Haare wurde vom Wind in ihr Gesicht geweht. „Wir fangen am Anfang an. Immer am Anfang“, sagte sie und zog an ihrer Zigarette. „Gut, ich warte dann oben auf dich“, sagte er und ging. Woher hatte Ragnar nur die Akte her, dachte sie als sie sich von Ola wegdrehte. Verprügelt dachte sie. Wir hätten dich nach Strich und Faden verprügelt. Sie nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette und drückte sie aus.
3
Melanie öffnete die Fahrertür ihres Autos. „Mel, warte“, rief Thore und kam zum Auto gerannt. Er legte beide Hände auf das Autodach. „Können wir reden?“, fragte er. „Einsteigen“ sagte sie und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
Melanie lag in ihrem Bett, nahm einen kräftigen Zug von der Zigarette und lies den Qualm ganz langsam aus ihrer Nase ausfahren. Dann reichte sie sie zum ihm. „Warum hast du dich nicht gemeldet“, fragte sie ihn. Er nahm die Zigarette mit seiner linken Hand und zog ebenfalls daran. „Als du weg warst“, sagte er und stieß den Rauch aus, „Mel, das Leben, du weist wie das bei uns ist. Manchmal passiert nichts und dann kommt alles auf einmal. Und ich hatte dann Angst mich bei dir zu melden, ich war unsicher. Ich hatte die Befürchtung du könntest mich ablehnen, eben weil ich mich so lange nicht gemeldet habe.“ Er reichte ihr die Zigarette und sie nahm sie mit ihrer rechten Hand. Sie drehte ihren Kopf zu ihm. Jetzt konnte er jedes einzelne ihrer schwarzen Haare auf seiner Brust wahrnehmen. „Quatsch“ sagte sie und blies ihm Qualm ins Gesicht. Reichte ihm die halb aufgerauchte Zigarette und beugte sich über ihn, um ihn zu küssen. Thore drückte die Zigarette aus und umarmte Melanie mit beiden Armen. „Der Fall“, versuchte er zu sagen. „Der kann noch warten, der läuft nicht weg“, sagte sie, ohne ihre Lippen von seinen zu lösen. „Außerdem“, sagte er und versuchte sich kurz von ihr zu lösen. „Außerdem was?“, fragte Melanie nach und setzte sich auf sein Becken. „Außerdem sitzen mir ein paar Journalisten im Nacken. Die wollen den Fall im TV bringen. Jubiläumssendung oder so. Zum zwanzigsten Jahrestag. Sie haben selbst ein Team zusammengestellt und wollen so viel wie möglich in Erfahrung bringen. Wir dürfen nicht wie Amateure aussehen“, sagte er. Melanie sah ihn an. „Daran denkst du? Jetzt? Im ernst? Ob ein paar Journalisten euch wie Amateure aussehen lassen?“, sagte sie und sah für den Bruchteil einer Sekunde an sich hinunter zu der Stelle, wo sich beide trafen. Wenn Melanie Wut in sich aufkommen spürte wurden ihre blauen Augen glasklar und ihr Blick alles durchdringend. Thore hob beide Hände nur um sie im nächsten Moment hinter ihrem Rücken verschwinden zu lassen. „Nein, was denkst du denn. Ich wollte dir nur erklären warum der Fall so wichtig ist“. Er beugte sich zu ihr hoch und küsste sie. Sie löste sich und drückte ihn zurück auf das Bett. „Gut, denn du bist hier noch nicht fertig“, sagte sie und zog die Bettdecke über ihre beiden Köpfe.
4
Als Mia die Redaktion betrat saß Ola vorbildlich an seinem Schreibtisch und machte sich gelegentlich Notizen von etwas was er auf dem Bildschirm entdeckt hatte. Freak, dachte Mia. Allein dafür konnte sie ihn nicht leiden. Sie wusste praktisch nichts über ihn. Nicht einmal seinen Nachnamen. Und genaugenommen wollte sie diesen auch nicht wissen. Als er sie erblickte sprang er von seinem Stuhl auf. „Mia, schön, dass du da bist“, sagte er. „Wo soll ich sonst sein“, hatte sie geantwortet. Sichtlich überfordert von der Antwort senkte er seinen Kopf und rieb mit seiner linken Hand wieder an seinem Hosenbein entlang. „Naja, ich habe gedacht, da wir ja die Akten zur Verfügung gestellt bekommen haben, dass wir einmal mit den damaligen Zeugen reden sollten. Vielleicht hatten sie damals etwas vergessen. Ich habe sie mit ihrer jetzigen Anschrift schon einmal herausgesucht“, sagte er. Das hatte er sich also notiert, dachte Mia. „Ich will mir selbst erst einmal einen Überblick verschaffen über alles. Wenn du dich nützlich machen willst, hol mir einen Kaffee“, sagte sie, nahm den Aktenstapel von seinem Tisch und ging zu ihrem Schreibtisch. „Außerdem ist es nur eine Kopie. Eine Kopie einer Akte, die in einem Archiv verschimmelt“, fügte sie dem gesagten hinzu. „Gut, dann, der Kaffee schwarz oder weiß“, fragte Ola und versuchte seine Unsicherheit mit einem Lächeln zu überspielen. Mia sah auf. „Schwarz. Einfach nur schwarz. Ohne Milch. Ohne Zucker. Ohne Soja. Ohne Zimt. Ohne was weis ich noch alles. Einfach einen schwarzen Kaffee. Bekommst du das hin?“, fragte sie und zog ihre rechte Augenbraue hoch.
Ragnar hatte die Situation von seinem Büro aus beobachtet und stellte sich vor seine geöffnete Tür. „Mia, ich müsste kurz mit dir reden“, hallte es durch den Raum. Mia sah auf. „Das muss ein Alptraum sein“, sagte sie zu sich selbst. Als sie aufstand kam Ola mit dem Kaffee zurück und sie stießen beide zusammen. Der Kaffee ergoss sich über Mia´s Oberteil. „Pass doch auf der ist heiß“, schrie sie ihn an. „´tschuldigung. ´tschuldigung. Ich mach das weg“, sagte er und lief rot an. „Lass mich ja in Ruhe“, sagte sie und nahm ihre Tasche. Ein Alptraum, dachte sie im Gehen, ein absoluter Alptraum.
5
Nachdem Melanie und Thore ihr Büro verlassen hatten räumte Katrin Kubin den verschütteten Kaffee weg und kontrollierte ihre zu führenden Fälle vor Gericht über das Online Portal der Justiz. Es war genau zwei Fälle gewesen, die ihr zugeteilt worden waren. Drogenbesitz in einem minderschweren Fall und Urkundenfälschung. Beide forderten sie nicht besonders heraus. Sie schaltete den PC aus und drehte sich mit ihrem Stuhl in Richtung Fenster. Ihre Karriere hatte vielversprechend begonnen. Jurastudium. Und danach eine Anstellung bei der Staatsanwaltschaft. Erst zuarbeiten dann die ersten kleinen Fälle. Sie war gut in dem was sie tat. Brachte Autoschieber zu Fall und sorgte dafür, dass ein Frauenschläger das Sonnenlicht so schnell nicht mehr ohne vertikalen Filter zu sehen bekam.
Aber der vierte September zweitausendzehn änderte alles. Ein Samstag. Es war der Tag, an dem sie mit ihrer Schwester einen furchtbaren Streit hatte. Anne. Und wieder ging es um Geld. Wie fast immer. Anne litt an chronischem Geldmangel und bat sie um zwanzig Euro. „Nur zwanzig Euro Kathrin, bitte“, waren ihre Worte gewesen. Aber sie gab ihr nichts. Dann wurde es lauter und endete mit einem Türknall. Sie sah Anne erst in der Notaufnahme wieder. Sie war in einer Linkskurve von der Straße abgekommen und hatte sich überschlagen. Anne, so sagte man ihr hatte mehr als zwei Promille im Blut. Ein Schädelhirntrauma der Stufe zwei und mehrere Knochenbrüche. Selbst wenn sie überlebt hätte, so sagten ihr die Ärzte später, wäre sie wohl für den Rest ihres Lebens ein Pflegefall geblieben. Du kannst mich mal waren ihre letzten Worte zu Anne. Wie oft hatte sie diesen Satz bereut. Anne lag friedlich da, als sie sich von ihr verabschiedete. Als würde sie schlafen. Nur wachte sie nicht mehr auf. Nie mehr. Die Beerdigung war an einem Freitag. Es hatte seit drei Tagen geregnet und auch an diesem Freitag gab es keine Pause. Viele waren nicht anwesend. Nur sie und drei Freunde, die sie vom sehen her kannte waren da. Keine Verwandten. Wie auch, dachte Katrin, Miami ist weit weg. Am Grab konnte Katrin ihre Gefühle nicht mehr länger zurückhalten. Es überkam sie ein starker Weinkrampf so dass sie zusammenbrach. Sie kniete in der aufgeweichten nassen Erde und weinte. Die Kälte des Bodens drang über ihre Knie in sie ein, aber es war ihr egal. Und ihren Tränen auch. Sie weinte und schrie bis sie keine Kraft mehr zum Weinen und Schreien hatte.
Zu Hause zog sie die dreckigen Sachen aus. Duschte und legte sich zusammengezogen in ihr Bett. Das letzte an was sie dachte als sie einschlief war die Schuld, die sich auf sich geladen hatte. Zwanzig Euro. Du kannst mich mal. Sie hasste sich selbst am aller meisten.
Ihr Mobiltelefon holte sie in die Gegenwart zurück. Melanie hatte ihr geschrieben. Arbeiten am Fall und der Völkerverständigung dazu ein zwinkernder Smily. Sie steckte das Mobiltelefon in ihre Handtasche und sah auf die Uhr. Seit dem Melanie und der Norweger ihr Büro verlassen hatten waren drei Stunden vergangen. Sie musste raus. Sonst würde sie den Verstand verlieren. Sie wusste wohin sie wollte auch wenn sich ihr Gewissen meldete. Sie schaltete den Computer aus. Stand auf und ging.
6
Melanie hielt eine Tasse Kaffee in beiden Händen und trat an den Küchentisch an welchem Thore saß und die Akte durchging. Er war so vertieft darin das er sie gar nicht wahrnahm. Sie blieb kurz vor dem Tisch stehen und betrachtete ihn. Sein dunkelblondes kurzes Haar. Seine graublauen Augen. Sein Drei-Tage-Bart. Melanie wusste genau warum sie sich damals in Oslo in ihn verliebt hatte. Vor zwölf oder dreizehn Wochen, an diesem warmen Julitag. Damals im Kampen Park. Sie hatte auf einer Bank gesessen und die Sonne mit geschlossenen Augen genossen. „Die Wärme der Sonne hier in Oslo ist intensiver als wo anders“, hatte er gesagt und sich ungefragt zu ihr gesetzt. „Was?“, hatte sie gefragt. „Die Sonne und ihre Wärme. Sie ist hier anders. Intensiver“, hatte er wiederholt und einen Schluck Kaffee aus einem Pappbecher genommen. Für einen Moment hatte sie nicht gewusst was sie antworten sollte. Und alles was ihr einfiel war „Aha“. Aber seit diesem Tag war sie ihm verfallen.
Sie ging auf ihn zu. „Hey, hast du was gefunden?“, fragte sie und stellte ihre Kaffeetasse auf den Tisch. „Es ist kompliziert“, antwortete er löste seinen Blick vom Tisch und sah sie an. Melanie trug nur einen schwarzen Hoodie. Sie trat nah an ihn heran und er legte seinen Kopf auf ihren Bauch und seine Hände um ihre Taille. Langsam fuhr er unter ihren Hoodie und stellte fest, dass sie keine Unterwäsche trug. Er löste sich von ihrem Bauch und sah sie an. „Ich bin verrückt nach dir“, sagte sie.
„Weist du, die Kollegen haben damals alles überprüft. Alles. Steht alles in der Akte, aber nichts. Wir denken, es war ein Deutscher“, sagte er, zündete sich eine Zigarette an zog daran und gab sie an Melanie weiter. Melanie lag auf seiner Schulter und hatte ihren linken Arm auf seiner Brust. Sie nahm die Zigarette, zog daran und stieß den Qualm aus. „Aber Deutschland ist groß“, sagte sie und reichte sie Thore zurück. „Nicht, wenn man weis, wo man suchen soll“, sagte er. Er hielt in seiner rechten Hand die Zigarette und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. Es roch nach Kiwi und einer Spur von Orange. Er war mindestens genauso verrückt nach ihr wie sie nach ihm, daran bestand für ihn kein Zweifel. „Wie meinst du das?“, fragte sie. Thore nahm einen Zug und hielt kurz die Luft an. Langsam und gleichmäßig ließ er den Qualm aus seinem Mund entweichen. „Komm mit, ich will es dir zeigen“, sagte er drückte die Zigarette aus und versuchte aufzustehen. „Kannst du es mir nicht einfach sagen?“, fragte sie und sah ihn an. Es waren ihren Augen. Ihre blauen Augen. Klar und rein. „Nein, leider nicht, ich muss es dir zeigen“, sagte er und stand auf. Melanie vergrub ihr Gesicht im Kopfkissen. „Du bist gemein“, sagte sie.
„Charlotte Johansson. Ermordet 1996“, sagte er atmete ein und schüttelte leicht seinen Kopf. Sie saßen beide an ihrem Küchentisch. „Hans Jensen war damals der ermittelnde Staatsanwalt. Es gab eine Soko. Sechzig Mann. Zehntausend Dokumente wurden insgesamt erstellt. Vier- bis fünftausend Personen wurde befragt. Zigtausend Bilder ausgewertet. Aber am Ende hatten sie nichts. Für die Medien ein gefundenes Fressen. Mia Olsen, sag ich nur. Der Fall wurde zu den Akten gelegt. Cold Case“, fuhr er fort. „Und nun habt ihr neue Ansätze“, unterbrach Melanie ihn. Er richtete sich auf und lehnte sich zurück. „Wir müssen dem Nachgehen“, sagte er. „Und was genau müsst ihr nachgehen?“, fragte sie, etwas ungeduldig. Sie hasste es, wenn sie ihrem Gegenüber alles aus der Nase ziehen musste. Thore blätterte in der Akte, bis er die Zeugenaussage von Charlottes Mutter gefunden hatte. „Hier, das ist ein Punkt“, sagte er und reichte ihr das Blatt rüber. „Zum anderen, konnten wir eine Analyse eines beim Opfer gefundenen Zahnes durchführen. Und das Ergebnis besagt, dass er hier aus der Region stammt. Das ist der Ansatz, den wir haben. Dem müssen wir nachgehen“, sagte er. „Thore ich spreche kein norwegisch“, sagte sie und gab ihm das Blatt zurück. „Charlotte trug eine Kette bei sich. Die Mutter hatte zu Protokoll gegeben, das sie zu ihrem achtzehnten Geburtstag eine geschenkt bekommen hatte. Beim Auffinden war diese Kette jedoch nicht mehr da. Die Kollegen von damals haben alles abgesucht. Sie war nicht zu finden. Wir glauben, dass es ein Souvenir für ihn ist und er sie mitgenommen hat“, sagte er. „Das ist sehr dünn“, sagte sie. „Ich weis. Wir haben aber noch diese Zahnanalyse, von der ich gesprochen habe“, sagte er und holte das Protokoll heraus. „Daraus geht hervor, dass der ehemalige Besitzer des Zahnes, aus der Region stammt. Wenn wir den finden und dann noch die Kette bei ihm, dann haben wir ihn“, sagte er und sah sie an. „Und wie möchtest du den Zahnbesitzer finden?“, fragte sie. „Ich dachte einen Massengentest. Es geht hier um Mord“, antwortet er. „Selbst ein naher Verwandter wäre schon gut“, ergänzte er. Melanie von Wehren sah ihn an. „Thore, ich glaube das wird nicht so einfach. Es ist ein Cold Case. Wir bekommen keine Genehmigung auf Grund eines Zahnes und einer Kette. Und für Verwandtschaftsverhältnisse gleich gar nicht. Wir brauchen einen hinreichenden Verdacht. Was, wenn derjenige nicht mehr lebt, oder weggezogen ist, ganz wo anders hin. In die USA oder Australien? Was dann?“, fragte sie ihn. Für ein paar Sekunden war es still zwischen ihnen, dann meldete ihr Mobiltelefon den Eingang einer Nachricht. Unbekannte Nummer. Sie öffnete die Nachricht. Träumst du davon. „Melanie, ist alles in Ordnung?“, fragte er. Sie reagierte nicht. „Melanie, du siehst so weis aus? Ist alles gut bei dir?“, fragte er nach. Sie reagierte nicht. Stand auf. Ging ins Bad und übergab sich. Melanies Alptraum wurde real.
Nachdem Melanie ihren Mageninhalt der Toilette übergeben hatte, setzte sie Wasser auf. Während das Wasser sich in dem dafür vorgesehenen Kocher erhitzte holte sie aus ihrem Küchenschrank einen Magenberuhigungstee. „Ich hoffe das ist nicht ansteckend“, sagte Thore und schloss sie mit seinen Armen von hinten. Sie legte ihren Kopf auf seine linke Schulter und er küssten ihre rechte Halsseite. „Nein, das ist nicht ansteckend“, sagte sie. „Hast du einen Test gemacht?“, fragte er. Sie wand sich aus seiner Umarmung und sah ihn an. Das Wasser im Kocher hatte die für die Teezubereitung erforderliche Temperatur erreicht und signalisierte dies durch das automatische Ausschalten des Kochers mit einem Klack. „Nein, denn ich bin nicht schwanger. Mir war nur etwas auf den Magen geschlagen“, sagte sie, und dachte das sie noch sehr untertrieben war angesichts der erhaltenden Nachricht. Er hob abwehrend die Hände. „Alles gut“, sagte er und setzte sich zurück an den Küchentisch. Melanie tat den Teebeutel in eine Tasse, schüttete das kochende Wasser darüber und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. „Und?“, frage er. Der Geruch von Arznei, welcher von dem Tee aufstieg, kam in ihre Nase. „Du verrennst dich“, sagte sie. Er sah sie an. „Du verrennst dich, glaub mir“, legte sie nach. Noch immer sagte er nichts. „Mel, hast du mir nicht zugehört?“, versuchte er zu antworten. „Doch“, sagte sie und nahm ein Schluck vom Tee. Ihr Magen brannte und sie hoffte, dass er durch den Tee eine gewisse Beruhigung erfahren würde. „KK wird das nicht unterschreiben, es ist, wie gesagt, zu dünn“, antwortete sie und irgendwo in ihrem Hinterkopf kam der Alptraum von letzter Nacht wieder hoch. „Was will man denn noch Mel? Das ist alles. Du hast es doch gesehen“, sagte er und zeigte auf die vor ihm liegenden Dokumente. Melanie nahm den Teebeutel aus der Tasse, und drückte ihn aus. Vielleicht schmeckt der Tee mit etwas Honig besser, dachte sie und legte den ausgedrückten Teebeutel beiseite. Hatte sie überhaupt Honig daheim? Sie setzte die Tasse an und trank einen weiteren Schluck ohne ihn aus den Augen zu lassen. Er sah sie an und schüttelte leicht seinen Kopf. Sie stellte die Tasse ab und räusperte sich. „Wenn ihr Genmaterial unter den Fingern“, setzte sie an, doch er unterbrach sie. „Haben wir aber nicht, Mel, wir haben nichts weiter. Nur das“, unterbrach er sie. Seine laute Stimme durchfuhr sie und ihr Magen krampfte sich zusammen. „Es tut mir leid“, sagte sie. Er stand auf und sah aus dem Fenster. Träumst du davon ging es ihr durch den Kopf und die Übelkeit in ihrem Magen brach wieder hervor und suchte sich ihren Ausweg. „Oh Gott“, sagte Melanie und sprang auf. „Langweile ich dich?“, fragte er und drehte sich zu ihr während sie an ihm vorbei erneut zur Toilette rannte. „Mel es tut mir leid, was hast du?“, fragte er, doch sie hatte die Tür geschlossen und er hörte wie erneut zu würgen begann.
Nachdem sie sich zu Ende übergeben hatte und nichts als Magen Tee aus ihr herauskam setzte sie sich zurück an den Tisch. „Melanie meinst du nicht du solltest vielleicht“, setzt er an, doch sie würgte es mit einer Handbewegung ab. „Nein, das denke ich nicht“, sagte sie. Beide sahen sich an. „Du glaubst nicht an den Gentest, oder?“, holte er das Thema erneut hervor. „Nein, aber du kannst dein Glück gern versuchen“, sagte sie.
Laborbericht Zahnanalyse
Die Person, welcher der Zahn zugeordnet wird, ist auf Grund mitochondrialer DNS Europäer. H24. Die Isotopenanalyse hat ergeben, dass die Person in Deutschland aufgewachsen ist, dann jedoch eine geraume Zeit in Norwegen gelebt haben muss. In Deutschland kann das infrage kommende Gebiet um die Städte Bautzen bis Hoyerswerda, Kamenz eingegrenzt werden. Die norwegischen Aufenthaltsorte sind vage. Von Oslo bis Trondheim. Der Person kann ein ungefähres Alter von Ende zwanzig bis Mitte dreißig zu geordnet werden.
„Und? Was sagst du dazu?“, hatte er sie gefragt. Seit dieser Frage waren knapp fünf Sekunden vergangen und Melanie von Wehren suchte immer noch nach einer passenden Antwort. Diplomatisch, aber skeptisch. „Das ist alles sehr vage, wenn du es genau wissen willst“, war ihre Antwort. Nicht die beste, wie sie selbst zu geben musste. In Anbetracht der Umstände jedoch die diplomatischste. „Wieso?“, frage er. „Weil ihr, Thore, ihr braucht eine Vergleichsprobe. Das hier“, sagte sie und hielt die Zahnanalyse hoch, welche er ihr gerade vorgelesen hatte, „dass hier ist im günstigsten Fall Kaffeesatzleserei. Und das wird dir KK bestätigen. Das kannst du anwenden, wenn du nach verschollenen Verwandten suchst oder ähnlichen, aber nicht in einem Mordfall. Gleich gar nicht, wenn er so lange her ist“, fügte sie hinzu. „Was, wenn ihr euch täuscht? Ich weis was alles dran hängt und genau deswegen bin ich so skeptisch.“ Thore stand auf. „Wir haben über dreitausend Personen in siebenunddreißig Ländern befragt. Die SoKo damals war die größte in der Geschichte Norwegens. Fünfzehntausend Urlaubsfotos. Nichts. Kleinste DNS Spuren, aber die konnten damals nicht analysiert werden. Wir haben sie in Auftrag gegeben als sich der Mord zwanzig Jahre her war. Wir haben nur diese Zahnanalyse“, sagte er. „Habt ihr mal das mit den Besucherlisten in den Hotels von damals abgeglichen?“, warf sie ein. Er sah sie unglaubwürdig an. „Mel, die sind alle vernichtet. Und niemand hat die damals gesichert. Wir dachten wir finden ihn. Aber da hatten sich alle getäuscht. Mehr als das, haben wir nicht“, sagte er und zeigt auf die Akte. Er schüttelte den Kopf. „Charlotte musss sich gewehrt haben. Es muss zu einem Kampf gekommen sein. Wenn auch nur zu einem kurzem. Dabei muss er den Zahn verloren haben. Vielleicht hat er ihn gesucht. Aber nicht gefunden“, sagte er und holte eine Zigarette heraus Er zündete sie an zog daran und stieß den Rauch aus. „Wir sind es ihr schuldig“, fügte er hinzu und reichte ihr die Zigarette. Melanie nahm die Zigarette und sah ihn an. Natürlich verstand sie was er meinte. Sie war jedoch noch immer davon überzeugt das er sich verrannte. Sie zog an der Zigarette. „Und wie willst du KK davon überzeugen?“ fragte sie und nahm noch einen Zug und reichte sie ihm zurück. Er nahm die Zigarette und zog daran. „Mit dem was wir haben, das muss reichen“, sagte er. Melanie sah das er davon überzeugt war und sich nicht davon abbringen lassen würde. Er drückte die Zigarette aus und sah sie an. „Ich glaube ich brauch erst einmal eine Dusche“, sagte er.
„Ich muss mit Per reden“, sagte er, als er nur mit einem Badehandtuch aus dem Bad trat. Melanie sagte nichts, sie sah ihn nur an. Sie trat an ihn heran und küsste ihn. „Im Wohnzimmer ist der Laptop“, sagte sie lächelte, drehte sich um und ging in die Küche.
7
Videokonferenz zwischen HK Hattestad und Europol
„Hey Per, kannst du mich hören?“, rief Thore in das Mikrophon des Headsets welches Melanie ihm gegeben hatte. Nach dem Gespräch mit Melanie wollte er sich mit seinen Kollegen kurzschließen. „Laut und deutlich“ antwortete dieser und winkte in die Kamera während Johann Erikson das Büro mit einem Teller Essen betrat. „Hey, warte auf mich. Ich will auch mit ihm reden“, sagte er und stellte hastig seinen Teller ab und ging zu Per Isakson. „Wie kommst du voran?“, fragte Per Thore. „Nicht so gut. Ich bekomme keine Genehmigung für einen Gentest“, sagte er und drehte den Bildschirm ein Stück nach links, sodass die Kamera, welche auf ihm befestigt war, ihn zentraler erfassen konnte. Er wollte nicht, dass sie sehen, wie es bei ihr aussieht. Auch wenn er ihnen vertraute, ihnen sogar im Ernstfall sogar sein Leben anvertraute; Melanie war privat. So gut es eben ging in der Situation. „Und nun?“, fragte Per Isakson, während sich Johann Hendrikson einen Stuhl nahm und sich neben ihn setzte und die Kamera so einstellte das Thore ihn auch sehen konnte. „Der Staatsanwaltschaft hier reichen die Informationen nicht aus. Der Zahn könnte auch zufällig dort gelegen haben, und wir könnten einen Unschuldigen verdächtigen“, fuhr Thore fort. „Das ist Blödsinn“, meldete sich Hendrikson zu Wort. Thore lehnte sich zurück und fuhr mit seiner linken Hand über seinen Mund. Melanie schob eine Tasse Kaffee zu ihm rüber. Er sah kurz zu ihr und bedanke sich. „Wer war das?“, wollte Per Isakson wissen. „Bist du nicht im Hotel?“, fügte Hendrikson hinzu. Thore ignorierte die Kommentare. „Wir haben ja auch noch ein Bild von der Kette. Wir werden einen Antiquitätenhändler aufsuchen. Wenn er die Kette versetzt hat, dann nicht einfach so. Dann hätten wir vielleicht einen weiteren Punkt, der zu unseren Gunsten spricht was den Gentest betrifft“, sagte Thore. „Und wenn die Aussage der Mutter stimmt dann war die Kette wertvoll und das erregt doch Aufmerksamkeit“, fügte Isakson hinzu. Alle drei sahen sich über den Videochat an. „Thore, wer hat dir die Tasse zu geschoben. Du hast uns noch keine Antwort gegeben“, fing Johann Hendrikson erneut mit dem Thema an. „Bis später“, sagte Thore und beendete das Gespräch noch bevor Widerstand auf der anderen Seite in Norwegen aufkommen konnte. Er lehnte sich zurück. Melanie sah ihn an und nahm einen Schluck aus seiner Tasse. „Du willst nach der Kette suchen? Das ist wie die Nadel im Heuhaufen“, sagte sie. Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. „Hast du einen besseren Vorschlag?“, gab er zurück. Melanie schwieg. Melanie stellte die Tasse Kaffee zurück auf den Tisch. „Also gut, ich weis wo es einen gibt“, sagte sie und stand auf.
Melanie stellte ihr Auto auf einem, der zwei vorhandenen Parkplätze ab. „Und hier soll das sein?“, fragte Thore und blickte skeptisch nach draußen. „Ja, was hast du erwartet?“, antwortete sie. Er sah sie an und zog seine rechte Augenbraue hoch. Melanie musste schmunzeln. „Komm, so schlimm ist es nicht“, sagte sie und stieg aus. Der Laden hatte nur ein kleines Schaufenster in welchem sich alte Bilder und Prozelanpuppen tummelten. „Mel ich glaube nicht“, sagte er, doch sie nahm seine Hand und ging durch die Tür. Eine Glocke, welche ein läutendes Geräusch abgibt, wenn diese durch die Tür betätigt wird zeigte an, dass jemand den Laden betrat. Das Innere des Ladens sah genauso aus wie das Schaufenster nur das es noch stärker überladen wirkte. Bücher. Alte Spiele. Schallplatten und Schmuck. „Guten Tag, ich bin gleich bei Ihnen“, fragte eine männliche Stimme aus einem mit einem Vorhang abgehtrennten Bereich. „Wir also“, setzte Melanie an, doch sie wurde unterbrochen. „Warten Sie, Ich komme zu Ihnen, sagte die Stimme und der Vorhang bewegte sich. Zum Vorschein kam ein Mann. Sie schätzte ihn auf Mitte vierzig. Mit schwarzen kurzen Haaren und Vollbart. Für einen Moment verschlug es ihr die Sprache. Alle drei sahen sich an. „Also, was kann ich für Sie tun?“, wiederholte der Vollbart seine Frage. „Wir sind auf der Suche nach einer bestimmten Kette“, sagte Melanie und Thore holte ein Foto von Charlottes Kette aus seiner Jackentasche hervor. „Diese“, sagte er. „Haben Sie diese schon einmal gesehen?“, fragte Melanie. Er nahm das Bild und sah es sich an. „Die ist sehr eigen vom Äußeren her. Könnte ein Unikat sein. Warum fragen Sie nach der Kette?“, wollte er wissen und gab das Bild zurück. „Wir sind einfach Schmuckbegeistert“, antwortete Melanie. „Verstehe“, sagte er. Er wandte sich seinem Computer zu, welcher vor ihm auf dem Verkaufstisch stand und gab ein paar Daten ein. Er drehte den Bildschirm zu Melanie. „Hier“, sagte er und zeige auf einen Datensatz. „Ein Kollege von mir wurde vor Jahren so eine Kette angeboten. Er fand das aber eine Spur zu heiß und lehnte ab. Er machte aber einen Vermerk damals. Wir haben so ein Netzwerk, eine Art Intranet unter Kollegen, da tauschen wir uns aus. Und er hatte dies einmal Online gestellt. Mehr gibt es dazu nicht“, sagte er. „Und Sie haben das so schnell gefunden, weil?“, hackte Thore nach. „Weil ich weis, wonach ich suchen muss“, gab der Vollbart als Antwort zurück. „Wo wurde Ihrem Kollegen das damals angeboten?“, wollte Melanie noch wissen. „In Norwegen. In Oslo. Steht alles da“, bekam sie als Antwort. Thore und Melanie sahen sich an. „Danke“, sagte sie und beide verabschiedeten sich.
Im Auto sagen beide kein Wort. „Wir sollten heimfahren. Es ist spät. Ich habe Hunger. Ich koche uns was. Was hältst du davon?“, sagte Melanie, um vom Thema abzulenken. Thore nickte. „Gute Idee.“ Melanie startete den Wagen. „Du fandest ihn attraktiv, oder?“, sagte Thore nach einer Weile des Fahrens. Das kam überraschend für sie. „Was? Was? Nein. Da interpretierst du was rein“, versuchte sie sich herauszureden. „Du wirst rot“, sagte er. „Vielleicht sollte ich mir auch so einen Bart wachsen lassen“, fügte er hinzu, klappte die Sonnenblende runter und betrachtete sich im Spiegel. Er fuhr sich mit seiner rechten Hand über sein Kinn. „Was hältst du davon?“, fragte er erneut. Melanie schüttelte ihren Kopf. „Gar nichts“, sagte sie und ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Lachen. „Ich mach es, du musst es nur sagen“, meinte er und fuhr sich erneut über sein Kinn. „Ich habe eine große Couch im Wohnzimmer, das weist du doch, oder? Da haben dann du und dein Bart, Verzeihung, du und dein Vollbart genug Platz“, sagte sie und zwinkerte ihm zu.
8
Seit zwanzig Minuten stand sie mit ihrem Auto auf dem Parkplatz. Zwischendurch hatte der Regen eingesetzt und war von wenig Regen zu sehr viel Regen übergegangen. Sie wusste, dass das was sie vorhatte verkehr war. Dass es sie den Job kosten kann. Aber an Tagen, an denen sie an Anne dachte, an Anne erinnert wurde, konnte sie nicht anders. An diesen Tagen musste sie ihre Gefühle betäuben, die innere Unruhe wegschließen. Und der Alkohol war noch immer die schnellste und effektivste Variante gewesen. Nicht, dass sie andere probiert hätte. Yogakurse. Geocashing. Meditation. Joggen und anderes. Nichts half. Selbst wenn es anfangs erfolge gab so waren diese schnell wieder vergangen. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. „Es bringt dich um“, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. „Das ist nur gerecht“, eine andere. Annes Stimme. Sie riss die Augen auf. Sie sah Anne im Rückspiegel für den Bruchteil einer Sekunde. Pfahl und mit schwarzen Augen. Ich muss raus, dachte sie und öffnete die Wagentür. Sie öffnete die Wagentür hielt kurz inne hörte den Regen und stieg aus. Einen Schirm nahm sie nicht. Dort wo sie hin ging achtete man nicht so sehr auf das Aussehen. Hundert Meter gerade aus. Dann links. Und noch einmal fünfzig Meter. Sie öffnete die Tür. Wie oft war sie schon hier? Gezählt hatte sie schon lange nicht mehr.
Wie immer ging sie direkt an den Tresen und setzte sich ganz außen hin. Es war ihr Platz. Sie sah Ringo den Barkeeper an und nickte. Er erwiderte es. Das Nicken bedeutet „ein Bier“. Wieviel sie heute trinken würde war noch nicht sicher. Eins. Dann noch eins und vielleicht noch eins. Und dann noch eins. Dazu einen Vodka und dann noch einen weiteren. Vielleicht.
„Darf ich dir Gesellschaft leisten?“, fragte sie eine Stimme nach dem dritten Vodka aus dem Hintergrund. KK drehte sich nach links, um zu sehen wer die Stimme aus dem Hintergrund ist. „Ist ein freies Land“, antwortete sie. Er rutschte auf den Sitz neben ihr. „Mike“, stelle er sich vor. „Anna“, gab sie zurück. Beide sahen sich an.
Sie schlug mit ihrem Rücken heftig gegen die Wand in seinem Schlafzimmer. Sie zog ihm hastig sein Shirt aus und ließ es auf den Boden fallen. Er riss ihre die Bluse auf und hob sie hoch und ließ sie auf sein Bett fallen. Hastig zogen sie sich ihre Hosen aus. Die Luft im Schlafzimmer war angefüllt mit Schweiß und Alkohol.
Neun Minuten später war alles vorbei und beide lagen nackt und hart atmend nebeneinander im Bett und starrten die Decke an.
9
Mia Olsen hatte das anhaltende Bedürfnis den Wagen samt ihr und Ola mit hoher Geschwindigkeit gegen den nächsten Baum zu steuern. Dann, so war sie der Überzeugung, war es vorbei. Endgültig. Kein Ragnar. Kein Ola. Nur noch Ruhe und Frieden. Auch kein Übergehen bei Beförderungen. Nur noch Ruhe. Das Gespräch in Ragnars Büro war der ausschlaggebende Punkt für ihr Baumbedürfnis. „Reiß dich gefälligst zusammen und mach deinen Job. Ihr fahrt raus zu dem Paar was damals was gehört haben will. Und fühlt ihnen auf den Zahn. Ich will was Neues. Neue Erkenntnisse. Irgendetwas“, hatte er gesagt. „Du hast es nur mir zu verdanken das du überhaupt noch da bist Mia. Überall wird gespart. Und du warst auch auf der List derjenigen, die gehen sollten. Sozial verträglich“, fügte er hinzu. In dem Moment, so erinnerte sie sich jetzt verlor sie die Beherrschung. „Ich habe es dir zu verdanken? Ragnar ist das dein Ernst? Wenn ich dir überhaupt etwas zu verdanken habe, dann doch der Scheiß, den ich jetzt mache. Dieser blöde alte Fall. Der ist doch verflucht. Sondersendung zum zwanzigsten Jahrestag und dann das Babysitten. Also tu hier nicht so als ob ich diejenige wäre die dir zu Dank verpflichtet ist. Und um genau zu sein hast du meinen Job“, sagte sie stand auf und verließ das Büro. Sie konnte von Glück reden, das die Scheibe in der Tür blieb als sie ging.
„Mia, wir fahren jetzt seit über drei Stunden, ohne dass du ein Wort gesagt hast und um ehrlich zu sein ich habe Hunger und müsste auch austreten“, sagte Ola, ohne sie dabei anzusehen.
Ganz Unrecht hatte er nicht, das wusste Mia. Sie hatte nur gesagt das er mitkommen sollte. Aber weder ein Ziel noch eine Zeit genannt. Wozu auch? Am Ende dachte er noch es war auf ihn und seinen Einfall zurückzuführen, dass sie dieses Ehepaar aufsuchen, was Ola ja auch vorgeschlagen hatte. Vielleicht steckten er und Ragnar ja am Ende auch unter einer Decke. Bei dem Gedanken musste sie lachen. Du verlierst den Verstand, sagte eine innere Stimme zu ihr. Vielleicht lag es am leeren Magen, denn Hunger hatte sie selber auch. Das letzte was sie gegessen hatte waren die Reste vom Abendbrot des Vortages. Eine gefüllte Paprikaschote und kalter Reis. Dazu ein Kaffee. Nicht sehr gesund, dachte sie. Aber Mia blieb hart. „Du kannst essen, wenn wir am Ziel sind“, sagte sie und fuhr weiter. Was glaubte er wer er sei, dachte Mia und gleichzeitig meldete sich ihr Magen gut hörbar für Ola.
„Um ehrlich zu sein, weis ich nicht einmal wohin wir fahren Mia. Du hast nur gesagt, dass ich einsteigen soll. Mehr nicht“, sagte er und unternahm einen weiteren Versuch sie zum Anhalten zu bringen. Mia fuhr rechts ran und stellte den Motor ab schloss die Augen und atmete ein. Sie hielt die Luft für ganze dreiundzwanzig Sekunden an. Ola hatte mitgezählt und war beeindruckt. Dann lies sie sie langsam entweichen. Sie öffnete die Augen und sah ihn an. „Wir fahren zu dem finnischen Ehepaar was damals als Zeugen vernommen wurden. Bilde dir nur nichts darauf ein. Ragnar will es so. Außerdem will er Ergebnisse. Etwas Neues. Neue Beweise. Wir müssen mit etwas Brauchbarem heimkommen. Die müssen sich an was erinnern, was sie den Ermittlern damals nicht erzählt haben. Irgendetwas“, sagte sie und drehte sich wieder zur Straße. Sie drehte den Zündschlüssel herum und wollte den Wagen starten. Er sprang nicht an. „Das darf nicht wahr sein“, sagte sie und legte ihren Kopf auf das Lenkrad. Ola holte sein Mobiltelefon aus der Jackentasche. „Ich rufe dann mal den Abschleppdienst an“, sagte er. In zwanzig Sekunden würde er Mia mitteilen, dass er kein Netz habe. Fünf weitere Sekunden später war Mias Überzeugung sich in einem Alptraum zu befinden mehr als gefestigt.
Mia ließ ihre Sachen auf den Boden fallen und stieg in die Duschkabine. Sie hatte Ola vor fünf Stunden in einem unkontrollierten Wutanfall so heftig angeschrien, dass er in Tränen ausgebrochen war. Ihre ganze Wut über das was schiefgelaufen war, das liegengebliebene Auto, das Funkloch, die Nichtbeförderung, ihre Scheidung und der Degradierung zur Babysitterin. Nach ihrem Wutausbruch war es ganz still im Auto. Bis Ola´s Schluchzen die Stille durchbrach und Mia ausstieg. Sie schlug die Tür heftig zu und ging einige hundert Meter. Dann sah sie zurück und zündete sich eine Zigarette an. Rauchte diese und steckte sich die nächste an. Während sie rauchte dachte sie an Ola im Wagen. „Scheiße“, sagte sie drückte die halb aufgerauchte Zigarette mit ihrem rechten Schuh aus und ging zurück zum Wagen. Bevor sie die Tür öffnete atmete sie noch einmal kurz durch und schloss die Augen. Jetzt oder nie, dachte sie, öffnete die Tür und stieg ein. Ola versuchte sein immer noch anhaltendes Schluchzen zu unterdrücken. Mia sah ihn an. Seine Augen waren verquollen und auf seinem Schoß waren mehrere Taschentücher verteilt. „Es tut mir leid. Das war falsch von mir. Du kannst nichts dafür. Es war“, sagte sie und hielt inne. Was war es, dachte sie. „Ola, du warst einfach das Ventil. Und ich konnte mich nicht mehr beherrschen. Es tut mir wirklich leid“, sagte sie. Er nickte, und zog seine Nase hoch. Sah sie aber nicht an. Innerlich verdrehte sie die Augen. Ola war zu schwach für diesen Beruf, da war sie sich sicher. Sie selbst hatte sich schon früh ein dickes Fell zugelegt. Zulegen müssen. Hatte keinen jemals so wirklich an sich herangelassen. Vielleicht war das auch einer der Gründe warum ihre Beziehungen in die Brüche gingen, und andere sie für Gefühlskalt hielten. „Ich, ich bin nicht wie du“, fing er an. Das Schluchzen hatte sich gegeben. „Was meinst du?“, fragte sie. „Na so wie du bist. So kalt“, sagte er und bestätigte damit ihre eben getroffene Selbsteinschätzung. Mia drehte ihren Kopf nach links und sah raus. In der Ferne konnte sie einen Elch wahr nehmen welcher sehr langsam über das freie Feld lief. „Ja“, sagte sie drehte ihren Kopf weg vom langsam laufenden Elch und versuchte den Motor erneut zu starten. Er sprang nicht an. „Verdammt“, entfuhr es ihr und sie schlug mit ihrer linken Hand auf das Lenkrad. „Mag sein, dass du nicht so bist wie ich, noch nicht. Aber wenn du in diesem Geschäft überleben willst, dann musst du dir ein sehr sehr dickes Fell zulegen“, sagte sie. Erneut versuchte sie den Wagen zu starten. Keine Reaktion. Wieder schlug sie auf das Lenkrad ein. „Siehst du Mia, genau das meine ich“, antwortet er. Nächster Versuch. Keine Reaktion. „Ola, wir sind hier im Nirgendwo. Storforshei. Natürlich bin ich angespannt. Was denkst du denn? Einen letzten Versuch unternehme ich nochmal.“ Es klappte. Mia gab Gas, um den Motor am Laufen zu halten. Eins zu null für Mia“, sagte sie und fuhr los.
Drei Stunden fuhr Mia weiter. Sie erreichten den Ort Fauske. „Wir übernachten hier“, sagte Mia. Das „Fauske Hotell“ wurde von ihr angesteuert. Zwei Einzelzimmer waren noch frei.
Jetzt stand sie unter der Dusche und das vierzig Grad heiße Wasser lief über ihren Körper. Wie lange sie da stand wusste sie nicht. Morgen würden sie weiterfahren und das Ehepaar befragen. Vielleicht aber auch nur vielleicht war der Tag nicht umsonst. Sie stieg aus der Duschkabine heraus zog den Bademantel an und lies sich auf das Bett fallen. Dreißig Sekunden später war Mia Olsen eingeschlafen.
10
Tag 8112 der Ermittlungen im Fall Charlotte Johansson
KK sah auf ihre Armbanduhr. Sie zeigte auf fünf Minuten nach um sechs. Seit drei Stunden lag sie wach während er neben ihr schlief. Ständig kreisten ihre Gedanken darum, was sie sich letzte Nacht nur dabei gedacht hatte. Und wie viel sie wirklich getrunken hatte bis sie ihren Hemmungen verlor und mitging. Aber sie konnte sich nicht daran erinnern wieviel es war, selbst unter größter Anstrengung wollte es ihr nicht gelingen. Sie seufzte. Sah nach links. Da schlief er. Ihr One-Night-Stand. Wie hieß er? Peter? Mike? War auch egal. Ihren richtigen Namen hatte sie auch nicht verraten. Sie schlug die Bettdecke von sich und stand auf. Zum Glück waren die Fenster nicht abgedunkelt und so konnte sie sehen wo ihre Sachen im Zimmer verteilt lagen. Sie aufzulesen fühlte sich ein bisschen wie Ostern an, dachte sie. Nachdem sie alles aufgelesen hatte und sich angezogen hatte – möglicherweise wäre auch eine Dusche nicht verkehrt gewesen - verließ sie auf Zehenspitzen die Wohnung. Als sie die Tür zugezogen hatte hielt sie kurz inne. Es war ein One-Night-Stand. Unter massivem Alkoholeinfluss. Nicht mehr, aber auch nicht weniger, dass holte sie sich erneut in ihr Bewusstsein zurück. Und schlimmer als der Sex mit einem völlig unbekannten, - hatten sie eigentlich verhütet?, - war die Tatsache, dass einen Rückfall, einen erheblichen Rückfall bekommen hatte. Wenn das in der übergeordneten Behörde bekannt wird, dachte sie, dann, nein, den Gedanken, was dann mit ihr passiert verwarf sie lieber ganz schnell und konzentrierte sich auf die Arbeit. Melanie und dieser Norweger tauchten bestimmt heute bei ihr auf. Wieder sah sie auf die Uhr. Kurz nach halb sieben. Vor acht wären sie aber bestimmt nicht da. Ihr Auto stand ja in der Nähe der Bar, glaubt sie. Hoffte sie. Wie war sie hier her gekommen sie beschloss es zu holen, dann nach Hause zu fahren und zu duschen. Sie holte ihr Mobiltelefon heraus, um herauszufinden, wie weit sie von ihrem Auto im Moment entfernt war. Zehn Minuten zu Fuß. Machbar, dachte sie. Steckte das Telefon zurück in ihre Tasche und ging los.
Frisch geduscht und neu eingekleidet betrat KK kurz nach acht ihr Büro. Von Melanie und dem Norweger keine Spur. Gut so, dachte sie. Sie war skeptisch was ihn anging. Und dem, was er erzählte. Einen alten Fall lösen. KK wusste das die Chancen das zu schaffen gleich null waren. Zumindest hatte Melanie ihren Spaß, dachte sie. Aber der Fall. Er hatte ihr eine Kopie der Akte zukommen lassen, sie hatte sie sich bis jetzt noch nicht durchgelesen. Hatte sie sofort in ihrem Schreibtisch gelegt. Sie hängte ihre Jacke auf und ging zu ihrem Schreibtisch. Sie öffnete das zweite Schubfach auf der rechten Seite. Da war sie. Die Akte. KK setzte sich. „Charlotte Johansson. Ermordet 1996“. Nein, KK war nicht überzeugt, dass der Fall zu lösen wäre, er war schlicht weg zu alt. Zu kalt. Sie blätterte die Seiten durch. Alles auf Norwegisch. Toll dachte sie. Da blieben nur die Bilder. Ein paar zeigten den Tatort. Andere die Landschaft. Den Fundort und anderes. Ein Foto fiel ihr jedoch zwischen all den anderen auf. Es zeigte eine Kette. KK vermutete, dass diese Kette schon sehr alt war. Die Bildunterschrift konnte sie nicht lesen. Alles norwegisch. Sie holte ihr Mobiltelefon hervor und öffnete die Übersetzungapplication
Laut der Mutter hatte Charlotte diese Kette an ihrem 18. Geburtstag geschenkt bekommen. Beim Auffinden der Leiche war diese Kette nicht mitgefunden. Möglicherweise dient sie als Souvenir.
KK betrachtete sich die Kette genau. „Sehr speziell drei Smaragde in Goldfassung“, sagte sie leise vor sich hin. Sie schaltete ihren Computer ein und meldete sich an. Sie öffnete die Suchmaschine und bekam gleichzeitig ein schlechtes Gewissen. Das haben sie alles geprüft, sagte eine innere Stimme zu ihr. Sicher ist sicher, antwortet sie sich selbst und gab die Beschreibung der Kette, so, wie sie es empfand ein. Natürlich gab es ein paar Treffer. Aber diese Kette war nicht dabei. „Hab ich es nicht gleich gesagt“, kam die Stimme zurück, welche sich jetzt stark nach ihrer toten Schwester anhörte.
In dem Moment ging die Tür auf und Melanie und dieser Norweger – wie hieß er noch gleich? – betraten ihr Büro. Melanie hatte ein für sie ungewohntes Grinsen im Gesicht und KK konnte sich vorstellen woher es stammte. „Morgen KK“, sagte sie und setzte sich ihr gegenüber. „Morgen“, sagte der Norweger. „Morgen“, erwiderte sie den Gruß. „Du schaust dir die Akte an?“, sagte Melanie und nickte in die Richtung. „Äh, ja, nur durchgeblättert, spreche ja kein norwegisch“, wehrte KK ab, klappte die Akte zusammen und legte sie in das Schubfach zurück. „Was gibt es? Habt ihr etwas herausgefunden?“, fragte sie. „Naja, wir sind eigentlich hier um dich um einen Gefallen zu bitten“, fing Melanie an. „Und um was für einen?“, fragte KK. „Einen Massengentest“, antwortete der Norweger. „Einen was?“, fragte KK und glaubte im ersten Moment sich verhört zu haben. „Was Thore meint“, fing Melanie an. Thore, das war also noch mal sein Name, ging es KK durch den Kopf. „Also, was er Thore damit sagen möchte, ist, dass wir auf Grundlage einer Zahnanalyse eine Vergleichsprobe brauchen, um einen eventuellen Täter zu fassen. Den potenziellen Täter“, entschärfte Melanie die Situation. KK lehnte sich zurück. „Das ist nicht euer ernst, oder? Immer diese vielleicht, möglicherweise. Vergesst es. Ohne einen zumindest, einen triftigen oder stichhaltigen Grund, welcher mich überzeugt, ist dies nicht machbar. Melanie, das weist du“, sagte sie. „Aber wir brauchen ihn“, wandte Thore ein. „Glaube ich. Und ich brauche stichhaltige Gründe. Was glaubst du, wie ich das in Dresden erkläre. Beim Justizminister, welcher mich zum Rapport einlädt, wenn ich das durchgehen lasse? Zum Beispiel: Oh tut mir leid, aber ich hatte vielleicht und möglicherweise etwas verdächtiges. Wenn ich damit komme, dann zähle ich Wölfe in Görlitz bis zur Rente, aber das wird nicht passieren, denn vorher hänge ich am Baum.“ Mel und Thore sahen sich an. „KK wir haben wirklich Gründe zur Annahme das“, fing sie an wurde aber jäh unterbrochen. „Das was? Melanie, ich habe das Gefühl, dass du etwas zu stark euphorisiert bist“, sagte sie und machte bei dem Wort euphorisiert mit ihren Händen Anführungszeichen, „und deshalb nicht mehr ganz so klar denken kannst, aber Fakt ist, ohne stichhaltigen Grund, kein Massengentest. Hier werden nicht Leute wahlweise oder auf Grund von Vermutungen unter Generalverdacht gestellt. Habt ihr ein Genprofil, welches ihr vergleichen könnt?“, fragte sie. „Nein, dafür war es zu wenig Material. Aber wir haben ein Zahnprofil, diese Analyse, die sagt, dass der Besitzer aus der Gegend hier stammt“, schaltete sich Thore in das Gespräch mit erhöhter Stimme ein. „Also erstens, werde ich in meinem Büro nicht angeschrien, und zweitens, dass was ihr erzählt, dass kann alles Zufall sein. Habt ihr etwas, dass den Zahn mit dem Opfer in Verbindung bringt. Zum Beispiel Spuren auf ihr?“, fragte KK. „Nein haben wir nicht“, gab Thore von sich. „Melanie, es tut mir leid“, sagte sie. Thore verließ das Büro wütend und schlug die Tür im hinausgehen zu. Melanie atmete tief ein und folgte ihm. Als sie an der Tür war rief ihr KK zu. „Mir sind echt die Hände gebunden und wenn ihr nichts weiter habt, dann …“. Melanie hielt kurz inne, dann drückte sie die Klinke nach unten und ging raus zu Thore.
Email von Katrin.Kubin@staatsanwaltschaft.bautzen.sachsen.de an Info@Europol.eu
Sehr geehrte Damen und Herren,
Sehr geehrte Kollegen,
Herr Hattestad hat mir seine Erkenntnisse im Fall Johansson unterbreitet. Des Weiteren kam in Gesprächen die Fragen nach einem Massengentest auf. Dies kann ich auf Grund der mangelnden Aussicht auf Erfolg und den mangelnden Gründen für die Dringlichkeit nicht genehmigen. Es mag zwar schlüssig klingen aber nicht stichhaltig. Da es also meines Erachtens nach keinem weiteren Grunde für eine erfolgreiche Zusammenarbeit mehr gibt, möchte ich Sie bitten, Herrn Hattestad abzuziehen.
Mit freundlichen Grüßen
Katrin Kubin
Staatsanwaltschaft Bautzen
II
Beide saßen sie am Esstisch. Im Pizzakarton befanden sich nur noch ein paar verbrannte Randstücke einer Salamipizza, welche keiner von beiden mochte, als Thores Mobiltelefon sich meldete und den Eingang einer Kurzmitteilung anzeigte. „Steh auf. Wir müssen los“, sagte er zu ihr. Sie sah ihn entgeistert an. „Hier, lies das“, sagte er und zeigte ihr sein Telefon. „Ich spreche und lese kein norwegisch Thore“, sagte sie etwas genervt. „Scroll runter“, gab er zurück. Und da sah sie die Mail. „Das ist ein Scherz“, sagte sie und stand auf. „Nein. Los wir müssen hin“, sagte er und hatte ihren Autoschlüssel schon parat.
Sie hatte gerade ihre Wohnungstür zugezogen, da meldete sich Melanies Mobiltelefon und zeigte ebenfalls den Eingang einer Kurzmitteilung an. In ihrem Hinterkopf ahnte Melanie um was für eine Art Mitteilung es sich handeln könnte verscheuchte jedoch den Gedanken daran. Sie sah auf das Display. Unbekannte Nummer. In der Nachricht stand nicht viel. „Melanie hilf mir“ „Bitte melde dich“ Melanie rannte durch das Treppenaus an Thore vorbei ins freie und übergab sich direkt neben der Haustür. „Hey, ist alles in Ordnung. Du siehst so blass aus, als hättest du einen Geist gesehen?“, sagte er und legte seinen rechten Arm auf ihren Rücken. Melanie schüttelte ihn ab. „Alles gut. Ich bin nicht schwanger. Vielleicht war es nur die Pizza, welche nicht mehr gut war. Lass uns fahren“, entgegnete sie. „Bist du dir sicher?“, hackte er nach. „Ja“, gab sie kurz angebunden zurück. „Aber ich fahre“, meinte er und sie nickte nur und folgte ihm mit Abstand. Während sie ging ließ sie die Nachricht erneut. Nein, dachte Melanie von Wehren, nein, das darf nicht sein, das kann nicht sein. Doch das Gefühl, das ein Alptraum sich in ihrem Leben breitmachte, war mehr als deutlich zu spüren. „Ich bin gleich wieder da. Ich muss mir nur noch kurz den Mund ausspülen gehen“, sagte sie und drehte um. Bevor sie sich den Mund ausspülen konnte musste sie sich noch zweimal übergeben.
III
„Was fällt dir eigentlich ein.“ Thore stürmte in ihr Büro. Sie waren schneller da als gedacht. KK stand mit dem Gesicht zum Fenster und verschränkten Armen da. „Was fällt dir ein? Du behinderst Ermittlungen auf europäischer Ebene“, wiederholte er. „Wie ich schon sagte mag ich es nicht in meinem Büro angeschrien zu werden. Setz dich“, sagte sie in ruhigem Ton ohne sich umzudrehen. Melanie räusperte sich, um anzuzeigen, dass auch sie anwesend war. KK dreht sich um. „Ihr beide“, berichtigte sie sich und drehte sich um. Melanie legte Thore ihre linke Hand auf seinen rechten Arm, um anzuzeigen das er sich setzten soll. „Ihr beide habt nichts in der Hand. Nur Vermutungen. Und vage dazu. Einen Zettel, auf dem steht, dass jemand der vor zig Jahren einen Zahn verloren hat gewohnt haben könnte und wollt allen ernstes einen Massengentest. Und jetzt kommt ihr rein und geht mich an. Die Frage ist nicht was mir einfällt, die Frage ist was euch einfällt“, sagte sie sehr gut hörbar zu beiden. „Mir ist egal von wo du kommst. Was du dort machst und alles weitere. Du, ihr habt beide nichts in der Hand“, fügte sie hinzu. „Wir suchen einen Mörder“, versuchte Thore sich zu rechtfertigen. „Ein Phantom sucht ihr. Nichts weiter. Das ist alles was ihr sucht“, wurde KK deutlich. „Er hat vor über zwanzig Jahren gemordete und“, sagte Thore und stand auf. KK stützte sich mit ihren Armen auf dem Tisch ab. „Genau, vor zwanzig Jahren. Ihr sucht seit zwanzig Jahren. Und sucht und sucht. Ihr habt seit zwanzig Jahren nichts Konkretes. Nichts festes, aber wollt alles haben. So läuft das nicht“, war KK wieder am Zug. Melanie sah zu Thore. Selbiger sah KK in die Augen. Melanie merkte das die Spannung im Raum einen gefährlichen Stand erreicht hatte. „KK bitte. Gib uns mehr Zeit“, sagte sie und legte beruhigend ihren linken Arm auf Thores rechten. „Was sind sieben Tage bei zwanzig Jahren, KK bitte“, wiederholte es Melanie. KK sah sie an. „Ihr habt achtundvierzig Stunden. Und keine Sekunde länger. Und jetzt raus hier“, sagte sie und trat wieder an ihr Fenster mit dem Rücken zu beiden gewandt. „Ich suche so lange bis ich ihn gefunden habe. Das bin ich ihr schuldig. Mit oder ohne deiner Genehmigung“, sagte Thore und verschwand. Melanie stand auf. Unschlüssig ob sie sofort gehen oder noch kurz bleiben sollte stand sie im Raum. KK hoffte sie blieb, um kurz zu reden. Melanie entschied sich jedoch für das Gehen. Zwischen beiden Frauen herrschte eine unheimliche Stille als Melanie ging.
Thore schlug die Beifahrertür sehr hörbar zu. Er hatte keine Lust zu fahren. Zu sehr hatte er sich über das Handeln der Staatsanwältin aufgeregt. „Was glaubt sie, wer sie ist? Was soll das? Sie blockiert europäische Ermittlungen. Einfach so“, sagte er und schüttelte mit dem Kopf. Melanie schwieg. Er sah sie an. „Hast du auch eine Meinung dazu?“, fragte er. Sie lehnte sich zurück und sah ihn an. „Grundsätzlich hast du recht. Aber sie eben auch. Thore wir haben nichts“, sagte sie wurde aber unterbrochen. „Wir haben einen Anhaltspunkt“, sagte er. „Ja, eben, und mehr nicht. Eine Analyse eines Zahnes von über zwanzig Jahren und eine Kette. Und mehr nicht. Es muss dir doch klar sein, dass so etwas nie und nimmer für einen Massengentest“, sie sprach das Wort mit drei Ausrufezeichen aus, „ausreicht. Der, welchem der Zahn gehört könnte ihn zufällig verloren haben. Wir jagen einen Unschuldigen. Er könnte auch schon tot sein. Wie KK sagt. Ein Phantom“, erörterte sie zu Ende. „Deshalb ja die Kette Mel, jemand muss sie gesehen haben. Wir sollten bei dem Vollbart noch mal Druck ausüben, das er seine Kontakte anzapft. Vielleicht haben wir eine Chance etwas zu finden“, sagte er schon leicht verzweifelt. „Melanie, das ganze ist ein Alptraum. Und er muss aufhören. Endgültig. Verstehst du das?“, sagte er und riss seine Augen weit auf. Und ob sie verstand. Mehr als er ahnte. „Natürlich tu ich das. Aber du schießt über das Ziel hinaus und damit ist keinem geholfen.“ Er drehte seinen Kopf zum Fenster und Melanie legte ihre Hand auf seinen linken Oberschenkel. „Wenn du mir die Schlüssel gibst fahr ich uns zu einem tollen Kaffee. Die haben den besten Kuchen der Stadt. Danach geht es dir besser. Glaub mir“, sagte sie und sah ihn mit ihren stahlblauen Augen an. Ohne ein Wort zu sagen kam er auf sie zu und legte seine rechte Hand in ihren Nacken und küsste sie.
IV
Melanie trank einen Espresso und Thore eine Tasse Filterkaffee nach Art des Hauses. Dazu ein Stück Schokoladenkuchen. „Was denkst du“, fragte sie und schnitt mit dem Löffel ein Stück von der Kuchenspitze ab, nahm es auf den Löffel und aß es. Er nahm einen Schluck Kaffee. „Das letzte Stück, das was alles zusammensetzt, das fehlt“, sagt er. Eine Frage brannte ihr schon lange unter den Nägeln. „Warum ist es dir so unendlich wichtig den Fall zu lösen. Geht es nur um das Gesicht der Beamten von damals wiederherzustellen? Und warum hast du gesagt du bist es Charlotte schuldig?“ Thore blickte ihr in die Augen. Melanie aß noch ein weiteres Stück Schokoladenkuchen. Innen war er noch leicht flüssig. Und oben drauf eine Orangencreme. „Charlotte hatte eine Freundin. Sarah. Und diese Sarah, ist meine Halbschwester“, sagte er und Melanie vergaß für einen Moment das Kauen.
Sie ließ ihre Gabel fallen und rannte raus. „Mel, warte“, sagte er und folgte ihr. Sie stand draußen vor dem Cafe, die Arme um den Körper geschlungen und sah wie er herauskam. „Melanie, lass es mich dir erklären“, sagte er und legte seine beiden Hände auf ihre Arme. Eine Träne rollte über ihre rechte Wange und sie wandte den Blick von ihm ab. Der Wind fuhr ihr durch das Haar und wehte zwei Strähnen nach rechts. „Thore, …“, fing sie an, „ich verstehe es nicht. Ich dachte wir vertrauen uns. Und du hast Geheimnisse vor mir“, fuhr sie fort. Sie schüttelte ihren Kopf. „So geht das nicht.“ Er trat noch einen Schritt an sie heran. „Mel, bitte lass es mich dir erklären. Sarah war eng mit Charlotte befreundet und hat den Mord an ihr nie verkraftet. Sie hat sich damals völlig in sich zurückgezogen. In einem Heim. Ich besuche sie so oft ich kann. Sarah war, ist, seit dem in Behandlung. Sie lebt in einem Heim. Es gibt Tage das ist sie augenscheinlich normal und dann gibt es Tage, da ist sie völlig in sich gefangen. Da lebt sie immer wieder alles durch. Und ich denke, wenn ich, wenn wir diesen Alptraum endlich beenden, dann hat Sarah die Möglichkeit da auszubrechen und ein halbwegs normales Leben zu führen. Aber so lange wir ihn nicht haben, dann wird sich an ihrer Situation nichts ändern“, sagte er. Als sie das hörte konnte Melanie nicht mehr an sich halten, fiel ihm in die Arme und fing an hemmungslos zu weinen. Einen genauen Grund kannte sie nicht. Vielleicht war es wegen Sarah, vielleicht weil sie ebenfalls ein Geheimnis hatte und ihm trotzdem Vorwürfe machte. Sie wusste es wirklich nicht. Sie weinte einfach nur hemmungslos.
Tag 8113 der Ermittlungen im Fall Charlotte Johansson
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Matti und Kaisa Korhonen empfingen sie mit schwarzem Tee und selbstgebackenen Keksen. Ihre Wohnung war im Stil der zwanziger Jahre eingerichtet. Ein großer Holztisch mit Stühlen stand in der Küche. Dazu eine Uhr, welche nur aus einem Ziffernblatt und zwei Zeigern bestand und an der Wand neben dem Fenster hing. Selbiges zierte ein Glasfisch mit Mosaiken. Mia fiel ein Backautomat ins Auge. „Sie backen selber?“, fragte sie. „Oh ja, Kaisa bäckt das beste Brot was es überhaupt gibt. Glauben Sie mir“, sagte Matti. „Das Brot hatte sogar schon einen Preis in der Koch- und Backzeitung gewonnen. So gut ist es“, fügte er mit einem gewissen Stolz hinzu. Kaisa war anzusehen, dass es ihr unangenehm war darüber zu reden. Sie versuchte alle in das Wohnzimmer zu dirigieren. „Hier entlang, bitte“, sagte sie. Im Wohnzimmer befand sich ein braunes Sofa mit Tisch, auf dem alles angerichtet war. Im Kamin war Holz gestapelt, welches nur noch darauf wartete, angezündet zu werden. Neben dem Kamin befand sich neben einem Sessel, auch ein Bücherregal. Es füllte die ganze Wand. Bei dem Anblick war Ola für einen kurzen Moment sprachlos. „Haben Sie die alle gelesen?“, fragte er. Bei der Frage sank Mia innerlich zusammen. Ja, er musste noch einiges lernen. Matti lachte auf. „Ja, natürlich.“ Wieder ging Kaisa dazwischen. „Bitte nehmen Sie doch Platz“, sagte sie und deutete auf das Sofa. Mia und Ola nahmen Platz. Matti lies sich in den Sessel sinken. Kaisa nahm auf einem aus der Küche mitgebrachten Stuhl Platz.
Mia ergriff das Wort. „Wir sind hier, weil wir mit Ihnen noch einmal über die Ereignisse rund um den Mord an Charlotte Johansson sprechen möchten“, sagte sie während Ola sich einen Keks nahm und ihn aß. „Wir haben dem Kommissar damals schon alles gesagt was wir wussten. Ich glaube nicht, dass wir Ihnen noch weiter behilflich sein können“, sagte Matti während Ola einen weiteren Keks aß. Mia wusste was von diesem Gespräch abhing deshalb hielt sie sich Ola gegenüber zurück. Sie konnte ihre Karriere nicht wegen Olas Heißhungers auf Kekse aufs Spiel setzten. Sie wusste, wenn es ihr nicht gelang auch nur den kleinsten neuen Hinweis oder Anhaltspunkt zu bekommen, dann wäre sie schon morgen arbeitslos. Während Mia nachdachte nahm Ola Keks Nummer drei. „Wir haben ihre Aussagen selbstverständlich gelesen. Sie sagten, Sie hätten einen Schrei gehört. War es mehr ein Angstschrei oder könnte es sein, dass Charlotte etwas gerufen hat, was klang wie ein Schrei?“ Mia stocherte im dunkeln. „Nun, es klang wie ein Schrei. Wie ein ganz gewöhnlicher Schrei“, sagte Matti. Und Ola griff nach Keks Nummer vier. Mia fiel auf, dass er leicht hin und her rutschte auf seinem Stuhl. „Warum interessiert sie das so genau?“, fragte Kaisa. „Wenn Charlotte ihren Mörder gekannt hat, und sie gesehen hat, dann ist es doch durchaus möglich, dass das letzte was sie kurz vor ihrem Tod noch tuen konnte, ihnen durch den Schrei den sie gehört haben, verstehen zu geben, wer ihr Mörder ist, oder zumindest was mit ihr gerade passiert“, sagte Mia und trank einen Schluck Tee. Ola aß Keks Nummer fünf. Matti und Kaisa sahen sich an. „Ich weis es nicht“, sagte er. „Gut“, sagte Mia, nach all den Jahren würde mir das auch schwerfallen“, fügte sie hinzu. „Wir wussten es damals schon nicht“, unterbrach Kaisa sie. „Alles, was wir wussten haben wir gesagt“, ergänzte Matti. „Haben sie beide den Tatverdächtigen danach nochmals gesehen? Im Ort oder wo anders?“ Mia ließ nicht locker. „Nein, wir haben ihn nie wiedergesehen“, antwortet Matti. „Malin Hansen, kennen sie beide sie?“ „Wir hatten kurz nachdem die Ermittlungen aufgenommen wurden Kontakt zu ihr. Aber der schlief recht schnell ein“, antwortete Kaisa und Matti bestätigte dies durch Nicken. Ola aß währenddessen Keks Nummer sechs. Mia machte sich Notizen. „Haben Sie sich in all den Jahren nicht gefragt warum? Warum Charlotte? Warum an diesem Tag? Und warum hat er sich Ihnen gezeigt? Malin Hansen hat ausgesagt, dass er deutsch sprach“, sagte Mia. „Das wissen wir nicht“, entgegnete Kaisa. Mia sah beide an. Sie wirkten auf sie unruhiger als zuvor. „Warum ist der Kontakt zu Malin Hansen abgebrochen? Wissen sie, ich bin schon sehr lange Reporterin, und meine Erfahrung sagt mir, dass solche Ereignisse die Menschen eher zusammenscheißen als auseinanderbringen. Man hat etwas gemeinsam. Untrennbar. Also, warum haben Sie keinen Kontakt mehr?“ „Ich denke, das geht zu weit, das hat doch mit dem ganzen nichts mehr zu tun“, entgegnete Matti. „Doch, das hat es.“ Mia hatte etwas gefunden. Unter all den Belanglosigkeiten und Wiederholungen von Protokollen hatte sie etwas gefunden. Sogar Ola war das aufgefallen, denn er hatte es nicht gewagt noch einen Keks zu essen. „Was ist in der Zeit danach passiert?“ „Warum wollen Sie das wissen? Warum müssen Sie in der Vergangenheit bohren. Wir wollen darüber nicht reden, haben Sie das verstanden“, schrie Matti. „Kaisa?“, wandte sich Mia an sie. Sie saß ruhig auf ihrem Stuhl und sah auf den Boden. „Laß gut sein Matti. Vielleicht ist es besser so“, sagte sie und sah ihn an. Eine Träne lief über ihr Gesicht. „Er schreibt uns Briefe. Jedes Jahr zum Todestag. Erst drohte er uns, dass er uns was antun würde, wenn wir weiter mit Malin Kontakt hätten. Und um den Nachdruck zu verleihen hatte er unseren Hund vergiftet. Wir hatten ihn gerade erst bekommen. Er war noch ein Welpe. Wir sind dann weggezogen. Aber das hat nicht viel geholfen. Man kann ja jeden finden. Und da gaben wir auf.“ Matti stand auf und ging auf Kaisa zu. „Ich kann einfach nicht mehr. Ich muss immer an dieses Mädchen denken“, sagte sie. Er nahm ihre Hand und küsste sie. „Haben Sie diese Briefe vielleicht noch?“, brachte Ola sich in das Gespräch ein. Matti sah ihn an. „Nein, wir haben sie alle immer sofort weggeworfen. Wir wollten unsere Ruhe“, sagte er.
Sie hatte die Tür ihres Autos gerade geschlossen, da meldete sich Ragnar bereits am Telefon. „Was gibt’s?“, fragte er. „Ich habe gute Neuigkeiten. Er schreibt ihnen“, sagte sie. Ragnar war kurz verwirrt. „Wer schreibt wem?“, fragte er. „Der, der die Johansson damals umgebracht hatte. Er schreibt denen, die ihn gesehen haben Briefe. Jedes Jahr zum Todestag. Er hat sogar den Hund von den Finnen umgebracht. Kannst du das glauben?“, frage sie euphorisiert. Ragnar blieb nüchtern. „Hast du die Briefe?“ „Nein, sie haben sie vernichtet“, musste sie gestehen. „Dann nützt uns das nicht viel. Aber vielleicht das mit dem Hund. Wenn die ein Bild haben, dann bringen wir das. Gute Arbeit“, sagte er und legte auf. Nachdem das Gespräch beendet war sah sie zu Ola und nickte. „Ich habe da eine Idee“, sagte sie lächelte und startete den Motor.
Nach ihrem hemmungslosen Weinkrampf vor dem Café schlief Melanie jetzt. Er lag neben ihr und beobachtete sie. Sie atmete unruhig und ihre Augen zuckten unkontrolliert. Er wollte sie beruhigen und küsste ihre Stirn. Als seine Lippen ihre Stirn berührten fing sie an zu reden. Er verstand nicht alles was sie sagte, nur Bruchstücke. Nein. Geh weg. Und ein Name fiel. Eliza. Er berührte ihren rechten Arm. „Melanie, Melanie, du träumst“, sagte er. Mit einem Schrei öffnete sie die Augen und saß im Bett.
Melanie von Wehren saß bekleidet mit einer schwarzen Jogginghose und einem schwarzen Shirt, welches ihr mindestens zwei Nummern zu groß war auf dem Sofa und hatte ihre Beine zur Seite abgewinkelt auf selbigen abgelegt. Vor ihr stand auf dem Tisch eine Tasse mit Genmaicha Tee. Ihre Augen waren rot unterlaufen und ihr Gesicht verquollen. Er setzte sich neben sie. Sie fühlte sich schlecht. Vor ein paar Stunden noch hatte sie ihm Vorwürfe gemacht, er sei nicht ehrlich zu ihr und nun saßen sie beide hier auf ihrem Sofa und nun war sie daran zu erklären was es mit diesem Alptraum, welchen sie zweifelsohne hatte auf sich hat.
Mit ihrer rechten Hand wischte sie sich eine weitere Träne aus dem Gesicht. Thore sagte nichts. Er wollte sie nicht dazu drängen etwas zu sagen. Er war sich sicher, dass, wenn sie es möchte, sie über den Albtraum reden wird. Melanie brach die Stille. „Ich kann nicht“, flüsterte sie vor sich hin, ohne ihn anzusehen. „Es tut mir leid, aber ich kann es einfach nicht.“ Während sie redete liefen ihr Tränen über das Gesicht. Er wollte seinen Arm um sie legen, aber sie wehrte ab. „Nicht. Nicht jetzt“, sagte sie und hob ihren linken Arm zur Abwehr. Sie nahm die Tasse Tee und trank einen Schluck. Das kräftige malzige Aroma durchströmte sie. Sie konnte ihm nicht davon erzählen. Sie wollte. Konnte es aber nicht. Sie konnte ihm nicht sagen, was sie getan hatte und warum. Und von den Nachrichten und dem Bild. Als sie daran dachte liefen mehr Tränen über ihr Gesicht. Er nahm die Tasse Tee aus ihrer Hand und stellte sie ab. Jetzt wehrte sie seine Umarmung nicht mehr ab.
Sie sah auf die Uhr. Mittlerweile war es 2:47 Uhr. Sie saßen noch immer auf dem Sofa. Sie hatte sich an ihn gelehnt. Irgendwann hatte sie keine Tränen mehr und hatte aufgehört zu weinen. „Ich kann nicht darüber sprechen. Noch nicht“, fing sie ansatzlos an. „Ich weis, ich mute dir viel zu und bin im Moment unfair zu dir, aber ich kann es wirklich nicht. Thore, du musst mir glauben.“ Sie richtete sich auf und sah ihn an. Ihre Augen waren noch immer rot und ihr Gesicht angeschwollen. Sie legte ihre linke Hand auf seinen Oberschenkel, sah ihm in die Augen. Er beugte sich zu ihr rüber und küsste ihr Haar.
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Sie saß am Tresen und trank ihr drittes Bier. Der Alkohol ließ sie den Tag vergessen und rief ein angenehmes Gefühl im inneren hervor. Natürlich war sich durchaus der Konsequenzen, welche immer wahrscheinlicher wurden, bewusst. „Einen Whisky“, sagte sie zum Barkeeper und überlegte ob sie nicht vielleicht eine Rauchen sollte. „Hast du eine Zigarette zu dem Whisky?“, fragte sie den Barkeeper. Er nickte und gab ihr eine. Eine Hand hielt ihr die Flamme eines Feuers entgegen. Sie drehte ihren Kopf in Richtung des Armes, welcher das Feuerzeug hielt. „Eine Rauchen“?, fragte die dazugehörige Stimme. KK drehte sich weg. „Hab es mir gerade anders überlegt“, antwortete sie. „Dann lass mich doch wenigstens dir deinen Drink bezahlen“, antwortete die Stimme. KK drehte sich weg. „Nein, kein Interesse.“ Er verzog seinen Mund zu einem merkwürdigen Grinsen. „Kleine Wildkatze, was?“, sagte er und setzte sich neben sie. Er legte seinen rechten Arm auf ihren Rücken und fuhr hinunter bis zu ihrem Po wo er ihn verweilen ließ. KK sah in an. „Nimm deine Hand da weg.“ Er lachte. „Ich will aber nicht, du gefällst mir“, sagte er und eine Wolke aus Alkohol und Zigarette kam ihr entgegen. Sie versuchte aufzustehen, wurde aber festgehalten. „Wohin so eilig Wildkatze?“, lachte er. „Lass mich in Ruhe“, wiederholte sie, was aber nur zu noch mehr Nähe führte. Schlagarte blitzte es vor seinen Augen und ein Knallgeräusch bahnte sich seinen Weg zu seinem Gehörgang. „Ich sagte Nein“. „Du hast sie gehört. Also lass ab“, mischte sich eine ihr vertraute männliche Stimme ein. Ohne ein Wort zu sagen, hob er die Hände und ging. „Danke“, sagte KK und drehte sich zum Tresen. „Das war nicht nötig“, fügte sie hinzu. „Ich weis“, antwortete er, setzte sich neben sie und sah sie an.
Sie lag auf ihrem Rücken und konnte keine Ruhe finden. Schon wieder. Er lag neben ihr und schlief. Schon wieder. Sie war mit ihm nach Hause gegangen. Schon wieder. Und es fühlte sich jetzt noch verkehrter an als vorher. Zugegeben, er war ihr zu Hilfe gekommen, aber nötig hatte sie es nicht gehabt. Sie war schon ganz gut klar gekommen. War sie ja immer. Selbst wenn sie angestrengt nachdachte wusste sie nicht warum sie jetzt wieder hier lag. Vielleicht war es Nervenkitzel. Das Verbotene zu tun. Das Unerwartete. Das, „außer der Reihe“. Das, was man von einer Staatsanwältin nicht erwartet. Einer zwar in Ungnade gefallenen, aber dennoch Staatsanwältin. Was hatte sie sich nur dabei gedacht. Sie setzte sich auf. Sah erneut zu ihm rüber. Seine Atmung war unregelmäßig und laut. Möglicherweise stirbt er, dachte sie. Und verwarf den Gedanken sofort. Das wäre zuviel des Guten, dachte sie. Sie sah auf die Uhr. 3.41 Uhr. Sie musste weg. Aber ihr Kopf war vom Alkohol vernebelt. Fahren war so ausgeschlossen. Sie stand auf. Es fiel ihr schwer das Gleichgewicht zu halten dennoch schaffte sie es unter Mühe. Sie schaltete die Taschenlampe auf ihrem Mobiltelefon ein, um ihre Sachen zu finden. Glücklicherweise waren ihre Sachen diesmal nicht in der ganzen Wohnung verteilt. Hätte sie geahnt, dass sie am Abend Sex haben würde, hätte sie sich für das Spitzenhöschen entschieden und nicht für die Nummer fünf aus der Zehnerpackung vom Discounter. Sie ging, nachdem sie sich fertig angezogen hatte auf Zehnspitzen zur Tür und öffnete sie. Die Schlafzimmertür quietschte und für einen Moment blieb sie stehen, um sicher zu gehen das er noch schläft. Was er tat. Sie trat aus dem Schlafzimmer und stellte in der Flur das Licht an. Es waren nur ein paar Schritte bis zur Eingangstür, aber sie konnte der Versuchung nicht wiederstehen sich in seiner Wohnung etwas genauer umzuschauen. Er schlief ja. Wie immer.
Die Küche war sauber. Und an der Wand hing ein Kalender, welcher den aktuellen Monat mit einem Tierfoto anzeigte. Ein Vogel. Ein einheimischer nahm KK an, aber um das mit Sicherheit zu sagen, war sie nicht Experte genug. Sie trat aus der Küche heraus und lies das Bad links liegen. Manches wollte sie dann doch nicht so genau wissen. Sie ging in das Wohnzimmer und schaltet das Licht an. Und irgendwo in ihrem Kopf erschien das Wort Stalker. Sie verwarf es sofort. Die Fünfarmlampe welche von der Decke knapp dreißig Zentimeter hinunterhing erleuchtete den Raum. Ein Ecksofa in rot sowie zwei Sessel in beige waren als Sitzgelegenheit vorgesehen. Sie fand das sie die Gelegenheit nutzen sollte, um diese zu testen. Der Alkohol wirkte noch immer in ihrem Kopf. Ihr gegenüber war die Schrankwand. Eine Vitrine umgeben von zwei geschlossenen Schranktüren. In der Vitrine fiel ihr Augenmerk auf eine Kerze mit Dekoration. Das Licht, welches von der Lampe in den Raum fiel, spiegelte sich ungünstig in dem Glas und so konnte sie nicht genau erkennen um was für eine Art Dekoration es sich handelt. Sie stand auf und sah nach.
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Mia rauchte ihre dritte Zigarette. Ragnar hatte ihr gerade noch einmal gesagt, dass sie das was sie hatte in Erfahrung bringen können in einer Sondersendung der Öffentlichkeit unbedingt mitteilen solle. Die Briefe. Der vergiftete Hund. Er hatte wirklich „unbedingt“ gesagt. Mia musste fast lachen. Aber eben nur fast. Nie sagte er „unbedingt“. „Bist du bereit?“. Ola kam heraus. „Ich will die Akte vorher noch einmal durchgehen. Wir dürfen keinen Fehler begehen“, sagte sie und trat die Zigarette aus. Bevor sie Ola folgte sah sie sich noch einmal um. Der Wind fuhr ihr durch die Haare und sie hatte das Gefühl auf einen Durchbruch zuzusteuern. Endlich. Nur diese Kette. Mia fand keine Erklärung dafür. Zwar stand in der Akte, dass sie eine hatte, gefunden wurde jedoch nie eine. Vielleicht war es jetzt an der Zeit diese zu zeigen. Zumindest ein Bild davon. Das nachzuholen, was damals von Solskjaer vergessen wurde.
Mia saß an ihrem Schreibtisch und studierte die Akte. Ola hatte ihr einen Kaffee geholt, sich aber danach weitestgehend im Hintergrund gehalten. Vielleicht ist er doch gar nicht so blöd, dachte sie. Ihr fiel ein Foto auf. Es zeigte eine Person, welche auf einem Felsen saß. War das Charlotte? Und wenn sie es war, was sollte das beweisen? Alles auf der Aufnahme war verschwommen. Sie legte es beiseite und nahm ein Phantombild in ihre Hand. Sie würde es zeigen. Eine tiefe Abneigung empfand sie gehen wen auch immer das Foto zeigte. Mia war sich sicher, dass es den Täter zeigte. Durch das Lesen der Akte kamen ihr die Erinnerungen an damals hoch. Die Telefonschaltung. Flugblätter. Alles wurde unternommen. Ohne Erfolg. „Mia, in drei Stunden ist Sendung“, sagte Ragnar und holte sie in die Gegenwart zurück. „Ist gut“, sagte sie klappte die Akte zusammen und stand auf.
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Der Tag von Stine Jakobsen war alles andere als gut gelaufen. Ihr Wecker hatte am Morgen seinen Dienst versagt. Daraufhin war sie zu spät aufgestanden, hatte nicht gefrühstückt und den Bus verpasst. Und im Büro wurde es nicht besser. Durch den kaputten Wecker hatte sie das Meeting mit „Baku-Oil“ dem neuen Kunden verpasst und so wurde Liv-Grete die alleinige Führung übertragen. Ausgerechnet ihr, dachte Stine. Sie wusste, dass Liv-Grete nicht auf Grund ihrer fachlichen Qualifikationen in die Firma kam und erst recht nicht hatte sie die alleinige Führung diesen zu verdanken. Nein, Liv-Grete hatte andere Qualitäten, und diese setzte sie auch ein. Da half auch kein noch so heftiges protestieren bei Erik, ihrem Vorgesetzen. „Die Wahl fiel nun mal auf sie. Außerdem warst du nicht da. Herrgott Stine, was hätte ich denn tun sollen?“, sagte er. „Anrufen und auf mich warten“, war ihre Antwort, dann verlies sei sein Büro und schloss die Tür für alle hörbar im Gehen.
Kurz nach zwei verließ sie das Büro. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr an diesem Tag aufnehmen. Und als sie aus dem Firmengebäude heraustrag verschwand wie auf Stichwort die Sonne hinter den Wolken und irgendwo in der Nähe schrie eine Frau einen Mann an mit den Worten das er verschwinden soll und zu dieser Schlampe ziehen kann, wenn er will. Und dass sie ihn nicht brauche. Es dauerte ganze drei Minuten nachdem die Sonne verschwunden war und ein Platzregen setzte ein. Es waren sehr nasse letzte fünfzig Meter zur Bushaltestelle für Stine Jakobsen. Als sie in den Bus einstig lief ihr das Wasser am gesamten Körper hinunter.
Zu Hause angekommen schälte sie sich aus ihren nassen Sachen und stellte sich unter die Dusche. Das warme und zunehmend heißer werdende Wasser ließ sie wieder jeden einzelnen Muskel in ihrem Körper wahrnehmen. Als sie aus der Dusche heraustrat hatte sich ihr Badezimmer in ein Tropenhaus verwandelt. Der Wasserdampf machte es unmöglich etwas zu erkennen. Blind ertastet sie ihren Bademantel und zog ihn an. Ging in die Küche und setzte Wasser auf.
Tatort-Norwegen war die Sendung, bei welcher Stine Jakobsen nie wegschaltete und sich auch nie stören ließ. Von niemandem. Weder von ihrer Mutter, welche mal wieder viel zu viel gekocht hatte und nun nicht wusste wohin damit, da selbst Stines Vater irgendwann nicht mehr essen konnte, noch lies sie sich on Molly, ihrer Freundin stören, welche sie nur wieder zum trinken in einer Bar mit anschließendem „Männer aufreißen“ überreden wollte. Nein, Tatort-Norwegen gehörte nur ihr. Und dem Abendessen. Nudeln. Mit aufgetauten Putengeschnetzeltem. Käse. Und Wein. Weißem Wein. Aus Deutschland.
Die ersten drei Fälle bei Tatort-Norwegen waren weniger interessant. Wohnungseinbrüche und Raubüberfall auf einen Juwelier in Trondheim. Der vierte hingegen erregte ihre Aufmerksamkeit. Es ging um einen Fall aus dem Jahre 1996. Eine gewisse Charlotte Johansson. Ermordet am Isfjord. Stine liebte diese alten Fälle. Insgeheim träumte sie davon so einen zu lösen. Die Dame im TV sprach von einem geführten Interview mit Augenzeugen. Einem Verdächtigen. Und dann sah sie es. Das Bild. Es wurde eingeblendet. Den ganzen Bildschirm nahm es ein. Sie kannte das Gesicht. Es war sehr lange her als sie es das letzte Mal gesehen hatte. Aber sie hatte es nicht vergessen. Sie kannte sogar den Namen. Ihr Herz schlug schneller und in ihrem Magen bereitete sich ein flaues Gefühl aus und bahnte sich seinen Weg die Speiseröhre entlang nach oben. Sie stellte die Nudeln mit dem Putengeschnetzeltem auf den Tisch und rannte ins Bad. Hob den Toilettendeckel an und übergab sich.
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Das Tacho blieb auf einhundertvierzig Kilometer pro Stunde stehen, als sie die Kontrolle über ihren Wagen verlor, in einer Rechtskurve von der Straße abkam und sich überschlug. Wie lange sie in dem Wrack eingeklemmt war, bis man sie fand wusste sie nicht. Das Bewusstsein erlangte sie erst wieder, als ein Pfleger aus dem gerufenen Krankenwagen mit Licht in ihr in die Augen leuchtete. „Na da haben Sie aber Glück gehabt, das Sie noch am Leben sind.“ Seine Stimme vernahm sie dumpf. Das Atmen fiel ihr schwer. In ihrer rechten Seite nahm sie einen stechenden Schmerz wahr und in ihrem Mund war der Geschmack von Blut deutlich. Dann glitt sie erneut in die Dunkelheit ab.
In ihren mehr als zwanzig Jahren als Krankenschwester hatte Susanne Müller schon so einige schwere Unfälle miterlebt. Als sie jedoch dieses mal den OP Raum betrat, musste auch sie kurz innehalten. Diverse Knochenbrüche. Innere Verletzungen. Blutalkohol bei 1,3 Promille. Und ein Schädelhirntrauma der Stufe eins. Dass die Patientin noch lebte, glich einem Wunder.
Die Not OP dauerte bis in die frühen Morgenstunden. Jetzt lag die Frau auf der IST. Angeschlossen an Geräte, welche ihre Vitalfunktionen überprüften. Schwester Susanne war sich nicht sicher ob die Frau, welche den Namen Katrin Kubin hatte, die nächsten Stunden noch am Leben wäre, und falls sie doch so viel Glück haben sollte, ob sie nicht bleibende Schäden davonträgt. Allein die inneren Verletzungen könnten jederzeit ihr Todesurteil sein. Schwere Lungenquetschung. Riss in Leber und Milz. Schwester Susanne schickte ein Stoßgebet Richtung Himmel, dass die Frau, eine zweite Chance bekommen möge. „Schwester Susanne?“, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Pfleger Mike trat von hinten an sie heran. Erschrocken fuhr sie herum. „Entschuldigung“, sagte er als er ihre Reaktion bemerkte. „Ich wollte Sie nicht erschrecken. Wir haben hier einen Namen bei der Patientin gefunden, welcher im Notfall kontaktiert werden sollte“, sagte er und reichte Schwester Susanne einen Zettel. „Danke, ich kümmere mich darum“, sagte sie und ging.
Noch während Mia ihre Sendung zu Ende brachte klingelte das Telefon in der Zentrale. Da eine Sachbearbeiterin wegen Grippe ausgefallen war, musste Ola ihren Dienst übernehmen. Erst glaubte er sich zu verhören, als die Anruferin ihm mitteilte weshalb sie anrief. Ola hatte das Gefühl das alles, was er im Kopf hatte herauskatapultiert wurde nur um im selben Moment wieder hineingepresst zu werden. „Ja, ja, geht klar. Ich schreibe alles auf. Auch ihre Adresse. Und gebe es an Mia weiter. Danke. Auf Wiederhören“, sagte er und die Verbindung wurde unterbrochen. Er hielt kurz inne um das was soeben geschehen war zu begreifen. Jemand, eine Frau, hatte angerufen, um zu sagen, dass sie weis wer auf dem gezeigten Phantombild zu sehen ist. Und dass sie mit Mia sprechen möchte. Ola stand auf. Wie in Trance. Ging zu Mia, welche in den letzten Zügen ihrer Live-Sendung war und reichte ihr den Zettel. Verwirrt sah sie ihn an. „Was soll das?“, fragte sie. Ola zeigte nur auf das Blatt Papier. Und Mia las ihn. Beide sahen sich an und stellten fest, dass jegliche Farbe ihr Gesicht verlassen hatte.
I
Auf dem Tisch vor Mia stand noch Stines Portion Nudeln mit aufgetauten, erwärmten und nun wieder abgekühlten Putengeschnetzeltem. „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so schnell hier sind“, sagte Stine und schämte sich innerlich dafür, dass es in ihrer Wohnung chaotisch aussah. „Nun ja, es ist auch ein wichtiger Fall“, sagte Mia während Ola auf die Reste des Essens schaute. Mia holte ihr Aufnahmegerät aus der Tasche. Ist es in Ordnung, wenn ich unser Gespräch aufzeichne?“, fragte sie, ohne wirklich eine Antwort abzuwarten. „Gut“, begann Mia das Gespräch. „Frau Jakobsen“, sagte Mia, doch Stine unterbrach sie. „Sagen Sie Stine, das ist besser“. Mia wirkte etwas irritiert. „Gut. Stine, Sie haben sich auf Grund eines Beitrages der Sendung Tatort-Norwegen bei uns gemeldet. Warum, was wissen Sie?“, fing Mia an zu fragen. Stine schluckte. „Ja, also, es ist so“, fing sie an. „Es geht um den Johansson Fall. Ich habe da ein Bild gesehen. So ein Phantombild. Und ich habe den Mann wiedererkannt. Den sie da gezeigt haben. Ich kenne ihn. Sein Name ist Karl. Jedenfalls kenne ich ihn mit diesem Namen.“ „Und woher kennen Sie ihn?“, fragte Mia. „Wir waren vor sehr langer Zeit ein Paar gewesen“, sagte Stine und in Mias Magen begann sich ein ungutes Gefühl auszubreiten und sich seinen Weg an die Oberfläche zu suchen. „Entschuldigung“, sagte Mia, stand auf und rannte in die Küche. Sie übergab sich in das Spülbecken. Da Mia den Tag über kaum etwas gegessen hatte, erbrach sie nur eine gelbe bitter schmeckende Flüssigkeit. Stine ging ihr nach. Sie blieb im Türrahmen stehen. „Ich habe auch so reagiert“, sagte sie und reichte Mia drei Blätter der fast aufgebrauchen Küchenrolle. „Danke, sagte Mia und spülte sich den Mund aus. „Es war noch vor dem, was passiert ist. Wir waren ungefähr zwei Jahre ein Paar. Dann trennten wir uns. Er hatte sich verändert. Wurde aggressiv mir gegenüber. Und ich hatte keine Lust darauf, dass er mich schlägt“, sagte sie. Mia sah sie an. „Haben Sie denn damals nichts von dem Mord mitbekommen? Es war in allen Zeitungen. Fernsehen. Radio. Selbst das Phantombild. Ich verstehe es nicht.“ Stine lachte kurz auf. „Ich war in Australien. Ich bin kurz nach der Trennung nach Australien ausgewandert. Der Mord ist ein halbes Jahr nach meiner Auswanderung geschehen.“ Mia konnte nicht glauben, was sie da soeben gehört hatte. „Und ihre Verwandten? Haben die Ihnen nicht einmal davon erzählt?“ Stine schüttelte ihren Kopf. „Nein. Wir hatten glaube ich ein oder zwei Mal darüber gesprochen. Also über den Mord. Aber mehr nicht. Ich war ja auch am anderen Ende der Welt“, sagte sie und zuckte mit den Schultern. Mia nickte. Stine hatte nichts Falsches getan, das wusste Mia. Sie war einfach am anderen Ende Welt.
II
„Stine, Sie müssen mit Europol reden“, bat Mia sie, obwohl es ihr missfiel dies zu sagen. Mia sah aber ihre Chance jetzt in einer gemeinsamen Erklärung. Presse und Polizei. Und sie, Mia Olson, mittendrin. „Nein, das kann ich nicht. Ich kann das alles nicht noch einmal durchleben. Allein den Bericht zu sehen hat mir gereicht und ich musste mich übergeben. „, sagte sie. Mia sah sie an. Sie war kreidebleich. „Dann bleibt er frei. Wollen sie das?“, fragte sie. Stine stand auf. „Das ist mir egal. Ich habe Ihnen alles gesagt. Tun Sie was Sie für richtig halten. Ich bin raus“, sagte sie. Während Stine noch redete holte Mia ihr Mobiltelefon heraus und wählte Europol an. Die Rufumleitung verband sie mit Per Isakson. „Hier ist Mia von Tatort-Norwegen. Ich bin bei einer Zuschauerin die Angaben zum Johansson-Fall machen kann“, sagte sie, gab die Adresse durch und legte auf. „Was fällt Ihnen ein? Raus aus meiner Wohnung“, schrie Stine sie an. Mia blieb. „Erst werden Sie reden Stine. Dann gehe ich“, sagte sie bestimmt.
Zwanzig Minuten später traf Per Isakson bei ihnen ein. „Isakson“, sagte er und holte seinen Dienstausweis hervor. „Ich bin damit nicht einverstanden“, protestierte Stine erneut. „Stine, wir suchen seit über zwanzig Jahren. Viele Kollegen sind tot. Und Charlottes Freundin hat den Verstand verloren. Sie lebt in einem Heim in ihrer eigenen Welt. Abgeschottet. Wollen Sie denn nicht, dass sie ihren Frieden findet?“, fragte er und setzte sich an Stines Laptop, welcher auf dem Schreibtisch stand. Isakson meldete sich mit seinem Skype-Namen an. Thore war online. Nach kurzem klingeln ging er ran. „Thore hier ist Per. Ich bin bei einer gewissen Stine Jakobsen. Sie möchte dir etwas erzählen. Über den Fall.“
Und Stine erzählte nach anfänglichem Zögern alles. Und vor allem warum sie sich erst jetzt meldete. Das sie außer Landes war. Und von all dem nichts mitbekommen hatte. Irgendwann im Verlauf des Gespräches konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurück halten. „Ich mache mir Vorwürfe“, sagte sie. Thore versuchte einzuschreiten und Mia legte ihr ihren rechten Arm über die Schulter. „Du hast nichts falsch gemacht“, sagte sie.
Per Isakson war schon lange gegangen, da saßen Mia und Stine noch immer in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa und schwiegen. Mia brach als erste das Schweigen. „Das war mutig“, sagte sie. Stine reagierte nicht. Sie saß mit angezogenen Beinen da und starrte ins Nichts. Woran denkst du nur, fragte sich Mia. „Ich bin Schuld an all dem Mia“, sagte sie ohne den Blick von der Lehre abzuwenden. Mia schwieg. Dann sah Stine sie an. „Magst du einen Tee? Ich glaub ich möchte heute Nacht nicht allein sein.“ Mia nickte stand auf und ging in die Küche.
III
Sie schlief an seiner rechten Seite als ihr Telefon sie weckte. „Ja“, sagte sie verschlafen. Und nachdem sie erfahren hatten was der Grund des Anrufes war, war sie hellwach. „Wir kommen sofort“, sagte sie und legte auf. „Thore, Thore, du musst aufstehen. Das war das Krankenhaus. KK hatte einen Unfall“, versuchte sie ihn zu wecken. Aber das war nicht so einfach. Beide hatten zum Abendessen eine Flasche Wein getrunken und das machte sich jetzt bemerkbar. Er atmete schwer. „Steh auf, wir müssen sofort los“, sagte sie und stand langsam auf. „Zieh dich an. Ich fahre“, sagte sie und stand auf.
Melanie stand an der Scheibe, welche sie von dem Zimmer der ITS auf welchem KK lag, trennte. Thore kam auf sie zu mit einem Kaffee in der Hand. „Hier“, sagte er und reichte ihn ihr. Sie nahm ihn und trank einen Schluck. „KK hätte ihn mit Tuning gewollt“, sagte sie und lächelte etwas worauf sie sofort ein schlechtes Gewissen bekam. „Entschuldigung“, sagte eine Stimme hinter ihm und beide drehten sich um. „Hallo, ich bin Schwester Susanne, wir haben telefoniert“, sagte sie und reichte ihnen die Hand. Melanie und Thore erwiderten die Geste. „Wie geht es ihr?“, fragte Melanie. Schwester Susanne blätterte in ihrem Klemmbrett die erste Seite nach oben. „Nicht allzu gut“, sagte sie und wiederholte die medizinischen Fakten. „Sie hat wirklich Glück bis jetzt. Hoffentlich verlässt sie es nicht“, sagte sie, klappte es zu und verabschiedete sich damit, dass es noch eine eilige Besprechung gibt wie die Patientin zu behandeln ist. Melanie und Thore nahmen einen weiteren Schluck Kaffee und sahen durch die Scheibe zu KK. „Sie ist stark. Sie schafft das“, sagte Thore und Melanie hoffte innständig, dass er Recht behält.
IV
Sie spürte einen immer stärker werdenden Druck in ihrem Hals, welcher sie zwang, die Augen aufzureißen. Die Monitore welche sie überwachten schlugen aus. Sofort waren zwei Pflegerund zwei Krankenschwestern zur Stelle. „Ganz ruhig. Alles in Ordnung. Beruhigen Sie sich“, sagte Schwester Susanne. Sie versuchte zu sprechen, aber durch die Schläuche in ihrem Hals brachte sie keinen Ton heraus. „Ihr Herz schlägt zu schnell“, sagte Pfleger Mike. „Ganz ruhig Frau Kubin, ganz ruhig“, redete sie auf sie ein. KK versuchte krampfhaft etwas zu sagen, jedoch gelang es ihr nicht. „Jetzt geben Sie ihr schon etwas“, sagte Schwester Susanne zu Pfleger Mike. Keine zehn Sekunden später glitt KK zurück in den Schlaf.
V
Sie fuhren gerade zurück als der Anruf sie ereilte. Eine Panikattacke, sagte Schwester Susanne. Und dass es gut wäre, wenn sie in der Nähe wären, wenn sie das nächste Mal aufwacht. Um eine Bezugsperson zu sehen. Jetzt standen sie wieder vor ihrem Zimmer mit einem Becher des Automatenkaffees in der Hand und warteten. „Ist so eine Reaktion normal?“, fragte Melanie Schwester Susanne als diese vorbeikam, um nach ihr zu sehen.
„Das ist unterschiedlich. Manche reagieren so heftig. Andere nicht. Ich denke, dass dahinter mehr steckt als eine bloße Attacke“, sagte sie. „Was meinen Sie damit?“, blendete sich Thore in das Gespräch ein. „Ich denke sie will etwas sagen, kann es aber nicht, deshalb wäre es gut, wenn Sie hierblieben“, sagte Schwester Susanne. Dann klingelte es in ihrer Kitteltasche. „Ich muss los“, entschuldigte sie sich und ging.
„Ob sie wieder ganz die alten wird?“, fragte Melanie nach einer Weile. Beide saßen im Empfangsbereich und hatten vier Becher Automatenkaffee getrunken. „Hoffen wir es“, sagte er. Beiden war die Müdigkeit anzusehen. „Ich bin müde“, sagte sie und sah ihn an. Er verstand es als Zeichen zu gehen und nickte.
Die vorgegebene Geschwindigkeitsbegrenzung innerorts war für Melanie nur eine unverbindliche Empfehlung. „Ich verstehe nicht, wie es zu dem Unfall kommen konnte. Da muss etwas passiert sein. Etwas was sie so sehr in Panik oder Angst versetzt hat. Und du hast gehört was die Krankenschwester gesagt hat“, sagte sie und fuhr über eine dunkelgelbe Ampel. Thore hob seinen linken Arm auf halbe Höhe. „Mel, ganz ehrlich, vielleicht hat sie einfach nur die Kontrolle verloren, weil sie sich hat volllaufen lassen und dann ist ihr bewusst geworden, dass es ein Fehler war und sie wollte schnell weg bevor man sie erwischt. Heim. Den Rausch ausschlafen oder was weis ich. Sie war den Tag über schon angekratzt. Wundern würde es mich nicht“, sagte er und Melanie legte eine Vollbremsung hin. Glücklicherweise war das Verkehrsaufkommen um diese Uhrzeit nicht allzu groß. „Sag das nie wieder! Hörst du! Nie wieder! Thore, du hast keine Ahnung von KK!“, wurde sie mehr als deutlich und er war überrascht ob ihrer Reaktion. Er hob abwehrend die Hände. „Ok ok, tur mir leid. Ich dachte nur“, fing er eine Entschuldigung an, doch Melanie unterbrach ihn. „Du dachtest dir gar nichts, also lass es“, sagte sie, legte den Gang ein und fuhr nach Hause.
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Tag 8115 der Ermittlungen im Fall Charlotte Johansson
Ihr Schlaf wurde flacher und ein monotones Piepsen durchdrang ihren Dämmerzustand. Die Schmerzen im Hals waren immer noch vorhanden. Sie erinnerte sich lückenhaft an das was passiert war, jedenfalls so gut sie konnte. Sie wollte sich mitteilen, wollte erzählen was geschehen war, aber niemand verstand sie. Sie musste sich zusammenreißen. Bleib ruhig, ermahnte sie sich. Sie wusste wo sie war und auch warum. Sie blinzelte, denn das Licht, welches in ihr Zimmer fiel, blendete sie. Schlucken konnte sie nicht. Der Speichel wurde abgesaugt. Ob sie es wissen?, dachte sie. „KK“, vernahm sie eine vertraute Stimme. „KK ich bins, Melanie. Alles gut. Bleib ruhig“, sagte Melanie und legte ihre Hand auf ihren linken Arm. Sie konnte es kaum glauben. Melanie war da. Melanie verstand sie. Verstand sie immer. Wieder versuchte sie etwas zu sagen. Doch sie unterbrach sie. „Du musst dich ausruhen, du hattest einen Unfall“, sagte sie Das weis ich, dachte KK, das wies ich. „Frau Kubin, sie hatte außerdem eine Menge Alkohol im Blut“, sagte eine andere weibliche Stimme und KK erinnerte sich dunkel daran das es selbige Stimme war, welche dazu aufforderte, weiter Beruhigungsmittel in sie zu pumpen. Nein Melanie, lass mich mit ihr nicht allein, versuchte sie durch ihre Augen kenntlich zu machen. „KK was ist passiert?“, fragte Melanie. KK überlegte ob Melanie wirklich eine Antwort von ihr erwartete. Sie versuchte es erneut mit dem Sprechen, aber es klappte nicht. Sie gab es auf und sank ins sich zusammen in ihr Bett. Eine Träne rollte über ihre linke Wange. „Frau Kubin, das dauert alles Zeit. Geben Sie sich selber Zeit“, sagte die fremde weibliche Stimme und KK dachte, dass das Einzige was sie nicht hatte, eben diese Zeit ist. Dann schlief sie wieder ein.
II
Melanie von Wehren ging den Besuch bei KK noch einmal durch. KK wollte etwas sagen, das war klar. Konnte aber nicht. Nur was? Was wollte sie sagen? Dass es ein Unfall war? Dass es ihr leidtat? Dass es ein Reh war? Nein, dafür kannte sie sie zu gut. KK war sich der Situation bewusst. Sie wusste was sie gemacht hatte. Da war noch etwas. Was Entscheidendes. „Und?“, unterbrach er als erstes die Stile, welche zwischen ihnen herrschte seit sie das Krankenhaus verlassen hatten. „Und was?“, war ihre Antwort. Sie war nicht gewillt zu reden. „Hat sie was gesagt? Zum Bespiel warum es passiert ist?“, hackte er nach. „Nein“, hielt sie sich kurz und schwieg. „Hat man ihre Sachen durchsucht als sie eingeliefert wurde?“, fragte Melanie während sie auf ihren Parkplatz zusteuerte. „Ich weis nicht. Warum?“, fragte er. Sie hielt an. „Was, wenn KK uns sagen wollte, dass es etwas gibt, was wir uns anschauen sollten?“, fragte Melanie. „Und was sollte das sein?“, fragte Thore. Melanie schüttelte ihren Kopf. „Ich habe keine Ahnung“, sagte sie und stellte ihr linkes Bein an. „Ich ruf noch einmal an“, sagte sie und holte ihr Mobiltelefon heraus.
Nachdem sie das Krankenhaus angerufen und man ihr erklärt hatte, dass man im Moment die persönlichen Sachen von Frau Kubin nicht finden kann, diese aber bestimmt nicht verloren gegangen wären, saßen Melanie und Thore am Küchentisch. Er ging die Akte durch. Sie verstand nicht wie er in so einer Situation die Ruhe hatte sich auf den, wie sie fand, sinnlosen Fall zu konzentrieren, Sara hin oder her. Er sah nach draußen. „Wir brauchen Ergebnisse Mel“, sagte er. „Nein, du brauchst Ergebnisse. Sonst zählst du Elche, oder Eisbären auf Spitzbergen. KK liegt im Krankenhaus und du denkst nur an dich, habe ich das Gefühl“, sagte sie deutlich hörbar. „Willst du meine Meinung wissen?“, fügte sie hinzu. „Sehr gern, nur zu“, gab er zurück. „KK weis was. Sie hat etwas gesehen. Das mit dem Fall zu tun hat. Und das will sie uns mitteilen. Ich denke, der Schlüssel, um das hier“, sie zeigte auf die Akte, „der Schlüssel, um das hier zu lösen, liegt im Krankenhaus auf der ITS und kann sich nicht mitteilen was er gesehen hat. KK ist nicht dumm, Thore.“ Er sah sie an. „Dann müssen wir hin, und sie überwachen“, sagte er mit zittriger Stimme.
III
Sie fuhr. Der Schweiß klebte ihre Haare an ihre Stirn. Ihr Herz raste. Und ihr Magen rebellierte. Zum Teil wegen dem Alkohol. Zum Teil wegen dem was sie in der Tasche hatte. Sie fuhr schnell und schnitt Kurven. Konzentrier dich, ermahnte sie sich. Mach keinen Fehler. Nicht im Regen. Erneut versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen. Das muss ein Zufall sein. Das wird sich aufklären. Das ist lächerlich, dachte sie. Ausgerechnet hier. Ausgerechnet bei ihm. Nein, sie ermahnte sich, Ruhe zu bewahren. Der Tacho überschritt die 120. Ruhig KK. Dafür gibt es eine Erklärung. Kunsthändler. Oder so. Kunstliebhaber. Mörder. Mörder. Mörder. 130 Kilometer pro Stunde. Kurz musste sie auflachen. Massengentest kam es ihr in den Sinn. Eine Träne lief ihr über die rechte Wange. 140 Kilometer pro Stunde. Sie unterschätzte die nächste Kurve. Kam von der Straße ab und überschlug sich.
Sie riss die Augen auf. Hastig suchte sie mit ihrer rechten Hand nach dem Pieper. Dem kleinen Ding, um die Krankenschwester zu rufen. Ihr war klar, dass er es wusste. Und sie wusste das er sie mit diesem Wissen nicht gehen lassen durfte. KK verfluchte sich. Warum war sie nicht einfach gegangen. Raus durch die Tür und gut. Warum musste sie sich die Wohnung anschauen.
Noch bevor sie den Pieper finden konnte öffnete sich die Tür und Schwester Susanne kam herein. „Sie haben Blumen bekommen, aber hier dürfen die nicht rein. Ich habe sie bei uns im Schwesternzimmer aufgestellt. Und eine Karte dazu“, sagte sie und kam auf sie zu, um ihre Vitalfunktionen zu kontrollieren. „Na das sieht doch ganz gut aus“, sagte sie. „Wir können Sie heute verlegen auf Normalstation. Da sind dann Blumen erlaubt“, fügte sie hinzu. Sie musste hier raus. Und zwar sofort. Und sie brauchte Melanie. KK hob ihren rechten Arm, um sich mitzuteilen.
16
Sie war weg. Er hatte zu fest geschlafen, um es zu bemerken. Sie war weg. Fast hätte er gelacht bei dem Gedanken. Niemand, aber auch wirklich niemand hatte sich jemals um diese Kette gekümmert. Ein Geschenk hatte er immer gesagt. Und sie dort gelassen. Und ausgerechnet diese, was war sie gleich?, dachte er, diese, was auch immer sie war, vielleicht Hobbyschnüfflerin. So eine die Verschwörungstheorien nach geht, so eine muss diese Kette entdecken und eins und eins zusammenzählen. Eigentlich konnte man nur darüber lachen, dachte er. Eigentlich. Wenn die Situation nicht so verdammt ernst wäre. Er musste handeln. Sofort. Sonst wäre alles aus. Alles, was er sich aufgebaut hätte wäre vorbei. Er musste handeln. Daran bestand kein Zweifel.
II
Er hatte von dem Unfall gehört. Hatte gehört, dass es sich um eine Justizangestellte handelte, welche mit zu hoher Geschwindigkeit von der Straße abkam. Und er hatte gehofft, dass sie es ist und gleichzeitig das sie es nicht schafft. Und er hatte gehört, dass sie Alkohol im Blut hatte. Er hatte gehofft das sie es nicht schafft. Zwei Tage waren seitdem vergangen. Innerlich hatte er sich schon darauf eingestellt, dass er Besuch bekommt, aber daraus wurde nichts. Und langsam konnte er eins und eins zusammenzählen und das Bild erhielt mehr und mehr Konturen. Sie war es. Sie, die jetzt vor ihm lag und schlief. Jetzt musste er es nur noch zu Ende bringen und niemand würde mehr Verdacht schöpfen gegen ihn.
Ihr Zimmer zu finden war nicht allzu schwer. Der Empfang war nicht besetzt. „Aus Gründen akuten Personalmangels, ist der Empfang heute nicht besetzt“, stand auf einem Schild. Die ITS war gut ausgezeichnet auf den Schildern. Und Krankenhauspersonal war auch so gut wie keines da. Oder sie waren am Patienten. Ihr Name stand außen neben der Zimmernummer. Ganz einfach. Sein Herz schlug schneller als er seine Hand auf die Türklinke legte, sie nach unten drückte und eintrat in das Zimmer.
Er fuhr mit seiner rechten Hand in seine Jackentasche. Der Griff war kalt. Er holte das Messer heraus und sah es an. Gleich, dachte er, wäre es vorbei. Und er wieder in Sicherheit. Er und sein Geheimnis. Er führte es zu den Schläuchen, welche aus ihr herauskamen und setzte an. Gleich war es vorbei.
III
„Wer sind Sie und was machen Sie hier? Verlassen Sie sofort das Zimmer oder ich rufe den Sicherheitsdienst“, fuhr ihn eine Stimme aus dem Hintergrund an. Ruckartig drehte er sich um und sah die Frau im grünen Kittel. Schwester Susanne, stand auf dem Namenschild. „Ich bin ein Angehöriger und wollte nur kurz nach ihr sehen“, sagte er und wollte gehen. „Frau Kubin hat keine Angehörigen. Also, was tun Sie hier“, sagte sie und stellte sich ihm in den Weg. Sie griff in ihre rechte Kitteltasche und holte ihr tragbares Telefon heraus. Gedämpft hörte er sie etwas in das Telefon sagen, dann ging alles ganz schnell. So, als hätte es einen Kurzschluss gegeben. Er holte aus und stach ihr das Messer in den Bauch. Sie sank zusammen. Das Telefon fiel aus ihrer Hand zu Boden. Er hörte keinen Aufprall. Während sie zu Boden ging versuchte sie sich an ihm festzuhalten aber ihre Kräfte verließen sie innerhalb von Sekunden. Er zog das Messer aus ihr heraus. Er drehte sich um. Er trat erneut an das Bett. Sein Atem vibrierte. Er konnte nicht mehr klar denken. Seine ganzen Pläne waren zunichte gemacht. Er nahm das Messer von welchem noch Blut von Schwester Susanne tropfte und schnitt wahllos alle Kabel durch die er fassen konnte. Der Alarm sprang sofort an. Und er rannte raus.
17
Er fuhr. Sie ging die Akte durch. Es war eher ein Durchblättern als ein genaues studieren. Bei dem angefertigten Phantomfoto hielt sie inne. Sie sah zu ihm rüber. „KK hat das Foto nie gesehen, oder? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie es je erwähnt hatte“, sagte sie. Er hob die Schultern. „Und?“, fragte er. „Das sagt uns, dass es etwas anderes ist, was sie wahrgenommen, beziehungsweise gesehen hat. Und sie damit weis wer es ist“, sagte sie. Als Thore das hörte krampfte sich sein Magen zusammen. Er hatte das Gefühl anhalten und sich übergeben zu müssen. Nach all den Jahren. Den vergeblichen Versuchen, sollte es jetzt doch endlich geklappt haben? Er drückte das Gaspedal tiefer. Sie durften keine Zeit verlieren.
II
Er parkte direkt vor dem Eingang des Krankenhauses. Melanie riss die Tür auf und rannte zum Eingang. Thore folgte ihr. Mehrere Pfleger und Ärzte rannten durch die Gänge. Einer schrie etwas zum anderen. Thore und Melanie hatten Mühe sich den Weg zur Intensivstation zu bahnen. „Was ist hier los?“, fragte er. „Es muss was passiert sein“, sagte sie. KK, schoss es Melanie durch den Kopf. „Er hat sie gefunden“, schrie sie zu Thore. „Dann ist er vielleicht noch hier. Du gehst zu ihr, ich suche draußen. Er kann nicht weit gekommen sein“, sagte er. „Du weist doch nicht mal wie er richtig aussieht“, gab Melanie zu bedenken, während sie von hinten gestoßen wurde. „Machen Sie Platz“, harschte eine männliche Stimme sie an. „Weg da weg da weg da“, schrie eine weibliche. „Mir reicht das Phantombild. Geh zu KK“, verabschiedete er sich von ihr und rannte raus.
Melanie
Sie versuchte sich ihren Weg zur Intensivstation zu bahnen. Aber das Personal machte es ihr unmöglich vorwärts zu kommen. „Was ist hier los?“, fragte sie einen Pfleger, welchen sie kurz anhalten konnte. Es gab eine Tote und eine in kritischem Zustand auf der ITS. Jemand ist hier reingekommen, hat eine Kollegin erstochen und Schläuche einer Patientin zerschnitten, zum Glück wurde der Alarm rechtzeitig ausgelöst und wir konnten zumindest die Patientin retten. Die Kollegin hatte leider nicht so viel Glück. Sie hatte zuviel Blut verloren. Wir konnten nichts für sie tun, führte er weiter aus und rannte weiter. Tief getroffen, von dem, was sie gerade gehört hatte, lehnte sich Melanie an die Wand hinter sich. Er war also zu allem entschlossen, das wurde ihr bewusst. Sie sank zusammen und zog ihre Beine an sich. Zwischen all dem lärmenden Krankenhausmitarbeitern saß sie an eine Wand gelehnt auf dem Boden und weinte. Sie hoffte er würde ihn finden.
Thore
Er rannte nach draußen. Sah um sich. Weit konnte er nicht weg sein. Einen Vorsprung von etwa zehn Minuten. Das war noch zu schaffen. Er sah nach links. Dann nach rechts. Thore entschied sich für rechts. Er hoffte das seine Entscheidung richtig war. Er rannte an einigen Patienten vorbei. Manche allein. Andere mit Angehörigen. Aus dem Augenwinkel nahm er ein älteres Ehepaar wahr, welches auf einer Bank saß. Der Mann trug ein Sauerstoffgerät und hielt die Hände seiner Frau. Ein Abschied, dachte Thore im Vorbeirennen. Ob es bei ihm und Mel einmal ähnlich wäre, dachte er. Er hielt an. Und sah sie um. Keine Spur. Was wenn es doch die andere Richtung war. Er atmete tief durch. Dann klingelte sein Telefon.
Melanie
Er hielt ihr den Mund zu und ein Messer an die Kehle. „Ihr hättet es einfach gut lassen sollen“, sagte er. „Das alles macht sie nicht mehr lebendig, aber nein, ihr musstet ja weiter rumschnüffeln in der Vergangenheit“, fuhr er fort. In Melanies Augen spiegelte sich die blanke Panik. Ihre Atmung war so flach, dass sie Angst hatte ersticken zu müssen. Das Messer war kalt, aber an ihrer Kehle glühte es. So fühlte es sich jedenfalls an. Sie wusste, eine falsche Bewegung und ihr Blut wäre das nächste was sich über den Flur ergießt. Er hatte sich im Treppenhaus versteckt. Sie wollte gerade das Gebäude über dieses Treppenhaus verlassen, da begegneten sie sich. Sie war noch immer in Tränen aufgelöst. Und er zu neugierig. Beiläufig fragte er was los sei. Und da erzählt sie von ihrer Freundin. Und er wusste wer sie war. Dann ging alles ganz schnell. Ein geübter Griff und sie war in seiner Gewalt. Er stieß die Tür vom Treppenhaus zu dem Innenraum auf. Ein Aufschrei ging durch die Hallen. Er schrie das keiner näherkommen solle. Jedes einzelne Wort hämmerte sich in ihren Schädel ein. Keiner der Angestellten bewegte sich. „Ihr hättet es damals einfach gut sein lassen sollen“, widerholte er. In diesem Moment fuhr ein Krankenwagen vor. Ruckartig öffneten sich die Türen. Er war einen Moment abgelenkt. Sie nutzte die Zeit und versuchte in ihrer Hosentasche an ihr Mobiltelefon zu kommen und Thore anzurufen. Der Moment der Verwirrung war vorbei. Er zog kräftig an ihrem Arm, sodass ihr ein Schmerzlaut entfuhr. „Halts Maul“, schrie er sie an. Und das Messer schnitt sich ein Stück tiefer in ihren Hals. Sie hoffte inständig, dass sie Thore erreicht hatte und dass er alles mit anhört.
Thore
Er verstand die ersten Worte nicht und wusste auch nicht wer da sprach. Melanie war es nicht. Dann hörte er ihre Stimme. Der Aufschrei. Er lies sein Telefon fallen und rannte so schnell zurück wie er konnte. Seine Lunge schmerzte und ein Stechen fuhr in seine Seite. Das alte Ehepaar saß noch immer auf der Bank. Als er das Krankenhaus erreichte herrschte Totenstille. Alle sahen zu ihm. „Keiner bewegt sich, oder sie ist tot“, schrie er in Thores Richtung. Und Thore tat was er sagte. Er wusste, dass eine falsche Bewegung Melanies Tod bedeuten könnte. „Warum hast du es damals getan?“, versuchte er ein Gespräch zu beginnen. „Halts Maul“, war die Antwort. „Ich werde jetzt verschwinden, mit ihr hier, und keiner folgt uns sonst stirbt sie, klar?“, fügte er dem hinzu. Er sah sich um. Alle hoben die Hände. Auch Thore wollte kein Risiko eingehen. Langsam ging er rückwärts zur Tür. Er drückte Melanies Arm noch stärker um und sie schrie erneut auf. „Sei ruhig habe ich dir gesagt“, fuhr er sie an. Das Messer schnitt sich tiefer in ihr Fleisch. Melanie röchelte. „Lass mich los“, flehte sie ihn an. Er ignorierte das und ging weiter in Richtung Ausgang. „Warum hast du das getan?“, fragte Thore erneut. „Das war nicht geplant. Ich weis nicht genau, aber sie fing an zu schreien. Und da habe ich zugeschlagen. Und dann lag sie da. Ich hatte Panik. Die kriegen sogar Briefe von mir. Jedes Jahr. Alle die mich gesehen haben. Dass sie die Klappe halten sollen“, sagte er und Melanie merkte wie die Klinge sich etwas löste von ihrem Hals. „Du hast sie unter einem Stein vergraben“, entgegnete Thore. „Ich wollte sie beerdigen. Ich wollte das nicht“, sagte er wieder. „Und die Krankenschwester, und Katrin, wolltest du das auch nicht“, sagte Melanie unter Schmerzen. „Auch alles Unfälle?“, fügte sie hinzu. Er wirkte nervös. „Meine Halbschwester. Seit dem Tag ist sie ein Wrack. Sie lebt abgeschottet in einem Heim. Hat den Verstand verloren. Das wolltest du auch nicht, oder?“, fügte Thore hinzu. Thore sah ihm in die Augen und da war dieser Funke, der zeigte, dass er zu weit gegangen war. Dass er sich nicht mehr im Griff hatte. Der eine Tropfen war zu gefallen. Der Tropfen zu viel. Der Tropfen, der anzeigt, dass er sich nicht mehr im Griff hat. Dann ging alles ganz schnell. Er schnitt Melanie die Kehle durch. Drehte sie ruckartig um. Und während das Blut aus ihrem Hals lief stach er ihr drei Mal in den Unterleib. Er ließ das Messer fallen und lief davon. Melanie sank zusammen. Um sie herum wurde es schwarz. Sie hörte nur noch einen dumpfen Knall. Dann noch einen. Und dann noch einen. Danach verlor sie das Bewusstsein.
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Kommentar von Mia Olsen - Aftonblatt
Nach fast fünfundzwanzig Jahren ist der Mordfall Charlotte Johansson endlich aufgeklärt. Europol Ermittlern gelang es in Zusammenarbeit mit deutschen Behörden den Täter in der Kleinstadt Kamenz festzusetzten. Dieser leistete enormen Widerstand und wurde im Zuge dessen erschossen. Eine Kriminalbeamtin wurde durch den Widerstand des Täters schwerst verletzt. Ihr Zustand ist zum jetzigen Zeitpunkt äußerst kritisch. Auch die federführende Staatsanwältin Katrin Kubin wurde bei der Festsetzung verletzt. Über ihren Zustand ist nichts bekannt. Ebenfalls wurde eine Krankenschwester tödlich verletzt als sie sich dem Täter in den Weg stellte, um ihn an der Flucht zu hindern. Wir als Redaktion hoffen, dass die beiden Beamtinnen bald genesen und danken Europol für die Aufklärung dieses Verbrechens, welches unser Land so lange hat in Atem gehalten.
Nachdem Lauri Ruuskanen, der Archivar, die Zeilen zu Ende gelesen hatte, klappte er die Zeitung, zu nickte und lächelte. Er spürte wie eine große Traurigkeit den Raum für immer verlassen hatte.
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Tag der Veröffentlichung: 22.03.2020
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Auch diese Buch widme ich Sol Stein. Aber allen die an mich immer gelaubt haben. Freunde. Familie. Bekannte.