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Müde fiel er in sein Bett in dem Bed and Breakfast in Torshavn als er nach sechsunddreißig Stunden Überfahrt mit dem Schiff und einer dreißigminütigen Irrfahrt durch die kleinste Hauptstadt der Welt hinter sich hatte. Nur noch schlafen, dachte er, und mit diesem Gedanken im Sinn sank er auf seinem Bett zusammen. Er hatte noch die Worte der Gastgeberin im Sinn, das im Nachbarzimmer eine junge Frau aus Finnland untergebracht sei, aber sein Körper forderte den Schlaf. Keine Träume. Nur Schlaf. Das war alles, was er brauchte. Und wollte.

 

Tag 1

 

Das Frühstück, welches in der Küche der Gastgeberin stand war reichhaltig. Geizig war sie nicht. Die Gastgeberin. Er hatte sich kaum gesetzt, da kam sie hoch. Schwarze Haare. Elfenhaftes Gesicht. Und Trainingsanzug. „Hey, ich bin Emilia“, stelle sie sich ihm in Englisch vor. „Mike“, antwortete er kurz. Sie lächelte. Er maß dem keine weitere Bedeutung zu. Sie tauschen Höflichkeiten und die Pläne für den Tag aus. Er wusste nicht was es genau war, er wusste nur das sie etwas getan hatte, in der kurzen Zeit, was ihn anzog. Selbst als sie den Raum verließ konnte er seinen Blick nicht von ihr lösen. Er hielt kurz inne. Seine Erfahrungen mit Frauen die Trainingsanzüge zum Frühstück trugen waren sehr übersichtlich.

 

Den Titel „kleinste Hauptstadt der Welt“ fand er passend. Es war so wie die Gastgeberin es ihm erklärt hatte. Alles konnte man zu Fuß erreichen. Ein Auto war nicht notwendig. Die Touristenbüroangestellten waren sehr freundlich. Erklärten ihm alles genau. Ließen keine Frage unbeantwortet. Als er aus dem Büro heraustrat wehte ihm der Wind entgegen. Mit seiner rechten Hand hielt er seinen Parka am Hals zu. „Das Wetter hier kann von einem Augenblick auf den nächsten umschlagen“, hatte er gerade gehört und nun auch erlebt. Er dachte an sie. Was sie jetzt wohl unternahm? Ob sie an ihn dachte? Er hoffte die Gelegenheit zu bekommen in welcher sie nur zu zweit wären. Er ging am Hafen entlang. Ob es sich lohnen würde hier her auszuwandern? Hier für immer zu leben? Er verwarf diese Fragen. Jetzt war nicht die Zeit daran zu denken. Der Regen setzte ein und er ärgerte sich darüber, dass er seinen Schirm im Auto vergessen hatte.

 

Er saß am Tisch in der Küche, welche nur für die Gäste da war und aß seine Hot Dog Pizza, trank Cola und lauschte den Regentropfen, welche gegen die Fensterscheibe schlugen. In seinem linken Augenwinkel erblickte er sie als sie die schmale Gasse zur Haustür einbog. Sie kam vom Joggen. Sie schloss die Eingangstür auf und betrat die Küche. „Hey“, sagte er. Sie erschrak „Hey, ich habe dich gar nicht gesehen. Der Regen hat mich überrascht und ich bin so schnell wie ich nur konnte zurück“, sagte sie. Das Gefühl, welches er heute früh hatte, verstärkte sich. In ihrer Stimme schwang ein gewisser Zauber welchem er sich nicht entziehen konnte. „Und jetzt eine heiße Dusche?“, fragte er lächelnd. „Erst einmal einen warmen Tee“, meinte sie und setzte Wasser auf. „Du darfst dich gern setzen“, sagte Mike und bot ihr einen Stuhl an. Sie setzte sich ihm direkt gegenüber. „Wie war dein Tag?“, fragte sie und er erzählte ihr wie stark er Torshavn unterschätzt hatte. „Man kann wirklich alles zu Fuß erreichen. Das ist überhaupt kein Problem“, sagte er und aß das vorletzte Stück Pizza. „Das letzte wäre für dich“, sagte er und bot es ihr an. Sie nahm es. „Danke“, sagte sie und das Wasser zeigte mit starkem Dampf an, dass es für die Zubereitung des Tees bereit ist. Es war schwarzer Tee mit etwas Zitrone. Beide sahen sich an und schwiegen für etwas mehr als eine gefühlte Ewigkeit. „Warum bist du hier?“, fragte sie. Für einen kurzen Moment zögerte er diese Frage zu beantworten. Sollte er ihr die Wahrheit sagen? Dass er hier war um Abstand zu gewinnen? Von seinem Leben daheim? Oder sollte er ihr einfach eine Lüge erzählen. Dass er schon immer auf die Färöer wollte. Ohne sie nah an sich heranzulassen. Sollte er ihrem Zauber nachgeben oder es bei dem kurzen Eindruck belassen? Er entschied sich für die Wahrheit. „Ich lebe in Trennung. Und bin hier weil ich Abstand brauche von allem.“ „Das tut mir leid“, sagte sie und wirkte etwas verlegen. „Nicht deine Schuld“, sagte er und begann von seiner Ex-Frau zu erzählen. Wie sie sich damals auf einer Party kennengelernt hatten. Dass er aus Versehen seinen Drink über ihren Arm gekippt hatte. Dass ihm dies sehr unangenehm war und dass sie darüber gelacht hatte. Dass sie am Ende der Party Telefonnummern austauschten und am nächsten Morgen zusammen frühstückten. In einem dieser Schnellrestaurants. „Sechs Monate später, zogen wir zusammen. Nichts großes“, fuhr er fort. „Ein Jahr später heirateten wir. Freunde und Familie waren da. Drei Jahre ging es gut. Dann ging etwas schief.“ Sie hörte zu und nahm einen Schluck Tee. Von der Art des Trinkens schlussfolgerte er, dass die Trinktemperatur erreicht war. Obwohl er sich da nicht so sicher war, denn er hatte die Erfahrung gemacht, das Frauen auch kochend heißes Wasser trinken konnten. Konnten sie es aber auch in Finnland? Er wusste wirklich nicht viel über die Frauen in Finnland. „Möchtest du?“, fragte sie ihn und bot ihm ihre Tasse an. Mike lehnte ab und deutet auf seine Cola. Hauptsächlich jedoch lehnte er ab, weil er der Temperatur des Tees nicht glaubte. „Was passierte dann?“ fragte sie. Er sah nach draußen. Es regnete immer noch. Und die Sonne ging hier viel später unter als daheim. Er räusperte sich. „Der Alltag. Die Arbeit. Zu viel davon. Früh raus. Abends spät heim. Da blieb kaum Zeit für Zweisamkeit. Ein Termin jagte den nächsten und der nächste war immer der wichtigste. Und so kommt man in einen Teufelskreis. Ohne das man es sofort merkt. Und merkt man es, ist es zu spät. Und dann kam der Tag an welchem sie mir sagte, dass sie schwanger sei. Und dass ich nicht als Erzeuger in Frage käme.“ Seine Stimme versagt bei diesen Worten. Er trank seine Cola aus und sah sie an. Überlegte ob es richtig war diesen Weg zu gehen und einer völlig Fremden sein Seelenleben offenzulegen. Er sah nach draußen. Der Regen hatte aufgehört und es wurde langsam dunkel. Wenn sie untergeht, dann geht die Sonne hier schnell unter, dachte er. „Das ist sehr traurig. Niemand verdient das“, sagte sie. „Leider war es so“, sagte er. Halb zwölf stand sie auf. Gähnte und sagte dass sie jetzt duschen und dann ins Bett gehen werde. „Sag bescheid wenn du fertig bist“, sagte er.

 

Als er nach dem Duschen in seinem Bett lag ging er noch einmal in Gedanken den Abend durch. Seltsam, dachte er, in einem Bed and Breakfast in Torshavn einer Fremden zu erzählen, was so schief ging im Leben. Und zum ersten Mal hat wirklich jemand zugehört. Jedenfalls hatte er das Gefühl. Das sie zugehört hatte. Ohne sich währenddessen eine Antwort zu überlegen in welcher sie abgedroschene Phrasen sagte wie „dazu gehören immer zwei“ oder ähnliches. Nein. Sie war anders. Sie hörte einfach zu. Ob sie noch wach war? Ob sie an ihn dachte? Oder ob sie schon schlief. Schon merkwürdig, dachte er. Diese Frauen aus Finnland. Und ihr Zauber.

 

Tag 2

 

Wie bestellt und von Mike sehr geschätzt gab es um acht Uhr Frühstück. Kontinuität war das, was er nach der Trennung brauchte. Feste Zeiten. Feste Abläufe. Struktur. Um nicht in einer Lethargie zu versinken aus der es so schnell kein herauskommen gäbe. Kurz nach acht kam Emilia und setzte sich an den Tisch. „Hey“, sagte sie und sah sehr verschlafen aus. „Du siehst müde aus“, sagte er. „Ich konnte nicht einschlafen“, sagte sie und goss sich Kaffee ein. Sie trank ihn schwarz. Ohne Zucker. Er überlegte ob sie an ihn gedacht und deshalb nicht schlafen konnte. Ob sie dieselben Gedanken hatte. „Das macht munter“, sagte sie. „Habt ihr etwas heute geplant?“, fragte die Gastgeberin. „Ich wollte entweder nach Klaksvik oder Runavik“, sagte Mike. „Ich wollte nach Klaksvik. Eine Reisegruppe aus Finnland welche im Hotel Föroyar ist würde mich mitnehmen“, sagte sie. „Ich kann dich auch mitnehmen“, sagte Mike. „Das ist gut und ich zeige euch die schönste Route nach Klaksvik. Die, welche nicht alle fahren“, sagte die Gastgeberin.

 

Die Landschaft und die Ruhe waren unbeschreiblich. Zwischen Funingur und Funingsfjördur hielten sie an um ein paar Fotos zu schießen. Die Sonne brach durch die Wolken. Emilia fotografierte. Er stand etwas seitlich hinter ihr und berührte sie mit seiner linken Hand am Rücken. Weder sah sie ihn dabei an und noch entzog sie sich der Berührung. Sie ließ es einfach zu. Für ein paar Augenblicke. Dreht sich um und sagte: „Lass uns weiter fahren. Mir wird kalt.“ Die nächst größere Stadt, wenn man den Begriff Stadt dafür verwenden möchte, war Eidi. Und damit kamen sie auch Gjöv immer näher. Was hatte die Gastgeberin über die Legende noch gesagt? Weder Mike noch Emilia konnten sich so richtig an ihre Worte erinnern. War es ein Liebespaar welches versucht hatte vor Tausenden Jahren die Färöer nach Island zu ziehen aber bei dem Versuch scheiterten und zu den zwei Felsen vor Eidi wurden? Als sie die beiden Felsen sahen hatte der Regen wieder eingesetzt. Sie stiegen aus und Emilia fotografierte. Nur ein Bild. Mehr ließ der Regen nicht zu. „Ich habe Hunger“, sagte Mike im Auto. Es gab wie zum Frühstück Brötchen mit Wurst und Käse. Dazu Kaffee und Limonade. Verhungern, dachte er. Verhungern muss hier niemand. „Ich mag diese Abgeschiedenheit“, sagte sie. „Man hat nur sich selber. Keine Ablenkung.“ Er nickte. „Ja, Zeit hat man hier, mehr als genug.“

 

Klaksvik Downtown war die Reise nicht wert. Jedoch alles um Klaksvik herum. Um nach Klaksvik zu kommen, mussten sie durch zwei Tunnel fahren und Mike gestand ihr, dass er Angst davor habe. Sie konnte ihr Lachen nicht unterdrücken und griff im selben Moment seine Hand. „Keine Angst“, sagte sie, „Ich bin bei dir.“ Er sah sie an. Lächelte und dachte warum um alles in der Welt seine Ex-Frau nie so etwas zu ihm gesagt hatte. Warum diese Frau, die er gerade einmal gute einundvierzig Stunden kannte und ob das die richtige Bezeichnung war, sie zu kennen, wusste er in diesem Augenblick auch nicht. Was er wusste war, dass eine Frau aus Finnland in einem Tunnel nach Klaksvik seine Hand hielt. Das war real. Und es fühlte sich gut an.

Sie hielten neben einem Friedhof. Die Sonne brach erneut durch die Wolken. Emilia schoss ein Foto. An den Friedhof grenzte ein Park. Sie gingen ein Stück. Ohne etwas zu sagen. Als sie vor einem Wasserlauf standen beendete sie das Schweigen. „Darf ich dich was fragen?“ „Sicher“, sagte er. „Habt ihr jemals versucht es wieder hinzubekommen? Entschuldige, wenn ich zu neugierig bin“, fügte sie ihrer Frage hinzu. Er fand dass diese Frage durchaus Berechtigung hatte. „Nicht wirklich. Es war zu viel kaputt“, sagte er und stand so nah wie möglich neben ihr. Sie nahm seine Hand. Beide hielten sie fest die des anderen. Von ihrer Berührung ging eine Energie aus, die ihm fast die Luft zum atmen nahm. Hatte sie etwas in ihm gelöst von dem er selber nicht gewusst hatte, dass es fest in ihm saß, nur darauf wartend, von ihr, und nur von ihr, gelöst zu werden? Eine Art Staudamm? Durch eine Berührung? Er fand diese Vergleiche immer übertrieben. Früher. Jetzt nicht mehr. Jetzt, in diesem Moment, hier oben, wusste er, das sie wahr waren. Und er fragte sich warum er erst zweitausend Kilometer von zu Hause entfernt sein musste, um das zu erkennen. Vielleicht lag es an der Ruhe. Der Ruhe und ihr. Als sie weitergegangen waren, er immer noch fest ihre Hand hielt, sah er zu ihr hinüber. „Was ist?“, fragte sie. „Nichts“, sagte er. Sie hatte sein Herz berührt. Auf eine Art und Weise wie es zuvor noch nie geschehen war.

 

Als er auf die Uhr sah war es zehn nach elf. Die Rückfahrt von Klaksvik verlief problemlos. Zum Abendessen gab es Pasta. Emilia hatte gekocht. Pasta und Tomatensauce. Und Käse. Einheimischen. Während des Abendessens sprachen sie über den Tag. Beide waren der Meinung, dass man ihn als gelungen bezeichnen konnte. Jetzt, zehn Minuten nach elf lag er in ihrem Bett und hielt sie in seinen Armen. Es fühlte sich gut an sie zu halten. Richtig gut.

 

„Er hieß Johann“, sagte sie und richtet sich auf. „Hey, ich dachte du schläfst.“ „Nein, ich kann nicht“, sagte sie. „Wer hieß Johann“, fragte er. „Jemand, den ich sehr geliebt habe. Wir hatten Pläne. Große. Ich habe ihn wirklich geliebt. Aber er brach mir das Herz“, sagte sie. Er fuhr über ihren Rücken. „Was war passiert?“ „Ich lernte ihn bei einem Salsakurs kennen. Ich liebe es zu tanzen. Er sprach mich an. Fragte, warum ich allein hier wäre. Ich wollte nicht drauf eingehen. Hatte genug Sorgen im Job damals. Aber er ließ nicht locker. Also sagte ich ja. Zu einem Date. Einem einzigen. Mehr wollte ich nicht und hatte mir auch fest vorgenommen ihm dies unmissverständlich klar zu machen. Aber der Abend verlief anders. Ganz anders. Er war ein richtiger Gentleman. Brachte eine Rose mit. Rückte mir einen Stuhl am Tisch zurecht. Er wusste wie man eine Frau bezaubert.“ Während sie erzählte fuhr er über ihren Nacken und sie stoppte kurz. „Magst du das?“, fragte er. „Ja. Sehr.“ Sie drehte sich um und küsste ihn. „Was passierte dann?“ Sie atmete tief ein. „Es war ein dreiviertel Jahr später. Wir wollten uns eine Wohnung ansehen. Alles war perfekt. Der perfekte Mann. Die perfekte Zukunft in der perfekten Wohnung. Dann klingelte sein Telefon. Er war nicht im Raum und da ich schon öfters an sein Telefon gegangen war und er auch nie etwas dagegen hatte, tat ich es wieder.“ Sie schüttelte ihren Kopf. „Hätte ich es nur gelassen. Es war seine Frau. Sie beschimpfte mich. Ich würde ihn seiner Familie wegnehmen. Und das war noch das harmloseste. Ich ließ das Telefon fallen. Ging zu ihm. Und sagte, dass seine Frau angerufen habe. Ich sagte, dass ich ihn nie mehr wiedersehen wollte.“ Mike rückte näher an sie heran und überlegte was jetzt das Beste wäre, was er sagen könnte. Es war nicht deine Schuld? Er hat dich belogen? Sicher, aber er beließ es bei einem langen Kuss auf ihre Schulter. Ohne Worte. Sie umarmte ihn. „Danke“, sagte sie und er nahm ihren Herzschlag das erste Mal ganz bewusst wahr. Sie löste die Umarmung als erstes und beide legten sich hin. In dieser Nacht schliefen sie beide sehr fest.

 

Tag 3

 

„Hallo, schön dich zu sehen“, sagte sie mit einem Lächeln auf den Lippen als sie zum Frühstück kam. Er sagte nichts. Erwiderte nur ihr Lächeln. Er war ja neben ihr aufgewacht. Es war ihre Idee gewesen getrennt zum Frühstück zu gehen. Sie wollte nicht dass die Gastgeberin etwas bemerkt. „Was hast du heute für Pläne?“, fragte sie. „Ich möchte nach Nolsöy“, sagte er. „Ich auch. Wir könnten zusammen hinfahren“, antwortete sie.

 

Fünfundvierzig Minuten später saßen beide auf dem Schiff, welches sie auf die Insel Nolsöy bringen sollte. Eine Insel auf der es keine Autos gibt. „Ich denke, dass dies eine gute Idee war“, sagte er. „Das denke ich auch. Ich habe sogar eine Führung gebucht“, sagte sie. Er streckte seine rechte Hand vorsichtig nach ihrer aus und berührte sie. Wieder ließ sie die Berührung zu. Mehr noch. Sie erwiderte sie. Als er sie berührte hatte er das Gefühl als flossen zehntausend Volt durch seinen Körper. Ihre Haut war zart. Und doch hatte sie auch etwas von dieser finnischen Rauheit. Von der Kälte gezeichnet. Die Begegnung mit ihr würde ihn sein Leben lang begleiten, das wusste er. Emilia war eine echte Frau.

 

Die Führung über die Insel war gut. Nicht zuletzt deshalb, weil es ein Stück getrocknete Lammkeule gab. Sehr gut im Geschmack. Nach der Führung war noch etwas Zeit bis das Schiff wieder kam. Emilia und er waren sich einig darüber den höchsten Punkt auf Nolsöy, eine alte Burg, zu erobern. Das Problem daran war, das die Burg, oder was davon übrig war, auf der anderen Seite der Insel lag. Dreiviertel des Weges waren für ihn kein Problem. Eher das letzte Viertel. Ein steiler Anstieg. Kurz vor der Burg kapitulierte er. Setzte sich in das Gras und legte seinen Kopf auf seine Knie. Emilia erklomm die letzten Meter und winkte von oben herab.

Fünf Minuten später saß sie neben ihm. Beide schwiegen und sahen vor sich auf Torshavn. Von diesem Punkt hatte man einen guten Blick auf diese Stadt. „Ich möchte dich küssen“, sagte sie und drehte ihren Kopf zu ihm. Ohne ein Wort zu erwidern küsste er sie. Er legte seinen Arm um sie und es gab nur noch Emilia und Mike. Keine Zeit. Keinen Raum. Nur zwei Menschen, einen Mann und eine Frau. Auf einer Insel vor Torshavn.

 

Dreißig Minuten später kam das Schiff. Seine Hand ruhte auf ihrem Knie und er vernahm ein leichtes Vibrieren. Ob es von ihr ausging oder von ihm, oder ob es das Schiff war konnte er nicht mit Sicherheit sagen. Sie lehnte sich an ihn. Nach Rosen roch ihr Haar und er wusste, dass er diesen Geruch nie mehr vergessen würde. Nie mehr.

 

Er konnte ihren Atem auf seiner Brust spüren. Sie hatten sich geliebt. Im Bad und im Bett. Er dachte an das Abendessen, es gab Pizza, saß er ihr wieder gegenüber. „Das war gut“, sagte sie. „Die Pizza?“, fragte er. „Nein“, antwortet sie. „Die Führung?“, fragte er erneut nach. „Nein“, antwortet sie wieder. „Die Burg?“ Wieder gab es ein „Nein.“ Er aß ein Stück und beide sahen sich an. Sie beugte sich über den Pizzakarton und küsste ihn. Das Vibrieren kam wieder. Der Kuss war anders. Als würde sie seine Seele küssen. Nachdem beide gegessen hatten, sagte er, dass er jetzt eine Dusche brauchte um zu entspannen. Er ging in das Bad zog sich aus und legte seine Sachen ordentlich auf der Waschmaschine ab. Öffnete die Kabine und trat ein. Das Wasser war warm. Hatte genau die richtige Temperatur für ihn. Er hörte wie die Kabinentür sich erneut öffnete. Sie stellte sich eng an seinen Rücken und umfasste seine Hüften. Er war sich sicher, dass sie auf sein Tattoo sah, einen Drachen. Sie küsste es und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Sie atmete tief ein. Ganz ruhig. Das Wasser lief über beide. Er drehte sich um und sah ihr in die Augen. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie. Während er sie küsste hatte er das Gefühl den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie liebten sich in der Kabine. Er hob sie an und presste ihr Becken gegen die linke Innenseite der Kabine. Ihre Beine umschlungen seine Hüfte. Er hatte die Augen geschlossen, doch ihr Gesicht war vor seinem inneren Auge. Sie stöhnte leise. Er hatte das Gefühl, dass sie ihm nicht nur ihren Körper gab. Er spürte, dass sie mehr gab. Gab sich als Person ihm ganz hin. Er spürte wie ihre Beine fester seine Hüften umschlungen. Ihre gemeinsamen Bewegungen wurden schneller. Sein Herzschlag erhöhte sich. Er öffnete seine Augen. Sah sie an. Sah ihr in die Augen. Sie wurde lauter. Er hielt sie ganz fest mit beiden Händen. Die Erlösung ließ nicht lange auf sich warten. Beide sanken in sich zusammen. Er ließ sie runter. Sie umarmte ihn. Er küsste ihre Stirn. Das Wasser rann über beide. Er hatte seine Augen wieder geschlossen. „Ich möchte heute Nacht nicht allein sein“, sagte sie.

 

Tag 4

 

Um neun wachten beide gemeinsam auf. Kein Frühstück um acht. Nicht heute. Sie lang immer noch in seinen Armen. Ihre Beine hatte sie an ihren Körper gezogen. „Guten Morgen“, sagte sie und küsste ihn. Die letzte Nacht hatte nur ihnen gehört. Er würde nie wieder eine Frau auf diese Art und Weise lieben können, da war er sich sicher. Nicht mit dieser Intensität. Dieser Tiefe. „Unser letzter Tag“, sagte sie und legte ihren Kopf auf seine Brust. Er verdrängte diesen Gedanken. Mit seiner rechten Hand fuhr er ihr durchs Haar. „Es bricht mir das Herz“, sagte er. Das Gefühl der Ohnmacht fing an von ihm Besitz zu ergreifen. Er stand auf. Wollte dieser Ohnmacht nicht freien Lauf zu lassen. Sein Magen krampfte sich zusammen und er glaubte nicht heute etwas essen zu können. Sie trat von hinten an ihn heran. „Es ist ok“, sagte sie und legte wie gestern ihren Kopf auf seine Schulter. „Das darf es nicht gewesen sein. Das darf nicht hier enden Emilia. Nicht hier. Nicht heute.“ In seinen Augen begann sich das Wasser zu füllen. „Es darf nicht“, sagte er leise und wischte sich die Tränen weg. Ihre Hände hatte sie um seinen Körper gelegt. „Nein, das darf es nicht“, sagte sie.

 

Zwanzig Minuten nachdem sie gefrühstückt hatten, standen sie am Hafen von Torshavn. Er hatte seinen Arm um sie gelegt und beide sahen auf den Atlantik. Und auf Nolsöy. Wo sie gestern waren und einen Augenblick Ewigkeit hatten. Wieder sagte keiner von beiden etwas. Sie sah ihn an. „Ich möchte nicht, dass es ein trauriger Tag wird.“ Für Kurzentschlossene hatte das Touristenbüro immer etwas im Angebot. Eine Reittour durch die angrenzenden Hügel von Torshavn. Ungefähr drei Stunden dauerte diese Tour. Beide ritten einen Haflinger. Mike ritt auf Gunnar und Emilia nahm auf Tove Platz. Es war anspruchsvolles Gelände, durch welches sie ritten. Mike hielt sich fester am Sattel da er nicht zum ersten Mal auf einem Pferd saß. Der Regen setzte wieder ein und machte es nicht einfacher. Sowohl Gunnar als auch Tove rutschten mit ihren Hufen aus, fanden aber wieder Halt. „Macht Spaß“, sagte sie. Er stimmte dem mit einem Kopfnicken zu. Als Andenken gab es ein Foto mit dem Pferd.

 

Sie aßen im Hotel Föroyar. „An was denkst du?“ „Nichts.“ „Sicher?“ Er deutete ein Zucken mit der Schulter an. „Du wirst mich vermissen, nicht wahr?“ „Du mich nicht?“ „Doch, das werde ich. Mehr als du dir vorstellen kannst.“ Nach dem Essen gingen sie ein letztes Mal durch die Stadt. Ihre Stadt. Torshavn. Er hielt ihre Hand so fest er nur konnte. Sie liefen ohne einen Plan. Einmal links. Einmal rechts. Wieder setzte der Regen ein. Diesmal jedoch in Begleitung einiger Sonnenstrahlen. Sie blieben stehen und betrachteten den Regenbogen. Er nahm sie in seine Arme. „Jedes Mal, wenn ich jetzt einen Regenbogen sehe werde ich an dich denken“, sagte sie. „Ich auch an dich“, antwortet er und nahm noch einmal den Duft ihrer Haare in seiner Nase auf. Dass sein Leben in vier Tagen sich so einschneidend verändern konnte, damit hatte er nicht gerechnet. Die Intensität der auf ihn einströmenden Gefühle überwältigte ihn. Nie zuvor hatte er in seinem Leben etwas Derartiges erlebt. Nicht einmal als er verheiratet war. Und er dachte, dass so das Leben sein sollte. Tief und voller Gefühle. Er war froh darüber, dass er es gewagt hatte, sich ihr zu öffnen. Die beste Entscheidung seines Lebens, dachte er. Egal was noch kommen würde.

 

Das Abendbrot war nicht mehr als die Aufnahme von Nährstoffen. Weil es sein musste. Weil der Körper danach verlangte. Sein Magen krampfte und er konnte nicht alles essen. Auch seine Zunge fühlte sich nicht mehr wie eine Zunge an. Wie Blei lag sie in seinem Mund. Er konnte nichts sagen. Und als er sie betrachtete, spürte er, dass es ihr genau so erging. Das sie, wie er, unfähig war zu reden. Er sah einfach ins Leere. Sie nahm seine Hand. Wie damals. Auf dem Schiff. Und wieder kam diese Elektrizität der Berührung.

 

Sie liebten sich in ihrem Bett. Er wusste, dass es für lange Zeit das letzte Mal sein würde, dass er sie spürte. Dass er ihren Körper berührte. Sie küsste. Ihre Liebe spürte. Eine Liebe, die so tief ging, dass sie weh tat. Und Schmerzen bereithielt. Schmerzen, die Narben hinterließen, die erst an dem Tag verheilen würden, wenn sie sich wiedersahen.

 

Gegen zwei Uhr packte sie ihre Sachen. Um drei kam das Taxi, welches sie abholte. Telefonnummern hatten sie schon getauscht. Sie verabschiedeten sich mit einem Kuss. Einer Umarmung. Es war jetzt fünf Uhr morgens. Er lag in seinem Bett. Ihr Gesicht war das Einzige woran er denken konnte. Ob er sie wiedersehen würde? In genau vierundzwanzig Stunden würde er auf das Schiff zurück nach Dänemark an Bord gehen. Schon eigenartig, dachte er. Was das Leben so für Wege geht.

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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.11.2018

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Widmung:
Für SMJ

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