Eigentlich. Eigentlich war es sein letzter Tag vor dem Urlaub. Eigentlich wollte er heute nicht viel tun. Eigentlich wollte er früh zu Hause sein. Und eigentlich musste das Auto noch gepackt werden. Eigentlich. Sein Tag hatte vielversprechend begonnen. Mit zwei verschiedenen Arten von Sonnenschein. Der erste, war der für alle Welt bekannte. Am Himmel. Es war Sommer. Und der zweite weckte ihn mit frischgebrühtem Kaffee und einem Kuss. „Komm, steh auf, sonst verpasst du noch deinen letzten Arbeitstag vor dem Urlaub“, sagte sie, drehte sich um und ging in die Küche. Sie, das war seine Frau, Katharina. Wie immer trug sie ein Nachthemd welches mehr zeigte als es verbarg. Jedoch nicht zu viel zeigte und seine Phantasie immer wieder anregte. Kennengelernt hatten sie sich vor zehn Jahren. Bei einer Verkehrskontrolle. Sie war zu schnell in einer Dreißiger Zone unterwegs gewesen. Viel zu schnell. Aus der Kontrolle entwickelte sich ein Gespräch. Aus dem Gespräch eine Einladung zum Kaffee. Aus der Einladung zum Kaffee, eine zum Wiedersehen. Fünf Jahre nach der Verkehrskontrolle waren sie verheiratet.
Ihr Kaffee war der Beste den es gab. Niemand kochte ihn besser. Und das Frühstücksbrötchen schmeckte mit ihrer selbstgemachten Marmelade besser als alles andere. „Wann wirst du heute nach Hause kommen?“, fragte sie. „Ich versuch so zeitig wie möglich da zu sein. Ich denke gegen Mittag werde ich heimkommen. Dann haben wir für alles noch genug Zeit“, sagte er. Sie nickte zustimmend.
Auf der Fahrt in sein Büro dachte er über das nach was sich in den letzten Jahren verändert hatte. Er war befördert worden. War jetzt Kommissar. Zwei Lohngruppen höher. Damit auch weniger Zeit. Sie hatten sich ein Haus gebaut. Im ländlichen Raum. In ein oder zwei Jahren sollte Nachwuchs anstehen. Hätte man ihn vor zehn Jahren darauf angesprochen, er hätte es als Spießigkeit abgetan. Aber die Dinge ändern sich. Er parkte sein Auto, schloss es ab und ging zu seinem Büro. Es lag im zweiten Stock des Kommissariats Komplexes. Er nahm grundsätzlich die Treppen. Um fit zu bleiben hatte er einmal gesagt. Auf dem Weg zu seinem Büro begegnete er Linda. Seiner Kollegin. Sie hatte eine Musterkarriere hingelegt. Abi mit 1,0. Und dann die Ausbildung bei der Polizei mit Auszeichnung bestanden. Sie wurde sofort ihm zugeteilt. Dreiundzwanzig war Linda. Blond. Grüne Augen. Sportlich. Ob sie einen Partner hat wusste er nicht. Über privates redeten sie so gut wie nie. Es gab auch keinen Grund dafür. Nur dass heute sein letzter Tag vor dem Urlaub war, das wusste Linda. „Und? Schon aufgeregt?“, fragte sie. „Etwas“, gab er ihr zur Antwort. „Übertreib es mit der Arbeit heute nicht“, sagte sie. „Ich pass auf mich auf“, gab er zurück. Er schaltete seinen Computer ein, meldete sich im Programm ordnungsgemäß an und sah nach ob irgendwelche wichtigen E-Mails gekommen waren.
Es befanden sich nur die üblichen Rückmeldungen über diverse Fälle unter anderem über eine angebliche Vergiftungsreihe von Kaffeeautomaten mit Haselnußextrakt, welche er ignorierte und ein paar gute Wünsche für den Urlaub in seinem virtuellen Postfach. Nichts Besonderes. Er sah auf die Uhr. Noch vier Stunden und zwanzig Minuten. Dann hatte er Urlaub.
Zehn Minuten später kam die Post. Mario, ein Praktikant im Bereich Verkehrsdelikte brachte sie. „Hier, bitte“, sagte er, gab sie ihm und ging. Insgesamt waren es fünf Umschläge. Recht wenig für einen Freitag. Ein Umschlag stach ihm sofort ins Auge. Er war dicker als die anderen und die Empfängeradresse war mit fetten schwarzen Buchstaben geschrieben. Er öffnete den Umschlag und nahm die Papiere heraus. Grob geschätzt ungefähr zwanzig Seiten. Hätte er gewusst was ihn erwartet, hätte er den Umschlag nie geöffnet. Eigentlich.
Mein Name ist Melissa. Es ist Winter. Ich sitze an meinem Kamin. Meine Katze hat sich zu meinen Füßen zusammengerollt. Schnurrt und schläft gleich ein. Sie hat dies schon öfters getan und wird es auch heute tun. Schnurren und schlafen. Im Allgemeinen besteht ihr Leben aus drei großen Komponenten. Fressen. Schlafen. Und schnurren. Jeden Tag. Es gibt Tage, da beneide ich sie. Meine Katze. Es ist im Übrigen ein Kater. Er heißt Alex und ist zehn Jahre alt. Oder elf. Ich habe keine Ahnung. Alex ist mir zugelaufen. Und geblieben. Der Schneefall hat heute eingesetzt. Und ich denke die nächsten drei Monate wird sich an der Situation auch nicht viel ändern. Ich habe also Zeit. Zeit um alles festzuhalten. Von damals.
Alles begann vor drei Jahren. An einem Sommertag. Zu dieser Zeit studierte ich Kunst. Hatte ein Auslandssemester in Italien hinter mir. Und noch zwei in Deutschland vor mir. Ich wollte den Sommer genießen und fuhr nach Südfrankreich. Ich hatte kein festes Hotel gebucht. Nur mein Auto hatte ich dabei. Man lernt Land und Leute am besten kennen, wenn man auf sie zu geht. Unter ihnen lebt. Und nicht in einer Hotelanlage. Mein Plan sah vor von Nizza nach Marseille zu reisen. Nizza. Cannes. Saint Tropez. Toulon. Marseille. Südfrankreich eben. Und wenn dabei die eine oder andere Romanze mit dabei wäre, würde ich nicht „nein“ sagen. Weder war noch bin ich der Typ Frau der an One-Night-Stands Gefallen findet, aber im Urlaub sind die Regel außer Kraft gesetzt. Zumindest bei mir. Zu Sex im Urlaub habe ich noch nie Nein gesagt. Warum auch? Ich fuhr zwei Tage bis nach Nizza. Unterstützte die französischen Autobahnen mit einer nicht geringen Summe. Und fuhr zwei Mal durch Annecy. Als ich das Ortsschild von Nizza passierte, war mir sofort klar, wo ich mein Auto abstellen würde. Am Strand. Oder in der Nähe vom Strand. Ich wollte Wasser. Das Mittelmeer. Dazu die Sonne. Und ich wollte abends in eines dieser kleinen Restaurants, welche schon seit gut fünfhundert Jahren in Familienbesitz sind. Eines, in welchem der Koch oder die Köchin Napoleon noch persönlich kannte, und sie nach vier Flaschen Wein der Hausmarke erzählen würde, dass sie eine Affäre mit ihm gehabt hätte. Ja, genau. So ein Restaurant, oder sagt man Bistro, wollte ich. Ich muss ehrlich gestehen das ich bis heute nicht weis wo der Unterschied zwischen beiden liegt. Vielleicht ist es die Größe. Vielleicht aber auch nur die Auswahl auf der Speisekarte. Ich blieb ganze fünf Stunden am Strand. Ging in das Wasser. Nahm ein Sonnenbad. Ging wieder in das Wasser. Nahm noch ein Sonnenbad. Ich liebe dieses Gefühl, wenn die Haut vom Salzwasser leicht spannt. Gegen neunzehn Uhr verließ ich den Strand. Ich bekam Hunger.
Meine Wahl fiel auf das „Chéz Hugo“. Das Dach voll mit Moos. Weinlaub an den Wänden. Und vor dem Lokal standen alte Bänke auf denen noch ältere Männer saßen und über den letzten Spieltag der ersten französischen Fußballliga diskutierten. Jedenfalls nahm ich das an, da ich die Wortet Paris, Marseille und Fußball verstand. Einen Boule-Platz gab es auch. Aber niemand spielte. Ich setzte mich an einen freien Tisch außerhalb des Lokals. Ich konnte der Sonne beim unter gehen zusehen. Einer der noch älteren Männer rief etwas in Richtung Eingang. Ich konnte leider nicht verstehen was genau er rief, da er einen sehr harten Dialekt hatte und mein Schulfranzösisch harte Dialekte kategorisch ausschloss. Keine dreißig Sekunden später bekam ich die Speisekarte überreicht. Und die Weinkarte. Der Überbringer beider Karten stellte sich als Marque vor. Und Marque sah gut aus. Dunkles Haar. Leicht dunkler Teint. Und ein Drei-Tage-Bart. Marque war auch größer als ich, was nicht sonderlich schwer ist. Ich bin nur einen Meter und dreiundsechzig Zentimeter groß. Ich wählte die Meeresfrüchte nach Art des Hauses, meiner Meinung nach ein Rezept welches Napoleon, sollte er jemals hier gewesen sein, was ich nach ein paar Flaschen Wein vermutlich herausfinden werde, bereits gegessen hat. Und einen Weißwein. „Willst du das wirklich?“, fragte Marque. „Ja“, sagte ich. Er sah mich verwundert an. Vermutlich hatte er nicht damit gerechnet, dass ich französisch spreche. Ich erklärte ihm, oder versuchte es zumindest, warum ich in Frankreich war. „Kling gut“, sagte er und verschwand mit meiner Bestellung im Haus. Während ich auf das Essen wartete, lies ich meinen Blick über die Umgebung wandern. Neben den Boule-Platz standen drei Zypressen (oder Zikaden? So genau weiß ich dies nicht mehr). Eine Katze lag in der untergehenden Sonne und lies sich das Fell wärmen. Die älteren Männer auf den alten Bänken hatten das Reden eingestellt und waren mit einer Portion Weinbergschnecken mit Pinot beschäftigt. Ich konnte dem nichts abgewinnen. Hatte es ein paar Mal probiert. Es aber nie geschafft meinen Teller zu leeren. Mein Essen kam ungefähr zwanzig Minuten nach der Bestellungsaufgabe zusammen mit dem Wein und einer Flasche Wasser. „Lass es dir schmecken“, sagte Marque. Ich bedankte mich und lächelte. Es schmeckte wirklich gut. Muscheln, Schrimps, dann etwas was ich weder kannte noch definieren konnte und eine Auster. Zwischendurch kam Marque und fragte ob ich zufrieden sei. Ich bejahte dies. Drei mal. Als ich fertig war mit dem Essen war die Sonne im Begriff den Boden zu berühren, und die Katze, welche sich vorhin noch wärmen ließ lag nun zu meiner linken. Marque empfahl mir Cesar, so hieß der Kater, nicht zu füttern. Cesar habe Gewichtsprobleme, meinte er und als ich mir Cesar genauer ansah fand ich, dass er Recht hatte. Marque brachte mir zum Dessert eine Creme Brulee. Ich hatte keine bestellt, aber er bestand darauf. „Geht auf das Haus“, sagte er. Die älteren Männer auf den alten Bänken waren nach dem Verzehr der Weinbergschnecken und des Pinots gegangen. Marque und ich waren allein. Und ich wusste wo das enden würde. Und ich war nicht abgeneigt. Ganz im Gegenteil. Wir hatten kein bestimmtes Thema über das wir sprachen. Allgemeine weltpolitische Themen sind für einen Urlaub auch nicht geeignet. Vor allem dann nicht, wenn man vorhat mit einander zu schlafen. Marque erzählte mir von dem Lokal. Es war ein Bistro wie er mir erklärte. Davon, dass er es vor fünf Jahren gekauft hatte, inklusive Cesar und den älteren Männern auf den alten Bänken. Davon, dass er früher in Paris lebte. Und Banker war. Und eines Morgens das Haus nicht mehr verlassen konnte. Überlastung. Burn-out. Drei Monate Klinik. Er kündigte und zog nach Nizza. Einmal im Jahr, so sagte er mir, wäre er in Paris. Nur um zu sehen, ob noch alles so ist, wie es war. „Nein“, sagte er, „zurück möchte ich wirklich nicht mehr.“ Dann war ich an der Reihe. Versuchte alles so kurz wie möglich zu halten. Melissa. Aufgewachsen in einer Kleinstadt. Abitur. Studium. Einraumwohnung. Nebenjob. Als Büroassistentin. Er lachte. „Sehr überschaubar“, sagte er und fuhr sich mit der linken Hand durch seine Haare. Je länger ich auf dieser Bank saß und ihn ansah, umso mehr wollte ich ihn. Die Sonne war mittlerweile ganz untergegangen und Cesar war im Haus verschwunden. Eine laue Sommernacht kündigte sich an. Marque sagte, dass er sehr häufig nachts draußen sitzen würde. Sagte, dass die Ruhe mit nichts zu vergleichen wäre. „Nein“, wiederholte er, „nein, nach Paris möchte ich nie mehr zurück.“ Wir schwiegen. Fünf Sekunden. Vielleicht zehn. Mit seiner linken Hand berührte er mein Kinn. Ich drehte mich zu ihm und wir küssten uns. Während wir uns küssten kam Cesar aus dem Haus und sprang auf meinen Schoß. Marque musste lachen. „Er ist eifersüchtig“, sagte er. Marque stand auf und nahm meine linke Hand. „Komm“, sagte er und ich ging mit. Ich wusste, wohin er mich bringen würde. „Was ist mit Cesar?“, fragte ich. „Der kommt schon klar“, antwortete er. Mehr redeten wir nicht. Er führte mich nach oben. In sein Schlafzimmer. Es war nicht groß. Aber das musste es auch nicht sein. Er stand hinter mir. Seine Arme lagen auf meiner Schulter. Er hob meine Haare hoch und küsste meinen Nacken. Ich drehte mich zu im herum und befreite ihn von seinem Shirt. Er öffnete den Reisverschluss meines Kleides und ich ließ es zu Boden fallen. Mit seiner linken Hand fuhr er über meinen Rücken und öffnete meinen BH. Mit meinen Armen umschloss ich seinen Nacken und mit meinen Beinen seine Hüfte. Er legte mich auf sein Bett. Ich öffnete seine Hose. Knopf für Knopf. Fünf Knöpfe hatte sie. Er beugte sich über mich und küsste mich erneut. Er küsste mir das Salz von meiner Haut. Erst am Hals dann auf meinem Busen. Danach meinen Bauch. Ich stieß einen Seufzer aus als er mit seiner Zunge meinen Bauchnabel umspielte. Ein kleines Stück Stoff trennte mich davon komplett nackt unter ihm zu liegen. In dieser lauen Sommernacht im August. Im „Chéz-Hugo“. Marque verstand es wie kein anderer eine Frau zu lieben. Er gehörte nicht zu der Sorte Mann die einen den Slip herunterreißt und dann etwas tut wovon sie meist selber nicht genau wissen was es ist. Oder sein soll. Marque war ganz und gar nicht so. Er spielte mit mir. Mit meiner Lust. Er trieb sie höher. Immer weiter. Er küsste mich durch meinen Slip. Ich atmete schwer. Fuhr ihm mit beiden Händen durch seine Haare. Spürte seinen Atem an der geküssten Stelle. Ganz behutsam zog er mich ganz aus. Wieder küsste er mich. Er beließ es jetzt nicht dabei. Seine Zunge tastet sich langsam vor. „Mach weiter“, sagte ich. Mit seiner Zunge drang er tiefer ein. Eiskalt rann der Schweiß meinen Rücken hinunter. Ich konnte nicht mehr an mich halten und stöhnte auf. Alles zog sich in mir zusammen. Ich war bereit für den Höhepunkt. Für den Gipfel der Lust. Aber er ließ es nicht zu. Er löste sich von mir. Kam zu mir hoch und sagte leise: „Noch nicht.“ Warum?, fragte ich mich. Warum darf ich nicht? Auf eine Antwort musste ich nicht lange warten. Er öffnete die obere Schublade von dem Schrank der neben seinem Bett stand und holte etwas heraus. Ich konnte nicht erkennen was es war. Er küsste mich wieder. Nahm dann meinen rechten Arm. Danach meinen linken. Er fesselte mich an den Streben am Kopfende seines Bettes. Da lag ich nun. Nackt und gefesselt. Ich hatte mich in den ganzen Jahren in denen ich sexuell aktiv bin noch nie einem Mann so hingegeben. War noch nie jemandem so ausgeliefert. Marque verließ für einen kurzen Moment den Raum. Als er wieder kam setzte er sich auf mich. Etwas berührte meinen Mund. Meine Nase nahm den Duft wahr. Es roch nach Erdbeere. Er führte sie über meine Lippen. Meine Nase. Meinen Hals. Meine Brust. „Lass sie mich kosten“, sagte ich. „Mund auf“, sagte er. Als ich von der Erdbeere abbas vereinigten wir uns. Ich hielt ihn mit meinen Beinen fest auf mir. Aß so schnell ich konnte diese Erdbeere; sie war wirklich ausgezeichnet. Noch nie hatte ich so einen intensiven Geschmack erlebt. Während wir uns liebten führte er seinen linken Zeigefinger in meinen Mund. Ich biss leicht zu. Seine linke Hand fuhr über meinen Oberkörper. Wir kamen zusammen. Wir küssten uns. Ich schlief in seinen Armen ein.
Am folgenden Morgen wachte ich allein auf. Streckte meinen Arm nach der Stelle aus wo Marque gelegen hatte. Spürte, dass sie noch warm war. Die Sonne schickte einige Strahlen durch das Fenster. Ich stand auf und sah hinaus. Und mir kam der Gedanke, dass es hier vor einhundert oder zweihundert Jahren genauso ausgesehen haben muss. Katze in der Sonne. Boule-Platz. Zypressen (oder Zikaden). Wie gesagt, so genau weiß ich es nicht mehr. Die Tür ging auf und Marque kam herein. „Französisches Frühstück im Bett“, sagte er. Es bestand aus Croissants, Milchkaffee, Baguette welches mit Marmelade bestrichen wird. Dazu Camembert, Brie und Roquefort. Der Geruch von Kaffee und Croissants mit Camembert drang bis in den letzten Winkel meiner Wahrnehmung vor. Ich genoss es mit meinen ganzen Sinnen. Es dauerte den ganzen Vormittag. Und wenn die älteren Männer auf den alten Bänken nicht Platz genommen hätten, auch den ganzen Tag. Ich trat aus der Tür hinaus und zündete mir eine Zigarette an. Cesar schlich um meine Beine. „Wenn du möchtest, dann schließe ich das „Chéz Hugo“ und zeige dir den Süden. Abseits der Touristenflecke“, sagte Marque und zündete sich eine dieser französischen Zigaretten an. Ich war mir nicht sicher ob ich annehmen sollte. Vieles sprach dafür. Vor allem die letzte Nacht. Wie gesagt. Im Urlaub keine Regeln. „Geht das denn?“, fragte ich. Marque bejahte dies und stieß etwas Qualm aus seiner Nase aus. „Cesar wird uns begleiten“, fügte er hinzu. Ich war einverstanden. Marseille war noch immer das Ziel. Marque sagte, dass er unterwegs ein paar Bekannte hat. Er kenne sie von Bistrobesitzertreffen. Was das denn genau wäre?, fragte ich. Bistrobesitzertreffen? Er erklärte mir, dass dies nur eine Ausrede sei um sich vier Mal im Jahr zu sehen. In einem Hotel. Inklusive Verpflegung. Natürlich müsse man sich ein paar Vorträge der Gastronomiegesellschaft von Frankreich anhören. Innovationen bestaunen und einen Termin für eine Lieferung Wein aus der Bretagne vereinbaren. Hauptsächlich ginge es aber darum sich mit ein paar Freunden zu treffen.
Von Nizza nach Cannes benötigt man mit dem Auto nur knapp dreißig Minuten. Von Cannes nach St. Tropez neunzig Minuten. Wir nahmen uns zwei Tage. Badeten im Mittelmeer. Sonnten uns. Badeten wieder. Und liebten uns. Aßen in heruntergekommenen Bistros bei Marques Freunden. Tranken den Hauswein und Pinot. Und ich erfuhr eine Menge über Napoleon. Wie gesagt. Der Hauswein macht es möglich.
Marseille war eine Stadt in die ich mich sofort verliebte. Die Häuser, die vor gut zweihundert Jahren das letzte Mal ausgebessert wurden. Die Straßencafés die gefüllt waren mit Menschen die Cafés au lait tranken und Eclairs aßen. Und die Luft, welche einen leichten Salzgeruch hatte. Marque führte ein oder zwei Gespräche, genau weiß ich es nicht mehr. Was ich aber weiß ist, dass wir, nach dem er seine Telefonate beendet hatten, ins „Angelique“ gingen oder besser gesagt fuhren. Der Inhaber des „Angelique“, Rene, war ein alter Bekannter von Marque. „Ich kenne ihn seit der Grundschule“, sagte er. Das „Angelique“ verdankte seinen Namen einer deutschen Tennisspielerin. Da ich mich aber nicht dafür interessiere, weiß ich leider nicht welche die glückliche Namensgeberin ist. Fotos und Poster mit Unterschriften hingen an den Wänden. Eines zeigte sie zusammen mit Rene. „Mein ganzer Stolz“, sagte er. Marque fragte ihn ob wir ein paar Tage bleiben könnten. „Sehr gern. Das „Angelique“ steht euch offen“, sagte er. Unser Zimmer war am unteren Ende des Größendurschschnites für Gästezimmer angesiedelt. Doppelbett. Ein Stuhl. Ein Tisch. Ein Fenster. Mit Blick auf einen Baum. Eine Libanonzeder. (Ich weiß das es eine Libanonzeder war, da René es mehrfach erwähnte). Das Bad war über den Gang und ich froh, dass wir die Einzigen Gäste waren. Ob diese Tennisspielerin damals hier auch übernachtet hatte? Ob sie auch froh war, dass, wenn es so war, sie die Einzige im „Angelique“ war? Gut möglich. „Wollen wir noch kurz in die Stadt?“, fragte Marque. Ich war einverstanden. Zehn Minuten später waren wir in einer dieser Einkaufspassagen „Grand Lift oral“. Ich sagte ihm, dass ich noch ein paar T-Shirts brauchte. Wir vereinbarten, dass wir in fünfzehn Minuten uns im Erdgeschoss zu einem Kaffee treffen würden. Ich ging in eine Boutik. Sah mich etwas um. Fand zwei, drei Shrits und nahm sie zum anprobieren mit in die Kabine. Keins passte. Als ich aus der Kabine herauskam übersah ich einen Mann. Und stieß mit ihm zusammen. Ich bat um Verzeihung. Er sagte irgendetwas in meine Richtung. Verstand aber nicht genau was. Ich schenkte dem keine weitere Beachtung und ging. Ich traf Marque und erzählte ihm von der Begegnung. Wir mussten beide lachen. „Ja, so sind manche Leute in Marseille“, sagte er.
Das „Angelique“ war nicht bekannt dafür, dass am Abend mehr Personen anwesend waren als am Tag. Marque und ich blieben in Marseille. Wir gingen in einen Klub. Tanzen. Was trinken. Irgendwann beschlossen wir zu gehen. Ich kann mich an die genaue Uhrzeit nicht mehr erinnern. Marque sagte er wolle den Wagen holen. Ich wartete am Eingang. Oder etwas entfernt vom Eingang. Es war nicht dunkel wo ich stand. Durch die Straßenlaternen konnte man genug sehen. Da passierte es. Es kam so unerwartet. So vollkommen aus dem Nichts. Ich habe immer noch Alpträume. Etwas packte mich von hinten. Überwältigte mich. Zog mich in ein naheliegendes Gebüsch. Ich erkannte ihn sofort. Er trug nicht einmal eine Maske. Es war meine Begegnung aus der Boutique.
Und vergewaltigte mich. Er hielt mir dabei ein Messer an die Kehle und sagte, dass, wenn ich schreien würde er mir dieses Messer in den Hals rammen würde. Mit Vergnügen, fügte er hinzu. Ja, ich glaube, das waren seine Worte gewesen. Mit Vergnügen würde er mir das Messer in den Hals rammen, wenn ich schreien würde. Ich schrie nicht. Gab nicht einen Laut von mir. Ich lag einfach da. Taub und ohne Regung. Und er verging sich an mir. Wie lange weiß ich nicht mehr. Mir kam es wie Stunden vor. „Melissa? Melissa wo bist du?“, hörte ich Marque rufen. Und bei diesen Worten ließ er von mir ab. Und rannte davon. Ich versuchte aufzustehen. Konnte es aber nicht. Mein ganzer Körper war taub. Ich versuchte ihn zu rufen. Brachte aber bei den ersten Versuchen keinen Laut heraus. Irgendwann gelang es mir „Marque“ zu rufen. Er fand mich. Versuchte mich aufzurichten. Aber ich konnte nicht. Stattdessen erbrach ich mich. Zweimal. Ich zitterte am ganzen Körper. Marque rief, dass jemand die Polizei rufen sollte. Und einen Krankenwagen. Dann fiel ich in Ohnmacht. Ich kam im Krankenwagen wieder zu mir. Hatte etwas in meinem Arm stecken was einer Infusion glich. Marque saß rechts von mir und hielt meine Hand. Irgendjemand versuchte mit einer Taschenlampe Licht in meine Augen zu bringen um zu sehen ob ich wieder ansprechbar war. Ich versuchte zu reden. Konnte es nicht. Erbrach mich wieder. Auf den Pfleger der meine Pupillen kontrollierte. Im Krankenhaus untersuchte mich eine Ärztin. Ich weiß weder ihren Namen noch was sie mit mir getan hatte. Ich habe wirklich keine Erinnerung daran. Irgendwann schlief ich ein. Vielleicht bekam ich ein Medikament. Vielleicht nicht. Als ich aufwachte saß Marque neben meinem Bett. Und hielt meine Hand als ich erwachte. „Es tut mir leid. Ich hätte dich nie allein lassen sollen“, sagte er. Es war nicht seine Schuld. Er hatte keinen Fehler begangen. „Eine Beamtin von der Polizei möchte heute mir dir sprechen“, sagte er. Ich nickte.
Die Beamtin stellte sich als Florences Dubois vor. Sie trug Uniform und war in ungefähr dem selben Alter wie ich damals. Da er keine Maske trug konnte ich ihn gut beschreiben. Ich weiß bis heute nicht warum er keine Maske trug. Nach ein paar Tagen in der Klinik fuhr ich heim. Nach Deutschland. Marque bestand darauf mich zu begleiten. Da ich es ihm nicht ausreden konnte stimmte ich zu. In Deutschland begab ich mich in Behandlung. Aber kein Psychologe konnte mir helfen. Jedenfalls hatte ich dieses Gefühl. Ich konnte nicht schlafen. Trotz Medikamenten. Brach mein Studium ab. Bekam die Kündigung. Man teilte mir mit, dass man kein Sozialamt sei. Und ich das verstehen muss. Dass man auf mich in der schnell wachsenden Wirtschaft keine Rücksicht nehmen kann. Nicht das man es nicht bedauern würde was passiert sei. Man verurteile das, was geschehen ist auf das letzte. Aber es könne schließlich nicht sein das ich Geld ohne eine Gegenleistung bekommen würde. Und wenn ich das erwarten würde, hätte ich den Sinn für die Realität verloren. Ja, so genau sagten sie es mir. Oder ließen es mir durch ihren Anwalt schriftlich mitteilen. Natürlich könne ich jederzeit meine persönlichen Sachen abholen. Eine weitere Zusammenarbeit wäre aber nicht mehr möglich. Mit freundlichen Grüßen. Ich zog mich von allen zurück. Marque rief jeden Tag an. Fragte wie es mir ginge. Ob er vorbeikommen soll. Cesar würde ihn natürlich begleiten. Das wäre selbstverständlich. Aber ich lehnte ab. Nach einer Weile gleicher Antworten am Telefon rief er nicht mehr an. Ich konnte ihn verstehen.
Der Prozess war auf drei Tage angesetzt. Ich fuhr nach Marseille. Aber nicht zu Marque. Nahm mir in Marseille ein kleines Zimmer. Ich trat als Nebenklägerin auf. Ich wollte stark sein. Wollte ihm zeigen das er mich nicht gebrochen hatte. Es gelang mir mehr schlecht als recht. Ich übergab mich nur einmal während des Prozesses. Als er sagte, ich hätte ihm zugezwinkert in dem Klub. Ihm signalisiert das ich auf sexuellen Kontakt mit ihm aus war. Während des gesamten Prozesses grinste er. Von Reue sah ich keine Spur. Das Urteil lautete ein Jahr auf Bewährung. Ich war sprachlos. Ich brach noch im Saal in Tränen aus. Ich fuhr noch am selben Tag zurück nach Deutschland. Ich beschloss in eine andere Stadt zu ziehen. Eine Art Neuanfang. Ich fand eine neue Arbeit. Mein Studium nahm ich aber nicht mehr auf. Nach und nach begann ich auch wieder auszugehen. Ich fand Freunde. Erzählte aber niemanden von der Vergewaltigung. Ich war auch nicht mehr in der Lage eine Partnerschaft einzugehen. Intimität wurde für mich zum Fremdwort. Ich wollte nur noch vergessen. Wollte nicht mehr zurückdenken. Wollte alles hinter mir lassen.
Eines Tages saß ich Nachmittags in einem Cafe. Laß ein Magazin. Als mich eine Stimme ansprach. „Ist der Platz noch frei?“ Ich sah auf da mir die Stimme sehr vertraut vorkam. Es war Marque. Ich fiel ihm sofort um den Hals. Er sagte, dass er in Deutschland wäre zu einem, wie er es immer nannte „Bistrobesitzertreffen“. Ich musste lachen. Wir verbrachten die nächsten vier Tage miteinander. Die meiste Zeit redeten wir nur. Irgendwann sagte ich das ich Wut in mir fühle. Dass ich diese Wut unter Verschluss halte aber auch das ich Angst habe das diese Wut eines Tages sich den Weg an die Oberfläche bahnt und ausbricht und ich es nicht unter Kontrolle halten kann. Marque steckte sich eine Zigarette an. „Und wenn ich dir sage, dass ich eine Möglichkeit kenne diese Wut herauszulassen?“ Qualm kam aus seiner Nase. Ich fragte was er damit meine. „Ich weiß wo er wohnt.“ Mehr musste er nicht sagen. Ich fragte ob es wirklich dieses Bistrobesitzertreffen gibt. Er verneinte. Marque erklärte mir dass er nach mit hat suchen lassen. Professionell. Ich wollte gehen. Ich wollte aufstehen und gehen. Ich blieb. Es war eine Sekunde die ich zu viel nachgedacht hatte. Wäre ich eine Sekunde eher aufgestanden und gegangen. Aber ich blieb. Hörte mir an was er zu sagen hatte. Marque erzählte mir, dass mein Vergewaltiger in Nizza wohnen würde. Er ihn ab und zu sehen würde. Und das er als Türsteher arbeiten würde. Marque sagte auch, dass er eine verlassene Kirche gefunden habe. Etwas abseits von allem. Das dort nie jemand sei. Es dort sehr vermodert riechen würde. Und das es dort einen Kellerraum geben würde.
Ich hätte gehen sollen. Aufstehen. Und gehen. Gehen und mich nie mehr umdrehen sollen. Ich blieb. Ich blieb und nickte. Jedenfalls glaube ich das ich genickt habe. Ich nahm mir ein paar Tage frei. Und fuhr mit Marque nach Nizza. Ich stand die ganze Zeit unter Spannung. Aß kaum. Konnte nicht schlafen. Und ich hatte ständig das Bedürfnis mich zu übergeben. Konnte dies aber vermeiden. Marque hatte mir seinen Plan auf der Fahrt erläutert. Er klang gut. Und durchführbar. In Nizza warteten wir zwei Tage bis wir anfingen. Marque bat mich im Hintergrund zu bleiben. „Nur zur Sicherheit“, hatte er gesagt. Wie es im Einzelnen vor sich ging weiß ich nicht. Nur so viel. Marque wollte sich mit ihm anfreunden. Ihm ein Bier ausgeben. Vielleicht zwei. Vielleicht drei. Dann, wenn er betrunken genug wäre würde er ihn vor die Tür führen. Ich sollte dort mit dem Auto warten. Und ich wartete. Ich war ganz ruhig. So ruhig, dass ich selber Angst bekam. Angst vor mir. Vor dem was ich in Begriff war zu werden. Ich fragte mich ob man wirklich so ruhig war, wenn man ein Monster wird. Und auf diesem Weg war ich. Und ich nahm die Überholspur dorthin.
Marque kam mit ihm aus der Bar. Öffnete die Hintertür vom Wagen und legte ihn auf den Rücksitz. Ging ums Auto. Öffnete die andere Tür und setzte sich. „Hast du alles?“, fragte ich ihn. Er nickte nur. Er holte eine kleine Flasche Chloroform heraus und ein Stück Stoff. Tränke das Stück Stoff und legte es ihm (dem eigentlichen Monster) auf die Nase. Er sollte auf keinen Fall aufwachen bis wir ihn sicher untergebracht hätten.
Es war schwierig ihn in den Keller zu bringen. Er war schwer. Mein Verstand war sehr klar. Klarer als ich dachte. Ich atmete ein und aus. Auch ruhig. Wir legten ihn auf einer Art Bank ab und gingen. Ich schloss ab. Zweimal. In der Tür war auf Sichthöhe ein kleines Fenster mit Gittern angebracht. Wir hatten es getan. Es fühlte sich gut an. Warum auch nicht. Wir warteten bis er wieder zu sich kam. „Wo bin ich?“, waren seine ersten Worte. Ich trat an das kleine Fenster heran und fragte ihn ob er sich an mich erinnern kann? Er überlegte nur kurz. Eine Sekunde. Vielleicht zwei. Aber keine drei. Er drohte mir. Das es mir leid tun würde wenn er hier herauskommen würde. Und dass er mich umbringen würde. Ich sagte nichts weiter. Ich ging einfach. Marque folgte mir. Auf der Fahrt nach Nizza sprachen wir kein Wort. Ich weiß nicht ob sich Marque gewünscht hatte das ich in das „Chéz Hugo“ mitkomme. Ein paar Tage bleiben würde. Und nach den zwei drei Tagen noch ein paar weitere. Ich weiß auch nicht was aus Cesar geworden ist. Und aus den älteren Männern auf den alten Bänken. Und ich weiß auch nicht was aus Marque geworden ist. Ich sagte ihm, dass wir uns nie wiedersehen können. Und das er nicht bei mir anrufen sollte. Nie wieder. Und ich sagte ihm, dass ich ihn liebe.
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Tag der Veröffentlichung: 06.10.2018
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Daniel Rausch und Sol Stein