GEISTER UND SCHURKEN
Einführung
Sie erschoss ihn aus kürzester Distanz. Er stürzte von der Klippe.
Selbst wenn er die Kugel zufällig überlebt hätte, würde ihn der Sturz mit Sicherheit töten – dachte sie zumindest!
Es dauerte mehrere Monate, bis Sophia Blake den zweigesichtigen Henry aufspüren konnte. Zweigesichtiger Henry; so wurde er genannt – wegen der Brandmale, die seine rechte Gesichtshälfte übersäten.
Sein richtiger Name war Henry Slater.
Henry hatte in Sophias Heimatstadt Sommerville sechs Menschen getötet.
Alles Frauen. Alles Blondinen.
Er hatte sie nicht vergewaltigt, sondern nur wochenlang gefoltert und ihre Leichen anschließend entsorgt.
Sophia begann ihre Karriere bei der Polizei in Sommerville und brauchte über 18 Monate, um Henry aufzuspüren. Und das war nicht umsonst. Einige gute Polizisten kamen dabei ums Leben.
Aber als Sophia ihn erwischte, hatte sie nur noch ein Ziel: Die Welt war ohne Menschen wie Henry besser dran.
Jetzt – 10 Jahre später – taucht ihr Erzfeind wieder auf.
Henry war zurück. Und er hegte einen Groll gegen sie.
Aber wie weit war er bereit zu gehen? Was hatte er die ganze Zeit getrieben? Mit wem steckt er im Bunde?
Und noch wichtiger: Was hat er im Schilde?
Prolog
Vor zehn Jahren, irgendwo außerhalb von Sommerville, Illinois
Der Wind heulte wie eine Todesfee über die zerklüfteten Klippen und trug den Gestank von Kiefern, Rauch und Blut mit sich. Der Mond, eine blasse Münze am zerklüfteten Himmel, erleuchtete den tosenden Fluss unter ihnen. Von hier oben sah er aus wie eine silberne Schlange, ruhelos und gewalttätig.
Detective Sophia Blake zuckte nicht zusammen, als sie mit der Glock zielte.
„Henry“, sagte sie, ihre Stimme klang wie kratzender Kies über Asphalt, „hier endet es.“
Henry Slater stand nur Zentimeter vom Rand der Klippe entfernt, die Hände in gespielter Kapitulation erhoben. Seine rechte Gesichtshälfte war eine groteske Landschaft – verbrannt, blasig und straff wie altes Leder. Die linke grinste süffisant.
„Glaubst du wirklich, du bist die Heldin, Sophia?“, krächzte er. „Du hast das Gesetz getötet, um selbst zum Gesetz zu werden. Genau wie ich.“
Sophias Kiefer verkrampfte sich. Ihre Knöchel um den Griff ihrer Waffe wurden weiß. Die Namen der Opfer schwirrten ihr durch den Kopf – Katie Morrison. Elise Green. Amy Callahan. Sechs Frauen, alle gefoltert. Alle blond. Alle verrotten an Orten, die einst Sicherheit bedeuteten – Schlafzimmer, Schulen, Parks.
„Nein, Henry“, sagte sie. „Der Unterschied ist, dass es mir keinen Spaß macht.“
Einen Moment lang herrschte Stille.
Dann drückte sie ab.
Der Schuss krachte wie ein Donnerschlag.
Henrys Körper ruckte zurück, die Arme ruderten, als er stolperte. Ein Schuh rutschte vom Felsen. Dann der andere. Wortlos fiel er, verschluckt von Dunkelheit und Nebel.
Sophia rührte sich lange nicht. Sie stand einfach nur da, der Lauf rauchte, ihr Herz hämmerte in einem Käfig aus Knochen und Stahl. Es begann zu regnen – erst sanft, dann schwer und hart, wie Schuld.
Niemand wurde geborgen.
Aber in Sophias Gedanken war Henry Slater tot.
Sie stellte sicher, dass es so war.
Kapitel 1
Zehn Jahre später, Chicago, Illinois
Polizist Terrence Doyle sah die zweite Kugel nicht kommen.
Die erste traf ihn ins Bein – ein sauberer Schuss knapp über dem Knie. Sie zertrümmerte den Knochen und ließ ihn hart hinter einem rostigen Müllcontainer in einer Gasse der West Side fallen, die kaum breit genug für einen Streifenwagen war.
Die zweite Kugel? Die durchbohrte seinen Hals und sorgte dafür, dass er nicht schrie.
Sie war chirurgisch. Leise. Endgültig.
Als die Sonne aufging, hatte sein Blut die Gassenwand in Arterienstrichen beschmiert, seine Dienstmarke glänzte unter einer umgestürzten Mülltonne.
Die Medien erfuhren gegen Mittag davon.
„Chicagoer Polizist kaltblütig hingerichtet“, las die Tribune. „Keine Hinweise, keine Zeugen – Fahndet jemand nach Polizisten?“, schrie WGN. Um Mitternacht waren auf allen Kanälen die Moderatoren in schwarzen Krawatten und grimmiger Kleidung zu sehen, die die Stadt stündlich mit Angst erfüllten.
Sophia Blake beobachtete das Ganze von ihrer Einzimmerwohnung am Logan Square aus, einen Bourbon in der Hand, die Füße auf einem verschrammten Couchtisch hochgelegt.
Zehn Jahre seit Sommerville.
Zehn Jahre, seit sie dem zweigesichtigen Henry eine Kugel verpasste und als Heldin davonkam – oder zumindest so nah dran, wie eine Frau wie sie je war.
Ihre Schulter schmerzte noch immer, wo die dritte Stichwunde nie ganz verheilt war. Ihr Schlaf wurde noch immer von Schreien unterbrochen, die nicht aus ihrem eigenen Mund kamen. Und ihr Vertrauen in Institutionen? Das war längst in diesem Fluss mit Henry Slater gestorben.
Ihr Telefon summte.
Es war Captain Bob Trussell.
Ihr Chef. Ihr Freund. Ihre letzte Verbindung zu irgendetwas, das in dieser Stadt auch nur annähernd an Loyalität erinnerte.
„Blake“, antwortete sie und zündete sich bereits eine Zigarette an.
„Siehst du die Nachrichten?“
„Ich habe sie gesehen. Doyle war ein guter Polizist. Nicht dumm genug, unbewaffnet in eine Schießerei zwischen Banden zu geraten. Jemand hat ihn angelockt.“
Eine Pause. Ein Seufzer am anderen Ende. »Noch einer ist tot. South Loop. Sergeant Elena Marcos. Zweimal in den Rücken geschossen. Hinrichtungsartig.«
Sophia beugte sich vor, Asche fiel auf den Boden.
»Scheiße. Das sind schon zwei in weniger als 48 Stunden.«
»Wir brauchen dich dafür. Die Interne Ermittlungsabteilung kreist schon wie ein Geier. Verdammt, sogar die Bundespolizei schnüffelt herum.«
Sophia drückte die Zigarette mit einer langsamen Drehung aus.
»Ich bin in zwanzig Minuten da.«
Sie legte auf, griff nach ihrer Waffe und blieb vor dem Spiegel stehen. Dieselben blonden Haare. Dieselbe Narbe unter ihrem Kiefer von Henrys Klinge. Aber ihre Augen? Die waren jetzt anders. Nicht mehr hungrig nach Gerechtigkeit.
Nur müde.
Vorsichtig.
Und bereit, Geister auszugraben, die sie vor zehn Jahren begraben hatte.
Kapitel 2
South Loop, Chicago, 02:14 Uhr
Die Gasse roch nach Öl, Fäulnis und Kordit. Polizeiabsperrungen flatterten im Wind wie gelbe Warnflaggen auf einer Leichenrennbahn.
Sophia duckte sich darunter hindurch, ohne auf Erlaubnis zu warten. Die Beamten, die eintrafen, teilten sich wie eine Flut um sie herum – manche aus Respekt, andere aus Angst. Sie hatte diese Wirkung. Nach zehn Jahren Monsterjagd wurde man fast zu einem Monster.
Sergeant Elena Marcos lag auf dem Bauch, das Gesicht zur Seite verzogen. Ihre Augen waren noch immer geöffnet – weit aufgerissen vor Verrat. Blut war in die Risse des Pflasters gelaufen, dunkel und glitzernd unter den Handlampen des Spurensicherungsteams.
„Zwei Schüsse“, murmelte der Spurensicherungstechniker, ohne aufzusehen. „Nacken, aus nächster Nähe. Sieht aus wie eine schallgedämpfte Waffe. Schon wieder.“
Sophia nickte.
Dieselbe Vorgehensweise wie Doyle.
Dieselbe Präzision.
Dieselbe Botschaft.
Sie hockte sich neben die Leiche und ignorierte den Geruch und die Blicke der Vorgesetzten.
„Du hast jemandem vertraut“, murmelte sie und strich mit den Fingerknöcheln über den Asphalt, „und der ist nah genug gekommen, um dich umzubringen.“
Hinter ihr räusperte sich jemand.
„Blake.“
Captain Bob Trussell überragte sie. Markanter Kiefer, kurz geschorenes graumeliertes Haar, breite Schultern in einem langen Wollmantel. Er sah aus wie ein Kriegsdenkmal mit Abzeichen.
„Zwei Polizisten in zwei Tagen. Diese Stadt steht kurz vor dem Explodieren“, sagte er.
„Das war nicht zufällig“, erwiderte Sophia und stand auf. „Hier putzt jemand. Oder sendet eine Botschaft.“
„Glaubst du, es hat etwas mit Gangs zu tun?“
Sophia schüttelte den Kopf. „Zu sauber. Gangs hinterlassen Chaos und Spuren. Das hier? Das ist chirurgisch. Militärisch vielleicht. Oder schlimmer – persönlich.“
Bobs Kiefer zuckte. „Du jagst Geister, Blake.“
„Ich habe schon mal einen gefangen.“
Er schaute weg. Zündete sich eine Zigarette an, die er nicht hätte anzünden sollen. Nahm einen Zug, als schuldete er ihm Antworten.
Dann: „Die Interne Ermittlungsabteilung hat das im Blick. Sie fragen nach dir.“
Sophia blinzelte. „Wozu zum Teufel?“
„Sie glauben, du hättest kürzlich Kontakt zu Marcos gehabt. Inoffiziell.“
Sophia versteifte sich. „Ich habe seit Monaten nicht mehr mit ihr gesprochen. Als wir das letzte Mal sprachen, sagte sie, sie arbeite an etwas Geheimem. Hat aber nicht gesagt, was.“
Bob stieß Rauch aus.
„Na ja, dieses Etwas hat sie gerade umgebracht. Die Interne Ermittlungsabteilung glaubt, sie hat Akten hinterlassen. Dein Name steht darin.“
Sophias Augen verengten sich.
„Mir wird eine Falle gestellt.“
Bob antwortete nicht.
Er musste nicht.
Ein Anruf knisterte über Funk. Noch ein Beamter am Boden. Hyde Park. Vor zwanzig Minuten.
Sophia und Bob sahen sich in die Augen.
„Drei ist ein Muster“, murmelte sie.
Bob nickte langsam. „Pass lieber auf dich auf.“
Kapitel 3
Hyde Park, Chicago, 03:26 Uhr
Die dritte Szene war schlimmer als die ersten beiden. Vorsätzlicher. Theatralischer.
Officer Jeremy LaSalle war an eine Parkbank genagelt worden.
Buchstäblich.
Zwei Stahlnägel steckten in seinen Handflächen, seine Arme waren unnatürlich über die Rückenlehne gestreckt wie ein groteskes Kruzifix. Ein dritter Nagel durchbohrte seine Kniescheibe und drückte ihn an die Latten. Seine Waffe steckte noch im Holster. Nicht einmal gezogen.
Sophia stand vor der Leiche, die Kälte nagte an ihren Knochen, und sie versuchte, den Schauer zu unterdrücken, der ihr den Rücken hinaufkroch.
Das war nicht nur eine Botschaft.
Es war eine Inszenierung.
Und Inszenierungen waren immer für jemanden.
Ein Spurensicherungstechniker reichte ihr einen Plastikbeutel mit Beweismitteln. Darin befand sich eine Spielkarte – eine alte, fleckige Pik-Dame, die in LaSalles Hemdtasche steckte.
Sophia runzelte die Stirn. „Wo wurde das gedruckt?“
„Keine Ahnung. Das ist kein Standard-Casino-Papier. Könnte handgemacht sein. Echt altmodisches Zeug.“
Sie starrte auf die Karte. Das Gesicht der Dame war heftig, fast manisch, ausgekratzt. Die Tinte war verschmiert, als hätte es jemand in Eile – oder Wut – getan.
Bob Trussell kam herüber, sein Trenchcoat flatterte im Wind.
„Erkennst du ihn?“, fragte er.
Sophia nickte langsam. „Ja … Henry hat immer Karten hinterlassen. Aber immer Buben. Nie Damen.“
Bob sah sie eindringlich an. „Glaubst du, das ist er?“
„Ich habe gesehen, wie er von einer Klippe fiel und in einer Schlucht verschwand, Bob. Ich habe ihm vorher eine Kugel verpasst.“
Bob zündete sich eine weitere Zigarette an. „Beantwortet die Frage nicht.“
Sophia antwortete nicht. Sie starrte wieder auf die Karte, etwas nagte an ihrem Hinterkopf.
In diesem Moment summte ihr Telefon.
Unbekannte Nummer.
Sie zögerte.
Dann ging sie ran.
Eine tiefe, modulierte Stimme drang durch die Leitung. Männlich. Ruhig. Zielstrebig.
„Sie denken, Sie gehören zu ihnen. Aber sie wissen nicht wirklich, wer Sie sind, oder, Sophia?“
Sophia erstarrte.
„Wer ist da?“
„Drei erledigt. Noch mehr. Sie sollten losrennen.“
Das Gespräch wurde unterbrochen.
Keine Spur. Keine ID.
Nur ein Geist auf Rachefeldzug.
4:10 Uhr. Zurück im Hauptquartier löste sich die Lage schnell auf.
Als Sophia das Revier betrat, wartete die Abteilung für interne Ermittlungen bereits. Zwei Agenten in dunklen Anzügen. Kalte Augen. Lächeln wie aus einem Klemmbrett.
Einer hielt ihm einen Suspendierungsbescheid entgegen.
„Detective Blake“, sagte er, „Sie werden bis zum Abschluss der Ermittlungen zum Tod der Beamten Doyle, Marcos und LaSalle beurlaubt.“
„Was?“ Sophias Stimme sank um eine Oktave.
Gegen Sie wird wegen Verschwörung, Behinderung der Justiz und möglicher direkter Beteiligung an diesen Morden ermittelt. Mit sofortiger Wirkung verlieren Sie Ihre Dienstmarke, Ihre Waffe und Ihren Zugang.
Bob Trussell trat vor und versuchte einzugreifen, doch Sophia kannte die Vorgehensweise. Sobald ihre Waffe auf dem Tisch aufschlug, war sie keine Ermittlerin mehr.
Nur eine weitere Verdächtige.
Sie stürmte wortlos hinaus.
Und zwei Blocks vom Revier entfernt hätte sie auf dem Bürgersteig beinahe ein schwarzer SUV gestreift.
Sophia sprang zur Seite, rollte sich ab und zog ihre Ersatzwaffe.
Eine maskierte Gestalt stieg aus dem Fahrzeug. Eine Pistole mit Schalldämpfer in der Hand.
Sie feuerte zweimal. Die Gestalt duckte sich, erwiderte das Feuer, traf ihren Arm und verschwand dann wie Rauch in der Gasse.
Sophia lehnte an der Backsteinmauer, ihr Ärmel war blutgetränkt, sie atmete schwer.
Jemand wollte sie tot sehen.
Jemand, der ihre Bewegungen kannte. Ihre Gewohnheiten. Ihre Vergangenheit.
Die Pik-Dame war kein Zufall.
Das war nicht Henry.
Das war jemand, der schlauer war.
Jemand, der näher dran war.
Kapitel 4
Marcos’ Wohnung – Nähe West Side, 06:42 Uhr
Blut sickerte durch Sophias Jackenärmel, dick und warm. Sie hatte ihn mit Klebeband und Mull aus dem Erste-Hilfe-Regal des Tante-Emma-Ladens drei Blocks vom Revier entfernt fest umwickelt – bar bezahlt, schnell.
Jetzt stand sie vor Sergeant Elena Marcos’ Wohnung im dritten Stock, mit hämmerndem Herzen, und hielt Ausschau nach Verfolgern.
Es gab keine.
Noch nicht.
In der Wohnung war es still. Gelbes Absperrband flatterte träge über den Türrahmen. Das Schloss war noch intakt.
Sie hatte es in neun Sekunden geknackt.
Drinnen war kaum etwas passiert. Die IA war zwar hier gewesen – aber sie suchten nach direkten Verbindungen. USB-Sticks. Akten. Geständnisse. Sie kannten Elena nicht so gut wie Sophia.
Sie durchsuchte die Küche, dann den Schrank, schließlich das Schlafzimmer. Die Matratze war unberührt. Das Kopfteil jedoch war hohl. Das war Marcos’ Trick. Sie hatte Sophia einmal bei einem Drink erzählt: „Sie vergessen immer das Bett. Polizisten und Kriminelle gleichermaßen.“
Sophia löste die dünne Rückwand.
Darin, mit chirurgischer Präzision festgeklebt, befand sich eine kleine externe Festplatte.
Sie lächelte grimmig.
„Danke, Elena.“
7:13 Uhr. Gemieteter Lagerraum, Little Village
Sophia verband die Festplatte mit einem Brenner-Laptop in einem staubigen Metalllagerraum, den sie seit dem Sommerville-Fall hatte. Es gab kein Internet, kein GPS. Nur kalte Stahlwände und Geheimnisse.
Die Festplatte öffnete sich mit einem Passwort: „SIXQUEENS“.
Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.
Sechs Opfer in Sommerville. Alles Blondinen. Alles Frauen. Alles Henrys „Königinnen“.
Darin befanden sich Dateien – Videoaufnahmen, gescannte Notizen, Überwachungsfotos.
Und in der Mitte: ein Ordner mit der Aufschrift „TS_REAPPEARS“.
Sie klickte darauf.
Da war er.
Der doppelgesichtige Henry – älter geworden, die Brandnarben verzerrten noch immer sein halbes Gesicht wie geschmolzenes Wachs. Das Filmmaterial war körnig, stammte aus einer Überwachungskamera. Der Zeitstempel: vor drei Wochen, Toronto, Kanada.
Er stieg in einen Bus.
Er lebte.
Sophia schluckte schwer.
Der Geist, den sie begraben glaubte, hatte sich zurück ins Licht gekämpft.
Es gab noch mehr Bilder. Henry im Trenchcoat. Henry im Gespräch mit jemandem im Schatten. Henry überreichte ein kleines Päckchen.
Und eine Notiz – handgeschrieben, gescannt und unterschrieben:
„Wenn mir etwas passiert, ist Henry Slater zurück. Ich glaube, er benutzt einen falschen Ausweis unter dem Namen ‚Richard Knox‘. Ich glaube auch, dass ihn jemand in der Abteilung beschützt. Vielleicht gibt er ihm sogar Namen.“ – Elena
Sophia lehnte sich mit klopfendem Herzen in dem Metallstuhl zurück.
Henry lebte.
Aber das war nicht der Teil, der ihr Angst machte. Was ihr Angst machte … war die Andeutung, dass jemand in ihrem eigenen Revier Bescheid wusste. Und half.
Das hieß, sie hatten gewusst, wo Elena zu finden war. Doyle. LaSalle.
Und jetzt waren sie hinter ihr her.
Ein leiser Piepton.
Sophia blickte auf ihr Wegwerfhandy. Wieder eine gesperrte Nummer.
Eine Nachricht.
„Noch eine Dame übrig. Tick tack.“
Kapitel 5
Toronto, Kanada, drei Tage später
Schnee fiel in dicken Schichten, als Sophia aus dem Nachtbus aus Detroit stieg. Sie hatte sich die Haare kurz rasiert, schwarz gefärbt und ihre Lederjacke gegen einen bauschigen blauen Mantel und zwei Nummern zu große Jeans getauscht. Die Art von Frau, die niemand zweimal ansah.
Das war das Ziel.
Sie war unter einem alten Decknamen, der mit einer vor Jahren eingestellten DEA-Operation in Verbindung stand, nach Kanada eingereist – Jessica Monroe. Die Identität hatte sie einen Gefallen von einem pensionierten Zollbeamten gekostet, der ihr etwas schuldete, weil sie seinen Sohn vor einer Fentanyl-Razzia gerettet hatte.
Jetzt war sie in Toronto. Allein. Illegal. Blutend.
Und sie jagte einen Mann, der eigentlich tot sein sollte.
8:52 Uhr, Dundas Street – Nähe Busbahnhof
Im Restaurant war es still, bis auf das Zischen der Grillplatte und das Summen traurigen Radiojazz. Sophia saß mit aufgeklapptem Laptop in der hinteren Sitznische und nutzte das kostenlose WLAN, während sie so tat, als würde sie lauwarmen Kaffee trinken.
Sie hatte den Aliasnamen „Richard Knox“ über einen Datenhändler aus Elenas geheimen Dateien ermittelt. Der Name hing mit einer Mietwohnung fünf Blocks vom Terminal entfernt zusammen – einer heruntergekommenen Wohnung ohne Aufzug, die auf eine Briefkastenfirma mit Sitz in Nova Scotia registriert war.
Henry war schlau geworden.
Sie trank ihren Kaffee aus, gab fünf Dollar Trinkgeld und ging in den Wind.
9:27 Uhr, Rutherford Ave. 218 – Knox’ Wohnung
Das Gebäude war von der Art, die man wochenweise mieten konnte, ohne Ausweis. Drogendealer und Geister mochten solche Orte. Niemand stellte Fragen, weil niemand Antworten wollte.
Sophia knackte das Schloss von Wohnung 3B und trat ein.
Die Luft roch nach Bleiche und kaltem Eisen.
Leer.
Aber noch nicht lange her.
Der Badezimmerspiegel war noch beschlagen.
Sie fegte schnell das Zimmer – Bett, Schreibtisch, Kühlschrank – und fand dann ein zerknülltes Stück Zeitung im Müll.
Ein Artikel über die Morde in Chicago. Doyle. Marcos. LaSalle.
Mit roter Tinte unterstrichen: „Detective Sophia Blake“
Ihr Name.
Eine weitere Nachricht.
Dann fand sie das Foto.
Es war unter dem Schreibtisch befestigt, in der Mitte gefaltet.
Als sie es auseinanderfaltete, stockte ihr der Atem.
Es war ein altes Revierfoto der Polizei von Sommerville, aufgenommen vor zwölf Jahren. Sie erkannte die Gesichter – frisch, jung, lächelnd. Ihre. Doyle. Marcos. Sogar LaSalle.
Aber ein Gesicht war rot eingekreist.
Captain Bob Trussell.
Nur … er war damals noch kein Captain gewesen.
Er war ein Streifenpolizist im ersten Jahr namens Gregory Slater gewesen.
Ihr Magen gefror.
Slater.
Derselbe Nachname wie Henry.
Ein Bruder.
Sie stolperte einen Schritt zurück und stieß dabei beinahe den Stuhl um.
Bob Trussell war nicht nur ihr Chef.
Er war Henrys älterer Bruder.
Und er war die ganze Zeit dort gewesen.
Kapitel 6
Detroit, Michigan – Grenzübergang USA, zwei Tage später
Die Rückreise in die USA gestaltete sich einfacher als gedacht. Eine gefälschte Geburtsurkunde, ein wenig Charme und ein überarbeiteter Zollbeamter, abgelenkt von March Madness auf seinem Handy.
Sophia saß auf der Ladefläche eines Lastwagens, der zu einer Autowerkstatt außerhalb von Dearborn fuhr. Sie hatte das Foto in ihrem Mantel verstaut – Bob Trussells Gesicht rot umkreist, der alte Name „Gregory Slater“ mit einer Handschrift, die Henry schrie, auf die Rückseite gekritzelt.
Es ging nicht mehr nur um Rache.
Es war persönlich. Ein Familienerbe des Todes.
Und sie war das letzte Kapitel.
8:19 Uhr, South Chicago – Verlassene Kirche
Sophia traf ihren einzigen echten Verbündeten auf neutralem Boden – Detective Keenan Marrs. Mitte vierzig, schicke Anzüge über kaputten Knien und Augen wie zerbrochenes Glas. Er schuldete Sophia Geld für eine Vertuschung vor Jahren, die ihm seine Dienstmarke rettete und sie eine Beförderung kostete.
„Du solltest eigentlich gar nicht im Land sein“, murmelte Marrs, als sie ihm das Foto reichte.
„Na ja … Überraschung.“
Er betrachtete das Bild und pfiff. „Jesus Christus. Das ist Trussell?“
„Gregory Slater. Hat nach dem College seinen Namen geändert. Ist unter einem neuen Ausweis zur Polizei gegangen. Niemand hat seine Vergangenheit gründlich genug überprüft, um ihn zu entlarven.“
„Er steht unter Schutz“, sagte Marrs. „Der Mann hat Drogen. Und du stehst auf jeder verdammten Fahndungsliste des Landes. FBI, IA, DHS – du nennst es. Die wollen deinen Kopf auf einem Stock.“
Sophia zündete sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an.
„Dann hilf mir, zuerst seinen zu erledigen.“
In dieser Nacht, Cicero, Illinois – Sophias sicheres Haus
Sie kehrte zu einem ihrer letzten Schlupflöcher zurück – einer vernagelten Wohnung über einem stillgelegten Pfandhaus. Sie war während der letzten Tage des Sommerville-Falls dort geblieben, damals, als Henry nur ein Name war, über den man in Frauenhäusern und Leichenhallen flüsterte.
Jetzt war Henry Vergangenheit.
Bob Trussell war Gegenwart.
Sie klappte den Laptop auf. Ladete die versteckten Dateien von Marcos' Laufwerk. Da war er: ein verschlüsselter Ordner mit der Bezeichnung „B.TRUSS“.
Sophias Augen weiteten sich, als sie die entschlüsselten Fragmente las.
Trussell hatte Zugriff auf die Personalakte jedes einzelnen Beamten. Er hatte jeden der drei ermordeten Polizisten in einer verborgenen IA-Datenbank mit roten Fahnen markiert. Papierspuren, die mit gefälschten Anzeigen und inoffiziellen Notizen verknüpft waren – genug, um sie angreifbar zu machen.
Jahrelang hatte er sie hereingelegt.
Sie zu entbehrlichen Dingen gemacht.
Sie zu ihren gemacht.
Ein leises Klicken.
Sie erstarrte.
Die Türklinke.
Im Nu hatte sie ihre Waffe in der Hand.
Dann bewegte sich ein Schatten hinter der zerbrochenen Glasscheibe nahe der Feuerleiter.
Sie feuerte einmal.
Die maskierte Gestalt krachte durch das Fenster.
Schwarze Kampfausrüstung. Pistole mit Schalldämpfer. Derselbe Killer wie zuvor.
Sie kämpften schweigend, brutal und schnell. Er schlug ihr in die Rippen, verfehlte den tödlichen Treffer um Haaresbreite. Sie stieß ihm den Ellbogen in die Kehle und schlug ihn dann mit einer Lampe. Er taumelte und ließ die Waffe fallen.
Sie demaskierte ihn.
Ein junges Gesicht. Anfang 20. Keine Emotionen.
Seine Lippen verzogen sich leicht.
„Zu spät“, flüsterte er. „Er weiß es.“
Dann biss er zu.
Zyanid.
In Sekundenschnelle tot.
Sophia stand da, keuchend, blutüberströmt.
Und in diesem Moment wusste sie:
Der letzte Zug hatte begonnen.
Kapitel 7
Chicago – West Side, 3:18 Uhr. Unterirdischer Archivraum, Hauptquartier des 22. Reviers (Zugang über Lüftungsschacht)
Die Luft war erfüllt von Staub und Verrat.
Sophia ließ sich vom Deckenlüfter fallen und landete geduckt hinter einer Reihe vergessener Aktenschränke. Das gesperrte Archiv war nicht vernetzt. Kein Cloud-Speicher. Keine digitalen Spuren. Genau das machte es so wertvoll.
Außerdem: gefährlich.
Sie knackte das Schloss des hinteren Schranks – der dritte von hinten, wie Marcos' verstecktes Laufwerk beschrieben hatte – und zog die Schublade mit der Aufschrift heraus:
„TRUSSELL, B. – Geheim (Autorisiert: Nur für den Commissioner)“
Sie zog die Akte heraus.
Darin befanden sich eine Reihe von Memos, Berichte der internen Ermittlungen … und ein versiegelter Umschlag mit dem Stempel „ZENSIERT – NUR FÜR DIE AUGEN“.
Sie riss ihn auf.
Das erste Dokument darin ließ ihre Brust zusammenzucken.
Einsatzbericht – Akte Nr. 778: H. Slater
Datum: 11. Oktober 2015
Beamter: Captain Bob Trussell (ehemals Officer Gregory Slater)
„Subjekt Henry Slater galt nach einer Schießerei mit Detective Sophia Blake in der Nähe der Red Hollow Gorge als tot. Die Leiche wurde jedoch nicht geborgen. Ich traf Minuten später am Tatort ein und fand Henry schwer verwundet, aber lebend vor.“
„Anstatt ihn auszuliefern, habe ich ihn geborgen. Ich habe sein Verschwinden über private medizinische Dienstleister und Offshore-Konten arrangiert. Das Subjekt befindet sich seitdem in sicherer Obhut an einem unbekannten Ort in Kanada. Die Überwachung läuft.“
„Langfristiges Ziel: Blakes Märtyrertum suggerieren. Einfluss auf ihre Karriere behalten und gleichzeitig ihre öffentliche Glaubwürdigkeit langsam schwächen. Die letzte Phase beginnt, wenn der Verlust von Verbündeten und die Verleumdung einen psychischen Zusammenbruch auslösen.“
„Zielstatus: ALPHA.“
Sophias Hände zitterten.
Er hat Henry gerettet. Er hat alles inszeniert. Doyles Tod. Marcos. LaSalle. Die Königinnenkarten.
Jeder Polizist war kurz davor gewesen, etwas zu erreichen – kurz davor.
Und Bob Trussell, der Captain der Goldjungen, hatte das Ganze inszeniert. Zehn Jahre Manipulation. Rache, gereift wie Wein. Kalt, kalkuliert.
Dahinter folgte eine Liste.
Eine Liste.
Sophias Name stand ganz oben.
Darunter – fünf weitere Namen.
Der letzte?
Keenan Marrs.
Ihr einziger Verbündeter.
Und er war als „Geplant“ markiert.
4:11 Uhr. Sophias Wegwerfhandy – Eingehender Anruf: Unbekannte Nummer
Sie antwortete schweigend.
Eine krächzende Stimme drang durch. Nicht Henrys. Nicht die des Mörders.
Das war Bob.
„Hat dir deine Gutenachtgeschichte gefallen, Sophia?“
Sie erstarrte.
„Du hast eine Spur hinterlassen“, sagte er. „Ich habe dich gelassen. Weil ich wollte, dass du alles weißt. Jedes Wort. Bis zum Ende.“
Sophias Kiefer verkrampfte sich.
„Du hast mich zu deiner Waffe gemacht“, zischte sie.
„Ich habe dir eine Geschichte gemacht“, sagte Bob ruhig. „Eine Tragödie. Und im letzten Akt stirbt immer die Heldin.“
Er legte auf.
Sophia stand da, das Herz hämmerte in ihrer Brust, die geheime Akte in der Hand.
Sie hatte die Wahrheit.
Aber die Zeit lief ihr davon.
Marrs war als Nächste dran.
Und dann … sie.
Kapitel 8
Innenstadt von Chicago – 6:17 Uhr. Wohnung von Detective Keenan Marrs
Die Wohnungstür stand bereits halb offen, als Sophia eintraf.
Sie klopfte nicht.
Mit gezogener Waffe stieß sie sie weit auf und eilte schweigend hindurch.
Wohnzimmer: leer. Küche: leer. Schlafzimmer –
Eine Leiche auf dem Boden.
Sophias Herz machte einen Sprung.
Dann –
„Wurde auch Zeit.“
Marrs lehnte an der Wand, Blut tropfte ihm aus der Schläfe. Seine Hand umklammerte eine Glock, leicht zitternd. Ein toter Mann in taktischer Ausrüstung lag nur wenige Meter entfernt, ein Einschussloch direkt durch sein Auge.
„Der Typ ist durchs Fenster gekommen“, stöhnte Marrs. „Hat kein Wort gesagt. Einfach angefangen zu schießen.“
Sophia half ihm auf. „Du hast Glück, dass du paranoid bist.“
„Ich habe vom Besten gelernt.“
Sie reichte ihm einen USB-Stick. „Trussells Akte. Henry lebt. Trussell hat ihn vor zehn Jahren aus der Schlucht gezogen. Vertuscht. Mich wie eine verdammte Marionette behandelt.“
Marrs fuhr los. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich.
Nicht überrascht.
Nicht schockiert.
Nur … angespannt.
„Du wusstest es“, sagte sie leise.
Er stritt es nicht ab.
„Ich habe es geahnt. Nicht alles. Nur genug.“
Sie trat zurück. Erhob die Waffe. „Warum hast du nichts gesagt?“
„Weil du zu nah dran warst. Hätte ich es dir damals gesagt, wärst du mit gezogenen Waffen losgegangen. Du wärst genauso geendet wie Doyle. Oder Marcos.“
„Du hättest es mir trotzdem sagen sollen.“
„Ich sage es dir jetzt. Und ich bin hinter dir. Wir bringen ihn zur Strecke – sauber, hart, öffentlich.“
Sophia senkte widerwillig die Waffe.
Doch das Vertrauen war zerbrochen.
Und einmal gebrochenes Vertrauen heilt selten.
07:42 Uhr Union Station – Chicago
Sie verfolgten Trussells letzte Anrufe anhand der im Archiv zurückgebliebenen Protokolle der Burner. Einer kam von einem Turm in der Nähe der Union Station.
Sie trennten sich – Marrs, um einer Spur zu einem nicht registrierten Mietwagen des Attentäterkommandos nachzugehen, Sophia, um den Bahnhof und die umliegenden Straßen abzusuchen.
Da sah sie ihn.
Zehn Jahre.
Zehn verdammte Jahre.
Aber er war es.
Henry.
Dasselbe schiefe Lächeln.
Dasselbe verbrannte halbe Gesicht – älter jetzt, grausamer.
Er stand in einer Menge von Pendlern, gekleidet wie ein Wanderprediger. Schwarzer Mantel. Handschuhe. Augen, die durch die Menschen hindurchstarrten.
Ihre Blicke trafen sich.
Er lächelte.
Er hob eine Hand – wie ein Winken.
Und verschwand in der Menge.
Sophia drängte sich vor, rammte sich mit dem Ellbogen durch die Körper, ihr Herz hämmerte.
Verschwunden. Er verschwand wieder wie Rauch. Doch diesmal war es keine Erinnerung. Es war kein Gerücht. Henry war real. Und sie jagte nicht mehr nur Geistern hinterher.
Kapitel 9
Chicago – Lower Wacker Drive, 23:33 Uhr
Die Gasse stank nach Öl und Abgasen. Ein schwarzer SUV stand im Leerlauf direkt vor der Laderampe einer verlassenen USPS-Anlage. Marrs’ Informationen waren eindeutig. Der Van führte zu einer Briefkastenfirma, die mit einer „Trainingsberatung“ verbunden war – im Besitz von Trussell.
Sophia kauerte mit gezogener Pistole hinter einem Stapel verrottender Paletten.
Ein Mann stieg aus dem SUV – jung, gebaut, adrett. Taktischer Gang. Ausgebildet.
Aber unerfahren.
Sie wählte den richtigen Zeitpunkt – wartete, bis er ins Licht trat und sich dem Gebäude zuwandte.
Dann war sie über ihm. Harter Ellbogen an der Kehle, Pistole an der Schläfe.
„Beweg dich, und du bist erledigt.“
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 04.07.2025
ISBN: 978-3-7554-8090-7
Alle Rechte vorbehalten