Cover

Zwei Wochen aus dem Leben eines Misanthropen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Guido Enewoldsen

 

 

 

 

 

 

Fluppen, Pils und Dosenfutter

 

Zwei Wochen aus dem Leben eines Misanthropen

 

 

 

 

 

 

Selfpublisher-Verlag

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ereignisse und Namen sind frei erfunden

 

 

 

 

 

 

1.Auflage August 2017

 

 

Originalausgabe

Veröffentlicht im Selfpublisher-Verlag

Copyright 2009 by Guido Enewoldsen

Umschlaggestaltung:

Guido Enewoldsen

 

ISBN 978-3-00-046686-1

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Altersempfehlung: Ab 16 Jahre

Inhalt

 

Kapitel 01: Dresche für Linnert 006

Kapitel 02: Die erste große Liebe 011

Kapitel 03: Begegnung mit Harms 014

Kapitel 04: Herta hat’s mit Gras 018

Kapitel 05: Jagt auf Troglodytes 021

Kapitel 06: Dante im Park 025

Kapitel 07: Trouble vor Charly’s Kiosk 027

Kapitel 08: Dicke Freunde 033

Kapitel 09: Susanne 039

Kapitel 10: Die Firma 044

Kapitel 11: Die Pferdepeitsche 051

Kapitel 12: Die Beerdigung 058

Kapitel 13: Party ohne Bier 062

Kapitel 14: Lena 068

Kapitel 15: Scheiß Montag 086

Kapitel 16: Der Professor 089

Kapitel 17: Wolle 094

Kapitel 18: Onkel Reinhold 097

Kapitel 19: Die kleine Schürfwunde 099

Kapitel 20: Der Spitzenmonteur 101

Kapitel 21: Otto’s Fettschmelze 109

Kapitel 22: Servicewüste Deutschland 118

Kapitel 23: Müller hat Rücken 122

Kapitel 24: Der Gummififfi 141

Kapitel 25: Doktor Hasewinkel 159

Kapitel 26: Müller fährt Omnibus 162

Kapitel 27: Der Flegel 173

Kapitel 28: Der penetrante Schmetterling 179

Kapitel 29: Der Stammgast 190

Kapitel 30: Freddy’s Verwandlung 195

Kapitel 31: Das Merlin 201

Kapitel 32: Uli und Iwan 210

Kapitel 33: Der Naziverbrecher 216

Kapitel 34: Anne 222

Kapitel 35: Ein nützlicher Erbfeind 233

Kapitel 36: Herr Kloppener 240

Kapitel 37: Die Vernehmung 243

Kapitel 38: Fotzengerry 254

Kapitel 39: Der Supermarkt 264

Kapitel 40: Die Bestechung 274

Kapitel 41: Rohrbruch 279

Kapitel 42: Die Zehn-Zentner-Bombe 288

Kapitel 43: Der Pornostar 292

Kapitel 44: Shanka und Jagdev 299

Kapitel 45: Der Arbeitsunfall 331

Kapitel 46: Gewitterwolken ziehen auf 347

Kapitel 47: Der Brief 373

Kapitel 48: Der Moment der Warheit 385

Kapitel 49: Die Flucht Teil 1 414

Kapitel 50: Müller beim Bund 415

Kapitel 51: Die Flucht Teil 2 437

Kapitel 52: Amrum 451

Kapitel 53: Filmriss 459

Kapitel 54: Der Kettenraucher 474

Kapitel 55: Einmal Bratkartoffeln 486

Kapitel 56: Das Ende 490

 

EPILOG 503

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Kapitel: Dresche für Linnert

 

Manfred Linnert, der korpulente Gebrauchtwagenhändler auf der anderen Straßenseite, bescheißt seine Kundschaft mit Bananenschalen, die er stückweise ins Ventilgehäuse seiner schrottreifen, alten Motoren bröselt. Ein alter Trick, um die Klopfgeräusche ausgeleierter und verschlissener Ventile für eine Weile in den Griff zu bekommen. Die Motoren laufen danach noch ein, bis zwei Wochen einigermaßen rund, bis sie dann endgültig den Löffel abgeben. Die meisten Autos verschifft Linnert nach Afrika und macht damit ein Bombengeschäft. Für gammelige Rostlauben, die hier keinen Pfifferling mehr wert sind, bekommt er drüben noch bis zu zweitausend Euro, und gleichzeitig lässt er das Mittelmeer und tausende Kilometer zwischen sich und seiner Kundschaft. Keine Gewährleistung, die höchste Gewinnspanne und der Endverbraucher in Schwarzafrika merkt nicht mal, dass er ihn beschissen hat.

 

Rainer Müller steht in Unterhosen am Fenster im ersten Obergeschoss seiner Altbauwohnung und betrachtet mit einer gelassenen Schadenfreude, wie Auto-Manne versucht, einer jungen Rothaarigen einen erst vor Kurzem mit dem Abschleppwagen rein gekommenen weißen Fiat Panda anzudrehen. Müller kennt Manne lange genug um zu wissen, dass seine weiße Weste nicht mal im Neunzig-Grad-Waschgang sauber werden würde, und es dauerte drei Tage, bis der Italienische Schrotthaufen einen Ton von sich gab.

Müller erinnert sich noch gut an das laute Geschepper, dass ihn an einem ruhigen Samstagmorgen brutal aus seinen bierkranken Träumen gerissen hatte, und um seine Laune an diesem Wochenende bis ans Limit zu treiben, sprang Mannes Ein-Euro-Jobber Dante wie ein weidwundes Karnickel um das Vehikel und grölte: „Die verdammte Mühle läuft, die scheiß Mühle läuft!“

 

„Tja, das war vor einer Woche“, denkt Müller.

Er ist gespannt wie der Deal mit der Rothaarigen weiter geht. Am Innenspiegel des Pandas hängen zwei große pinkfarbene Würfel und dass Mannes Karren mehr Rost als Lack auf dem Blech haben, ist in diesem Stadtteil von Osnabrück kein Geheimnis. Hier würde sich niemand von ihm ein Auto kaufen. Hier weiß jeder, dass Auto-Mannes Methode Roststellen zu bearbeiten, nicht von Dauer ist und von professioneller Vorarbeit kaum die Rede sein kann. Spachtelmasse oder Schmiergelpapier kennt Manne nicht. Ihm reicht lediglich ein Klecks Farbe und ein Vollidiot, der für ihn die Drecksarbeit erledigt.

„Bisschen Brandbeschleuniger und ‘ne Schachtel Streichhölzer und das Arschloch hätte, was es längst verdient“, denkt Müller, grinst und dreht sich eine Bulls-Houle.

Es ist elf Uhr Samstagmorgen und die Sonne brennt. Die Rothaarige trägt eine enge, abgeschnittene, helle Jeans und dazu ein gelbes T-Shirt. Sie ist barfuß. Ihre lange Löwenmähne hat sie mit einem grünen Band zu einem Pferdeschwanz gebunden und auf ihrer Nase steckt eine große dunkle Sonnenbrille. Sie ist einen Kopf größer als der Autohändler und macht einen sehr gesunden sportlichen Eindruck. Müller hat nicht das Gefühl, dass Manne es hier mit einer dämlichen Schnalle zu tun hat. So wie es aussieht, ist da unten nicht die Lady in Schwierigkeiten.

Müller reißt ein Streichholz an und gibt sich Feuer. Er geht nach hinten zur Stereoanlage und legt eine CD von Tom Petty ein. Free Falling. Müller dreht auf halbe Lautstärke und geht zurück zum Fenster. Als er rüber zum Gebrauchtwagenhändler schaut sieht er gerade noch, wie der Fettwanst mit seinen hundertachtzig Kilo langsam in die Knie geht. Sein gequälter Blick und die rotviolette Gesichtsfarbe deuten klar auf Tiefschlag. Tom Petty singt, She`s a good Girl, loves her Mama. Der Händler schreit:

„Blöde scheiß Zora, verpiss dich bloß vom Hof du!“

And Amerika to. Auf Tom Petty ist Verlass, denn im selben Augenblick kracht eine Brechstange in die Windschutzscheibe einer seltenen siebenundsechziger Corvette Sting Ray … Mannes Sting Ray.

Der Autohändler heult und hat es schwer, wieder auf die Beine zu kommen. Es dauert etwas, bis er wieder gerade steht, Anlauf nimmt und wie ein Bulle auf die Lady zu prescht. Müller vermutet, dass er sie mit seinem Gewicht brutal niederschmettern will. Aber die Rote pariert blitzschnell, macht einen halben Schritt zur Seite, bekommt Mannes Kopf zu fassen und nutzt die unkontrollierte Energie des dicken Mannes, wie Müller findet, sehr effektiv. Sie macht keine Anstalten, die Wucht zu bremsen, sondern gebraucht sie wie ein asiatischer Tai-Chi-Chuan-Meister und rammt Mannes Kopf splitternd durch die geschlossene Seitenscheibe des amerikanischen Klassikers. He`s a good Boy singt Tom Petty. Knockout in der ersten Runde. Manne hängt schlaff an der Beifahrertür seiner Corvette.

Müller geht in die Küche, holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank, reißt es auf, leert es in einem Zug und ist froh, Single zu sein. Die Rote da unten ist eindeutig eine Chaosbraut und in seinen fünfundvierzig Erdenjahren hatte er mehr als nur eine davon. Es ist immer dieselbe Leier, solche Frauen beeindrucken ihn, sie ziehen ihn magisch an, normale Frauen geben ihm nichts.

„Scheiß die Wand an“, denkt Müller und geht duschen.

Als er fertig geduscht und angezogen ist, geht er noch einmal zum Fenster. Irgendjemand muss in der Zwischenzeit einen Rettungswagen und die Polizei alarmiert haben. Ein kleiner Pulk von Schaulustigen hat sich gebildet. Sie gaffen über den kleinen Zaun und schnattern wie ein Schwarm geiler Stockenten in der Paarungszeit, während Manne auf einem Stuhl neben der Corvette sitzt und von einem Sanitäter den verbeulten Schädel mit einem Satz Mullbinden eingewickelt bekommt. Ein grauhaariger Mann in einer roten Jacke, auf der in großen Buchstaben Notarzt steht, und ein Polizist reden auf Manne ein. Müller versteht kein Wort. Es sieht so aus, als wollten die Leute vom Rettungsteam Manne mit ins Krankenhaus nehmen, aber Manne scheint andere Pläne zu haben und von der Rothaarigen keine Spur mehr.

 

„Das Wochenende lässt sich ja gut an“, denkt Müller und nimmt den Hörer von der Gabel seines alten Telefons. Er wählt eine Nummer, drückt den Hörer ans Ohr und geht mit dem Telefon zum Kühlschrank. Er greift sich ein weiteres Bier und setzt sich mit beidem auf sein altes Dreiersofa.

Müller bewohnt seit einigen Jahren eine Ein-Zimmer-Wohnung mit Bad, Küche und einem kleinen Garderobenbereich. Die Technik ist ein wenig veraltet, aber noch gut in Schuss. Alles in allem, groß und bequem genug. Müller fühlt sich wohl und in Ruhe gelassen.

„Beim nächsten Ton ist es zwölf Uhr einundfünfzig Minuten und sechzehn Sekunden!“

Müller legt den Hörer wieder auf die Gabel und nimmt einen tiefen Schluck aus der Bierdose.

Er stellt sich vor, mit der Zeitansagerin zu vögeln.

„Beim nächsten Stoß ist es!“

Müller muss lachen. Das Bier ist leer. Er holt zwei weitere Dosen. Auf dem Weg zum Sofa bleiben seine Augen am Flurspiegel hängen. Ihm gefällt nicht sonderlich, was er darin sieht. Ein angegrauter Mittvierziger mit leichtem Hang zum Bierbauch und was man vor zwanzig Jahren noch als, dichten Haarschopf bezeichnen konnte, ist längst Geschichte, ein Fall für den elektrischen Haarschneider, mehr nicht. Aber Müller wäre nicht Müller, wenn ihn sein Spiegelbild länger als eine Minute beschäftigen würde. Alles in allem ist es ihm scheißegal, wie er auf seine Umgebung wirkt. Eine zugedröhnte Frau auf einem Rockfestival verglich ihn mal mit Bruce Willis und meinte, dass sie unheimlich gerne mit ihm Liebe machen würde. Hätte sie „ficken“ gemeint, wäre Müller sicher mit Ihr hinters Bierzelt gegangen. Oder auch nicht. Er hatte an diesem Abend reichlich Jägermeister intus.

„Scheiß alte Geschichten“, geht es ihm durch den Kopf, zeigt dem Spiegelbild den Mittelfinger und findet das Sofa.

„Es gab auch schon bessere Zeiten“, faselt Müller vor sich hin, schon leicht bedröhnt vom Bier. Bei dem Gedanken an Autos und vor allem an grünweiße Streifenwagen, kommt ihm seine allererste Polizeikontrolle in den Sinn.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2. Kapitel: Die erste große Liebe

 

Es regnete in Strömen. Müller war neunzehn und hatte sich von seinem Kumpel Ludwig den alten Golf geliehen. Stolz, mit Bier und Vollgas, ZZ Top im Kassettenrekorder, über die Autobahn. Freiheit pur. Neben ihm seine erste große Liebe, Simone Bergmann. Simone hatte die Angewohnheit, ihm während der Fahrt am Pimmel rumzuspielen. Müller fand das sehr erregend und versuchte dabei krampfhaft, die Karre in der Spur zu halten.

Simone war blond, hatte reichlich oben rum und immer Kohldampf. Am liebsten aß sie Hot Dogs mit viel Sauce und die Sauce ließ sie dabei extra am Kinn runter laufen weil sie glaubte, Müller wäre ganz scharf drauf, ihr das Zeug ab zu lecken. Müller hasste diese Sauce, er ekelte sich richtig davor. Aber abgesehen davon, hatte Simone viele angenehme Seiten an sich und so blieb ihm nichts anderes übrig, als die Prozedur mit einem gequälten Lächeln zu ertragen. Müller leckte jedes Wochenende und ein bis zweimal in der Woche.

Die beiden waren vom Imbiss auf dem Weg nach Hause. Müller zog gerade die Kassette aus dem Recorder und war dabei sie umzudrehen, als Simone sich zu ihm rüber beugte und ihm zart ins Ohr flüsterte, dass sie noch Platz für eine süße Bananenmilch hätte. Müller wusste sofort, was sie meinte und rutschte in seinem Sitz schon mal etwas tiefer, um es ihr leichter zu machen, während Simone ihm grinsend die Hose öffnete und sehr schnell fand, was sie suchte. Simone war sehr kreativ, wenn es um Sex ging. Das gefiel Müller und bald wurde die zweispurige Autobahn zu einer engen Einbahnstraße. Der Regen hatte noch zugelegt und die Scheibenwischer reichten kaum noch für eine klare Sicht, als Müller darüber nachdachte, ob er das Finale noch bis zur Ausfahrt aufhalten könnte. Es war unglaublich und lustig zugleich. Die Geräusche, die Simone dabei von sich gab, hatten nichts Menschliches mehr und während sie noch einen Zahn zulegte, flackerte Müller blaues Licht aus dem Rückspiegel entgegen. Dann ging alles sehr schnell. Und Müller, der noch im Stillen gehofft hatte, es lediglich mit der Feuerwehr, oder einem Rettungswagen zu tun zu haben, wird prompt mit der nackten Wirklichkeit konfrontiert, als ein grünweißer VW-Passat-Kombie auf der Überholspur links neben ihm auftauchte, die Sirene in Gang setzte und der Beifahrer die Kelle schwenkte.

Im selben Moment biss Simone zu. Müller brüllte vor Schmerzen und riss das Lenkrad unkontrolliert nach links. Er rammte den Streifenwagen und sah aus dem Augenwinkel, wie der Polizist die Kelle fallen ließ und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Arm hielt. Der Streifenwagen fiel zurück. Instinktiv gab Müller Gas. Der Streifenwagen holte schnell wieder auf und war fast schon neben ihnen, als er einen lauten Knall hörte. Sofort danach noch einen, etwas dumpfer als der erste. Müller hatte nun vollends die Gewalt über den Golf verloren und krachte mit voller Wucht gegen die rechte Leitplanke. Simone, noch ahnungslos, verschluckte sich und kotzte Müller auf den Schritt. Der Wagen schleuderte weiter, fand eine offene Stelle in der Planke und rutschte seitlich an einem Hang entlang. Sie überschlugen sich einmal und blieben in einem Graben liegen … Müller kam.

Als Müller sich etwas gesammelt hatte, war es nicht die neun Millimeter Walther vom Lieben-Gott, die ihn brutal aufforderte, mit erhobenen Händen das Fahrzeug zu verlassen. Neben ihm heulte und schrie Simone. Sie versuchte mit Tritten und Faustschlägen die Beifahrertür zu öffnen. Müller verstand nicht was sie schrie. Er verließ das Wrack wie ihm befohlen war und streckte die Hände nach oben. Simone schrie weiter. Die Beifahrertür klemmte, aber sie kam nicht auf die Idee, die offene Fahrertür zu benutzen und als die beiden Beamten Müllers offenen Hosenlatz mit Beilage entdeckten wurde ihnen langsam klar, dass es sich hier, nicht, wie zuerst vermutet, um zwei verdammte Terroristenarschlöcher der Rote Armee Fraktion handelte. Dann sahen sie sich an und fingen an zu lachen. Die Situation verlor an Dramatik und Müller hätte fast mit gelacht, wenn ihm nicht im selben Moment schlecht geworden wäre … Müller kam nochmal, aber diesmal aus einer anderen Körperöffnung. Eine halbverdaute Mischung aus Bratwurst, Pommes-Majo und Bier nahm Kurs auf die blank polierten Schuhe des nächsten Polizisten und der parierte, angesichts dieser kriminellen Fäkalattacke gegen öffentliches Eigentum spontan mit einem harten Punch in Müllers Magengrube, um ihn dann mit einem gezielten Uppercut wieder auf die Beine zu stellen. Müller sackte jammernd zu Boden. Er hatte das Gefühl, er müsse sterben. Ludwigs Golf im Arsch, Simone am Arsch und nur zweihundertachtzig Mark Lehrgeld im Monat. Die Polizisten steckten ihre Knarren wieder in die Halfter, legten den beiden Handschellen an und nahmen sie mit auf die nächste Wache.

Das Ganze brachte Müller drei Jahre Spott, fünfhundert Mark Geldstrafe und ein halbes Jahr Fahrverbot ein. Streifenwagen plus Leitplanke schlugen mit neuntausendachthundert Mark zu Buche.

Ludwig war eine Woche sauer. Der Golf hatte noch einen Schrottwert von fünfzig Mark und Simone Bergmann ließ danach Christian Schröder die Sauce ablecken.

 

 

 

3. Kapitel: Begegnung mit Harms

 

Müller sitzt auf seinem Sofa und hat sein sechstes Bier in der Mangel als es an der Tür klingelt.

Noch immer gedankenverloren stellt er die Bierdose auf den Tisch, drückt die Zigarette aus, steht auf und geht zur Tür. Fast angekommen, überlegt er, ob er öffnen soll.

„Herr Müller! Machen Sie die Tür auf!“, kommt es prompt von draußen.

„Wir wissen, dass Sie da sind!“

„Eindeutig die Bullen“, denkt Müller und wundert sich. „Was wollen sie von mir?“, fragt er durch die geschlossene Tür.

„Wir brauchen Ihre Zeugenaussage im Fall Manfred Linnert! Der Mitarbeiter von Herrn Linnert …, ein gewisser Daniel Tiess hat ausgesagt, dass Sie während des Sachverhalts am Fenster gestanden haben und alles beobachten konnten!“

„Dieser scheiß Penner von einem Hiwi“, denkt Müller und ruft: „Ich hab nichts gesehen und würde Ihnen auch nichts sagen, wenn ich was gesehen hätte!“

„Herr Müller, machen Sie auf, oder ich werde Sie vorladen müssen und das kostet unnötig Ihre und meine Zeit. Sie sind verpflichtet, mit uns zu reden!“

Müller macht die Tür auf. Vor ihm stehen zwei Polizisten in Uniform und einer in Zivil. Der in Zivil sieht aus wie ein Pinguin.

„Kripo Osnabrück“, stellt sich der Pinguin vor und zückt seinen Ausweis.

Müller lässt das Trio in der offenen Tür stehen und geht zu seiner Bierdose. Tom Petty hatte schon vor einer halben Stunde den Löffel abgegeben.

Free Falling …, was könnte jetzt besser passen?“, geht ihm durch den Kopf.

„Mein Name ist Harms und das sind die Kollegen, Kerber und Brand.“

Bei den Beiden muss Müller spontan an die Zeichentrickfilme von R. Feldmann denken.

„Herr Müller, bei Ihrem Verhalten eben an der Tür gehe ich davon aus, dass Sie sich sträuben, mit uns zusammenzuarbeiten?“, sagt der Pinguin und blickt Müller dabei ernst in die Augen.

„Ich sagte doch schon, dass ich nichts gesehen habe. Außerdem muss ich Ihnen gar nichts sagen.“

Müller dreht sich eine, gibt sich Feuer und kippt den letzten Rest Bier in sich rein. Diese ganze Situation geht ihm ziemlich auf den Senkel. Er ist lieber alleine.

„Sie werden sich aber dazu äußern müssen, Herr Müller. Spätestens vor Gericht!“, bellt der Frackträger.

„Dieser kleine miese Knochen von Dante“, denkt Müller. „Wo hatte der sich eigentlich verkrochen, während Manne mit der Rothaarigen im Clinch lag?“ Müller hatte Mannes Speichellecker vom Fenster aus nicht sehen können.

„Passt zu diesem Wicht … Wahrscheinlich hat er sich in seinem Versteck einen runtergeholt. War ja auch reichlich knapp, was die Lady da an hatte.“

Harms Geduld ist am Ende. Er nimmt Müller die Bierdose aus der Hand, hält sie demonstrativ über seinen Kopf und zerdrückt sie. Müller bleibt cool. Er hat in der Vergangenheit viel zu oft den Fehler gemacht, auf solche billigen Provokationen zu reagieren.

„Also, Herr Müller, wollen Sie sich jetzt zu dem Vorfall äußern, oder nicht?“

Müller tut so, als würde er nachdenken und sagt: „Nein und dabei bleibt’s.“

Der Pinguin sucht den Augenkontakt seiner Kollegen. Ohne Erfolg. Die Beiden von der uniformierten Truppe unterhalten sich gerade über das letzte Spiel des VFL. Sie lachen und scherzen über einen Spieler, der während des Spiels einem pöbelnden Zuschauer eine volle Dose Blue Cow an den Kopf geworfen hatte. Der Spieler wurde deswegen für fünf Spiele gesperrt und bekam eine Zehntausend-Euro-Geldstrafe aufgebrummt.

Harms wirft die Bierdose und verfehlt Brands Kopf nur um Haaresbreite. Erschrocken, überrascht und fassungslos, schaut Brand zu seinem Kollegen Kerber und nickt mit dem Kopf in Richtung Flurtür.

„Soll der Choleriker seinen Scheiß doch alleine machen“, murmelt er. „Immer dasselbe mit diesen großkotzigen Kripoaffen … Denken, sie wären was Besseres.“

Kollege Kerber zieht eine Ekelfresse auf, schüttelt mit dem Kopf, schnalzt mit der Zunge und folgt Brand. Sie verlassen die Wohnung und lassen Müller mit dem Pinguin alleine.

„Solche Pfeifen wie euch fresse ich jeden Tag zum Frühstück!“, schreit der Pinguin ihnen nach.

„Zu nichts nütze! Nichts als scheiß Fußball und nackte Weiber im Kopp!“

Der Pinguin greift in seine Jackentasche und holt eine Tablettenschachtel raus. Er drückt sich zwei in die Hand und schmeißt sie ein.

„Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie jetzt meine Wohnung wieder verlassen würden“, sagt Müller ganz ruhig. „Sonst drückt ihnen mein Anwalt ’ne Klage wegen Hausfriedensbruch rein.“

„Darauf lasse ich es gerne ankommen, du Fatzke!“, schreit der Pinguin Müller an. „Wir können auch anders!“

Müller hat fast schon die Hoffnung aufgegeben, doch auf diesen dämlichen Bullenstandardspruch kann man sich immer verlassen. Müller steht auf, geht zum Willy-Regal, sucht seinen Personalausweis, findet ihn und gibt ihn Harms.

„Was soll ich damit?“, sagt der Kripomann.

„Aufschreiben was draufsteht, mitnehmen, oder irgendwo reinstecken“, sagt Müller. „Schreib mir ’ne scheiß Vorladung und hau endlich ab.“ Müller hat jetzt genug von Pinguinen.

„Seit wann duzen wir uns eigentlich, Müller?“,sagt Harms mit ernster Miene.

„Seitdem du mich duzt“, erwidert Müller trocken.

Harms, jetzt sichtlich ruhiger, greift sich seinen Block und nimmt Müllers Personalien auf.

„Wir sehen uns noch, Müller“, droht Harms, bevor er die Wohnung verlässt. Die Tür zum Hausflur lässt er offen.

„Die Tür kriegt das Arschloch auch nicht zu“, denkt Müller und macht es selber.

Müller stopft seine nackten Füße in die alten Cowboystiefel, nimmt sein Geld und verlässt die Wohnung. Seine Laune ist beim Teufel. In seiner Bude wabert der Gestank von missbrauchter Autorität. Es wird eine Weile dauern, bis Müller den Gestank wieder los ist und er wieder frei durchatmen kann.

 

 

 

 

 

 

 

 

4. Kapitel: Herta hat‘s mit Gras

 

Im Hausflur begegnet Müller Hausmeister Kowalski und Herta Gruber. Herta ist seit drei Jahren Witwe und hat mal aus Neugier am Joint ihres Enkels Kai gezogen. Der Kick gab ihr ein gutes Gefühl und die damit verbundene Vision von ihrem verstorbenen Josef im Engelsgewand, änderte von einem Tag auf den anderen ihre deprimierende Blickweise auf den Tod. Seitdem erleichtert Herta ihre Trauer mit etwas Dampf. Obwohl Müller nichts von Haschisch, Gras und dergleichen hält, er hat’s mehr mit Bier, besorgt er Herta monatlich ihre Ration. Herta hatte es einmal selber versucht. Mit ihren achtundsiebzig Jahren ging sie zum Drogenumschlagplatz Nummer eins der Stadt und wurde prompt über den Leisten gezogen. Der Dealer verkaufte ihr zwanzig Gramm getrockneten Zierrasen. Stinksauer über den Betrug ging Herta zur Polizei, um den Dealer anzuzeigen. Das Ende vom Lied war, dass die Polizisten ihr die zwanzig Gramm Rasen ließen und sie warnend, bei wiederholtem Male, unter Androhung der geschlossenen Psychiatrie, nach Hause schickten. Zu Müller sagte sie nach diesem Debakel, mit ernstem Unverständnis, in was für einer verdrehten Zeit wir heute leben würden. Früher hätten sie Hanf noch in rauen Mengen angebaut und niemand hätte sich darüber aufgeregt.

Müller versuchte ihr damals zu erklären, dass der Hanf zu ihrer Zeit kein THC enthielt, oder nur sehr wenig, und daher nicht als Trostpflaster taugte. Herta hatte kein Wort verstanden und ging vor sich hinbrabbelnd in ihre Wohnung.

„Verdrehte Zeit.“

 

Hausmeister Kowalski wohnt im Erdgeschoss, ist Mitte fünfzig und verfügt über eine ordentliche Körperfülle. Seine dicke rote Knollennase lässt keinen Zweifel aufkommen, in welcher Form er am liebsten Getreide zu sich nimmt. Von Frauen hält er nicht viel. „Zu anhänglich“, sagt er. Müller aber weiß, dass der wirkliche Grund seine versteckte Homosexualität ist. Er hatte ihn vor ein paar Monaten auf dem nächtlichen Nachhauseweg im Park mit einem jungen Mann gesehen. Der Jüngling lehnte mit runtergelassener Hose nach vorne gebeugt gegen einen Baum und Kowi beackerte ihn von hinten.

Müller sind solche Geschichten egal. Er ist froh, dass Kowi ihn an diesem Abend nicht gesehen hat. Als Hausmeister ist Kowi immer freundlich und hilfsbereit und mehr verlangt Müller von einem schwulen Hausmeister nicht.

 

„Hallo Herr Müller!“, grüßt Herta. „Haben sie Dreck am Stecken? Oder warum war gerade die Polizei bei Ihnen?“

„Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Gruber. Hatte nichts mit unserem Monatsabo zu tun“, sagt Müller.

„Dann bin ich ja erleichtert. Ich dachte schon, Sie hätten meinetwegen Schwierigkeiten.“ Herta grinst verschmitzt und zwinkert Müller komplizenhaft zu.

Kowalski begrüßt Müller wie immer, freundlich und nett: „Guten Tag Herr Müller. Geht’s gut?“ Müller weiß, dass Kowi auf seine Frage keine Antwort erwartet, nickt und lässt die beiden hinter sich. An der Haustür öffnet Müller seinen Briefkasten und findet eine Werbung von einem neuen Nagelstudio. „Nails and Color“ steht in bunter, großer Schrift auf dem Flyer. Müller ist froh, dieses Mal ohne eine Rechnung davon gekommen zu sein.

Nails and Color“. Warum immer alles in Englisch?“, denkt Müller. „Warum nicht mal sowas wie: Nagelstudio Ivon. Wir nageln mit Verstand! Das hätte wenigstens was Zweideutiges und man hätte regen Publikumsverkehr.“

Allein die Vorstellung, mit welchem Publikum zu rechnen wäre, lässt Müller innerlich schmunzeln. Er verstaut den Flyer in seine Hosentasche und macht sich auf den Weg zum Kiosk. Polente am Samstag macht durstig und sein Kühlschrank ist trocken. Obwohl am Kiosk alles teurer ist, kauft er sein Bier lieber dort. Müller hasst Discounter. Ihm wird immer speiübel in diesen großen Dingern. Menschenmassen zwängen sich durch die Regale und fahren sich mit ihren Einkaufskarren gegenseitig in den Arsch und Schlangestehen ist auch nicht sein Ding.

Er entscheidet sich für den längeren Weg, durch den kleinen Park. Bei dieser Hitze ist es angenehmer, die alten Platanen als Schattenspender zu nutzen, als den kürzeren, heißeren Weg, durch die Häuserschluchten zu nehmen.

„Kowis Spielplatz“, erinnert sich Müller lächelnd.

Neben einem Holzstapel entdeckt er einen kleinen Zaunkönig. „Wer nicht weiß, warum der Name eines so winzigen Vogels mit König endet, hat niemals einen zwitschern gehört“, denkt Müller.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

5. Kapitel: Jagt auf Troglodytes

 

Bevor Müller in die Stadt gezogen ist, wohnte er in einem kleinen Dorf auf dem Land. Er hatte dort eine sechsundvierzig Quadratmeter Wohnung mit etwas Garten. Das Haus lag am Ende einer Sackgasse und die Vermieterin war seine Freundin. Es ließ sich dort ganz gut leben. Bis der Nachbar gartenseitig starb und dessen Frau einen neuen Mann kennen lernte. Sein Name war Hans Jürgen. Die beiden Gärten wurden durch eine Buchenhecke getrennt und diese Buchenhecke wurde jedes Jahr zweimal geschnitten. Bevor HJ anfing zu schneiden, spannte er immer einen Faden mit der Wasserwaage. Die Hecke hatte eine Länge von circa dreißig Metern und war ungefähr zwei Meter zwanzig hoch.

Da HJ, von Geburt Pedant und Choleriker, nicht sehr nervenstark war, hatte er jedes Mal heftige Ausraster beim Heckenschnitt und Hannelore, Müllers Nachbarin, musste seine Fehler ausbaden.

Weshalb Hannelore sich so einen Vollidioten gesucht hatte, konnte Müller nicht verstehen. Hanne, um die Sechzig, war eine nette gastfreundliche Person mit viel Humor. Nach dem Tode ihres ersten Mannes lud sie Müller manchmal auf eine Flasche Bier ein und nicht selten blieb es bei der einen. Mit Hanne konnte man sich gut unterhalten. In jedem ihrer Sätze steckte ein klein wenig unterschwelliger Sarkasmus. Das gefiel Müller. Ihre Gespräche waren nie langweilig oder oberflächlich. Diese nette Zweisamkeit nahm mit Hans Jürgens Erscheinen ein jähes Ende. Es dauerte nur drei Wochen, da stand Müller auf Platz zwei der Hajotschen Abschussliste. Auf Platz eins, unangefochten, Troglodytes troglodytes, der gemeine Zaunkönig. Laut schmetternde Folge von Trillern, singt fast das ganze Jahr über; Rufe gereiht, hart „tek tek…“ So wurde der kleine Piepmatz in einem Naturführer beschrieben. Mit seiner Größe von zwölf Zentimetern und einem Gewicht von acht bis dreizehn Gramm hielt er HJ das ganze Jahr auf Trab.

„Kaum zu finden, dieser kleine Bastard“, sabberte HJ vor sich hin. Als passionierter Jäger, mit der Lizenz zum Tieretöten, lief er jeden Tag mit seinem Drilling durch den Garten. Zweimal Schrot und einmal Patrone, mit bronzeummanteltem Bleigeschoss, für Rehwild. HJ hatte vor, den kleinen Zaunkönig in seine Einzelteile zu zerlegen. Wie so ein Schwachkopf zu einem Jagdschein kommen konnte war Müller schleierhaft. Dieser Mann war ein gefährlicher Psychopath. Die Farbe seines Kopfes glich der eines Pavianarsches und in seinen zuckenden Mundwinkeln sammelte sich Permanentspeichel. Das andauernde Gezwitscher des kleinen Königs hatte seinem eh schon labilen Nervenkostüm den Rest gegeben. Hans Jürgen wollte töten …, auf Teufel komm raus.

Es war an einem Sonntagmorgen, um sechs Uhr fünfzehn mitteleuropäischer Zeit, als drei aufeinander folgende Schüsse dem trügerischen Frieden in der Nachbarschaft ein jähes Ende setzte. Müller, erschrocken aus seinen Träumen gerissen und noch schlaftrunken, taumelte zum Fenster. Als er den Schleier aus seinen Augen entfernt hatte, sah er HJ in Unterhosen und rauchender Flinte im Garten stehen.

„Ich krieg dich noch, du scheißepickendes Mistvieh! Ich werd‘ dir deinen kleinen Vogelarsch mit Blei vollpumpen!“, hörte Müller ihn schreien.

Tja, ein Mensch, der wirklich etwas von Blei verstand, war hier damals von Nöten. HJs Dachrinne hatte zwei große und ein kleines Loch. An einem Ende hing sie pendelnd nach unten und drohte herunter zu fallen. An diesem Morgen hatte HJ seiner Dachrinne den Arsch voll Blei gepumpt.

Das gab Gesprächsstoff für mehrere Jahre im Dorf. Da in diesem Kaff fast alle einen Jagdschein hatten, jedenfalls die Bauern, kümmerte sich niemand weiter um HJs Ausraster. Die ohne Jagdschein hielten lieber die Klappe. Sie wollten es sich auf keinen Fall mit den Ureinwohnern verscherzen. Wer in diesem Fall die Polizei eingeschaltet hätte wäre reif für einen Umzug gewesen. Außerdem waren einige Polizisten ebenso Jäger und man kannte sich untereinander. Jagdbrüder eben. Das war ein ungeschriebenes Gesetz und schützte auch HJ, trotz Zuwanderung. Denn wer in dieser idyllischen Umgebung nicht schon in sechster Generation lebte und keine hundert Hektar Land besaß, hatte keine Chance auf Eingliederung. Das bekam auch Hans Jürgen zu spüren.

Mit seinen massiven Einschleimversuchen stieß HJ auf Titan, welches sich nicht gerade förderlich auf sein angeschlagenes Gemüt auswirkte. Er wäre so gerne erster Vorsitzender im Kirchenvorstand geworden. Überhaupt hätte er gern im Dorf was zu sagen gehabt. Denn HJ war in dem festen Glauben, wenn alle so wären wie er, wäre die Welt perfekt.

Müller war aus einem anderen Holz geschnitzt. Er hatte nie den Drang verspürt, sich in irgendeiner Weise am Dorfleben zu beteiligen. Es hatte ihn wegen seiner Freundin hierher verschlagen.

HJs Eskapaden gingen weiter. Sein nächstes Ziel war sein selbst gebautes Vogelhaus. Es fiel am späten Abend, drei Tage nach der Dachrinne. Die Regenwassertonne am Haus war sein drittes Ziel. Das auslaufende Wasser suchte sich seinen Weg in die sich unter dem Haus befindliche Garage und überschwemmte seine teure Modelleisenbahnplatte.

Aus HJs Fluchsalvengewitter vermochte Müller in dieser Phase inkompetenter Tötungsversuche kein vernünftiges Wort mehr zu entnehmen. HJ erinnerte Müller an das alte HB-Männchen aus der Zigarettenwerbung. Wer wird denn gleich in die Luft gehen? Greife lieber zur HB.

Am Abend des letzten Tages des fünften Monats, nach Ausbruch des Krieges, bekam Hannelore, noch Äpfel pflückend, eine volle Breitseite Schrot in den Oberschenkel. Laut um Hilfe schreiend stürzte sie von der Leiter und brach sich noch dazu das linke Schlüsselbein. Müller konnte etwas später beobachten, wie HJ mitsamt seiner Infanterie von der Polizei abgeführt wurde. Hannelore brachte man ins nächstgelegene Krankenhaus. Einen Monat später sah Müller die Beiden wieder zusammen Hecke schneiden. Hans Jürgen musste wohl eine flinke Zunge gehabt haben, anders konnte Müller sich diese Beziehung nicht erklären.

Das schmetternde Trillern und „tek tek …,“ erledigte sich irgendwann von selber. Troglodytes brauchte einen Feind, der ihm gewachsen war.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

6. Kapitel: Dante im Park

 

„HJ hat diesen Krieg verloren, keine Frage“, denkt Müller, immer noch schadenfroh. Er geht am Holzstapel vorbei und steuert das Ende des Parks an. Fast angekommen sieht er Mannes Hiwi, Dante, auf einer Bank sitzen. Hinter der Bank parkt seine Mofa und auf der Bank eine Palette Hansen Pils. Dante säuft das billigste Bier diesseits des Urals. Müller geht auf Dante zu und setzt sich neben ihn.

„Hi Müller, alles fit? … Willste ’n Bier?“

„Nee, lass mal, Daniel, das Zeug passt eher zu dir“, Müller von der Seite.

„Sag mal, Daniel, warum musstest du den Bullen stecken, dass du mich am Fenster gesehen hast?“

„Die haben mich gefragt, ob es weitere Zeugen gibt“, Dante etwas abwesend zu Müller.

„Und da musstest du denen gleich stecken, mich am Fenster gesehen zu haben?“

Wieso… is doch egal, oder?“

„Nein, Dante, das ist nicht egal. Ich hab’ jetzt die Schmiere am Arsch und das geht mir auf den Sack.“

Dante nimmt einen Schluck aus der Dose und schweigt.

„Pass auf, Dante, ich mach’ dir einen Vorschlag … Du rufst bei der Kripo an und verlangst Hauptkommissar Harms.“

„Warum das denn Müller?“

„Weil du mir diese Scheiße eingebrockt hast, Mann, und halt jetzt dein blödes Maul und hör mir zu … Dem sagst du dann, dass du dich geirrt hast und nichts Genaues gesehen hättest. Es war nur eine Vermutung … Verstehst du das, Daniel?“

„Warum machste eigentlich so’ n Wind, Müller? Bist doch nur Zeuge!“

„Dante, verstehst du das denn nicht? Ich will meine gottverdammte Ruhe! Ich will mit den scheiß kleinkriminellen Machenschaften deines fetten Chefs nichts zu tun haben. Auch nicht als Zeuge. Versteh das doch, du Klappspaten.“

„Okay, Okay, ich mach’s ja. Was springt für mich dabei raus, Müller?“

„Eine Palette von deinem Lieblingsgesöff.“ Müllers Blick lässt Dante keinen Spielraum für weitere Verhandlungen. Dante nickt zustimmend und knackt die nächste Dose. Müller lässt Dante da sitzen und verlässt den kühlen Park in Richtung Kiosk.

Dante schreit ihm nach: „War doch ne geile Tussi, Müller, oder?! Der hätteste doch auch gern‘ ein’ verplättet?!“

Müllers Vermutung, dass Dante die rote Lady als Wichsvorlage benutzt hat, bestätigt sich in diesem Augenblick.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

7. Kapitel: Trouble vor Charly’s Kiosk

 

Bis zum Kiosk sind es noch zweihundert Meter. Müller legt einen höheren Gang ein und bewältigt die Strecke in knapp einer Minute.

„Zwei Träger Bier und ein Kühles vorweg, Charly.“

„Ah, meine Freund Muller“, freut sich Charly. „Wieder durstig? Kein Problem, genug Bier da, sogar gekuhlt.“

Charly schiebt ihm eine kalte Dose Bier durchs Kioskfenster. Müller kippt es in einem Zug.

„Diese Hitze ist nichts für mich“, sagt Müller und wischt sich den Schweiß mit der Hand von der Stirn.

„Was fur Hitze, Muller? Wo ich herkomme is mehr Hitze. Is doch kein Hitze hier. Musst du gehen um diese Zeit nach Libanon, da ist Hitze!“

„Da magst du wohl recht haben, Charly. Für meinen norddeutschen Weicharsch ist’s hier aber schon heiß genug. Im Libanon hätte ich wahrscheinlich keine Überlebenschancen.“ Müller lässt sich noch ein kaltes Bier geben und rollt die eisige Dose über seine heiße Stirn.

 

Charly kam vor etlichen Jahren nach Deutschland. Er fand eine deutsche Frau und hat mittlerweile drei Kinder. Charly ist nicht groß, aber seine mentale Ausstrahlung, gepaart mit einem dichten schwarzen Oberlippenbart nach Kaiser-Wilhelm-Art lässt seine Körpergröße unwichtig erscheinen. Er besaß schon mehrere Kneipen und eine Discothek. In der Discozeit schoss ihm ein Italiener fünf Kugeln in den Körper. Nach einem Tag Krankenbett sah man ihn schon wieder im Krankenhausflur spazieren gehen und eine Woche später betrieb er den Kiosk am Haupteingang der Klinik. Als das Krankenhaus abgerissen wurde übernahm er den Kiosk in dem Stadtteil, in dem Müller wohnt. Das passte Müller gut, denn er kannte Charly schon eine Weile und mochte ihn.

 

Müller dreht sich eine und öffnet die Dose. Er nimmt sich einen Lottoschein, gibt sich Feuer und verschwindet in der Lottoecke. Charly verkauft währenddessen einem Schwarzen die neueste Ausgabe des Spiegels. Charly und der Schwarze kommen ins Gespräch und Müller denkt darüber nach, was er sich alles leisten würde, falls er den Jackpot knackt. Die Gewinnhöhe beläuft sich diese Woche auf acht Komma fünf Millionen Euro! Als Müller sich an die Kreuze macht hält ein schwarzer Mercedes SLK neben dem Kiosk. Eine Frau um die Dreißig und ein kleines Mädchen mit blonden Löckchen steigen aus und nähern sich dem Kiosk.

„Ich will sofort mein Erdbeereis mit Liebesperlen drauf“, quengelt die Kleine schlecht gelaunt und benutzt Charlys Abfalleimer als Ventil. Mit einem einzigen Tritt schafft sie es, den Müll auf zehn Quadratmeter vor dem Kiosk zu verteilen.

„Ey, ey, ey, kleines Fräulein, so nicht“, sagt Charly und schaut die kleine böse an. „Du kriegst erst Eis, wenn du den Mull wieder in den Eimer tust!“

Die Kleine fängt an zu schreien und tritt noch einmal gegen den Eimer.

„Blöder Eimer, kannste selber aufheben, dein’ blöden Müll!“

Jetzt mischt sich die Frau ein. Sie nimmt das Mädchen an die Hand und verschwindet hinter einer Hausecke. Eine Weile kann Müller die Kleine noch zetern hören, dann wird es ruhiger. Die Frau und das Mädchen kommen zurück. Müller sieht sofort, dass die Kleine auf Ruhe-vor-dem-Sturm gestellt hat. Der Vulkan könnte jeden Moment wieder ausbrechen.

„Bitte, Herr äh… bitte, geben sie meiner Tochter das Eis. Ich werde mit meinem Mann telefonieren. Er wird dann jemanden schicken, um den Müll zu beseitigen.“

Müller kann sehen, dass Charly die Entscheidung nicht leicht fällt. Eis oder kein Eis? Aber wegen der offensichtlichen Verzweiflung der Frau und um des lieben Friedens Willen, gibt er schließlich nach.

„Hier hast du Eis, kleines Fräulein, aber verdient hast du nicht“, sagt er und hält ihr das Eis entgegen. Die Kleine sieht Charly böse an und reißt ihm das Eis aus der Hand.

„Blöder Mann! Doofer Mann!“ Wütend fleddert sie das Papier vom Eis und schmeißt es in Richtung Kiosk-Fenster. Sie hat eindeutig vorgehabt, Charly damit zu treffen aber stattdessen trifft sie die Hose des Schwarzen. Seine weiße Jeans bekommt davon einen roten Fleck am Oberschenkel.

Hallo, so geht das aber nicht! Du hast meine Hose schmutzig gemacht“, sagt der Schwarze.

„Nicole, es reicht jetzt!“, zischt die Mutter. „Entschuldige dich bitte bei dem netten Neger.“

„Scheißneger-Scheißneger-Hosenträger!“, spottet Nicole und latscht ein drittes Mal gegen den Mülleimer.

„Neger sind doof und gemein.“ Nicole zieht eine Schnute und macht auf beleidigt. „Neger sind faul und böse hat Papa gesagt.“

„Aber, Prinzesschen …, dieser Neger hier, ist doch ganz lieb … Sieh doch“, sagt die Mutter. Sie stellt sich neben dem Schwarzen, schaut dabei Nicole an und legt ihm mutig ihre Hand auf die linke Schulter. „Bitte entschuldigen sie“, lächelt sie verlegen, „aber meine Tochter kennt Neger nur aus dem Fernsehen.

„Soso“, sagt der Schwarze mit ironischem Unterton, „das tut mir aber leid, Missus. Sie müssen wissen, dass wir Sklaven aus finanziellen Gründen nicht sehr viel rum kommen. Mein Zuhause sind die Baumwollfelder in Texas. Da kann es schon einmal vorkommen, dass so süße, ausgesprochen wohlerzogene weiße Mädchen wie das ihre bei meinem Anblick die Contenance verlieren.“

„Gut gekontert“, denkt Müller und eine Sekunde später ist auch bei Nicoles Mutter der Punkt erreicht, an dem ihr bereits angeschlagenes Nervenkostüm anfängt zu bröckeln. Nur, sucht sie sich für ihren hysterischen Ausraster die falsche Person aus.

„Frechheit!“, schreit sie, nimmt angewidert ihre Hand von der Schulter des Schwarzen und geht auf Distanz. „Meint man es einmal gut mit euch Kaffern, bekommt man gleich eine unverschämte Antwort! Ihr undankbaren Kohlensäcke könnt froh sein, dass unsere fleißigen Vorfahren euch euer beschissenes Land zurück gegeben haben. Und was macht ihr daraus? … Gar nichts! Ihr sitzt vor euren jämmerlichen Lehmhütten, sauft den ganzen Tag Tee, lasst eure fettärschigen Weiber für euch malochen, lasst alles veröden und kommt dann in unser schönes Land zum schnorren!“

„Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert, Lady Ashley“, sagt der Schwarze ungerührt. „Ich bin hier geboren und mein Vater auch. Ich bin in zweiter Generation arisch, gute Frau.“

Das reicht!“, keift sie, greift sich wütend die Hand ihres Prinzesschens und macht, dass sie zu ihrem Mercedes kommt.

„Was is mit mein Geld und dem Müll!?“, ruft Charly ihr hinterher.

Keine Antwort. Stattdessen steigt sie in den Wagen, kramt herum und schmeißt eine Hand voll Münzen gegen den Kiosk. „Und um euren Müll könnt ihr euch selber kümmern, oder lieber nicht, darin fühlt ihr Kanaken euch doch eh am wohlsten!“

Sie bekommt den SLK in Gang und rast mit durchdrehenden Rädern Richtung Innenstadt. Ihrem Prinzesschen hat das Ganze die Sprache verschlagen. Sie hat wie angewurzelt da gestanden und das Theater mit großen Augen beobachtet. Ihr Tagesziel, Mami auf die Palme bringen, hat sie erreicht. Müller kommt aus seiner Ecke und hilft Charly und dem Schwarzen den Müll und das Geld einsammeln.

„Die Menschen werden immer verruckter“, sagt Charly, stellt den Mülleimer wieder an seinen Platz und verschwindet im Kiosk. Der Schwarze nimmt seinen Spiegel und verabschiedet sich.

„Man weiß jetzt auch von wem die Kleine das hat“, sagt Müller, lässt Charly seinen Lottoschein registrieren und bezahlt den Kram.

„Mach‘s gut Muller und noch schöne Tag!“

„Dir auch, Charly.“

Müller nimmt sein Bier und schlägt den Weg durch die Häuserschluchten ein. Einmal Daniel Tiess am Tag reicht ihm und nach dem Prozedere eben am Kiosk hat Müller nur noch seine schützenden vier Wände im Kopf. Die Hitze ist unerträglich. Die Sonne brennt ihm gnadenlos ins Gesicht und sein T-Shirt klebt wie eine zweite Haut an seinem Körper. Gedankenverloren geht Müller schnellen Schrittes den Bürgersteig entlang, als auf einmal mit quietschenden Reifen eine frisierte Puch Maxi neben ihm zum Stillstand kommt. Müller bleibt erschrocken stehen. Es ist Dante.

„Ey Müller, ich hab bei diesem Hamms oder wie der Typ heißt, angerufen. Der Penner hat gesagt, dass er mir nicht glaubt. Der will dich trotzdem unter die Lupe nehmen!“

„Scheiße Mann, Dante, wenn du dich noch mal so von hinten ran schleichst, kann ich für nichts mehr garantieren!“

„Stell dich nicht so an, Müller, ich mach doch bloß Spaß.“

„Scheiß auf deinen Spaß, Dante, Nochmal son’ Ding und ich reiß dir die verdammten Eier ab!“, schreit Müller wütend. „Ich bin für heute, was euch irre betrifft, vollends bedient!“ Bier, Sonne und Daniel Tiess, keine gute Mischung. Müllers Laune ist jetzt auf dem Nullpunkt. „Okay, Daniel ich hab’s vernommen und jetzt verpiss dich!“

„Wat is’ mit mein’ Bier, Müller?“

„Das kannst du dir selber kaufen!“ Müllers blick lässt keine Zweifel aufkommen, dass jedes weitere Wort von Dante dessen frühen Tod bedeutet. Dante latscht seine Mofa an und macht sich vom Acker. Müller, endlich wieder mit sich alleine, legt jetzt noch einen Zahn zu. Bis zu seiner Wohnung ist es nicht mehr weit. Nach achthundert Metern erreicht er, völlig außer Atem, den rettenden Hauseingang. Nur noch zwei Treppen bis zum Paradies. Müller verstaut das Bier im Kühlschrank, steuert das WC an und lässt es laufen. Sein schwacher Magen beschert ihm drei Pfund Dünnschiss. Müller wischt sich ab, drückt die Spülung und geht in die Küche. Er holt sich eine Flasche Bier, setzt sich aufs Sofa und dreht sich eine Bulls-Houle. Er zündet sie an, nimmt den Hörer von der Gabel und wählt die Nummer seines alten Freundes Hannes Blik.

„Blik!“

„Hey Bliki, wie geht’s denn so“, freut sich Müller.

„Alles im grünen Bereich, weißte doch, Rainer. Was gibt’s denn?“

„Ich rufe an wegen so einer völlig schwachsinnigen Geschichte und könnte deinen Rat als Polyp gebrauchen.“

„Dann lass mal hören“, sagt Hannes.

 

 

 

8. Kapitel: Dicke Freunde

 

Müller und Hannes kennen sich noch aus dem Kindergarten. Ihr erster Kontakt war feindlich. Wenn Hannes im Sandkasten spielte, lief ihm permanent der Schnodder aus der Nase. Der Schnodder vermischte sich mit dem Sand und lief ihm über die Ober- und Unterlippe am Kinn runter und Manchmal zog er sich diesen Cocktail auch direkt durch die Lippen in den Mund. Von diesen Schnodderkindern gab es vier Stück in Müllers Gruppe und er konnte keines davon leiden. Die Folgen seines Vorurteils waren ständige Sandkastenkloppereien.

Als die Beiden nach der Kindergartenzeit in die gleiche Schule und die gleiche Klasse kamen, hatte Hannes seine ekelige Angewohnheit abgelebt. Sie war von einem auf den anderen Tag verschwunden. Hannes hatte jetzt sogar Papiertaschentücher bei sich.

Müller fand ihn ohne Schnodder ganz okay, mehr aber auch nicht. Als sie schon im zweiten Halbjahr der dritten Klasse waren, bekamen sie einen neuen Mitschüler. Sein Name war Dieter Heidenberger. Dieter war eigentlich schon in der vierten Klasse, musste aber aus chronischem Konzentrationsmangel und fehlenden Unterrichtsstunden das letzte Halbjahr dritte Klasse wiederholen.

Einmal im Jahr brachten seine Eltern ihn zum Abspecken in ein Sanatorium. Denn Dieter war unglaublich fett. Sein Frühstück bestand meistens aus Schokoriegeln und Kartoffelchips. Dazu trank er einen literweise Cola. Seine Eltern besaßen einen größeren Schlossereibetrieb und waren finanziell in der Lage, sich Personal zu leisten. Dieter wuchs als Einzelkind ohne elterliche Erziehung auf. Durch das andauernd schlechte Gewissen seiner Eltern hatte Dieter viel Taschengeld und eine gewisse Narrenfreiheit. Er bekam immer was er wollte.

Diese gefährliche Psychomischung und die Tatsache, dass er ein Jahr älter war als die anderen Schüler in der Klasse, bekam eines Tages Hannes Blik zu spüren. Aus irgendeinem Grund hatte Dieter es auf ihn abgesehen. Dieters Ekelrepertoir reichte von Erpressung bis hin zu Schürfwunden und blauen Augen. Körperlich hatte Hannes gegen Dieter keine Chance und da Hannes’ Vater bei Heidenberger und Co angestellt war, musste Hannes mit seinem Problem alleine zurecht kommen.

Müller konnte Dieter Heidenberger von Anfang an nicht leiden. Er fand, dass Dieter nach Pipi und Kacke stank und in seiner rechter Innenhand wucherte eine dicke ekelige Warze und immer wenn er dabei war, Hannes durch die Mangel zu drehen und der Punkt erreicht war, dass Hannes um Hilfe schrie, musste er diese widerliche dicke Warze auf seinem Mund ertragen. Dieter hielt ihm so lange den Mund zu, bis er blau anlief und wild um sich schlug. Die Quälereien gingen über drei Monate, bis Müller sich ein Herz fasste und Hannes zur Hilfe kam.

Es war in der großen Pause. Dieter saß mal wieder mit seinen ganzen achtzig Kilo auf Hannes und fütterte ihn mit allem, was er neben sich auf der Erde fand. Nebenbei bearbeitete er Hannes’ Oberarme mit seinen Knien. In Kennerkreisen auch Muskelreiben genannt. Hannes schrie wie am Spieß und versuchte mit aller Kraft, diesen fetten Kerl von sich zu schütteln. Müller sah, dass Hannes keine Chance hatte. Bis heute hat er keine Ahnung, was ihn damals antrieb, sich mit Anlauf und voller Wucht auf Dieter Heidenberger zu stürzen. Er erwischte ihn hart von der Seite. Dieter verlor das Gleichgewicht und ging neben Hannes zu Boden. Müller wusste, dass er Heidenberger keine Zeit mehr zum Aufstehen lassen durfte. Er trat und schlug ihn, mit allem was er an Kraft aufbringen konnte. In seinem Kopf gab es nur den einen Gedanken: „Wenn der Fettsack wieder auf die Füße kommt, bist du tot.“ Und als er nach einer Weile schwer atmend spürte, dass seine Kondition langsam am Ende war und er sich schon fast mit dem Gedanken abgefunden hatte, gleich die Prügel seines Lebens zu bekommen, hörte er wie durch dichtem Nebel das klägliche Gewimmer von Dieter Heidenberger. Dieter lag zusammengekrümmt neben Hannes und blutete aus Mund und Nase. Er hatte sich in die Hose gemacht und sein rechtes Handgelenk hing schlaff an seinem Unterarm. Das war das letzte Mal, dass Dieter Heidenberger Hannes Blik attackierte. Als nach der Prügelei die ganze Geschichte ans Licht kam, wurde Dieter Heidenberger von der Schule genommen und in eine Privatschule nach Bayern gebracht. Nach seinem Abitur studierte er Jura und Politik und wurde Mitglied in einer der größten Volksparteien Deutschlands.

Müllers Eltern mussten sich zwei Jahre mit den Anwälten der Heidenbergers herumschlagen und den größten Teil der Behandlungskosten von Dieters gebrochenem Handgelenk übernehmen. Müller bekam drei Therapiesitzungen beim Kinderpsychologen aufgebrummt und die Schulleitung sah noch einmal von einem Schulverweis ab. Müller und Hannes wurden danach dicke Freunde. Hannes ging nach der Schule zur Polizei und Müller machte eine Ausbildung zum Zentralheizungs- und Lüftungsbauer.

 

„Kennst du zufällig einen Hauptkommissar Harms? Der Typ arbeitet bei der Kripo“, sagt Müller.

„Was hast du denn mit dem scharfen Hund zu tun?“

„Wieso scharfer Hund?“

„Der Typ kommt von der Internen. Wurde vor einem Jahr von Wiesbaden nach Osnabrück versetzt.“

„Was bedeutet denn, Interne?“

„Das ist die Polizei der Polizei. In diesem Job spionierst du deine Kollegen aus. Diese Leute sind bei uns Regulären nicht gern gesehen.“

„Das kann ich mir vorstellen. Das verstößt doch gegen eure komplette scheiß Bullenehre, oder nicht?“

„So ist es, Müller. Ich und einige Kollegen von mir nehmen an, dass die Versetzung von Harms mehr eine Strafversetzung war. Man munkelt, Harms hätte mit unsauberen Mitteln gearbeitet. Um seiner Kariere etwas auf die Sprünge zu helfen hätte er einem Polizisten, den er über drei Jahre auf dem Kieker hatte, Beweismaterial untergeschoben. Der Polizist wäre danach vom Dienst suspendiert worden und Harms versetzt. Was genau an dieser Geschichte dran ist oder nicht, weiß keiner, außer Harms selber. Auf jeden Fall, musste es seinen Vorgesetzten gereicht haben, ihn los zu werden … Also, Rainer, und jetzt erzähl mir mal, was du mit diesem Schmierlappen zu tun hast?“

In ein paar Sätzen berichtet Müller Hannes von seinem verkorksten Samstagmorgen. Eine Eigenschaft, die Müller besonders an seinem Freund Bliki schätzt, ist seine Geduld beim Zuhören. Hannes kann gut zuhören, ohne unwichtige Zwischenfragen zu stellen. Er lässt Müller bis zum Schluss ausreden und sagt: „Da hast du dich ja reichlich dämlich verhalten, Rainer. Aber das passt zu dir. Du hättest an der Eingangstür nicht so ’n Mist bauen dürfen. Damit hast du Harms erst aus der Reserve gelockt. Schlauer wäre es gewesen, ihm sofort die Tür zu öffnen. Jetzt denkt Harms, du weißt etwas, dass er wissen will und die Geschichte mit Dante schlägt dem Fass noch den Boden aus. Wie kannst du bloß diesen Trottel dazu bringen, bei Harms anzurufen? Du hast doch keine Ahnung, was der Idiot Harms für einen Scheiß erzählt hat. Jetzt hat der Köter erst recht Blut geleckt. Und vergiss nicht, der Köter will wieder ein Dobermann werden“, sagt Hannes.

„Findest du nicht auch, dass der wie ein Pinguin aussieht?“, sagt Müller.

„Jetzt wo du’s sagst … Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass du Scheiße gebaut hast. Der Pinguin hat dich auf dem Kieker und will dir seine Pinguinscheiße unterjubeln. Aber keine Angst, ich werde mal meinen alten Freund Bodo aktivieren. Kann sein, dass er herausbekommt, was der Typ mit dir vorhat. Versprechen kann ich dir aber nichts.“

„Danke, Hannes, das Gespräch hat mir schon geholfen“, sagt Müller erleichtert.

Sie unterhalten sich noch eine Weile über dies und das, verabreden sich für den kommenden Mittwochabend und legen auf. Müller setzt die Flasche Bier an seine trockenen Lippen und lässt die Hälfte in sich reinlaufen.

„Eigentlich bin ich doch nur Zeuge“, denkt er. „Warum sage ich denen nicht einfach, was ich gesehen habe und fertig. Bin gespannt, wann die Vorladung ins Haus flattert.“

Mit diesem Gedanken legt Müller die Geschichte erst einmal auf Halde und kümmert sich um feste Nahrung. Er wählt die Nummer von Felinis Pizzatornado und bestellt sich die achtzehn. Pizza Tonno mit viel Zwiebeln, Müllers Lieblingspizza. Bevor der Pizzaheini kommt hat er noch eine halbe Stunde Zeit, sich um eine weitere Flasche Bier zu kümmern. Vom Bier schon etwas angeschlagen, nimmt Müller seine Rauch- und Trinkutensilien und bewegt sich zum PC. Während der PC hochfährt dreht sich Müller eine, gibt sich Feuer und genehmigt sich einen Schluck kaltes Bier.

 

Sie haben vier neue E-Mails. Müller klickt die erste an.

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Müller löscht den Quatsch und klickt die zweite an.

 

Sie ist von seiner Schwester Christel.

Hallo Lieblingsbruder!

Bin gerade mit Susanne am Achensee im Ösiland und

wir stopfen uns gerade mit Kaiserschmarrn voll.

Wenn ich wieder im Lande bin komme ich mal bei dir rein.

Gruß und Kuss, deine Schwester.

Liebe Grüße auch von Susanne, haha!>

 

Müller antwortet:

Du weißt, dass Völlerei eine Todsünde ist. Ruf an, wenn Du wieder im Lande bist. Bis dann, Rainer. PS: Tu mir bitte den Gefallen und kneif Susanne von mir in den Arsch.>

Müller klickt auf

 

„Ja, ja –, das Susannchen“, denkt Müller und die bittersüße Erinnerung an eine völlig verkorkste Beziehung kommt zurück in seine bierschweren Gedanken.

 

 

 

 

 

 

 

9. Kapitel: Susanne

 

Es fing auf dem dreißigsten Geburtstag seiner Schwester an und endete schon nach drei Monaten. Susanne war eindeutig die hübscheste Frau, mit der Müller jemals eine Beziehung hatte. Sie hatte ein wenig von einer Indianerin. Einen natürlich- bräunlichen Teint und schwarzes Haar, das ihr bis zum knackigsten Arsch der nördlichen Hemisphäre reichte. Ihre Beine waren mit weitem Abstand die längsten und schönsten, die Müller je an einer Frau gesehen hatte. Ihre zarten, schmalen Gesichtszüge ergaben eine perfekte Einheit mit ihren vollen Lippen und der kleinen Nase. Ihre Augen waren von so einem tiefen Braun, dass sie je nach Lichteinfall schon fast Schwarz wirkten; und ein leichter Silberblick verdoppelte diese Wirkung noch. Micheleangelo hätte eine Frau nicht besser aus dem Marmor meißeln können. Es gab einfach nichts zu bemängeln an Susanne, jedenfalls nicht äußerlich.

Müller war stolz an diesem Abend, denn Susanne wich kaum von seiner Seite. Die anderen Gäste schien sie nicht zu interessieren. Sie tranken viel und redeten viel. Sie kamen sich näher und am Ende landeten sie in Christels Bett.

Susanne trug nie einen BH. Das hatten ihre Brüste nicht nötig. Sie waren fest und perfekt und wenn Sie im Sommer in kurzen Jeans und einem engen Top durch die Stadt ging, hatte halb Osnabrück einen Steifen und die andere Hälfte war damit beschäftigt, in Rippen zu boxen oder vor Schienenbeine zu treten. Müller fragte sich damals oft, ob sein Schwanz in sie verliebt war oder sein Herz. Eine gesunde Mischung von beidem hätte ihm sicher schon nach einer Woche die Augen geöffnet.

Susanne war eine Spielerin und wusste sehr genau, wie sie auf die Männer wirkte. Müller hingegen mutierte nach und nach zu einem Psychowrack. Susanne ließ keinen Flirt aus. Sie flirtete sogar, wenn er dabei war; und Müller war nicht in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen. Seine Angst, sie zu verlieren, nahm längst manische Züge an. Sie spielte mit seiner Sexualität, wie Jimi Hendrix auf seiner weißen Fender Stratocaster … „Foxy Lady“.

Zum Schluss war Müller fast soweit, den Song „Hey Joe“ textgenau in die Realität umzusetzen. Aber er hatte damals keine Knarre, so wie Joe; und bevor sich der Gedanke in seinem Kopf festsetzen konnte, sie auf irgendeine andere Art umzulegen, hatten die Götter auf Jamaika den achtzigprozentigen Rum erfunden. An dem Abend, an dem er sich entschlossen hatte, sie zu töten, oder sie einfach zu verlassen, soff er sich ins Koma und wachte im Krankenhaus wieder auf. Die Ärzte sagten, sie hätten ihm den Magen auspumpen müssen und er wäre dem Tod noch einmal von der Schüppe gesprungen. Als Susanne einen Tag später zu Besuch kam sagte Müller ihr, dass sie verschwinden solle und das für immer. Aber Susanne, die bis dato noch keine Erfahrung darin hatte, von einem Mann verlassen zu werden, überhörte Müllers Hilfeschrei und anstatt zu gehen, versuchte sie ihm ein schlechtes Gewissen ein zu reden. Sie meinte, dass sie es schließlich war, die ihn bewusstlos im eigenen Kotter auf der Erde liegend gefunden hätte und das sie es war, die den Rettungswagen alarmiert hätte und das er ohne ihre Hilfe längst über den Jordan wäre.

Müller gab ihr darauf als Antwort, dass er lieber über den Jordan gegangen wäre, als noch einen Tag länger mit ihr zusammen zu sein, und was Susanne in diesem Augenblick purer Ablehnung offensichtlich schräg durch den Kopf ging, war unschwer an ihrem Gesichtsausdruck zu erkennen. Eine Mischung aus Angst, Sprachlosigkeit, Verwirrung und völligem Unverstand gab Müller zum ersten Mal in ihrer kurzen Beziehung das Gefühl, ein sehr wichtiges Spiel gewonnen zu haben. Ganz tief in ihm drin war er ihr sogar dankbar dafür, denn er schwor sich, niemals wieder bei einer Frau nur auf Äußerlichkeiten zu achten und auf seinen Pimmel würde er in Zukunft schon gar nicht mehr hören. Als freier Mann und um vieles klüger verließ Müller damals das Krankenhaus. Susannes gekränkter Stolz ließ noch ein halbes Jahr lang sein Telefon klingeln. Meistens rief sie ihn nachts an, wenn sie stockbesoffen war und kaum noch einen vernünftigen Satz auf die Reihe bekam.

Außer ihren normalen, typischen Affären hatte Susanne nach Müller noch sechs Beziehungen. Den letzten Mann heiratete sie und bekam eine kleine Tochter.

Das Ganze war jetzt schon fünfzehn Jahre her. Aber die Zeit und das Kind haben Susannes Schönheit in keinster Weise geschadet. Ganz im Gegenteil. Die kleinen Fältchen in ihren Augenwinkeln geben ihrer sexy Ausstrahlung noch einen Touch von eleganter Würde. Dass ihr jetziger Mann sie nach Strich und Faden betrügt, ist ein offenes Geheimnis und Susanne macht das Beste draus … das Gleiche.

So ganz ist Müller Susanne nie durch die Lappen gegangen, denn seine Schwester ist ihre beste Freundin und spätestens an Christels Geburtstagen sehen sie sich wieder.

 

Die Klingel an der Tür bringt Müller wieder in die Gegenwart zurück. Endlich Pizza Tonno. Er greift sich einen Zwanzig-Euro-Schein und macht sich auf den Weg.

„Eigentlich ’ne blöde Angewohnheit von Kowalski, bei schönem Wetter die Haustür den ganzen Tag offen stehen zu lassen. Jeder Fussel, der zu mir will, steht direkt vor meiner Wohnungstür. Werde mal mit Rammelkowi sprechen müssen“, denkt Müller und öffnet die Tür. Vor ihm steht der Pizzaheini in einer roten Uniform. Auf der Brust ist ein Bild von einem wirbelnden Tornado. Aus dem Wirbel schleudern hunderte von Pizzen in alle vier Himmelrichtungen und darüber ein gebogener Schriftzug, „FILINIS PIZZATORNADO“. Auf seinem Rücken dasselbe Motiv, mit Telefonnummer. Der Pizzamann hält Müller die Schachtel und die Rechnung entgegen.

„Einemale Tonno, mache dreizehnefuffzich!“ Müller nimmt die Schachtel, legt sie neben sich auf den Fußboden und gibt dem Pizzaheini den Zwanzig-Euro- Schein.

„Oh…, habe sie nich kleiner?“

„Jetzt geht die scheiß Tour wieder los“, denkt Müller genervt. „Nee, hab’ ich nicht. Aber es ist okay, wenn du mir fünf zurückgibst.“ Filinis nickt, kramt in seinem Portmonee herum, findet fünf einzelne Eurostücke und legt sie dreist in Müllers Hand. Müller nimmt das Wechselgeld, steckt es in die Hosentasche, und schlägt dem Pizzaheini wütend die Tür vor der Nase zu.

„Immer dieselbe Trinkgeld-Abzocke, könnten sich mal ’ne andere Masche zulegen. Diese wird langsam öde“, denkt Müller und legt die Schachtel mit der Pizza auf den Couchtisch. Er holt sich den Pizzaroller aus der Küche, klappt den Deckel auf und macht aus einem Kreis zwölf Teile. Die Pizza ist lauwarm und der Teig hätte mindestens noch zwei Minuten länger in den Ofen gedurft.

„Der Hunger treibt‘s rein“, denkt Müller und köpft eine neue Flasche Bier. Er steckt sich ein Stück Pizza in den Mund und spült es mit einem Schluck Bier in seinen verkorksten Magen. Müller schafft die matschige Tunfischpizza bis zur Hälfte und schmeißt den Rest in den Mülleimer.

„Scheiß auf Pizzatornado.“ Er geht zurück zu seinen Mails und klickt die nächste an.

 

 

Die Mail ist von seinem Chef.

Du hast Montag um 07:30 Uhr einen Termin in der Sandstraße 38. Bei Frau Salemann wird ein Heizkörper nicht warm. Sei bitte pünktlich und vergiss nicht wieder, alles aufzuschreiben.

Gruß, Hinrich.>

 

Müller arbeitet in einem Vier-Mann-Betrieb. Die Firma besteht aus dem Chef, zwei Gesellen und einem Lehrling. Müller ist fast nur im Kundendienst tätig und hat das Privileg eines voll ausgestatteten Firmenwagens, den er auch privat nutzen darf.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

10. Kapitel: Die Firma

 

Er und sein Chef, Hinrich Brüggemeier, haben im selben Betrieb gelernt. Hinrich war damals schon im zweiten Lehrjahr, als Müller seine Ausbildung begann. Die beiden hatten auf Anhieb einen guten Draht zueinander. Hinrich machte später seinen Meister als Installateur und gründete seinen eigenen Betrieb. Eine Zeitlang verloren die Beiden sich aus den Augen, bis sie sich auf einem Supertramp-Konzert in Hamburg wiedertrafen. Der Abend nach dem Konzert in Hamburg endete mit einem harten Besäufnis in einer kleinen Eckkneipe auf Sankt Pauli, und als Müller einen Tag später wieder in Osnabrück war, hatte er einen schweren Schädel und eine Festanstellung bei der Firma Hinrich Brüggemeier GmbH.

Eine Woche nach dem Besäufnis fand Müller in seiner Jackentasche einen Bierdeckel, den die beiden offensichtlich als Arbeitsvertrag missbraucht hatten. Müller konnte von dem Geschmiere nichts entziffern. Er war sich nicht einmal sicher, ob Hinrich von der Geschichte noch etwas wusste. Müller ließ sich überraschen und unternahm in Sachen Hinrich erstmal nichts. Als nach zwei Wochen noch immer keine Nachricht von Hinrich kam, gab er die Hoffnung auf und verlor keinen Gedanken mehr an Brüggemeiers GmbH. Einen Monat später klingelte morgens um halb acht das Telefon. Müller nahm völlig verpennt den Hörer ab und erkannte im ersten Moment nicht, mit wem er es da so früh zu tun hatte.

„Ey Müller, wo bleibst du denn? Ich hab dich schon voll eingeplant. Hast du keinen Bock mehr, oder hast du unsere Vereinbarung in Hamburg vergessen?“ Hinrich war wohl nicht so vergesslich wie Müller dachte. Er wusste sogar noch den genauen Einstellungstermin. Später kam heraus, dass Hinrich einen eigenen Bierdeckel besaß, der noch einigermaßen zwischen den vielen Strichen das Einstellungsdatum erkennen ließ. Die Beiden einigten sich noch einmal im nüchternen Zustand und seitdem ist Müller zum festen Bestandteil der Firma Brüggemeier geworden.

 

Müller nimmt sich die letzte Mail vor.

 

 

Müller löscht den ganzen Kram, hebt seinen Arsch zur Seite, lässt vorsichtig einen fahren und leert seine Bierflasche. Die Uhr auf seinem PC zeigt achtzehn Uhr dreißig.

Müller geht zum Kühlschrank, greift sich die nächste Kaltschale und setzt sich damit aufs Sofa. Er flippt den Korken vom Hals, stellt die Flasche auf den Tisch, dreht sich eine, zündet sie an und legt sie in den Aschenbecher. Dann schläft er ein.

Als Müller wieder zu sich kommt, ist es kurz vor zehn am Abend. An seinem Kopf und den Armen haben ein paar Mücken ganze Arbeit geleistet. Sein Körper ist nass vom Schweiß und die Mückenstiche jucken wie die Pest. Müller hat Durst. Er kratzt sich, setzt die volle Flasche Bier an die Lippen und genehmigt sich einen ordentlichen Schluck. „Fuck, pisswarm geworden die Plörre“, denkt Müller, fängt an zu würgen und spürt, wie ihm die saure Pampe aus Bier und Pizza langsam in den Hals steigt und ein leidenschaftlicher Säufer wie er weiß genau wann es in so einem Fall an der Zeit ist, die Beine in die Hand zu nehmen, bevor der Kotter auf dem Fußboden landet. Er läuft schnell ins Bad, hängt sich über die Klobrille und kotzt das Zeug in die Schüssel. Als der Würgereiz endlich nachlässt, quält er sich wieder in die Senkrechte, öffnet seinen Hosenlatz und garniert das Ganze noch mit einem Liter Pisse. Er reißt einen Streifen Toilettenpapier von der Rolle und reinigt damit die Klobrille. Dann schmeißt er das dreckige Papier dazu und betätigt die Spülung. Am Waschbecken spritzt er sich etwas Wasser ins Gesicht und wäscht sich die Hände. Er nimmt sich eine Vitamin + C-Brausetablette, löst sie in seinem Zahnputzbecher mit Wasser auf und trinkt die Mischung. Den Blick in den Spiegel erspart er sich und nimmt den direkten Weg zum Kühlschrank. Müller entscheidet sich diesmal für die halbvolle Wasserflasche. Er geht mit dem Wasser zum offenen Fenster und schaut rüber zu Auto-Manne. Müller trinkt einen Schluck und entdeckt eine dunkle Gestalt die sich an Mannes Corvette zu schaffen macht. Er setzt die Flasche ab und schaut noch mal genauer hin. Mannes Autofriedhof ist nur spärlich beleuchtet, welches Müller dem krankhaften Geiz des Autohändlers zuschreibt. Er lehnt sich über die Fensterbank nach draußen um besser sehen zu können und hat den Eindruck, diesen Typen schon einmal gesehen zu haben. Schlank, groß aber leider mit Kapuzenpullover. Das Gesicht kann er nicht erkennen und er achtet nicht auf die Flasche Wasser, die neben ihm auf der Fensterbank steht. Er berührt die Flasche versehentlich mit seinem Unterarm und stößt sie aus dem Fenster. Müller versucht noch, die Flasche im Flug zu greifen. Vergeblich, sie zerschellt mit einem lauten Knall auf dem Bürgersteig. Erschrocken schaut der Typ zu Müller hoch und springt mit einem Satz über den kleinen Zaun. Müller sieht noch, wie er mit einem Affenzahn um die nächste Hausecke läuft und verschwindet.

„Bei Manne scheint irgendwas am Dampfen zu sein“, denkt Müller, „und das Ganze muss mit der Corvette zu tun haben.“

Unten auf dem Gehweg sieht Müller den Hausmeister. Er schaut zu ihm hoch.

„Herr Müller, haben Sie zufällig gesehen, wer die Flasche auf den Bürgersteig geworfen hat?“

„Ja, habe ich.“, sagt Müller. „Ich war das. Mir ist die Flasche versehentlich aus der Hand gerutscht. Ich fege die Scherben gleich zusammen.“

„Ach lassense mal, ich mach’ das schon, Herr Müller. Ich will sowieso noch die Mülltonnen nach hinten bringen.“

Samstagabends schiebt Kowi die Tonnen immer in den Hinterhof, damit sie am Sonntag nicht vor dem Haus herumstehen. Der Hausmeister hat dort einen kleinen Garten mit Gewächshaus und manchmal steckt er Müller ein paar Tomaten, oder eine Paprika zu.

„Vielen Dank, Herr Kowalski, sehr nett von Ihnen. Sagen Sie mir, wie ich mich dafür erkenntlich zeigen kann.“

„Lassense’ man, Herr Müller, ich mache das auch umsonst“, sagt der Hausmeister gönnerhaft und geht zurück ins Haus. Müller schließt das Fenster und ist froh, den Scheiß nicht selber wegmachen zu müssen. Er kann hören, wie Kowi sich da unten an die Scherben macht und es sind immer noch achtundzwanzig Grad in seiner Bude. Müller zieht sich bis auf die Unterhose aus und legt sich aufs Sofa. Er schiebt sich ein Kissen unter den Kopf und schließt die Augen. Dreimal muss Müller noch in dieser Nacht auf Mückenjagd gehen, bevor er zur Ruhe kommt.

 

Er träumt von einer schwarzen Rothaarigen mit blonden Löckchen in einer schwarzen Corvette SLK. Am Steuer des Wagens sitzt ein Schimpanse mit Pinguinschnabel und über der komischen Szenerie fliegt Dante als kackende Taube.

Müller steht stocksteif am Ende einer Straße aus Müll und kann sich nicht bewegen.

Die Corvette rast mit einem Affenzahn auf ihn zu. Er ist in einem Körper aus Stein gefangen. Panik bricht in ihm aus. Die Mischpoke jubelt und kreischt und Dante lässt einen Scheißhaufen nach dem anderen aus seinem kleinen Taubenarsch platschen. Die obskuren Insassen der Corvette sind unter der Taubenscheiße kaum noch zu erkennen. Sie kommen immer näher und sind fast schon bei ihm. Müllers Herz fängt an zu hämmern … Gleich sind sie da, gleich sind sie da!

Auf der Haube der Corvette bilden sich riesige Hörner. Sie schrauben sich durch die zähe Taubenscheiße und knirschend durch das Blech der Motorhaube nach oben. Aus ihrer Mitte, starren drei glühendrote Schlangenaugen in seine Richtung und vor der Corvette bildet sich eine gigantische Bugwelle aus Müll. Müller schließt die Augen und erwartet den tödlichen Aufprall. Vergeblich, es gibt keinen Aufprall.

 

Erschrocken und schweißgebadet windet Müller sich aus seinem Alptraum. Seine Kehle ist staubtrocken und sein Nacken schmerzt. Schlaftrunken schleppt er sich ins Bad und setzt sich auf die Kloschüssel. Er legt den Kopf zwischen seine Hände und stützt die Ellenbogen auf die Knie. Mit geschlossenen Augen lässt Müller raus, was raus will. Er bleibt noch eine Weile so sitzen, greift zum Toilettenpapier, nimmt einen Streifen, putzt sich ab, schmeißt es in die Schüssel und betätigt die Spülung. Er geht zum Waschbecken, dreht den Wasserhahn auf, steckt seinen Kopf drunter und löscht mit ein paar Zügen seinen Durst. Müller lässt das Wasser noch eine Weile über seinen Nacken laufen, bevor er den Wasserhahn zudreht. Er trocknet sich ab und geht in die Küche. Die Zeiger der Wanduhr stehen auf acht Uhr fünfundvierzig. Müller bestückt die Kaffeemaschine und legt den Schalter um. Er nimmt sich eine dreckige Tasse aus dem Spülbecken, wäscht sie ab und stellt sie neben die Kaffeemaschine. Während der Kaffee seinen Weg in die Kanne findet, geht Müller ins Wohnzimmer. Er greift zum Tabak, dreht sich eine, gibt sich Feuer und geht zurück in die Küche. Müller zieht die Kanne aus der Maschine, lässt die Brühe in die Tasse laufen und geht damit zum Wohnzimmerfenster. Bei Auto-Manne stehen immer noch die gleichen Schrottkarren. Manne hat die kaputten Scheiben seiner Corvette durch Plastikfolie ersetzt. Müller öffnet mit der freien Hand das Fenster, während er mit der anderen die Tasse zum Mund führt. Er genehmigt sich einen Schluck und steuert seine Hose an. Die Hose liegt vor dem Sofa. Müller stellt die Tasse auf den Couchtisch, nimmt die Hose und durchsucht die Taschen. Er findet die fünf Euro Wechselgeld vom Pizzaarsch, den Nails-and-Color-Flyer und den Lottoschein.

„Nie wieder malochen“, denkt Müller und drückt auf den Fernsehschalter. Er findet die Fernbedienung, drückt auf „Eins“ und öffnet den Videotext. Müller stellt auf „Lotto am Samstag“ und vergleicht die Zahlen mit seinem Lottoschein.

„Scheiße, nur die dreizehn im zweiten Feld.“ Er zerknüllt den Schein, schmeißt ihn in die Ecke und zappt zurück aufs Erste. Es läuft gerade „Shaun das Schaf“. Er setzt sich auf‘s Sofa, nimmt die Tasse, leert sie und stellt sie auf den Tisch. Müller mag das schlaue Schaf und schaut in die Glotze.

Shaun das Schaf ist gerade damit beschäftigt, Treibstoff für ein Raumschiff zu besorgen. Ein Alien hatte wegen Spritmangel eine Bruchlandung hingelegt. Nach vielen Versuchen mit verschiedensten Materialien entdeckt Shaun, dass die Mühle am besten mit Schafscheiße läuft. Alle sind glücklich, und der Farmer hat mal wieder nichts davon gemerkt.

Müller greift sich die Fernbedienung und drückt die Austaste.

„SONNTAG!“

Müller mag Sonntage nicht besonders. Es gab in seinem Leben nur ein bis zwei Sonntage, die er wirklich spannend fand.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

11. Kapitel: Die Pferdepeitsche

 

Das war Anfang der Siebziger Jahre, als die erste Ölkrise Europa am Wickel hatte. Die damalige Bundesregierung reagierte auf die Krise mit einem Sonntagsfahrverbot für Kraftfahrzeuge. Müller und seine Kumpel haben damals den ganzen Tag mitten auf der Straßen gespielt und brauchten dabei nicht auf Autos zu achten. Das war einer von den wenigen Momenten in seiner Kindheit, an denen er sich richtig frei gefühlt hatte. Die Ölkrise und das Sonntagsfahrverbot waren nach ein paar Wochen gegessen. Die Benzinpreise hatten ihren Höchststand erreicht und die Menschen überlegten sich jetzt zweimal, ob sie im Urlaub mit dem Hauszelt nach Rimini fahren, oder lieber Bensersiel ansteuern. Müller war zu diesem Zeitpunkt gerade mal zehn Jahre alt. Ihn interessierten die Ölpreise nicht. Sein Interesse galt mehr den neuesten Schlagern in der ZDF-Hitparade, als die politischen Auswüchse in Deutschland. Beim Abendbrot unterhielten sich seine Eltern manchmal über die neuesten Nachrichten und sein Vater war, was die betrafen, generell anti eingestellt. Besonders hackte er auf die Jugend herum. Für ihn waren das alles langhaarige Bombenleger die an die Wand gestellt gehörten und das es bei Hitler sowas nicht gegeben hätte und dass die Kommunisten an allem schuld wären. Hippies konnte er auch nicht leiden. Die würden den ganzen Tag nur auf der faulen Haut liegen, Haschisch spritzen und Stromgitarre spielen. Die müssten mal richtig Malochen, meinte er, im Steinbruch und am Ende würde er sie alle in einen Sack stecken und mit dem Knüppel draufhauen und man würde dabei immer den Richtigen treffen. Gegen die RAF im Allgemeinen hatte er nichts. Sie wären nur in der falschen Partei.

Müller hätte damals lieber seinem Alten den Knüppel über den Schädel gezogen als irgendeinem Haschisch spritzenden Stromgitarren-Spieler. Sein Vater war immer stolz auf seine Hitlerjugendzeit gewesen und wollte von den Gräueltaten des NS-Regimes nichts wissen.

„Hätten die feigen Amys und die verlausten Iwans sich nicht zusammen getan, wäre ich jetzt sicher schon Hauptsturmführer bei der SS“, gab er immer an. Dazu kam noch, dass er ständig besoffen war und ab einem bestimmten Alkoholpegel das Grölen anfing. Er grölte dann immer seinen Lieblingsmarsch: Die Fahne hoch! Müller musste den Text als Kind auswendig lernen und wenn er einen Texthänger hatte, gab‘s dresche mit der schmalen Lederpeitsche. Müllers Hintern und Rücken waren bereits voller roter Striemen, bevor er die erste Strophe auswendig konnte. Eigentlich war die Peitsche für Pferde gedacht, aber Müllers Vater sagte immer:

„Wat für Pferdeärsche jut is, is och für Bubenärsche jut.“ Er berlinerte dann immer und kam sich dabei sehr klug und witzig vor. Müller hingegen fand seinen Alten einfach nur zum Kotzen. Er konnte gar nicht mehr zählen, wie oft er sich vorgenommen hatte von Zuhause weg zu laufen. Immer wenn sein Alter diesen Spruch aufsagte, verlangte er von ihm, ihn auch komisch zu finden. Aus Angst vor der Peitsche, lachte er dann lieber mit. Der kleine Müller schwor sich damals, seinen Alten eines Tages umzubringen. Er hatte auch schon einen Plan. Er wollte eine Falle bauen, so wie in den Tarzanfilmen. So eine, wo am Ende einer mit der Schlinge am Bein am Baum hoch gezogen wird und Kopfüber nach unten hängt. Müller würde seinen Alten mindestens drei Tage lang darin zappeln lassen, bevor er ihm mit einer Axt den Kopf abschlägt. Den würde er dann, bevor er nach Amerika abhaut, seiner Mutter aufs Kopfkissen legen. Er würde einen Zettel nehmen und draufschreiben: Ich hab’s auch nur gut gemeint! und dem alten Drecksack in sein totes Säuferschandmaul stecken.

Das war nämlich immer der Lieblingsspruch seiner Mutter, nachdem sein Alter ihn mal wieder nach Strich und Faden vermöbelt hatte. Anstatt ihm zu helfen sagte sie immer nur: „Papa meint‘s doch nur gut, Junge.“

Der kleine Müller musste sich diesen kaputten Spruch zwei bis dreimal in der Woche anhören. Seine Schwester Christel hingegen, wurde von seinem Alten umsorgt und verwöhnt. Sie war drei Jahre jünger als er und hatte die Pferdepeitsche nie zu spüren bekommen. Der Alte achtete akribisch darauf, dass die kleine Christel von seiner brutalen Leidenschaft nichts mitbekam. Bis zum heutigen Tag kann sie nicht glauben, dass ihr Vater zu so etwas fähig war. Damals konnte Müller ihr seine Wunden nicht zeigen, aus Scham. Heute sind die Narben äußerlich nicht mehr sichtbar, aber innerlich sind sie geblieben.

In der Schule beim Sportunterricht, oder im Schwimmbad, trug er immer ein T-Shirt. Er wollte nicht, dass seine Mitschüler oder Lehrer die roten Striemen auf seinem Rücken sehen. Der kleine Müller wurde Meister im Ausreden erfinden und Krankheiten simulieren. Sein ganzes Leben bestand daraus. Ein gesundes Verhältnis zu seinem Körper konnte er nie aufbauen. Er war es gewöhnt, ihn hinter Baumwolle und Ausreden zu verstecken. Er hatte keinen Körper, der gehörte seinem Vater.

Müller lernte mit der Zeit seine Schmerzen zu kontrollieren. Es gab in seinem Kopf einen imaginären Knopf. An dem drehte er, bevor der erste Schlag mit der Pferdepeitsche seinen Rücken traf. Er hatte sogar gelernt, seinen Alten, während er auf ihn eindrosch, zu beobachten. Wie das Gesicht seines Peinigers immer mehr zu einer tiefroten, widerlichen Fratze mutierte und seine Alkoholfahne in einem immer schnelleren Atemrhythmus aus seinem Maul und seinen behaarten Nasenlöchern stank. Bei seinem brutalen Handwerk gab er keinen Laut von sich, Müller konnte nur die Peitsche und seine röchelnde Atmung wahrnehmen. Die Dräsche dauerte in der Regel fünf Minuten, aber Müller kam es wie eine halbe Stunde vor und er heulte Rotz und Wasser dabei. Nicht zu weinen klappte irgendwie nie.

Sonntags gab es oft Verwandtenbesuche. Entweder fuhren sie zu den Onkeln und Tanten, oder umgekehrt. Seine Schwester fand diese Besuche ganz toll, sie durfte dann ihr Lieblingskleid und ihre schwarzen Lackschuhe anziehen. Müller wäre lieber den ganzen Tag mit Hannes und den anderen Jungs angeln gegangen, oder was anderes. Egal was, Hauptsache nicht mit seinen Eltern und den Verwandten am Kaffeetisch sitzen. Stattdessen quetschte ihn seine Mutter in einen viel zu engen braunen Anzug und dazu gab’s noch ein weißes Oberhemd mit Fliege. Müller hasste diesen Anzug, er konnte sich kaum in diesem Ding bewegen. Die Ärmel der Jacke waren zu kurz und die Hose hatte Hochwasser. Sie kniff im Schritt und ständig rutschte das blöde Hemd raus. Müller war den ganzen Tag damit beschäftigt, seine Garderobe zu ordnen. In den Halbschuhen, die er zu dem Ding tragen musste, lief er sich jedes Mal die Hacken wund und wegen seiner Plattfüße bekamen die Knöchel auch noch ihr Fett ab.

„Ach, was für ein stattlicher Junge er doch ist“, sagte Tante Wilhelmine immer, „und wie groß er schon geworden ist.“ Dabei tätschelte sie seine Wangen und strich ihm über seine von Pomade glänzenden Haare. Tante Wilhelmine war die Schwester seiner Mutter. Sie war unglaublich fett und hatte keine eigenen Kinder. Außer seinen Eltern war es niemandem in der näheren Verwandtschaft gelungen, eigene Kinder in die Welt zu setzen. Müllers Vater sagte immer, dass die Buckligen alles fette, faule Eunuchen wären und durch ihre Fresserei keinen mehr hochbringen würden. Sie könnten beim Pinkeln ihre eigenen kleinen Pillemänner nicht mehr sehen. Die würden sich in irgendwelchen Speckfalten verstecken; und bei ihren fetten Weibern müsse man drei Tage nach ihren Stinklöchern suchen, bevor man sie pimpern könne.

Ja, Müllers Vater wusste Bescheid. Er hatte es zu etwas gebracht im Leben. Einen Hilfsjob in einer Großdreherei, eine hörige Ehefrau und zwei Kinder. Zu einem eigenen Haus hätte sein mieser Lohn nicht gereicht. Außerdem brachte er die Hälfte davon in die umliegenden Kneipen. Jedenfalls in die, in die er noch rein durfte.

Es war der pure Neid, der seinen Alten so über seine Verwandtschaft sprechen ließ. Reinhold, der jüngere Bruder seines Vaters, war Prokurist in einem großen Kraftfahrzeugwerk und fuhr damals ein himmelblaues Karmann Gia Cabriolet mit Weißwandreifen. Er besaß ein eigenes Haus und flog zweimal im Jahr mit seiner Frau Margot nach Mallorca. Sein älterer Bruder Hermann hatte schon vor etlichen Jahren den Kontakt zu ihm abgebrochen.

„Hermann ist immer schon ein großkotziger Stinkstiefel und Besserwisser gewesen“, war der Kommentar seines Vaters. Was der Auslöser ihrer bitteren Abneigung zueinander war verriet er niemandem. Wahrscheinlich nicht mal seiner eigenen Frau.

Etwas pummelig waren sie wirklich alle, musste Müller zugeben. Aber solch eine Niete wie sein Alter war keiner von ihnen. Onkel Reinhold steckte Müller bei jedem Besuch heimlich fünf Mark zu. Er hatte den Heiermann in der rechten Innenhand versteckt und bei der Begrüßung ließ er das Geld in Müllers kleine Hand rutschen. Müller verstaute das Geld dann heimlich in seiner Hosentasche, um es in einem unbeobachteten Moment in sein Versteck zu bringen. Der kleine Müller mochte seinen Onkel Reinhold, auch ohne den obligatorischen Heiermann. Er hatte so etwas Ruhiges, Sanftes an sich. Genau das, was Müller bei seinem Vater vermisste. Er hätte lieber ihn als Vater gehabt.

Die Geschwister seiner Mutter und deren Anhang fand Müller einfach nur stinklangweilig. Sie unterhielten sich bei jedem Besuch über denselben Kram und alle taten so, als würden sie die Geschichten zum ersten Mal hören. Müllers Schwester Christel entgingen diese kleinen Heucheleien. Sie tänzelte den ganzen Tag mit ihrem roten Haarschleifchen und ihren schwarzen Lackschuhen um die Verwandtschaft herum und erntete fleißig Lob. Ob Onkel Reinhold ihr damals auch bei jedem Besuch fünf Mark zugesteckte hatte, hatte Müller seine Schwester nie gefragt. Wahrscheinlich hätte sie es ihm erzählt, wenn es so gewesen wäre, denn an ihrem Sparschwein fand der Alte kein Interesse. Seines hatte er schon mehrmals geplündert, wenn ihm das Geld für seine Sauftouren ausging. Er sagte dann meistens:

„Muss eh schon genug für dich Rotzbalg berappen, da kannste deinem alten Herren auch mal mit ’nem bisschen was aushelfen, oder nich‘? Kriegste ja wieder, deine paar Kröten, oder nich?“ Müller wäre niemals auf die Idee gekommen, seinem Alten zu widersprechen und auf seine paar Kröten wartet er noch bis heute.

Müllers Vater starb, als er fünfzehn war. Er starb morgens um drei Uhr dreißig einsam in einem Krankenhaus an den Folgen seines übermäßigen Alkoholkonsums. Der Arzt diagnostizierte eine Leberzirrhose in fortgeschrittenem Stadium. Unheilbar und führt unausweichlich zum Exitus.

Damals gab es einmal einen kurzen solidarischen Augenblick im Leben der beiden männlichen Müllers. Es war der Tag, an dem er Dieter Heidenberger verprügelt hatte. Sein Vater war richtig stolz auf ihn gewesen und prahlte damit im ganzen Viertel herum. Aber als die Post den ersten Brief von

Heidenbergers Anwälten zustellte, wendete sich das Blatt schnell und Müller konnte wieder seine alten Beobachtungen anstellen. Jeder Brief wurde mit Dräsche belohnt. Aus dem Helden Rainer Müller war schnell wieder der Prügelknabe eines brutalen, irren Säufers geworden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

12. Kapitel: Die Beerdigung

 

Die Beerdigung fand an einem Donnerstagmorgen um elf Uhr statt. Außer den üblichen Verwandten war niemand gekommen. Es regnete Bindfäden und um das offene Grab sammelte sich das Wasser und bildete schlammige Pfützen. Ein dicker langer Regenwurm kroch am Rand der Grube entlang und verlor den Halt. Er fiel mit einem leisen „Plopp“ auf den Sargdeckel. Die Trauergemeinde hatte ihre Regenschirme aufgespannt und stand im Halbkreis um das offene Grab. Der Pfarrer predigte eine Geschichte von einem, der durch ein finsteres Tal ging, und dass es ihm an nichts mangeln würde. An jeder Seite des Priesters stand ein junger Messdiener. Der eine wedelte mit Weihrauch und der andere hielt dem Priester einen Regenschirm über den Kopf. Die Messdiener hatten nicht das Privileg eines Schirms. Sie standen völlig durchnässt neben dem Prediger. Der mit dem Schirm musste niesen und gab für einen Moment den Kopf des Priesters frei. Der Gottesmann, erschrocken über die unfreiwillige Dusche, ließ seine Bibel in den Matsch fallen. Müller hörte wie der Priester mit dem Messdiener schimpfte und sah, wie er ihn am Ohrläppchen nach unten auf die Erde zog, um das sakrale Dokument wieder aufzuheben. Der Messdiener griff nach der Bibel und grub sie mit seiner freien Hand aus dem Matsch. Mit der anderen umfasste er immer noch krampfhaft den Regenschirm. Müller konnte sehen, dass der Junge anfing zu weinen. Er drückte dem verärgerten Priester das dreckige Buch wieder in die Hand und wischte sich die Tränen aus den Augen. Der wütende Priester nahm die Bibel, legte sie auf den Grabstein des toten Nachbarn und entschuldigte sich bei Müllers Mutter für den ungeschickten Bengel. Müller konnte den Pfaffen nicht leiden. Er erinnerte ihn an seinen Vater. Der andere Messdiener ließ sich nichts anmerken und wedelte weiterhin seinen Weihrauch stumpf in alle vier Himmelsrichtungen.

Der einzige Mensch, der ehrlich um den Toten trauerte, war seine Schwester Christel. Sie stand zwischen ihm und seiner Mutter und weinte. Müller legte ihr tröstend seinen Arm um die Schulter und konnte fühlen, wie ihr ganzer Körper zitterte. Irgendwie tat sie ihm leid. Sie ahnte ja nicht, was für ein brutaler Mensch ihr Vater in Wirklichkeit gewesen ist. Er selber konnte dieser Beerdigung nichts abgewinnen. Müller fühlte weder Trauer noch Genugtuung. Er hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht begriffen, welche Veränderungen der Tod seines Peinigers für ihn mit sich bringen würde. Müller wollte nicht an diesem Grab stehen und auch nicht seine Mutter neben sich haben. Er spürte, dass seine Onkel und Tanten wohl mehr über sich selbst als über den Toten weinten. Ihm war übel und er kämpfte während der ganzen Zeremonie gegen einen immer wiederkehrenden Brechreiz an. Er wollte da einfach nur weg. Er hatte endgültig genug von seinem Alten. Das Maß war lange voll, er konnte nicht mehr. Alles in ihm schrie:

„Geh jetzt, geh sofort. Nimm keine Rücksicht mehr. Scheiß auf deinen Alten und auf alle, die an diesem verfluchten Erdloch ihre verlogenen Tränen von den Augen wischen!“

Müller tat es. Er nahm seinen Arm von Christels Schulter, gab ihr einen Kuss auf die Schläfe und bahnte sich einen Weg durch die verwundert glotzende Verwandtschaft. Keiner sagte etwas zu ihm, keiner hielt ihn auf, als er zum Ausgang des Friedhofs ging. Ohne sich noch einmal umzusehen verließ er die Beerdigung seines Vaters.

Ein paar Monate später fand er, während eines Umzugs, die alte Pferdepeitsche im Schlafzimmerschrank seiner Mutter. Er nahm sie, stieg auf sein Moped und fuhr damit zum Friedhof. Er ging zum Grab seines Vaters, rammte die Peitsche hochkant in die Mitte der Grabumfriedung, rotzte auf den Grabstein und verließ den Ort. Es war damals das einzige und letzte Mal, dass Müller die Grabstädte seines Vaters besuchte.

 

Müller verdrängt die Erinnerung an seine Kindheit und konzentriert sich wieder auf die Gegenwart. Er nimmt die leere Tasse und geht in die Küche. Zwei Tassen Kaffee sind morgens Pflichtprogramm. An ein Frühstück verschwendet Müller um diese Zeit noch keinen Gedanken. „Erstmal wach werden“, denkt Müller, greift zur Kaffeekanne, füllt die Tasse bis zum Rand und trinkt einen Schluck. Die Wirkung des Mokkas lässt nicht lange auf sich warten und schärft Müllers vier von fünf Sinnen in schleppendem Sekundentakt. Sein Geschmackssinn hängt noch in den Seilen. Die ekelige Pizza und das warme Bier, vermischt mit Magensäure, haben seine Zunge taub werden lassen.

„Einmal Fischpizza mit Magensäure und ein pisswarmes Pils bitte“, denkt Müller, schüttelt sich und muss lachen. Er leert die Tasse, stellt sie ins Spülbecken, geht ins Bad, zieht seine Unterhose aus und steigt unter die Dusche. Er dreht am Wasserhahn, erwischt die richtige Temperatur und lässt das Wasser über seinen verkorksten Körper laufen. Er nimmt das Duschgel aus der Ecke, drückt etwas von dem Inhalt in seine Hand und seift sich damit ein. Er denkt an Susanne, bekommt einen Ständer und lässt seine Faust den Rest erledigen. Sie ist, trotz der vergangenen Jahre, immer noch Spitzenreiterin in Müllers geistigem Wichsvorlagenkabinett. Mit ihr hatte er bis jetzt den besten Sex. Es kommt nicht immer vor, dass er dabei an Susanne denkt, aber manchmal eben doch. Müller hat sich schon oft gefragt, ob er eine masochistische Ader in punkto Sex hat. Verwirft diesen Gedanken aber wieder schnell. Zu unbequem, zu kompliziert. Müller dreht das Wasser ab, steigt aus der Dusche, greift sich ein Handtuch und trocknet sich ab. Er geht ins Wohnzimmer, sucht sich eine frische Unterhose, ein frisches T-Shirt und greift sich die Jeans von gestern. Die Unterhose hat an der Seite ein Loch, was Müller aber nicht weiter stört. Geduscht und angezogen setzt er sich wieder aufs Sofa und denkt ans Älterwerden. Noch viereinhalb Jahre, dann wird er fünfzig. Müller hat sich vorgenommen, diesen Geburtstag nicht zu feiern. Er kann eh mit Geburtstagen nicht viel anfangen. Seine Schwester ist, was das betrifft, völlig anders. Christel feiert jeden Geburtstag. Sie scheut keine Kosten und Mühen um es ihren Gästen recht zu machen. Die Hälfte von dem ganzen Kram, den sie an diesem Tag auftischt, bleibt nach der Feier übrig. Dank Tupper, ihrem Bruder und vielen hungrigen Freunden und Aasgeiern, ist auch das nie zu einem wirklichen Problem geworden. Die Reste fanden bis jetzt immer noch ihre Abnehmer.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

13. Kapitel: Party ohne Bier

 

Erst vor einem Jahr, war Müller auf einem fünfzigsten Geburtstag gewesen. Auf der selbst entworfenen Einladungskarte war zu lesen:

 

Kaum zu glauben, aber wahr, der Willi wird heut fünfzig Jahr! Feiern wollen wir ganz fein und laden Euch herzlich dazu ein.

 

Was für eine poetische Meisterleistung. Ganz nach Schiller. Später bekam er diesen Reim noch öfters zu lesen. Einige Freunde und Bekannte aus Willis Jahrgang hatten für ihren Fünfzigsten genau denselben Plattreim verwendet und als Einladung verschickt. Müller fand es schon erstaunlich, wie stumpf und einfallslos Menschen werden können, oder mit den Jahren geworden sind.

Auf der Feier hatte Willis rechtslastiger Sohn und dessen stupider Freund die Gewalt über die Musikanlage. Deutscher Schlager und Volksmusik dröhnten aus den Lautsprechern. Die Beiden glaubten noch an den Endsieg und Willis Mutter übernahm schlecht gelaunt die Theke. Erst später erfuhr Müller, dass Willi seiner Mutter keine Einladung zu seinem Geburtstag geschickt hatte. Willi wird sicher seine Gründe dafür gehabt haben, aber verletzter Stolz und Alkoholausschank gaben an diesem Abend keinen guten Cocktail. Sie beschimpfte die Gäste und verweigerte einigen ihre Schankdienste. Bierlos suchten sie dann das Weite und vergingen sich an Willis Bierkisten. Die Kisten waren schnell leer und Willi versuchte zu schlichten, aber seine Mutter blieb hart. Keinen Ausschank für Leute mit krummer Nase oder Dreck unter den Fingernägeln, oder was sie sonst noch an manchen auszusetzen hatte.

„Reine Willkür!“, hörte Müller einen der Gäste schimpfen. „Scheuch bloß deine vergrätzte Alte hinter der Theke weg!“

Nichts zu machen. Willi hatte die Kontrolle über seine Party, seine Gäste und über seine Mutter verloren. Alle Versuche, sie umzustimmen, jeden Gast ohne Ausnahme mit Alkohol zu versorgen, blieben erfolglos. Einige von den Gästen fingen aus Langeweile an, Servierten zu falten und ließen mit ihren Händen wahre Kunstwerke entstehen. Müllers damalige Freundin hatte damit angefangen und sämtliche Leute die mit ihr um den Tisch saßen angesteckt. Ihre Kreativität ging an diesem Abend so weit, dass sie fast noch eine handfeste Schlägerei mit ihrem Tischnachbarn anzettelte. In einem unbeobachteten Moment hatte sie sein Bier mit etwas Rotwein gepanscht. Als er merkte, was sie mit seinem kostbaren Gebräu angestellt hatte; er war auch einer von denen, die es sich mit Willis Mutter verscherzt hatten, fluchte er böse, nahm das Glas und goss ihr das Zeug über die Hose. Erschrocken und wütend sprang Müllers Freundin auf und fuhr den Typen an, was der Scheiß solle und ob er keinen Spaß verstehen würde. Der aber drohte mit seiner Faust und versprach ihr, dass er ihr beim nächsten Mal eine zimmern würde. Müller sah das Geplänkel und holte seine Freundin da raus. Er ging mit ihr in den Garten zu einem Lagerfeuer und verfrachtete sie neben sich auf eine Bank. Müller verrichtete Schwerstarbeit, um sie wieder von der Palme zu holen. Sie war völlig außer sich. Sie wollte dem Typen die Eier abreißen und ihm ’ne Fut verpassen. Müller versuchte ihr beizubringen, dass dieser Drecksack bereits sein Glockenspiel irgendwo eingebüßt haben muss. Der Typ wäre sicher schon im Besitz einer Fut.

Als Müller es endlich geschafft hatte seine Freundin ein wenig zu beruhigen, entdeckte Two-Face den leeren Platz neben ihnen auf der Bank. Two-Face war knapp fünfzig, schlank und hatte schütteres Haar. In ihm steckten zwei Charaktere. Erstens, der Spießer und zweitens, der Säufer und Hurenbock. Beide Seiten waren unnatürlich stark ausgeprägt. Stockbesoffen steuerte er die Bank an, setzte sich neben Müllers Freundin und fing an, ihr den Inhalt eines Buches über den männlichen Orgasmus zu interpretieren. Das Buch beschrieb unter Anderem die verschiedenen Arten der männlichen Ejakulation. Es gäbe Lüller und Spritzer. Er selbst, sagte er, würde sich unter den Lüller-Probanden wiederfinden. Müllers Freundin, noch angefressen, versuchte Two-Face klar zu machen, dass ihr dieser Scheiß am Arsch vorbei ginge und er sein blödes Maul halten solle. Sie würde seine Lüllerei eher seiner übermäßigen Sauferei zuschreiben. Dazu bräuchte sie keine von abgewrackt- senilen Perversprofs statistisch ausgeklügelte Bilderbücher. Ansonsten würde sie ihm an seinem Fünfzigsten einen Schlabberlatz mit Micky Maus drauf schenken. Das könne er sich dann um die Eier binden und voll sabbern. Das saß. Two-Face nahm wortlos seine sieben Sachen und machte, dass er wegkam. Müller kannte Two-Face schon länger. Er wusste, dass diese Buchgeschichte zu seiner neuen Schocktherapie gehörte. Sein alter Spruch: „Wie es denn mit in Arsch wäre?“, kam bei den meisten Frauen, die ihn kannten, nicht mehr an. Müllers Freundin kannte Two-Face noch nicht lange. Aber durch ihre weitreichenden Menschenkenntnisse im Hinblick auf Idiotie erkannte sie sehr schnell, welchen Zweck Two-Face mit seiner Buchbeschreibung verfolgt hatte.

„Tja, klappt nicht immer“, dachte Müller an diesem Abend. „Pech gehabt.“ Two-Face hatte sich mit einer Krankenpflegerin mit dreijähriger Psychiatrie-Erfahrung angelegt.

Kein Bier, schlechte Stimmung und Scheiß Musik waren keine guten Voraussetzungen für eine Geburtstagsparty. Müllers Laune war im Keller, er wollte nach Hause und seine Freundin hatte denselben Gedanken. Auf dem Weg zum Ausgang konnten sie Two-Face noch einmal in Action erleben. Er stand grölend hinter Willi und presste tänzelnd seinen Unterleib gegen Willis Arsch. Mit seiner rechten Hand fasste er dem Geburtstagskind von hinten in den Schritt und knetete ihm vor versammelter Mannschaft die Weichteile. Hüfte schwenkend spielte Willi das Two-Face-Spiel mit. Er hatte diesen Ist-doch-nur-Spaß-Blick. Müller hörte, wie Willis Sohn zu seinem Kameraden sagte:

„Guck mal, mein bescheuerter Alter findet das auch noch toll!“

„Naja“, dachte Müller spöttisch, „der Junge ist erst neunzehn. Er wird noch merken, dass man mit fünfzig froh sein kann, wenn man die Klöten geknetet kriegt. Auch wenn’s nur von Two-Face ist.“

 

Erst vor Kurzem, auf einer Hochzeitsfeier, hatte Müller Willis Sohn, der erstaunt darüber war, dass sein Vater sich am Buffet den Teller ausschließlich mit grünem Salat und Tomaten belud, erklärt, dass man in dem Alter seines Vaters auf die Verdauung achten müsse und man jeden Tag erneut darüber nachzudenken hätte, wie man einen vernünftigen Scheißhaufen zusammen bekommt. Willis Sohn musste darüber lachen und Müller hatte den Eindruck, dass er die Problematik ein wenig verstanden hatte.

 

Ohne die üblichen Abschiedsfloskeln, verließen Müller und seine Freundin damals die Geburtstagsfeier. Es gab keinen Grund, Willi und Two-Face bei ihren Intimitäten zu stören. Was soll’s, die Stimmung war eh beim Teufel.

 

„Es wird wieder ein heißer Tag“, denkt Müller und geht in die Küche. Er öffnet den Küchenschrank und sucht das Vollkornbrötchen von vorgestern. Als er in die rechte Ecke schaut, hat er Glück. Etwas vertrocknet und hart, aber für Müllers Verhältnisse noch genießbar, nimmt er die Tüte, greift nach der Schrippe und legt sie vor sich auf die Arbeitsplatte. Die Tüte zerknüllt er und schmeißt sie in den Mülleimer. Müller holt sich ein Messer, legt es dazu und öffnet den Kühlschrank. Er greift sich den Pott Margarine, das Reststück Gouda-Käse und die vorletzte Flasche Bier. Er stellt die Flasche auf die Anrichte und den Käse legt er zum Brötchen. Müller öffnet die Bierflasche an der Küchenschrankkante und genehmigt sich einen großen Schluck. Er nimmt das Messer und rammt es in das Brötchen. Müller tut dabei immer so, als würde er dem Brötchen das Licht ausblasen und unterstreicht dies noch mit einem leichten Jammerlaut. Er halbiert das Brötchen, bestreicht es mit Margarine, zerlegt den Käse in kleine Streifen und belegt es damit. Das schmierige Messer schmeißt er in die Spüle. Er beißt ein Stück vom Brötchen ab und spült es mit einem Schluck Bier nach unten.

„Ein echtes Müllerfrühstück“, denkt Müller und fühlt sich wohl. Als er den letzten Bissen von seinem Käsebrötchen mit dem Rest Bier aus der Flasche intus hat, nimmt er sich die letzte aus dem Kühlschrank und geht wieder ins Wohnzimmer. Müller öffnet die Flasche mit seinen Zähnen und stellt sie auf den Tisch. Er dreht sich eine Bulls-Houle, und hält ein Streichholz drunter. „Fast schon wieder Mittag“, stellt er fest. Er nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette und trinkt dazu einen Schluck kaltes Bier.

Sonntag, Durst, neues Bier, Tabak, Dose Eierravioli, Tankstelle. Müllers vorläufiger Plan für heute … unter Vorbehalt. Müller drückt die Zigarette in den Aschenbecher, nimmt sein Bier und geht zum Fenster. Er öffnet das Fenster und leert den Rest der Flasche in einem Zug. Automatisch schaut er rüber zum Gebrauchtwagenhändler. Die Corvette steht immer noch genauso traurig da wie am Tag zuvor. Die Folie an der Windschutzscheibe hat sich an der rechten Seite über Nacht gelöst, und eine leichte warme Brise aus Südwest lässt eine Ecke der Folie spielerisch flattern. Wenn Müller seinen Kopf zur Seite dreht, kann er sie ein wenig knistern hören.

Es ist kurz vor elf Uhr. Die Turmglocken der katholischen Kirche, an der Querstraße schräg gegenüber, rufen mit erhobenem Zeigefinger ihre Schäfchen an den Klingelbeutel. Müller sieht, wie Kowalski im feinsten Zwirn das Haus verlässt und in Richtung Kirche marschiert. Der schwule Kowi ist ein gläubiger katholischer Christ. Müller ist es schleierhaft, wie Kowi seine sexuelle Neigung mit der katholischen Kirchenmoral in Einklang bringt. Obwohl, wenn Müller mal so richtig darüber nachdenkt, waren in der Vergangenheit schon öfters Artikel in den Zeitungen, die über homosexuelle Priester in der katholischen Kirche berichteten. Einige haben sich selber geoutet und andere hatte man in flagranti mit ihren Messdienern erwischt. Klar, dass die danach ihren Job verloren, oder bestenfalls versetzt wurden.

In der letzten Zeit häuften sich auch die Berichte in den Medien über den sexuellen Missbrauch von Kindern an katholischen Internaten, Schulen und sogar Kindergärten.

„Hartes Thema für einen Sonntagmorgen“, denkt Müller und versucht seinen Fokus in eine andere Richtung zu lenken.

 

14. Kapitel: Lena

 

Er geht zum Tisch, stellt die leere Bierflasche ab, greift sich seine Cowboystiefel und setzt sich aufs Sofa. Er streift sich die Stiefel über die Füße, stemmt sich vom Sofa, geht zum Regal, nimmt sich die Schlüssel vom Firmenwagen, das Portmonee und verlässt die Wohnung. Er schafft es, ohne jemandem im Hausflur zu begegnen, bis auf den Gehweg. Den Wagen musste Müller am Freitag, aus Parkplatzmangel, in einer Seitenstraße, ungefähr zweihundert Meter von seiner Wohnung entfernt, parken. Das Parken in diesem Teil der Stadt war schon immer ein Problem gewesen. Die Häuser stehen dicht an dicht. Es gibt kaum Lücken dazwischen, die man als Parkplatz nutzen könnte. Die meisten Hinterhöfe sind zu klein und haben höchstens Platz für Fahrräder. Müller legt einen hohen Gang ein und hat den Weg bis zum Auto schnell geschafft. Er kramt den Schlüssel aus der Hosentasche, schließt die Fahrertür auf und setzt sich hinters Steuer. Die Quecksilbersäule des Autothermometers am Armaturenbrett zeigt dreiundvierzig Grad Celsius. Müller kommt ins Schwitzen, steckt den Zündschlüssel ins Schloss und startet den Motor. Mit einem Fingerdruck auf den Knopf für den elektrischen Fensterheber versenkt er die Seitenscheibe in den Türrahmen. Müller legt den ersten Gang ein und schafft es in einem Zug aus der Parklücke. Er findet seine Sonnenbrille in der Mittelkonsole, setzt sie auf die Nase und drückt das Gaspedal nach unten. Aus dem Autoradio dröhnt ihm Ossy Osbourne sein Paranoid entgegen. Gute Vorzeichen für den Rest des Tages. Müller dreht auf volle Lautstärke und versucht den Text mitzusingen. Sein Ziel ist die Niedersachsentankstelle in Bissendorf. Er biegt in die Martinistraße ein und fährt Richtung Stadtzentrum. Am Ende der Straße biegt Müller nach rechts, auf den Schlosswall, dann über die Hannoversche Straße, nach Voxtrup. In Voxtrup passiert Müller das Ortsausgangsschild und hat noch circa sechs Kilometer bis zur Tankstelle vor sich. Mittlerweile spielt das Radio einen Song von Cher, was Müller veranlasst, dem Radio den Hals umzudrehen. Außer einen leichten Brechreiz geben ihm die Songs von Cher nicht viel. Nur Freddy Mercury, mit seinem Scheiß, könnte Cher noch toppen. Müller greift sich das Etui mit den gebrannten CDs und legt eine Scheibe von den Kinks in den Player. Lola. Müller dreht wieder lauter und durchfährt mittlerweile das Industriegebiet, kurz vor Bissendorf. Das Straßenbauamt hatte die Straße vor ein paar Tagen erst frisch splitten lassen, was Müller dazu zwingt, nicht schneller als dreißig zu fahren. Er erinnert sich, wie es hier noch vor zwanzig Jahren aussah. Nur Wiesen und Felder. Jetzt sind in diesem Gebiet mehrere Firmen ansässig. Unter Anderem auch ein Motorradhändler, der mit japanischen und britischen Modellen handelt. Müller sieht, dass dort gerade eine Ausstellung im Gange ist. Er nimmt sich vor, auf dem Rückweg einen kleinen Abstecher zu machen.

„Absolutes Bikerwetter“, denkt Müller und fährt, den Verkehrskreisel vor dem Ortseingang Bissendorf hinter sich lassend, die Tankstelle an.

Müller hält an der Zapfsäule drei, steigt aus dem Wagen, nimmt den Zapfhahn und hängt ihn in die Tanköffnung. Er arretiert die Sperre und lässt das Benzin in den Tank laufen. „Eins achtundvierzig“, denkt Müller, „verdammt teuer der Treibstoff.“ Er kann sich noch an Zeiten erinnern, da kostete der Sprit achtundneunzig Pfennig. Für heutige Verhältnisse wären das fünfundvierzig Cent.

„Scheiß Euro“, brabbelt Müller und hört die Arretierung am Zapfhahn klicken. Bei achtunddreißig Litern ist die Uhr an der Tanksäule stehen geblieben. Müller zieht den Zapfhahn raus und steckt ihn in die Säule.

„Tanken hat auch irgendwie was Erotisches“, denkt Müller. Er holt die Firmentankkarte aus dem Handschuhfach und geht in den Tankstellenstore.

„Alles denglisch“, denkt er und sucht das Regal mit den Konserven. Er schnappt sich eine Dose Eierravioli und schlendert zum Kühlschrank mit den verschiedenen Biersorten. Er greift sich zwei Sixpacks und stellt sich hinter die Menschenschlange vor der Kasse. Bevor Müller ans Bezahlen kommt, sind noch sechs Leute vor ihm dran. Ungefähr in der Mitte der Schlange lässt jemand einen lauten Furz.

„Coole Sau“, denkt Müller und beobachtet die anderen Verbraucher. Er kann keine Reaktionen bei seinen Mitschlangestehern feststellen. Viel zu pikant die ganze Situation. Eine leichte warme Windböe zieht vom Haupteingang in einer weiten Runde durch den Store und beschert Müller einen Hauch von Stuhlgang.

„Der Typ muss was Falsches gegessen haben“, denkt Müller und versucht, eine Nase Frischluft zu ergattern. Als die anderen und der Furzer ihren Beitrag zum Bruttosozialprodukt an der Kasse geleistet haben, bezahlt Müller seine Tankrechnung mit Karte und seine Lebensmittel plus Tabak mit Blättchen aus eigener Tasche. Er geht zurück zum Wagen, öffnet die Heckklappe, schmeißt seinen Einkauf auf die Ladefläche und drückt die Klappe ins Schloss. Müller reißt den neuen Tabakbeutel auf, legt ihn auf das Autodach und dreht sich eine. Er gibt sich Feuer, verstaut die Packung in die Hosentasche und steigt ein. Er lässt den Motor an, legt eine CD von Helge Schneider in den Player und flippt den ersten Gang rein.

Wildes Mädchen, schüttel dein Haar für mich. Ich weiß du findst mich scheiße… Kommt es laut aus den Lautsprechern und Müller denkt, dass Helge diese bekloppte Welt begriffen hat und freut sich auf eine gute Grillbratwurst bei der Motorradausstellung.

Etwa zweihundert Meter vor der Ausstellung findet er einen Parkplatz. Er reißt einen Sixpack auf, greift sich eine kalte Flasche Bier und macht sich auf den Weg zum Motorradhändler. Müller öffnet die Flasche unterwegs mit etwas Geduld an einem Straßenleitpfahl. Die Sonne hat noch ein Paar Grad zugelegt, so dass er die Flasche in einem Zug bis zur Hälfte leert.

„Gibt nichts, was den Durst bei so einer Hitze besser löscht, als kaltes Bier“, denkt Müller und lässt die Menschenmasse bei der Ausstellung auf sich wirken. Er überlegt, ob es eine Bratwurst wert ist, sich da bis zur Würstchenbude durchzukämpfen. Aber sein hungriger Magen nimmt ihm schnell die Entscheidung ab. Er trinkt den letzten Schluck aus der Flasche und stellt sie hinter einem Leitpfahl ab. Er dreht sich eine, gibt sich Feuer und macht sich wieder auf den Weg.

Bei der Ausstellung angekommen tunnelt sich Müller bis zur Wurstbude durch. Um ihn herum schwitzende Männer und Frauen in Lederklamotten. Mit etwas Mühe schafft er es, die Bedienung auf sich aufmerksam zu machen. Hektisch nimmt der Wurstbräter die Bestellung entgegen und widmet sich wieder seinem Grill. Er rollt die Würstchen mit einer geschickten Bewegung auf die andere Seite, nimmt eine fertige zwischen die Zange, legt sie auf einen Pappteller mit Brötchen und stellt das Ganze vor Müller auf den Tresen. Müller bezahlt, drückt Senf aus einer dreckigen Plastikflasche neben die Wurst und findet einen leeren Platz auf einer Bierzeltgarnitur. Während der kulinarischen Mahlzeit beobachtet er einen Typen mit einem Original japanischen Softchopper. Auf dem Seitendeckel kann er neben dem halben Alphabet eine Zwölfhundert erkennen.

„Hubraum hat die Mühle ja“, denkt Müller, beißt in die Wurst und richtet seinen Fokus auf den Fahrer. Er schätzt den Typen auf Anfang fünfzig, als der seinen Helm absetzt. Es ist einer von diesen Helmen, die Müller an einen Ritterhelm aus dem Mittelalter erinnert. Man kann den Kinnschutz gleichzeitig mit dem Visier über den Helm nach hinten schieben. Der Biker legt den Helm auf die Sitzbank und zaubert eine schwarze Stoffmütze mit dem Namen seines Motorrades drauf aus seiner Jackentasche. Sein schwarzes Lederoutfit, übersäht mit spitzen Nieten, ist neu und glänzt in der Sonne. Müller hat den Verdacht, dass die Kluft des Bikers keinen einzigen Anteil echten Leders enthält. „Elefantenvorhaut“, vermutet Müller, wobei er Kunstleder meint. An den Füßen trägt er Cowboystiefel im Schlangenlederdesign mit silbrig glänzenden Sporen an den Hacken. Müllers Urteil, knapp und gnadenlos, verschwindet ebenfalls in die Dickhäuterecke.

Der Biker setzt die Mütze auf den Kopf und korrigiert den Sitz im Seitenspiegel. Müller vermutet, dass es dem Typen sehr wichtig ist, dass das Emblem der Marke seines Softchoppers genau die Mitte seiner faltigen Stirn ziert. Müller sieht überall Fransen. Am Motorrad, am Biker, überall Fransen.

„Wenn hier einer den absoluten griff ins Klo getan hat“, denkt Müller, „dann der.“ Er kann sich ein leises, höhnisches Lachen nicht verkneifen.

Eine Frau neben ihm auf der Bank fängt ebenfalls an zu lachen. Sie schaut Müller von der Seite an und zeigt mit dem Daumen auf den Biker und sagt:

„Ich glaube, in dem Punkt sind wir uns einig, oder?“

„Ohne Zweifel“, sagt Müller. „Der Freak ist ganz klar auf dem Holzweg.“

Als der Typ den Reißverschluss von seiner Jacke öffnet, werden sie erneut vom Markenemblem seines Motorrades geblendet.

„Scheiße! Jetzt hat der den Mist auch noch auf dem T- Shirt“, lacht die Lady los. Um nicht aufzufallen drückt sie ihren Kopf an Müllers Schulter und hält die Hände vor dem Mund. Müller spürt ihre Tränen auf der Haut und muss mitlachen.

„So sind Männer wenn sie ihre Midlifecrisis am Arsch kleben haben“, sagt Müller lachend. „Hatte letzte Woche seinen Scheidungstermin und lässt es jetzt richtig krachen. Die Kinder groß, nagelneuer Chopper, cooles Outfit im Internet bestellt, ab geht die Post.“

Die Lady ist nach Müllers wissenschaftlichen Ausführungen einem Lachkrampf nahe. Er spürt, wie sich ihre scharfen Fingernägel in seinen Oberarm graben, während der Freak seinen Easy Rider an einen Pfahl kettet, eine schwarze Sonnenbrille aufsetzt und in der Menge verschwindet.

„Sorry, ich hoffe ich bin dir nicht zu nahe gekommen. Das war reine Notwehr.“

„Kein Problem“, sagt Müller mit einem verschmitzten Lächeln. „Der Typ merkt nicht mal, dass ihm der Anzug zu groß ist. Hat ’ne komische Auffassung vom Bikerleben. Aber er versucht ’s wenigstens. Andere reden nur darüber, er bringt’ s, auch wenn er sich dabei zum Deppen macht.“

„Da ist was dran“, sagt sie und bearbeitet mit ihren Zeigefingern die verschmierte Schminke unter ihren Augen. Sie nimmt ihre Jacke von der Bank, legt sie sich auf den Schoß, kramt Zigaretten und Papiertaschentücher aus den Taschen und bietet Müller eine Zigarette an. Müller bedankt sich, zieht eine aus der Packung und sorgt für Feuer. „Ich heiße übrigens Lena“, stellt sich die Lady vor. Müller gibt ihr seine Hand und sagt:

„Rainer.“

„Ich würde dir gerne ein Bier ausgeben, wenn es hier welches gäbe“, sagt Lena. „Aber auf diesen komischen Ausstellungen gibt es meistens keinen Alkohol.“

„Tja“, sagt Müller, „die halten ihre Kundschaft eben für unmündige kleine Scheißer, die noch nicht in der Lage sind, selbst zu entscheiden, was sie essen oder trinken. Nach dem Auftritt des einsamen Ritters eben kann ich das sogar verstehen. Aber falls du gerne ein Bier trinken möchtest, ich habe zwei kalte Sixpacks hinten im Wagen.“ Lena steht auf, nimmt ihre Jacke und sagt:

„Na dann mal los. Wo steht denn dein Wagen?“

„Da hinten, vor der Autobahnbrücke“, sagt Müller überrascht. Er steht auf, schmeißt den leeren Pappteller in den übervollen Mülleimer neben dem Tisch und kämpft sich mit Lena durch die schwitzende, nach ranzigem Lederfett stinkende Menschenmasse.

„Geschafft“, sagt Lena. „Mann, ist das heiß heute“, als sie endlich den Ausgang erreichen.

„Jep“, stimmt Müller zu. Die Beiden gehen nebeneinander her. Lena ist fast einen halben Kopf kleiner als er. Sie ist schlank und ihr glattes rotblondes Haar reicht ihr fast bis zum Hintern. Auf ihrer kleinen Nase tummeln sich einige Sommersprossen, die fließend über ihre Wangen bis zu den Ohrläppchen reichen. Sie hat volle Lippen und grüne Augen.

„Wirst du denn dahinten gar nicht vermisst?“, sagt Müller.

„Glaube nicht“, sagt Lena mit einem Lächeln von der Seite. Müller entdeckt ein kleines Grübchen auf ihrer linken Wange und ist entzückt. Sie trägt ein grünes Trägertop.

„Scheiß Lederhose, viel zu warm“, sagt Lena und wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

„Ihr Gang ist sexy“, denkt Müller, als er sie so neben sich her schlenkern sieht. Überhaupt ist Müller sehr angetan von seiner neuen Bekanntschaft. „Sie hat einen süßen kleinen Arsch“, denkt Müller und hofft, dass Lena seine forschenden Blicke nicht bemerkt.

Am Auto angekommen, öffnet Müller die Heckklappe und kramt zwei Bierflaschen aus einem der Kartons. Er schnickt die Kronkorken von den Flaschenhälsen und gibt Lena eine davon! Sie setzen sich nebeneinander auf die Ladekante und prosten sich zu.

„Auf die Midlifecrisis“, sagt Lena und lässt das kühle Bier in einem tiefen Zug seinen Weg finden. Müller ist begeistert, die Frau kann Bier trinken! Die meisten Frauen, die er in der Vergangenheit kennen gelernt hat, hatten mit Biertrinken nicht viel am Hut.

„Lass uns hier verschwinden“, sagt Lena und gibt Müller einen zarten Kuss auf die Wange.

„Okay“, sagt Müller, schließt die Heckklappe, geht ums Auto und hält ihr die Tür auf. Lena setzt sich auf den Beifahrersitz und schmeißt ihre Lederjacke nach hinten auf die Ladefläche. Müller geht zur Fahrerseite und setzt sich hinters Steuer. Aus den Augenwinkeln sieht er, dass Lena ihn von der Seite beobachtet. Sie hat ihr Bier bereits leer. Schweigend zeigt Müller mit seinem rechten Daumen in Richtung Ladefläche. Lena stemmt sich aus dem Sitz und versucht, den offenen Sixpack zu erreichen. Dabei kommt sie ihm so nah, dass er den warmen Duft ihrer Haut riechen kann. Eine süße Mischung aus Mandelöl, Vanille und Schweiß bezaubert Müllers Nase. Ihr Top ist bei der Aktion etwas nach oben gerutscht, sodass Müller ihren flachen Bauch sehen kann. Mit zwei Flaschen Bier in der Hand lässt Lena sich wieder in den Sitz fallen.

„Öffner?“

„Feuerzeug“, sagt Müller und hält ihr das aus der Ablage vor die Nase. Lena schaut Müller komisch an, nimmt das Feuerzeug, drückt die Kante unter den Kronkorkenrand und hebelt ihn mit einem Ruck von der Flasche. Das Gleiche veranstaltet sie mit der anderen Flasche. Müllers Zuneigung für Lena wächst mit jedem Korken. Sie kommt seinem Bild von einer Traumfrau immer näher.

„’Ne Ahnung, wo’s hingehen soll?“, sagt Müller und setzt die Flasche an.

„Fahr’ einfach los. Wo es uns gefällt, da bleiben wir eben“, sagt sie keck und fängt an, Zigaretten zu drehen. Müller schmeißt Helge Schneider raus und legt eine CD von Bob Marley rein. Er startet den Kombi, legt den ersten Gang ein und fährt Richtung Osnabrück.

Reggae, Sonne und eine Frau ganz nach seinem Geschmack. „Der Sonntagnachmittag lässt sich gut an“, denkt Müller.

„Bist du selbstständig?“, sagt Lena.

„Nee, das Auto gehört einem Freund. Er hat eine Firma in OS. Ich arbeite nur für ihn.“

„Wohnst du in Osnabrück?“ Lena lässt die Seitenscheibe runter und schmeißt ihre abgebrannte Kippe aus dem Fenster.

„Ja“, sagt Müller und beschreibt ihr den Weg zu seiner Wohnung.

„Ich wohne auch in Osna.“, sagt sie und öffnet beiläufig den Bund ihrer Lederhose. Sie zieht den Reißverschluss nach unten, beugt sich nach vorne, streift sich die Motorradstiefel und die Socken von den Füßen und zieht die Hose aus. Sie nimmt die Sachen in die Hände, zielt kurz und schmeißt sie zu den anderen Klamotten auf die Ladefläche.

„Verdammt heiß heute“, sagt sie und schaut Müller dabei direkt in die Augen.

„Ich werd’ den Teufel tun und daran zweifeln“, sagt Müller mit einem anerkennenden Blick von der Seite. Lena trägt jetzt nur noch ihr grünes Top und ein knappes gelbes Bikinihöschen.

„Und du glaubst, dass ich jetzt noch auf den Verkehr achten kann?“, sagt Müller und fängt an zu lachend.

„Verkehr ist gut“, sagt Lena und drückt ihre Füße gegen das Armaturenbrett. Sie legt ungeniert ihre linke Hand auf Müllers Knie und sagt: „Lass uns zu dir fahren. Ich möchte sehen wie du lebst. Außerdem habe ich das Gefühl, dich schon ewig zu kennen.“

Müller hält es nicht mehr aus. Seine Hose ist ihm schon vor zwei Minuten zu eng geworden. Er steigt auf die Bremse und steuert den Wagen an den Straßenrand. Er beugt sich rüber zu Lena und sagt:

„Ich muss jetzt sofort wissen, ob das hier ein verdammter Traum ist?“

Lena beugt sich ihm entgegen und flüstert ihm ins Ohr:

„Los …, überzeug dich.“

„Bist du sicher?“, sagt Müller und könnte sich augenblicklich für diese dämliche Frage selbst in den Arsch treten.

„Na, worauf wartest du noch“, drängelt Lena, „gefalle ich dir nicht?“

„Verdammt und ob“, sagt Müller. Ihn hält jetzt nichts mehr. Hungrig drückt er seine Lippen auf ihren offenen, warmen Mund. Ihr Kuss ist heftig und wild und voller Leidenschaft. Lenas rechte Hand gleitet in Müllers Schoß und massiert zart die Beule auf seiner Hose. Müller ist jetzt nicht mehr zu bremsen. Er hat die Kontrolle über seine Hände verloren. Seine linke Hand wandert automatisch zwischen Lenas Schenkel. Willig öffnet sie ihre Beine ein wenig und drückt ihren Unterleib gegen seine Hand. Mit dem Zeigefinger schiebt er ihr Bikinihöschen etwas zur Seite und streichelt in sanften kreisenden Bewegungen ihre feuchte Knospe. Als er mit seinem Mittelfinger in sie eindringt verkrampft sich für einen kurzen Moment ihr ganzer Körper.

„Hör jetzt bloß nicht auf“, jammert sie und zehrt ungeduldig an seiner Gürtelschnalle. Mit einem wilden Ruck reißt sie ihm die Jeans nach unten und greift nach seinem steifen Schwanz. Müller stöhnt, ist hilflos. Die kreisenden Bewegungen seiner Hand auf ihrer Muschi werden schneller. Plötzlich lässt Lena seinen Schwanz los und klettert auf ihn drauf. Mit der einen Hand schiebt sie ihr Höschen an die Seite und mit der anderen zeigt sie Müllers steifen Freund den Weg. Langsam, ganz langsam stülpt Lena ihre offenen feuchten Lippen über seine harte, pulsierende Eichel und er spürt wie er Stück für Stück in sie eindringt. Sie schauen sich dabei direkt in die Augen. Gierig umfasst Müller mit beiden Händen ihre schmale Taille und genießt jede Sekunde dieses unbeschreiblichen Augenblicks in vollen Zügen. Als es nicht mehr tiefer geht, schreit Lena kurz laut auf und mit zügellos kreisenden Auf-und-Ab-Bewegungen stößt sie immer wieder mit dem Hintern klatschend gegen seine nackten Oberschenkel. Zitternd schiebt Müller seine rechte Hand unter Lenas Top und massiert ihre festen kleinen Brüste. Die Brustwarzen werden schnell hart und drücken sich sichtbar auf dem feinen Stoff ihres Tops ab. Er spürt, dass sie kurz davor ist. Ihr ganzer Körper vibriert. Sie schwitzt und stöhnt, ihre Bewegungen werden schneller. Gleichzeitig mit einem heftigen Ruck ihres Beckens in Müllers Richtung, schmeißt sie ihren Kopf nach hinten und gräbt ihre Fingernägel in seine Schultern. Für einen kurzen Augenblick hat Lena aufgehört zu atmen. Ganz ruhig schaut sie ihm in die Augen und erwartet die nächste Welle. Müller kann es nicht mehr halten und gibt ihr die volle Ladung. Gierig nimmt Lena Müllers Sperma in sich auf und sackt langsam und kraftlos in seine Arme.

„Danke, das hab’ ich jetzt gebraucht“, flüstert sie ihm ins Ohr und lächelt zufrieden

„Keine Ursache Süße, gerne wieder“, sagt Müller und merkt, wie ihm der Saft zwischen den Beinen runter auf den Sitz läuft.

„Hat Hinrich wieder was zu meckern“, denkt er und hilft Lena beim Abstieg auf den Beifahrersitz. Bob Marley singt, I shoot the Sheriff, but i didnd shoot the Deputy.

Müller nestelt sich die Jeans wieder über den nackten Arsch und bringt seinen müden, kleinen Freund in die richtige Beinlage. Als er einen kurzen Blick durchs Seitenfenster wirft, sieht er einen Biker, der mit erhobenen Daumen in ihre Richtung grinst.

„Verpiss dich, Motherfucker! “, schreit Müller und erntet an Stelle des Daumens den Mittelfinger.

„Scheiß Paparazzi!“, brüllt Lena lachend und wirft eine leere Bierflasche haarscharf an Müllers Kopf vorbei durch das Seitenfenster. Die Flasche verfehlt den Biker nur knapp und zersplittert auf der Straße. Überrascht von dem Wurf wendet sich Müller Lena zu und sagt:

„Wenn du weiter solche Sachen machst hast du mich in Zukunft an den Hacken kleben ... Das ist dir doch klar, oder?“

„Jupp“, sagt Lena und zuppelt an ihrem Bikinihöschen rum. „Ich bin klatschnass, ich brauch unbedingt ‘ne Dusche“, sagt sie und zeigt beiläufig auf den Zündschlüssel. Müller versteht und fährt los.

Der Zweiradspanner verfolgt sie noch eine Weile, bis er nach der ersten Kreuzung nicht mehr zu sehen ist. Müller besorgt noch Bier und Zigaretten an einer Tankstelle und nimmt den kürzesten Weg zu seiner Wohnung. Er findet einen Parkplatz direkt vor dem Eingang. Müller steigt aus dem Wagen, öffnet die Heckklappe und packt sich das Bier und Lenas Lederklamotten auf den Arm. Lena ist bereits ausgestiegen und wartet vor der Eingangstür.

„Nette Gegend“, sagt sie lächelnd und nimmt Müller die Bierkartons ab. Müller legt seinen linken Arm um Lenas Hüfte, gibt ihr einen Kuss auf die Nase und sagt: „Der Schein trügt.“ Ohne jemanden Im Flur zu begegnen schaffen sie es in Müllers Wohnung. Er schmeißt das Lederzeug aufs Sofa, greift sich die Bierkartons, nimmt zwei raus, stellt sie auf den Couchtisch, geht in die Küche und packt den Rest in den Kühlschrank.

„Wo issen dein Bad?“, fragt Lena in der Küchentür stehend.

„Tür hinter dir“, sagt Müller und nickt kurz mit dem Kopf in die Richtung. Lena zwinkert ihm zu, dreht sich um, schlenkert mit dem Hintern und verschwindet. Im nächsten Moment hört Müller das Wasser plätschern. Er geht ins Wohnzimmer, dreht sich eine Bulls-Houle, gibt sich Feuer, greift zur Bierflasche, setzt sich aufs Sofa, und trinkt einen Schluck.

Müller ist verwirrt. Es ist schon lange her, dass er eine Frau mit in seine Wohnung genommen hat. Die Letzte lernte er vor einem Jahr bei einem Filmabend in einem Biergarten kennen. Sie hieß Alexa, war klein und hatte dunkles kurzes Haar. Ihre Hüften verrieten, dass sie auf dem Weg ins Nirwana Schokolade zur Hilfe nahm. Sie hatten den ganzen Abend getrunken und gelacht und am Ende nahm Müller sie mit nach Hause. Anstelle von Sex bekam Müller nur Tränen. Alexa hatte sich gerade von ihrem Freund getrennt und der Verlust traf sie schwer. Sie wollte auf gar keinen Fall sofort eine neue Beziehung anfangen. Das könne sie ihrem Ex nicht antun und würde ihr Gewissen schwer belasten. Müller versprach ihr, dass sie nur vögeln würden, von Beziehungen hätte er ebenso die Schnauze voll. Nur ein bisschen ficken, mehr nicht. Müllers Überredungskünste trafen auf taube Ohren. Alexa wollte nichts hören, außer ihr eigenes besoffenes Gewäsch. Es wurde draußen schon hell, als sie endlich aufhörte zu jammern und auf dem Sofa einschlief. Müller ging ins Bett und wachte alleine am nächsten Morgen wieder auf. Alexa musste sich während er schlief leise davon gemacht haben. Müller war’s Recht, er hatte sowieso genug von ihr.

 

„Kann ich hier irgendwo meine nassen Sachen aufhängen?“, sagt Lena und holt Müller aus seinen Gedanken. Sie ist nackt und hat ihr grünes Top und das gelbe Bikinihöschen in der Hand.

„Häng den Kram da über den Stuhl“, sagt Müller und bestaunt Lenas zarte Rundungen. Er sieht sie zum ersten Mal ganz nackt. „Ihre Brüste sind zwar klein“, denkt er, aber irgendwie kann er sich auch keine größeren an ihrem schmalen Körper vorstellen.

Lena hängt ihre Sachen über den Stuhl, geht zu Müller und setzt sich neben ihn. Sie zieht sich eine Zigarette aus der Schachtel, zündet sie an, nimmt das Bier und kuschelt sich in seine Arme. Sie trinkt einen Schluck und fragt:

„Wie alt bist du eigentlich?“

„Bestimmt fünfzehn Jahre älter als du“, sagt Müller.

„Na dann bist du – fünfzig!“, sagt sie laut und schüttelt sich.

„Na, na, nicht ganz“, sagt Müller und zwickt ihr zärtlich in den Oberschenkel.

„Ich hab’ mit einem Opa gevögelt“, sagt Lena lachend und glotzt dabei, als hätte sie ‘ne tote Fliege verschluckt. „Ist mir aber auch scheißegal“, wiegelt sie ab und macht sich an Müllers Reißverschluss zu schaffen. Sie stellt die Flasche auf den Tisch, drückt die Zigarette in den Aschenbecher und macht sich auch noch am Knopf zu schaffen. Müllers Schwanz braucht nicht lange bis zur vollen Größe. Lena beugt sich über seinen Schoß und fängt an. Müller kann es nicht glauben, was für ein Sonntag. Ab sofort beschließt er Sonntage zu mögen, greift sich ein Stück von ihrem Arsch und lässt es sprudeln. Lena wartet noch ein wenig, bis Müller sich beruhigt hat bevor sie sich wieder in seine Arme kuschelt. Müller reicht ihr die Bierflasche und streichelt ihren Oberschenkel.

„Dies ist so ein Moment, der im Leben nicht oft vorkommt“, denkt Müller. Er nimmt ihren Kopf in seine Hände und gibt ihr einen langen Kuss … Müller hat ein Problem, er ist dabei sich zu verlieben.

„Wie bist du eigentlich auf diesem Lederkongress gelandet?“, sagt Lena.

„Ich hatte einfach Bock auf einen heißen Fettstift mit Senf und du?“

„Mich hat ein Bekannter mitgenommen. Der Typ ist schon zwei Jahre hinter mir her. Ständig ruft er mich an und will mit mir ausgehen und heute, bei dem schönen Wetter, hab’ ich halt mal ja gesagt. Ich wollte eigentlich zum Baggersee, aber der Arsch fährt einfach zu dieser schwachsinnigen Ausstellung“, sagt Lena und knabbert dabei an Müllers Ohrläppchen rum.

„Dann muss ich dem Arsch ja danken“, sagt Müller lächelnd und stemmt sich aus dem Sofa. Er zieht seine Hose wieder hoch und schließt den Knopf. „Ich geh mal grad pullern.“

„Okay, mach das“, sagt sie, „ich hol uns noch zwei Bier.“

Müller stellt sich vor die Schüssel und lässt es reinplätschern. Er hört, wie Lena die Kühlschranktür betätigt, schüttelt ab und zieht den Reißverschluss nach oben. Er betrachtet sein Gesicht im Spiegel, reibt mit dem Handrücken unter seinem Kinn lang und beschließt, sich morgen zu rasieren. Als er ins Wohnzimmer kommt, steht Lena rauchend am offenen Fenster. Sie hat ihr Top und ihr Bikinihöschen wieder angezogen und schnippt die Asche unten auf den Gehweg.

„Scheiße, sieht die gut aus“, denkt Müller und drückt sich von hinten an ihren warmen Rücken. Er schlingt seine Arme um sie und streichelt sanft ihren Bauch. Es ist still. Kein Verkehrslärm, keine Menschen auf der Straße, nur das Zwitschern der Vögel und ein leichtes Grummeln in der Ferne. Lena lehnt ihren Kopf gegen Müllers Schulter und hält ihm ihre Zigarette vor dem Mund. Er nimmt einen Zug und bläst den Qualm durchs offene Fenster.

„Es ist schön, bei dir zu sein“, sagt Lena, dreht sich um und gibt ihm einen Kuss auf den Mund. Sie windet sich aus Müllers Umarmung und wirft die abgebrannte Kippe aus dem Fenster.

„Ich werde jetzt gehen“, sagt sie und zieht ihre Lederhose und ihre Stiefel an. Müller steht am Fenster und sagt:

„Wenn du willst, fahr’ ich dich.“

„Lass mal, ist nicht weit. Ich geh’ lieber zu Fuß … Kann ich die Lederjacke hier lassen?“, sagt sie lächelnd und schaut Müller abwartend an.

„Sicher, lass sie da einfach liegen … Kannst sie ja später holen.“, Lena stopft ihre Zigaretten in die Hosentasche, setzt noch einmal, Müller zuprostend, die Bierflasche an den Mund, trinkt einen Schluck, stellt die halbleere Flasche zurück auf den Tisch und verabschiedet sich mit einem Kuss auf Müllers Wange. Als sie die Flurtür hinter sich ins Schloss zieht, ist Müller erleichtert, dass sie ihm ihre Jacke da gelassen hat und deutet das als ein sicheres Zeichen des Wiedersehens.

Er geht in die Küche und kramt einen Topf aus dem Schrank. Er hält die Dose Eierravioli unter den elektrischen Wanddosenöffner und drückt auf den Knopf. Der Dosenöffner ist ein Geschenk von Christel. Sie konnte nicht mehr mit ansehen, wie Müller seinen Dosen mit dem Messer zu Leibe rückt. Nach einer Drehung ist die Dose offen. An einem Bügel über dem Deckel befindet sich ein Magnet, sodass der Deckel nach dem Öffnen nicht in die Dose fallen kann. Müller kippt den Inhalt in den Topf und setzt ihn auf die Herdplatte. Er stellt den Schalter auf „Zwei“ und holt sich einen sauberen Löffel aus der Schublade. Unter ständigem Rühren lässt er die Pampe warm werden. Das süße Erlebnis mit Lena hat Müller hungrig werden lassen. Er zieht den Topf von der Herdplatte und schenkt sich den Teller. Hungrig löffelt er die Ravioli aus dem Topf. Als er die Hälfte intus hat, stellt er den Topf zurück auf die Herdplatte und geht wieder ins Wohnzimmer.

Er drückt den Knopf am TV, findet einen Tatort und setzt sich aufs Sofa. Müller schaut nur die öffentlich-rechtlichen Sender. Die Werbepausen bei den Privaten machen ihn kirre.

Müller kann sich nicht konzentrieren. Lena geht ihm nicht aus dem Kopf. Er muss ständig ihre Lederjacke anstarren. Wie eine stille Aufforderung liegt sie da, neben ihm. Während Ballauf und Schenk sich eine Currywurst am Kölner Rheinufer gönnen. Müller nimmt die Lederjacke, steckt seine Nase in das Inlett, schließt die Augen und zieht langsam den Duft von Mandel und Vanille in sich rein. Selber überrascht von seiner Aktion fetzt er die Jacke wütend durch die offene Tür in den Flur.

„Scheiße, verlieb dich bloß nicht!“, sagt er laut zu sich selbst, leert Lenas halbvolle Bierflasche in einem Zug und widmet sich wieder den Tatortkommissaren.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

15. Kapitel: Scheiß Montag

 

Der Wecker reißt Müller um halb Sieben aus dem Schlaf. Es ist Montagmorgen. Das Wetter hatte in der Nacht einen Schwenk getan und mit einem heftigen Gewitter in den frühen Morgenstunden auf sich aufmerksam gemacht. Wie an jedem Morgen hustet Müller sich, während er sich ins Bad quält, die Lunge frei. Er sollte mit dem Rauchen aufhören, kann sich aber Biertrinken ohne Zigarette nicht vorstellen. Also verschiebt er den Entzug. Müller lässt einen Dicken in die Schüssel platschen, putzt sich ab und betätigt die Spülung. Er schrubbt sich die Zähne und schmeißt sich eine Hand voll kaltes Wasser ins Gesicht. Die Rasur verschiebt er bis zum Feierabend.

Nach zwei Tassen Kaffee und drei Zigaretten stehend in der Küche, geht Müller ins Wohnzimmer, kramt seine Arbeitsklamotten unter dem Sofa hervor und zieht sich an. Zu einer grauen Arbeitsjacke trägt er immer eine Jeans und Sicherheitsschuhe im Sportdesign. Müller kontrolliert, ob sich alle wichtigen Utensilien in den Taschen befinden und setzt sein schwarzes Cappy auf den Kopf Dann verlässt er das Haus.

Er findet den Kombi setzt sich hinters Steuer und sucht im Handschuhfach nach dem Stadtplan von Osnabrück.

Sandstraße achtunddreißig, Frau Salemann hatte Hinrich ihm gemailt. Er findet den Plan zerknüllt in der hintersten Ecke. In den meisten Fällen braucht Müller den Stadtplan nicht. Aber die Sandstraße ist ihm nicht bekannt. Er fleddert das Straßenverzeichnis auseinander und findet die Sandstraße. Nach der Karte hat Müller ungefähr drei Kilometer zu fahren. Er kennt die Gegend und legt den ersten Gang ein. Auf dem Weg schmettert ihm Bob Marley noch einmal seinen erschossenen Sheriff entgegen und lässt ihn an die süßen Stunden mit Lena denken. So schnell ging es noch nie mit einer Frau.

Es regnet als Müller vor der Achtunddreißig hält. Er steigt aus dem Wagen, läuft zur Eingangstür, entdeckt den richtigen Klingelknopf und drückt drauf.

„Ja…, wer ist denn da?“, krächzt eine Stimme aus der Gegensprechanlage.

„Firma Brüggemeier“, antwortet Müller und denkt, dass bei dem ganzen Hightechscheiß die Sprechanlagen zu kurz gekommen sind und dass diese Dinger bis heute nicht in der Lage sind, eine vernünftige Stimmenübertragung hin zu bekommen.

Müller hört den Summer und drückt die Tür auf. Er nimmt die Treppe und wird in der zweiten Etage bereits erwartet. Eine alte Frau im Hauskittel winkt ihm am Ende des Flurs entgegen und ruft:

„Hallo, hier müssen sie hin!“ Müller winkt zurück und geht auf die alte Lady zu. Er merkt, dass sie jeden seiner Schritte genau unter die Lupe nimmt. Angekommen sagt er: „Guten Morgen Frau Salemann, wo drückt denn der Schuh?“

„Die Heizung im Wohnzimmer wird nicht warm“, sagt sie und bedeutet Müller ihr zu folgen. Er streift seine Schuhe an der Fußmatte ab und geht in die Wohnung. Müller schließt die Eingangstür, geht ins Wohnzimmer und findet den Heizkörper unter dem Balkonfenster. Seine langjährige Erfahrung in dem Job lässt ihn das Problem schnell erahnen. Während die alte Lady ihm von ihrem vor zehn Jahren verstorbenen Friedhelm erzählt, schraubt Müller mit einer Wasserpumpenzange den Thermostatkopf ab und sieht, dass er mit seiner Vermutung richtig liegt. Der Stift, der das Ventil öffnet und schließt, sitzt fest. Müller löst den Stift mit der Zange, sprüht etwas Öl drauf und schiebt ihn ein paar Mal hin und her. Dann schraubt er den Thermostatkopf wieder auf das Ventil, stellt auf fünf und sagt: „So, Frau Salemann, jetzt wird ihr Heizkörper wieder warm.“

„Die letzten Tage hatte ich die Heizung gar nicht an“, sagt sie. „Es war ja so heiß, da habe ich keine Heizung gebraucht. Aber heute Morgen war es so kalt, dass ich mir was Dickes anziehen musste.“

Müller verstaut die Zange wieder in die Seitentasche seiner Jacke.

„Ja, Frau Salemann, das ist der Wetterumschwung.“

„Möchten sie noch etwas trinken, Herr äh …?“

„Müller“, sagt Müller.

„Kaffee oder Bier?“, sagt sie.

„Nein danke, Frau Salemann, is alles gut wie’s is“, sagt Müller und kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. An der Flurtür verabschieden sich die Beiden und Müller merkt, dass die alte Lady ihm mit einem Augenzwinkern etwas in die Hand schiebt. Ohne hinzuschauen steckt Müller es in die Hosentasche und bedankt sich. Er geht zurück zu seinem Auto und sondiert die Beute. Die alte Lady hatte ihm fünf Euro zugesteckt. Für Müller ist das nicht ungewöhnlich das Kunden die wenig haben, ein hohes Trinkgeld geben. Auf der anderen Seite kann man davon ausgehen, keinen müden Cent zu bekommen. Geschweige denn, dass sie ihre Rechnungen pünktlich bezahlen.

Müller greift sich das Firmenhandy, sucht im Telefonbuch Hinrichs Nummer und drückt auf „Freigabe“. Am anderen Ende meldet sich Hinrich:

„Moin, Rainer, alles okay. bei Frau Salemann?“

„War nichts Ernstes, nur der Ventilstift … Hast du noch was für mich?“

16. Kapitel: Der Professor

 

„Ja, in der Otto-Leber-Straße hundertacht bei Fierers tropft ein Muffenschieber und wenn du da fertig bist, komm bitte zur Firma. Du musst Wolle und Niels ein paar Teile bringen. Die Baustelle ist in Wallenhorst.“

„Alles klar, mein Chef“, frotzelt Müller, drückt auf den roten Knopf und steckt das Handy wieder in die Tasche. „Dann mal zum Westerberg“, brabbelt Müller vor sich hin und startet den Wagen. Der Westerberg ist die Gegend der so genannten Besserverdiener. Es sind nur ein paar Kilometer in nördlicher Richtung.

Müller hält vor einer großen Villa, steigt aus und betätigt den Klingelknopf an der Außenpforte.

„Ja bitteschön, wer ist denn da?“

Müller stellt fest, dass auch bei den Reichen die Gegensprechanlage den gleichen Furz lässt. Derselbe Tonfall. Dasselbe Gekrächze.

„Firma Brüggemeier. Bei ihnen soll es eine Undichtigkeit in der Heizungsanlage geben!“, ruft Müller etwas lauter in die Muschel.

„Bitte fahren sie links um das Hauptgebäude herum. Ich erwarte Sie am Kellereingang.“

Mit einem leisen Klicken öffnen sich behäbig die großen gusseisernen Torflügel. Müller steigt wieder in den Wagen, legt den ersten Gang ein und fährt langsam auf das imposante weiße Gebäude zu. Im Rückspiegel sieht er, wie sich die beiden Torflügel wieder schließen. Es handelt sich um eine alte Villa im Biedermeierstil. An der linken Seite befindet sich ein Turm, der vom Boden bis über den First ragt. Müller zählt mindestens zehn verzierte Kamine auf dem schwarzen Schieferdach. Über dem Hauptportal gibt es einen halbrunden Balkon, der von zwei großen Sandsteinsäulen getragen wird. Das Geländer ist aus demselben Stein und wird von mehreren kleineren Säulen gestützt. Müller steuert den Wagen am Turm vorbei und hält am Kellereingang. Er steigt aus, öffnet die Heckklappe und greift sich seine Werkzeugtasche. Die Kellertür ist verschlossen. Müller stellt die Werkzeugtasche neben sich auf den Boden und klopft mit dem Zeigefinger drei Mal gegen die Tür. Keine Reaktion.

„Hallo, ist da jemand!“, ruft Müller. Er klopft erneut an die Tür, etwas kräftiger. Auch diesmal hat er kein Glück, die Tür bleibt verschlossen. Er holt seinen Tabak aus der Jackentasche, dreht sich eine, gibt sich Feuer und macht sich auf den Weg zum hinteren Teil der Villa. Vor ihm tut sich eine märchenhafte Parkanlage mit uraltem Baumbestand auf. Eine lange Freitreppe führt vom hinteren Teil des Gebäudes hinunter bis in den Park und verliert sich in einem Kiesweg, an dessen Ende sich ein wunderschöner Jugendstilpavillon befindet.

„Hier könnt ich’s aushalten“, denkt Müller und drückt seine Kippe mit der Schuhspitze in den Kies.

„Na, na, na, das will ich mal nicht gesehen haben!“, hört er eine Männerstimme hinter sich. Erschrocken dreht sich Müller um und sagt:

„Müller, von der Firma Brüggemeier.“

Ein alter Mann mit Gehstock im Gärtneranzug steht vor ihm. „Heben Sie ihre Kippe auf und folgen Sie mir.“ Müller pult die Kippe aus dem Kies und folgt dem Gärtner in den Keller. Das Kellergewölbe ist ungewöhnlich hoch für ein Haus des vorletzten Jahrhunderts. Sie gehen an einem langen Holzregal voller Weinflaschen entlang und erreichen die Brandschutztür des Kesselraums. Neben der Tür steht eine alte Statue. Müller tippt auf ägyptisch. Der alte Gärtner öffnet die Tür, drückt auf einen Lichtschalter und ist verschwunden. „Was für ein unfreundliches Arschloch“, denkt Müller und geht ihm nach. Ein Rohrgewirr aus mehreren Jahrzehnten tut sich vor ihm auf.

„Hier hinten“, sagt der Gärtner und zeigt mit dem Finger auf einen zwei Zoll Muffenschieber. An dem Stellrad hängt ein blauer Eimer. Müller stellt seine Werkzeugtasche auf den Boden und betrachtet das Relikt.

„Seit wann tropft denn der Schieber?“, fragt Müller den Gärtner, der interessiert neben ihm steht.

„Seit einer Woche“, antwortet der Alte.

Auch hier hat Müller den Fehler schnell gefunden. Die Stopfbuchse an der Spindelwelle ist undicht, aber das Stellrad lässt sich noch relativ leicht drehen, welches Müller als positives Zeichen deutet. Er nimmt einen Maulschlüssel aus seiner Werkzeugtasche und zieht die Überwurfmutter etwas nach.

„So, die Leckage ist beseitigt. Jetzt bräuchte ich noch die Unterschrift eines Bevollmächtigten“, sagt Müller und zieht sein Arbeitsnachweis-Büchlein aus der Jackentasche.

„Das kann ich machen“, sagt der Gärtner und legt großen Wert darauf, seinen eigenen Stift zu benutzen. Müller steckt alles wieder in die Jackentasche, schmeißt den Schlüssel in die Werkzeugtasche und geht den gleichen Weg zurück zu seinem Auto. Der Gärtner folgt ihm und schließt die Kellertür von außen ab. Müller stellt die Tasche ins Auto, dreht sich noch einmal zum Gärtner und sagt:

„Wäre nett, wenn sie mir noch ihren Namen verraten würden … Falls es Fragen gibt.“

„Ich bin der Hausherr und werde mich, gesetzt dem Fall, an ihren Chef wenden“, sagt der Alte mit versteinerter Miene.

„Alles klar, Herr Fierer und noch einen schönen Tag“, sagt Müller und setzt sich hinters Steuer. Er dreht am Zündschlüssel, setzt den Wagen in Gang und fährt langsam auf das Haupttor zu. Die Flügel öffnen sich wieder wie von Geisterhand und Müller sieht zu, dass er da weg kommt.

Unterwegs zur Firma, kauft er sich beim Becker ein belegtes Brötchen und eine Flasche Kakao. Hinrichs Firma befindet sich im östlichen Teil der Stadt. Müller schafft die Strecke in zehn Minuten. Angekommen, nimmt Müller sein Frühstück und geht ins Büro. Hinter dem Schreibtisch sitzt Hinrich und starrt auf den PC-Monitor. Ohne aufzublicken sagt er:

„Na, alles gut gegangen beim alten Fierer?“

„War nur die Stopfbuchse“, sagt Müller, legt das Brötchen auf den Tisch und stellt den Kakao daneben. Müller setzt sich, holt das Brötchen aus der Tüte, dreht den Verschluss von der Kakaoflasche und beißt ein Stück vom Brötchen ab.

„Der Professor Doktor August Fierer hat hier gerade angerufen“, sagt Hinrich mit einem abschätzenden Blick über den Monitor. „Er hat sich über dich beschwert. Er sagt, dass du seinen Kiesweg mit deinen Zigarettenkippen verschandelt hättest.“

„Tja“, sagt Müller kauend. „Ich fand halt, dass sich in seiner Parkanlage ein paar Tabakpflanzen ganz gut täten … Hab’s nur gut gemeint.“

„Rainer, das ist nicht witzig. Der Arsch nimmt das jetzt als Grund die Rechnung nicht zu bezahlen“, sagt Hinrich.

„Ich kann’s nicht ändern, Hinrich. Bevor der alte Sack mir die Kellertür aufgemacht hat, sind geschlagene zwanzig Minuten vergangen und während ich auf den Stinker gewartet habe, habe ich mir eben mit Rauchen die Zeit vertrieben.“

„Deswegen musst du noch lange nicht beim Kunden deine Kippen durch die Gegend werfen!“

„Hinrich, wenn du mir jetzt wegen dem alten Vollpfosten ‘ne Gardinenpredigt halten willst, dann mach das. Aber du weißt auch, dass mindestens neunzig Prozent deiner Kunden mit mir zufrieden sind und dass man auf die restlichen zehn getrost ‘n dicken Haufen scheißen kann “, sagt Müller und behält die Ruhe.

„Okay“, sagt Hinrich, „ich sehe schon, wir kommen hier nicht weiter … Im Lager vorne, dritte Ablage, liegt eine Pumpe, eine Rolle sechsundzwanziger Verbundrohr und ein Karton mit Kleinkram. Bring das Zeug bitte nach Wallenhorst. Wolle und Niels warten schon drauf.“

Müller entsorgt die Reste seines Frühstücks im Mülleimer und verlässt das Büro. Er nimmt das Material aus dem Regal und verstaut es im Wagen. Auf dem Weg nach Wallenhorst geht ihm der Name des Villenbesitzers nicht aus dem Kopf. Als Hinrich ihn eben Professor Doktor August Fierer nannte, klickte es in seinen Gehirnwindungen. Müller kann sich noch schwach erinnern, diesen Namen schon einmal gehört zu haben, früher, als er noch ein kleiner Junge war. Er meint, ihn im Streit seines Vaters mit dessen älteren Bruder Hermann gehört zu haben. Es ging damals um Hermanns Kriegsvergangenheit, das hatte er als kleiner Junge mitbekommen. Aber um was es in diesem Streit genau ging, konnte Müller damals nicht verstehen.

Kurz vor Wallenhorst beschließt er, die Geschichte erst einmal ad acta zu legen und nach dem Feierabend seinen Onkel Reinhold zu besuchen.

Nach ein paar Straßen und Ecken findet Müller die Baustelle. Er parkt den Kombi vor dem Bauzaun, packt sich das Material unter den Arm und geht damit in den Rohbau.

 

 

17. Kapitel: Wolle

 

„Ey, Müller! Alter Pellewemser, alles fit im Schritt!? Feuchtes Wochenende gehabt?!“, schreit Wolle ihm lachend entgegen und nimmt ihm die Rolle Verbundrohr ab. „Haste Bier mitgebracht?!“

„Wolle, du weißt doch, dass der Fortschritt auf den Baustellen das einarmige Reißen verboten hat“, sagt Müller und legt die Pumpe und den Karton in eine Ecke im Flur.

„Scheiß auf den Fortschritt!“, bellt Wolle und kratzt sich am Arsch. „Ich sauf immer noch Bier wann ich will!“

„Wo ist eigentlich Niels?“, fragt Müller. Wolle, jetzt vom Arschgekratze zu seinen Eiern übergegangen, sagt:

„Der holt grad ’n paar Gersties. Müsste jeden Augenblick zurück kommen. Kannst eins mitsaufen, wennde willst!“

„Denn man zu.“

Wolle, mittlerweile zum Taschenbillardspieler mutiert, sagt: „Heute Morgen is hier ein Ding passiert, du glaubst es nicht, Müller!“ Er haut sich vor Lachen auf die Schenkel und kriegt feuchte Augen. „Letzte Nacht muss es hier tierisch geschüttet haben, mehr als bei uns jedenfalls! Als der Maurer einen abseilen will, fällt er mit dem ganzen Scheißhaus nach hinten um!“ Wolle kann sich bei seinen Ausführungen kaum noch halten und sein dicker Bierbauch schwabbelt dabei auf und ab. „Du glaubst gar nicht, wie der geflucht hat! Der Regen letzte Nacht hat das ganze Scheißhaus unterspült! Von vorne war nichts zu sehen! Aber hintenrum war alles unterspült. Seine Kollegen mussten ihn mit dem Brecheisen da rausholen! Alleine wäre der da jetzt noch drin!“

Müller kann Wolle jetzt kaum noch verstehen. Wolle hält sich vor Lachen die fette Kiepe und wischt sich die Tränen aus den Augen. „Als der da endlich raus war, war er über und über mit Scheiße bespritzt! Man, hat das gestunken, sag ich dir! Bis jetzt hab ich den hier nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich hat ihm seine Alte auch noch ‘n Einlauf verpasst und jetzt darf er nicht mehr auf die Baustelle!“, heult Wolle.

Niels findet die Beiden lachend im Flur.

„Hier dein Bier, Wolle“, sagt er und hält ihm die Tüte mit den Flaschen hin. Wolle nimmt die Tüte und stellt sie neben sich auf dem Boden.

„Ich hab Müller grad die Geschichte mit dem Maurer erzählt!“

Niels muss lachen.

„Hallo Rainer, so was erlebste beim Kundendienst nicht, oder?“

„Nee“, sagt Müller, „aber dafür erlebste da was anderes.“

Müller trinkt mit seinen Kollegen noch ein Bier, berichtet von seinem Erlebnis beim alten Fierer und macht sich auf den Weg zurück nach Osnabrück.

Es ist bereits Mittag, als er Osnabrück erreicht. Müller beschließt, seine Mittagspause bei der netten Nicki am Rissmüllerplatz zu machen. Nicki betreibt dort einen Imbiss mit Mittagstisch. Das Essen ist gut, nicht zu teuer und die Bedienung ausgesprochen weiblich. Und es hat irgendwie was Mütterliches dort. Müller findet noch einen Platz und bestellt sich den Linseneintopf mit geräucherter Mettwurst.

Nach der Mittagspause hat Müller noch zwei Termine. Eine Kesselwartung und einen tropfenden Wasserhahn. Die Uhr am Armaturenbrett zeigt vier Uhr dreißig, als Müller vor seiner Wohnung aus dem Auto steigt. „Endlich Feierabend“, denkt er und schließt den Kombi ab. Die Sache mit seinem Onkel Reinhold hat er sich auf der Fahrt nach Hause anders überlegt. Er wird ihn einfach anrufen.

Während Müller seine Wohnungstür aufschließt, entdeckt er auf dem Fußboden einen zusammengefalteten Zettel. Müller bückt sich, nimmt den Zettel in die Hand, faltet ihn auseinander und fängt an zu lesen:

Hallo Opi! … War hier und wollte meine Lederjacke holen. Hab mir schon gedacht, dass du arbeiten bist. Schade, hätte dich gerne noch einmal vernascht … Ha, ha. Ich fand es sehr schön gestern und musste den ganzen Tag an dich denken. Um sicher zu gehen, nicht wieder vor verschlossener Tür zu stehen, habe ich dir meine Handynummer aufgeschrieben … In süßer Erwartung … Lena.

 

Müller faltet den Zettel wieder zusammen, schließt die Tür und geht ins Wohnzimmer. Er legt den Zettel neben das Telefon und pellt sich aus seinen Arbeitsklamotten. Dann geht er duschen. Als er damit fertig ist, wickelt er sich ein Handtuch um die Hüfte und geht zurück ins Wohnzimmer. Er schleudert das Handtuch in die Sofaecke, dreht sich eine Bulls-Houle und zündet sie an. Dann nimmt er das Telefon und wählt Lenas Nummer. Nach dem neunten Freizeichen gibt er auf und legt den Hörer wieder auf die Gabel. Danach kramt er das Telefonbuch unter dem Couchtisch hervor, findet die Nummer seines Onkels und wählt erneut. Diesmal hat er Glück.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

18. Kapitel: Onkel Reinhold

 

Am anderen Ende meldet sich eine zittrige Frauenstimme: „Hallo, hier Müller. Wer spricht denn da?“

„Hallo Tante Margot … Hier ist Rainer!“

„Rainer –, welcher Rainer?“

„Na, dein Neffe“, sagt Müller und kann das Klicken von in die Jahre gekommenen Magnetschaltern in Margots Gehirn fast durchs Telefon hören.

„Ach, du bist das! Das ist ja ein seltener Anruf“, freut sich Margot. „Wie kommen wir denn zu dieser Ehre?!“

„Ich hätte da mal ein paar Fragen an Onkel Reinhold“, sagt Müller.

„Oh …, warte, ich gebe ihn dir mal.“

Durch das Telefon hört Müller, wie Tante Margot mit seinem Onkel spricht.

„Der Rainer ist am Telefon. Er möchte dich was fragen.“

Aus dem Hintergrund hört er seinen Onkel:

„Was für ein Rainer denn? Ich kenne keinen Rainer.“

Müller bekommt mit, wie der Hörer weitergereicht wird.

„Müller hier!“

„Ich bin’s, Onkel Reinhold, dein Neffe“, sagt Müller.

„Ach du bist das. Ich dachte schon dich gäbe es gar nicht mehr. Hab ja lange nichts von dir gesehen oder gehört.“

Ohne große Umschweife versucht Müller zum Thema zu kommen. „Du, Onkel Reinhold, kennst du einen Professor Doktor August Fierer?“ Es dauert eine Weile bis Müller wieder etwas von seinem Onkel hört.

„Was hast du denn mit dem?“

„Ich musste da heute arbeiten. Und irgendwie konnte ich mich an diesen Namen erinnern. Aus meiner Kindheit. Ich habe damals mitbekommen wie Onkel Hermann und mein Alter gestritten haben, und dabei fiel auch dieser Name.“

„Da kann ich dir leider nicht viel zu sagen. Außer, dass die Sache mit dem Krieg zu tun hatte. Ich gebe dir aber Hermanns Telefonnummer. Er wird dir sicher mehr sagen können.“

Müller findet einen Kugelschreiber und notiert sich die Nummer auf dem Rand einer alten Zeitung. Die Vorwahl verrät ihm, dass Onkel Hermann in Süddeutschland leben muss. Er beantwortet Reinhold noch ein paar Fragen über seinen Lebensverlauf und legt auf.

„Verzwickt, verzwickt“, denkt Müller und holt sich das vorletzte Bier aus dem Kühlschrank. Er zieht eine frische Jeans und ein frisches T-Shirt an und stellt sich ans Fenster. Müller gibt sich Feuer und öffnet die Flasche. Auf einem Blick sieht er, dass in der Werkstatt des Autohändlers Licht brennt. Durch die Scheiben des Rolltors kann Müller das Heck der Corvette sehen. „Nicht viel los bei Manne“, denkt er, geht zum Couchtisch, findet eine offene Stelle im übervollen Aschenbecher und drückt die Zigarette aus. Er wählt noch einmal Lenas Nummer und wartet mit dem Hörer am Ohr auf ein Zeichen. Wieder nichts. Müller legt auf, leert die Flasche und holt sich die letzte aus dem Kühlschrank. Durstig trinkt er die Flasche aus, legt die Beine auf den Tisch und schläft ein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

19. Kapitel: Die kleine Schürfwunde

 

Die Türklingel weckt Müller kurz vor Mitternacht. Noch den Schlaf in den Knochen torkelt er zum Türöffner. Er drückt auf den Summer, öffnet die Flurtür und hofft, dass es Lena ist. Im Hausflur geht das Licht an. Müller hört, wie sich jemand die Treppe nach oben schleppt.

„Rainiiii…, hiff mir ma … ich hab voll ein’ sitzen!“

„Scheiße“, denkt Müller, „Lena, völlig breit.“ Er geht zur Treppe und findet sie auf dem zweiten Absatz sitzen. Sie hat sich mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt und die Beine gespreizt vor sich ausgestreckt. Leicht schielend schaut sie Müller in die Augen und lallt:

„Ah …, da is ja mein süßes Rammelschweinchen.“ Die Schminke um ihre Augen ist verschmiert und am Kinn sieht Müller eine frische Schürfwunde. Auf dem rechten Oberschenkel ihrer Jeans ist ein großer Fleck. Müllers Vermutung geht in Richtung unverdauter Mageninhalt. Der gleiche Fleck zieht sich vom Ausschnitt ihres weißen T-Shirts bis runter zum Bauchnabel.

„Was ich doch für ‘n Glück mit Frauen habe“, denkt Müller sarkastisch. Er greift Lena unter die Arme und versucht sie wieder auf die Beine zu stellen.

„Du musst auch ein Bisschen mithelfen“, sagt er, während Lena wie ein nasser Sack in seinen Armen hängt.

„Keine Chance“, lallt sie und reihert Müller vor die Füße. Dieser Anblick und der widerliche Gestank von Erbrochenem lässt Müller würgen. Im Rettungsschwimmergriff, Arme von hinten durch die Achselhöhlen über die Brust verschränkt und im Rückwärtsgang, schleift Müller seine neue Bekanntschaft durch die Eingangstür in die Wohnung. Er legt Lena im Bad auf den Fußboden und zieht ihr die dreckige Jeans aus.

„Ich will getz nich ficken“, blubbert Lena halb wach, halb schlafend.

„Hab auch nicht vor dich zu ficken“, sagt Müller und nimmt sich unbeirrt das T-Shirt vor. Er streift Lena den String über die Füße und setzt sie in die Dusche. Er nimmt die Brause aus der Halterung, mischt die richtige Temperatur und lässt das Wasser über ihren Körper laufen. Erschrocken bäumt sich Lena auf und schreit:

„Du blöder Fickarsch! Lass Mich!“, und im selben Moment sackt sie wieder in sich zusammen. Nach einer viertel Stunde beendet Müller die Kneipp-Kur und trägt Lena ins Wohnzimmer. Er legt sie aufs Bett und wickelt sie in eine Decke. Dann holt er Wischeimer und Aufnehmer aus dem Badezimmerschrank, geht ins Treppenhaus und kümmert sich um Lenas Abendessen.

„Sieht mir ganz nach Pizza mit Rotwein aus“, denkt Müller. Ihm fällt es schwer, das Ganze nicht noch mit zwei Flaschen Bier zu veredeln. Wieder in seiner Wohnung hört er Lena bereits laut schnarchen. Er stellt die Putzutensilien zurück in den Badezimmerschrank und macht es sich auf dem Sofa bequem. Während Lena den Sherwood Forrest zersägt, raucht Müller eine Selbstgedrehte. Er verwickelt sich noch in ein paar Gedanken über Lenas Schürfwunde am Kinn und schläft dabei ein.

 

 

 

 

 

 

 

 

20. Kapitel: Der Spitzenmonteur

 

Am nächsten Morgen um sieben macht sich Müller auf den Weg zur Firma. Lena war noch fest am Schlafen als er seine Wohnung verließ. Die Decke lag auf dem Fußboden und Lena hatte es sich, das rechte Bein nach außen abgewinkelt, auf dem Rücken liegend, bequem gemacht. Lenas frivoler Anblick machte es Müller an diesem Morgen nicht gerade leicht, seine Gedanken auf den bevorstehenden Arbeitstag zu lenken.

Auf dem Weg zur Firma klingelt sein Handy und hilft ihm, Lenas Muschi eine Weile zu vergessen.

„Moin, Rainer.“

„Moin, Hinrich, was gibt’s?“

„Schlechte Nachricht, beim alten Fierer tropft immer noch der Schieber“.

„Wie kommt’s?“, sagt Müller.

„Keine Ahnung. Aber er sagt, dass es noch schlimmer geworden ist.“

„Okay, ich mach mich auf den Weg“, sagt Müller.

„Denk aber dieses Mal an deine Kippen“, tadelt Hinrich und legt auf.

„Ich werd’ dem alten Kacker die ganze verwanzte Villa mit Kippen zukleistern, wenn’s sein muss“, denkt Müller ein wenig genervt über Hinrichs tadelnde Äußerung, betreffend seiner Rauchgewohnheiten.

Professor Doktor August Fierer lässt Müller an diesem Tag noch länger warten. Diesmal bleibt Müller vorsichtshalber im Auto sitzen und vertreibt sich die Zeit mit ZZ Top und Zigaretten. Nach geschlagenen fünfundvierzig Minuten steht der alte Fierer in der offenen Kellertür und winkt ihm mit seinem Gehstock zu. Müller drückt langsam die Zigarette in den Aschenbecher, zieht den Zündschlüssel ab, nimmt die Werkzeugtasche und macht sich auf den Weg ins Kesselhaus. Als Müller den Raum betritt steht der Professor schon am Schieber und zeigt mit dem Finger auf die Stopfbuchse. „Tropft immer noch und seitdem Sie gestern da waren noch mehr“, schnattert der Alte und schaut Müller böse an. Müller sieht drei volle Eimer Wasser auf dem Boden stehen.

„Guten Morgen, Herr Professor, wie ich sehe, haben Sie sich gegen die Wasserfluten gut gewappnet und was den alten Schieber angeht, kann ich Ihnen nur sagen, dass es manchmal eben nicht reicht, nur an der Schraube zu drehen. Hin und wieder braucht’s auch Neuteile.“

„Ja, ja“, klefft der Alte, „das werde ich dann schon mit Ihrem Chef klären. Schauen sie sich erstmal an, was sie gestern kaputt gemacht haben!“

Aus jahrelanger Erfahrung weiß Müller, dass es zwecklos ist, sich mit solchen Kunden auf eine Diskussion einzulassen. Ohne Worte stellt er die Werkzeugtasche vor sich auf den Boden und holt eine Lupe und eine Taschenlampe aus einer Seitenklappe. Dann widmet er sich in aller Ruhe der Überwurfmutter und entdeckt einen kleinen Haarriss. Der Riss zeigt Spuren von Korrosion an den Rändern und kann deshalb nicht erst gestern entstanden sein. Müller steckt Lupe und Taschenlampe wieder in die Seitenklappe und sagt mit gespielter Arroganz:

„Herr Professor Doktor Fierer. Nach genauester Analyse meinerseits, muss ich leider feststellen, dass ihr in die Jahre gekommener Muffenschieber nicht mehr zu retten ist.“

„Ihre Frechheiten können sie für sich behalten!“, sabbert der Alte, „Verlassen Sie augenblicklich mein Anwesen!“

Müller tut wie ihm befohlen. Er klemmt sich die Werkzeugtasche unter den Arm und schlängelt sich durch den Keller in Richtung Metalltür.

„Ich werde mich bei ihrem Vorgesetzten über sie beschweren!“, keift der Professor hinter ihm her.

„Arrogante Arschgeige“, zischt Müller leise und hat eine Idee. Er dreht sich um, schaut dem Professor in die Augen und fragt:

„Kennen Sie einen Hermann Müller?“

Der Alte hält abrupt das Maul und bleibt auf der Stelle stehen. Seine Gesichtsfarbe wechselt von schnapsrot zu kreidebleich.

„Woher wissen Sie –?“, stottert der alte.

„Das ist mein Onkel“, sagt Müller ruhig und schaut dem Alten weiter in die blassgrauen Augen. Der Alte kommt ihm jetzt um die Hälfte kleiner vor. Müller lässt den Alten stehen, verstaut das Werkzeug im Wagen und fährt zur Firma.

„Na, Hinrich, keine Beschwerden?“, sagt Müller, als er die Bürotür von innen schließt. Hinrich ist gerade am Akten sortieren:

„Bis jetzt noch nicht, und: Moin erstmal.“

„Moin, Hinrich“, sagt Müller.

Während die Beiden über den Haarriss in der Überwurfmutter nachdenken, klingelt das Telefon. Hinrich unterbricht mit einer abwehrenden Handbewegung ihr Fachgespräch und nimmt ab.

„Firma Brüggemeier“, meldet sich Hinrich. „Ah, Herr Professor Fierer.“

Müller spitzt die Ohren.

„Wird gemacht.“ Hinrich blättert, den Hörer am Ohr, in seinem Terminkalender rum und sagt: „Donnerstag um vierzehn Uhr … Ja, kein Problem, Herr Professor. Ja, Ihnen auch einen schönen Tag.“ Hinrich legt das Telefon an die Seite, schaut verdutzt in Müllers Richtung und fragt: „Was hast du denn mit dem gemacht? Da läuft ja schon der Schmant aus der Muschel, so lobt die alte Kalkleiste dich.“

„Tja“, sagt Müller trocken, „du hast es hier mit einem psychoanalytisch geschulten Spitzenmonteur zu tun. Ich hab dem Alten nur sein vergrätztes Spundloch etwas gekrault … das war alles.“

Hinrich verzieht das Gesicht, schaut Müller angewiderten an und sagt

Bah, Müller, du bist und bleibst ’ne alte Sau.“

„So bin ich eben, mein Chef … Immer nett, freundlich und zuvorkommend. In jeder Lage. Auch wenn’s mal hintenrum klemmt“, lacht Müller, geht zur Kaffeekanne, pumpt sich eine Tasse voll und setzt sich an den kleinen Tisch neben der Bürotür. Müller trinkt einen Schluck, stellt die Tasse auf die Tischplatte und fragt: „Was will Fierer denn jetzt?“

„Er möchte, dass du am Donnerstag um zwei bei ihm aufläufst und seine komplette Haustechnik unter die Lupe nimmst und die Rechnung von gestern, die heute Morgen bei ihm im Postkasten lag, würde er heute noch begleichen.“

„Siehste Hinrich, geht doch. Alles nur eine Frage der richtigen Diplomatie“, sagt Müller und steckt sich eine Zigarette an.

„Rainer, du Arsch, tu nicht so geheimnisvoll, was war denn jetzt genau?“

„Ich habe wirklich keine Ahnung, Hinrich“, sagt Müller. Das Onkel Hermanns Kriegsvergangenheit in irgendeiner Weise mit der des Professors in Verbindung steht, will Müller Hinrich nicht auf die Nase binden.

An diesem Tag bedient Müller noch drei weitere Kunden, besorgt sich kaltes Bier an einer Tankstelle und fährt nach Hause. Als er seine Wohnungstür öffnet, hört er im Bad die Dusche plätschern.

„Lena ist noch da“, denkt Müller und freut sich. Auf der Fahrt zu seiner Wohnung hatte er gehofft, sie noch anzutreffen. Er reißt eine Flasche Bier aus dem Karton und verstaut den Rest im Kühlschrank. Er setzt sich im Wohnzimmer aufs Sofa, leert die Flasche bis zur Hälfte und lauscht in Richtung Badezimmer. Müller ist aufgeregt und sein Herz schlägt schneller, während Lena nur mit einem Handtuch um den Kopf aus dem Badezimmer kommt. Als sie Müller entdeckt rennt sie los, schmeißt sich in seine Arme und drückt ihm einen dicken Kuss auf die Lippen.

„Danke, dass du mich gestern gerettet hast“, sagt sie lächelnd, nimmt Müller die Flasche Bier aus der Hand, setzt an und nach drei kräftigen Zügen kann Müller ihre Lippen durch den Flaschenboden sehen. „Hast du noch welches?“, sagt sie und lässt die leere Flasche vor Müllers Nase zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her pendeln.

„Im Kühlschrank“, sagt Müller. Lena löst sich aus seiner Umarmung und wackelt demonstrativ mit ihrem nackten Hintern, während sie sich auf den Weg zum Kühlschrank macht. Müllers Schwanz nimmt ihm die Entscheidung ab, ob er Lenas provozierende Art geil finden soll oder nicht und klopft im gleichen Takt wie sein Herz gegen den Reißverschluss seiner Jeans. Mit zwei offenen Flaschen wackelt Lena wieder ins Wohnzimmer, gibt Müller eine ab und lässt sich neben ihm aufs Sofa plumpsen.

„Hab’ bis eben geschlafen“, sagt sie, greift sich Müllers Tabak, dreht zwei Zigaretten, zündet sie an und steckt eine davon zwischen seine Lippen. Müller inhaliert, bläst den Rauch in den Raum und krallt sich ein Stück von Lenas Oberschenkel.

„Wie wär’s mit Vögeln?“, sagt Müller.

„Geht nicht“, sagt Lena, greift sich zwischen die Beine und zaubert ein türkisfarbenes Bändchen aus ihrer Muschi. Sie hält das Bändchen zwischen Daumen und Zeigefinger und schaut Müller dabei ernst in die Augen.

„Verstehe“, sagt Müller und empfindet Lenas lockere Art, mit den natürlichsten Dingen dieser Welt umzugehen, als äußerst angenehm.

„Wie haste denn das mit deinem Kinn gemacht?“

„Keine Ahnung, Filmriss“, sagt Lena und befühlt die kleine Schürfwunde.

„Ich müsste mal pinkeln“, sagt Müller.

„Dann geh doch“, sagt Lena.

„Geht nicht“, sagt Müller und zeigt mit einem Kopfnicken auf die Beule in seiner Hose. Lena lächelt, piekt spielerisch mit dem rechten Zeigefinger in die Beule und sagt:

„Wie du mir, so ich dir.“ Dann öffnet sie die Hose, spuckt in die Hände und macht sich an die Arbeit. Nach knapp zwei Minuten ist der Job erledigt. Mit dem Handtuch, das eben noch wie ein Turban um Lenas Kopf gewickelt war, wischt Müller sich die Sauce von seinem Bauch. Um den kleinen Spritzer auf seinem linken Oberschenkel kümmert er sich nicht.

„Da…, am Hals ist auch noch was … Mann, du hattest aber ganz schön Power auf der Leitung“, lacht Lena, nimmt Müller das Handtuch weg und drückt es gegen seinen Kehlkopf. Zuletzt nimmt sie sich ihre Hand vor und schmeißt das verkleisterte Handtuch auf den dreckigen Fußboden.

„Besser jetzt?“

„Viel besser“, sagt Müller entspannt.

„Dann kannste ja jetzt pinkeln gehen“, sagt Lena und legt dabei ihr freches Grübchengrinsen.auf.

„Gleich“, sagt Müller, „muss mich erst noch abkühlen.“ Er nimmt die Flasche Bier und saugt den Rest durstig in sich rein.

Als Müller auf der Kloschüssel sitzt, klingelt das Telefon. Er hört wie Lena den Hörer von der Gabel nimmt und mit jemandem spricht. Müller schüttelt ab, zieht seine Hose nach oben und wäscht sich die Hände.

„Da war grad ein Hannes Fick am Telefon. Er sagt, er würde Mittwoch um einundzwanzig Uhr im Grünen Jäger auf dich warten.“

„Der heißt nicht Fick, Lena … Sein Name ist Blik“, sagt Müller und lacht laut los.

„Okay, dann eben Blik“, sagt Lena, „aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich Hunger habe.“

„Wie wär’s mit ’ner Mantaplatte?“, sagt Müller und erntet wieder dieses Lächeln mit Grübchen von ihr.

„Gute Idee. Was Fettiges ist genau das Richtige nach so einem Tag wie gestern.“ Lena verschwindet im Badezimmer und Müller schmeißt sich in seinen Freizeitdress. Cowboystiefel, Jeans, T-Shirt mit Jimi-Hendrix-Aufdruck und eine leichte, dunkle Sommerjacke. Er findet sein Portmonee und steckt den Tabakbeutel in die Innentasche seiner Jacke.

„Scheiße!“, rufend kommt Lena aus der Badezimmertür. „Ich krieg die Kotze nicht aus meinem T-Shirt!“ Aus der Jeans hatte sie den Fleck erfolgreich entfernt. Aber an dem Ausschnitt ihres T-Shirts prangern noch die Sünden der letzten Nacht.

„Kannst von mir eins anziehen“, beruhigt sie Müller und geht zum Regal. Das Regal steht am Fußende des Betts und fungiert als kleiner Raumteiler. Er greift unter den Stapel seiner acht besten T-Shirts und breitet sie vor Lena auf dem Bett aus.

„Welches darf’ s denn sein?“, sagt Müller mit einer ausladenden Handbewegung über die Kollektion alter Putzlappen.

„Das mit dem Peace-Zeichen“, sagt Lena, schnappt sich den Lappen und streift ihn sich über den Kopf. Sie greift sich ihre Lederjacke, hängt sie über die Schulter und sagt: „Von mir aus kann’s losgehen.“

„Hast Glück, zu der Zeiten als das Shirts gerade in war, habe ich noch sieben Kilo weniger auf die Waage gebracht. Im anderen Fall hättest du jetzt ein Kleid mit Peace-Zeichen an.“

„Ich kann mir dich gar nicht jung und schlank vorstellen“, sagt Lena und schmunzelt.

„Ich auch nicht.“ Müller nimmt Lenas Hand und sie gehen die fünfhundert Meter bis zum Schnellimbiss zu Fuß.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

21. Kapitel: Otto’s Fettschmelze

 

Ottos Grillspezialitäten“, steht in altdeutschen großen Lettern auf einer Leuchtreklame über dem Eingang.

„Ottos Logo hat auch schon bessere Tage gesehen“, denkt Müller. Die Sonne hat das Schild mit den Jahren stumpf werden lassen und im Inneren des Kastens bettelt eine Neonröhre flimmernd um Zuwendung.

Ottos Grill besteht aus einem dunkelbraun gestrichenen Tresen mit einer gewölbten Präsentationsscheibe aus vergilbtem Plexiglas. Dazu drei fleckige weiße Plastikstehtische mit jeweils drei verchromten Metallhockern dran. Auf den Sitzflächen liegen zerschlissene rosa Sitzkissen. Müller kann sich noch an die Zeit erinnern, da strahlten die Kissen in einem dunklen Kirschrot. Aber was will man den Sitzkissen vorwerfen. Sie mussten in ihrem langen Leben Tausende von furzenden Ärschen ertragen. Wenn es nach Müller ginge, würde jedem Einzelnen ein Orden für Ausdauer und Selbstlosigkeit angeheftet. Die Wände sind vom Fußboden bis zur Hälfte in Richtung Decke mit ockerbraunen Fliesen beklebt. Die alten Elektrogeräte hinter dem Tresen lassen unter einer Schicht ranzigem Fetts einen Hauch von Edelstahl erkennen und ertragen mit einem eleganten Gleichmut ihr glanzloses Dasein. An der schmierigen Decke hängen mehrere Fliegenfallen mit spiralförmigen nach unten wabbelnden Klebestreifen. Bevölkert von Hunderten verhungerter Fliegen lassen sie keinen Spielraum mehr für neue Todeskandidaten.

Die PVC-Auslegeware auf dem Fußboden strahlt in einem matten Grau und lässt vom Eingang bis zum Tresen die Spuren gedankenloser hungriger Feinschmecker erkennen.

„Wassen das für ’ne Kaschemme, Rainer?!“, sagt Lena und schaut Müller dabei vorwurfsvoll in die Augen.

„Das ist Ottos Fettschmelze“, sagt Müller. „Du wolltest doch was Fettiges … Hier gibt’s die beste Mantaplatte diesseits der Alpen.“

„Am Arsch mit deinen scheiß Alpen! Das ist ja richtig ekelig! Hier stinkt’s wie in der Tierverwertung von Icker! Keine zehn Pferde bringen mich dazu, hier Pommes zu essen!“

 

Müller kann Lenas Aufregung gut verstehen. Erst vor drei Monaten musste er sich einer Therapie gegen Fadenwürmer unterziehen. Die Biester hatten sich durch die Nahrung in seinen Dickdarm geschlichen und kräftig für Nachwuchs gesorgt. Die Würmer machten sich durch einen heftigen Juckreiz im Arschloch bemerkbar. Am Anfang ignorierte Müller die Symptome und glaubte, dass sich der Juckreiz von selber verabschieden würde. Aber als er deswegen nachts nicht zur Ruhe kam, vertraute er sich seinem Hausarzt an. Nach dem Laborbericht der Stuhlprobe, handelte es sich eindeutig um einen massiven Fadenwurmbefall. Der Hausarzt erklärte Müller, dass sich der Wurm von Exkrementen ernährt und seine Eier, meistens wenn der Wirt schläft, außerhalb, am Rand des Anus ablegt. Müller bekam die richtige Medizin und war nach zwei Wochen entwurmt.

 

Lenas lautstarke Beschwerden bleiben nicht ungehört. In dem kleinen Raum hinter dem Tresen, wo sich einige von Ottos Vorräten und die Spüle befindet, hat Otto jedes Wort von Lena verstanden.

„Wat haste dir ‘n da für ‘ne olle Zicke ufjegabel Müllerchen?“, sagt Otto hinter dem Tresen auftauchend.

 

Otto hatte im zweiten Lehrjahr seine Kochlehre geschmissen und arbeitete nach der Kündigung zwanzig Jahre als Eisenbieger auf diversen Großbaustellen in ganz Europa. Man munkelt, dass Otto vor der Übernahme des Imbisslokals ein Bordell in Berlin betrieben hat und vor seinen Kollegen nach Osnabrück flüchten musste. Aber das war eben nur eine Vermutung. Ihn zu fragen traute sich bis jetzt keiner. Oder es war egal. Von seiner Statur her kann man Otto mit Bud Spencer vergleichen. Nur etwas kleiner aber dafür mit einem größeren Schmierbauch. Weil er wegen seines stattlichen Bierbauchs seiner alten, klein karierten schmuddeligen Kochhose nicht mehr trauen kann, trägt er blaue Herkules-Hosenträger mit Edelweißblüten drauf. Zwischen Bauchfalte und Hosenbund klemmt eine zerschlissene Schürze, die einst in einem strahlenden Weiß zufriedene Kundschaft anlockte. Auf seiner fettigen, schwarzen Lockenpracht steckt ein vom Waschen eingelaufenes Schiffchen, welchem auch einmal die Farbe Weiß zugedacht war. Das ärmellose Feinripphemd der Marke einer längst insolventen Weberei, das Ottos gewaltigen Torso umspannt, könnte man nur beschreiben, wenn es dafür die richtigen Worte in der deutschen Sprache gäbe. Alles in Allem ist Otto eine runde Sache und prädestiniert genug, einen ordentlichen deutschen Schnellimbiss zu führen. Oder man könnte sagen, Otto und sein Imbiss sind mit den Jahren zu einer perfekten Einheit geworden. Eine Verschmelzung von starrer und lebender Materie. Wobei die lebende den Löwenanteil ausmacht.

 

„Du nennst mich eine Zicke, du ranzige, schmierige Küchenschabe? Wenn du das nicht sofort zurück nimmst, werde ich dir das verdammte Gesundheitsamt auf den Hals hetzen!“, schreit Lena Otto an.

„Wat issen dit für ‘ne Schnalle? Ick jlobs ja nich. Mensch Müllerchen wat haste mir denn da wieda anjeschleppt?“

Das Otto sie links liegen lässt und nur Müller anspricht macht sie noch wütender und als Müller auf Ottos Frage antworten will, erntet er von ihr den „Blick“ … Den Blick, den ausschließlich Frauen drauf haben. Bei dem jeder halbwegs intelligente Mann auf der Stelle die Klappe halten sollte, wenn ihm sein Sexualleben lieb ist, oder das laienhaft in zweitausend Stunden unter Blut und Schweiß selbst zusammengebastelte Holzmodell der Maiflower. Müller hält die Klappe und setzt sich.

„Dit Maul verbietet se dir och schon … Mensch Müllerchen wat machste bloß für Sachen?“ Otto, schnalzt mit der Zunge und macht kopfschüttelnd einen auf empört. Müller hat Ottos Spielchen längst durchschaut und ist gespannt, ob Lena sich weiter aufziehen lässt.

Lena sucht sich ihren Streitpunkt genau zwischen Tresen und Ausgang. Sie steht jetzt die Beine schulterbreit mit verschränkten Armen vor Otto.

„Ach kiek mal an“, sagt Otto lachend, „jetz macht se een uff steht-mit-eener-Faust, wie die Olle von Kevin Costner in, „Der mit dem Wolf tanzt“.“

Müller beobachtet wie Lena Otto ganz ruhig in die Augen schaut und zischt:

„Okay …, du fette Schabe. Wenn du mich schon mit einer blöden Tussi aus ’nem dämlichen Amistreifen vergleichst, dann kann ich dir nur sagen, dass es in diesem Streifen auch eine Rolle für dich gibt, mit der du bestens bedient wärst. Ich sage nur, schneller bisschen, bisschen schneller Jim und Jake, und da du diesen Film ja anscheinend so gut kennst weißt du sicher auch, welches Schicksal dieser Stinksack am Ende hatte.“

Ottos dämliche Fresse und Lenas brillante Konterattacke können Müller jetzt nicht mehr auf dem Sitz halten. Er springt vom Hocker und hält sich vor Lachen den Bauch. Otto steht mit großen Augen hinter seinem Schandfleck und ist sprachlos. Lenas Vergleich mit dem ekeligen Fuhrunternehmer aus dem wilden Westen gibt ihm offensichtlich zu denken. Zu komisch, die ganze Situation. Müller entdeckt eine ganz neue Seite an Otto. Dann schlägt Otto mit der Faust auf den Tresen und brüllt:

„Die is richtig, Müllerchen … Da hast ‘n juten Fang jemacht!“

Er bückt sich, kramt eine Flasche seines besten Whiskeys aus irgendeiner der vielen Schubladen, schnappt sich drei Gläser und stellt alles auf die Platte.

„Daruff ‘n juten Schluck vom Besten!“, grölt Otto und kippt die Gläser voll.

„Wie jetzt?“, sagt Lena. Unsicher schaut sie erst Müller an und dann wieder Otto.

„Tja“, lacht Müller, „Otto hat dich wohl in sein fettiges Herz geschlossen.“

Otto steht abwartend hinter dem Tresen und stützt sich mit beiden Händen auf der Platte ab. Zwischen seinen behaarten kräftigen Unterarmen stehen die drei Drinks.

„Wat is nu?“, sagt Otto und hält Lena ein volles Glas entgegen. „Frieden?“

Müller merkt, dass Lena der Sache nicht ganz traut und nimmt ihr die Entscheidung ab. Er geht zum Tresen, greift sich ein Glas, und nickt Lena aufmunternd zu.

„Mann…, seid ihr krank“, sagt Lena ernst, nimmt Otto das Glas aus der Hand und kippt das Zeug in einem Zug runter. Otto und Müller schließen sich an. Nach drei weiteren Runden stellt Otto die VIP-Flasche wieder in die Schublade.

„Ich würde trotzdem bei dir keine Fritten essen“, sagt Lena und stellt das leere Glas zurück auf den Tresen.

„Dit hat och keener jesagt Mädchen, dass du dit sollst“, brummt Otto etwas gekränkt. Er wendet sich an Müller und fragt:

„Und … wat is mit dir Müllerchen, kann ick wenigstens dir wat leckeres kredenzen?“

„Nee, Otto, nix zu essen heute. Aber drei kühle Biere wären nicht schlecht.“

Während die drei sich an die Bierflaschen klammern erzählt Otto eine Geschichte aus seiner Vergangenheit.

 

Er sagt, es wäre nicht immer so gewesen in seinem Leben. Er hatte ein gut gehendes Geschäft in einem Berliner Rotlichtbezirk, eine hübsche Frau und zwei Kinder. Das Geschäft warf genug ab, um sich ein luxuriöses Leben in einem modernen Bungalow am Wannsee leisten zu können. Die beiden Kinder, zwei Mädchen, gingen auf eine Privatschule. Sie beschäftigten ein Kindermädchen und um den Haushalt kümmerte sich eine adrette Spanierin. In der Doppelgarage vertrugen sich ein Ferrari Testarossa und ein Bentley. Drei Mal im Jahr ging es in den Urlaub. Einmal Skiurlaub und zweimal Sommerfrische. Feste Ziele gab es nicht. Seine beiden Mädchen glaubten, dass er als Ingenieur in einem großen Berliner Elektronikunternehmen arbeitete. Das ihr Vater ein Zuhälter war bekamen sie erst sehr viel später mit. Als sich Ende der Achtziger der Osten öffnete, kamen mit den so genannten Russlanddeutschen auch andere Kaliber nach Berlin. Kriegserprobte Afghanistankämpfer; und aus Rumänien gesellten sich die Jungs von der Securitate dazu. Es dauerte nicht lange bis die skrupellosen Slawisten die deutschen Softluden aus ihren Läden vertrieben hatten. Jedenfalls die, die nicht mit sich handeln ließen. Aus Schlägereien wurden Schießereien und eine Bitte um Aufschub in Geldangelegenheiten wurde augenblicklich mit abgetrennten Gliedmaßen beantwortet. Eine zweite Bitte um Aufschub wäre tödlich gewesen. Nachdem auch Ottos Laden in den Fokus dieser Menschenhändler und Waffenschieberbanden geraten war, musste er schnell handeln. Aus Sorge um seine Familie ließ er sich auf ein Geschäft mit der russischen Mafia ein. Ein Mann namens Sergei wickelte den Deal für einen namenlosen Auftraggeber aus Moskau ab. Otto verkaufte sein Geschäft für die Hälfte des Wertes und der Bungalow ging für einen guten Preis an einen Kollegen aus Frankfurt. Durch einen Interessenten für seine beiden Luxuskarossen sei er dann schließlich in Osnabrück gelandet. Eine Zeit lang lebte er von dem übrig gebliebenem Geld mit seiner Familie in einer kleinen Eigentumswohnung im Stadtteil Haste. Trotz seiner Warnung, mit dem Geld vorsichtig zu sein, gönnte sich seine Frau weiterhin den teuersten Friseur und die ausgefallensten Designerklamotten. Als das Geld zur Neige ging und ihre Kreditkarten eingezogen wurden nahm sie die Kinder und verschwand wieder nach Berlin. Mit dem Erlös der Eigentumswohnung bezahlte er dann ihre Altschulden und von dem Rest kaufte er sich das Imbisslokal. Mittlerweile sei er geschieden und seine Ex wohne wieder in demselben Bungalow am Wannsee wie früher. Nur, dass jetzt sein ehemaliger Kollege aus Frankfurt die Zeche für sie zahlt. Die Mädchen wussten jetzt über ihn Bescheid und wollten nichts mehr von ihm wissen. Seine Ex hatte sie, was ihn betraf, vorzüglich ins Bild gesetzt.

 

„Das ist eine traurige Geschichte“, sagt Lena. Sie schaut Otto mitleidig an. „Aber noch lange kein Grund, sich selbst und alles um sich herum verkommen zu lassen.“

„Ick hab mir dran jewöhnt. Aber wenn de Lust hast kannste mir ja beim uffreum helfen.

„Nee“, sagt Lena, „mir hängt der Magen auf Halbmast. Ich brauch jetzt was zwischen die Zähne. Aber nicht hier. Sei mir nicht böse, Otto, aber falls du deinen Laden wieder auf Vordermann bringen solltest, werde ich dir gerne eine Currywurst abkaufen.“

Müller bedankt sich für den Whiskey, bezahlt das Bier und macht sich mit Lena auf den Weg zum Chinesen.

Sie gehen durch den kleinen Park, lassen Charlys Kiosk rechts liegen und biegen nach links in eine Seitenstraße ab.

„Sag mal“, sagt Lena, „glaubst du Otto die Geschichte?“

Müller greift sich im Gehen Lenas rechte Arschbacke und sagt: „Kann sein, kann nicht sein, wer weiß.“

„Wo issen der Chinese?“, sagt Lena.

„Dahinten“, sagt Müller.

„Du kannst manchmal so richtig einsilbig sein, weißt du das?“ Sie schiebt Müllers Hand von ihrer Arschbacke.

„Geht schon los“, denkt Müller, „Immer dasselbe mit den Weibern. Nicht lange und es kommt die Knebelschraube die einem den letzte Rest Schneid aus den Knochen pressen soll.“

Lena geht fünf Schritte vor Müller und seine Augen verfolgen jeden Schlenker ihres knackigen Pos. Ihre hautenge Bluejeans umspannt perfekt, was Müller eben noch anfassen durfte. „Damit kriegen sie uns immer“, denkt Müller, „her mit der Schraube.“

 

„Ich nehme die 18b.“

„Ich muss erst noch überlegen“, sagt Lena.

Ein chinesischer Kellner mit Mondgesicht und Hängefleppe steht neben dem Tisch und schlägt ungeduldig mit dem Kugelschreiber gegen einen kleinen Schreibblock, den er in der Hand hält. Müllers 18b ist notiert und jetzt wartet er auf Lenas Bestellung.

„Ich nehme die Ente süß-sauer“, sagt Lena und knallt die Speisekarte zu. Der Kellner nimmt ihr die Karte aus der Hand und fragt:

„Wolle was tlinken?“

„Für mich ’n Bier“, sagt Müller.

„Für mich auch“, sagt Lena. Der Chinese schreibt die Bestellung auf seinen Block und trollt sich.

„Was für ein blödes Arschloch. Hast du gesehen, wie genervt der war? Wenn er kein Bock hat, Leute zu bedienen, sollte er lieber Toiletten schrubben gehen“, sagt Lena.

„Ganz meine Meinung, der Service in Deutschland ist auf dem absteigenden Ast“, sagt Müller und erzählt Lena von einem Erlebnis in einem Osnabrücker Kinorestaurant.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

22. Kapitel: Servicewüste Deutschland

 

Vor knapp zwei Wochen hatte Müller seine Schwester Christel ins Kino eingeladen. Sie zeigten einen Dokumentarfilm über das Leben auf unserem Planeten. Müller fand den Film so lala. Christel hingegen kriegte sich gar nicht mehr ein. Sie sabbelte in einer Tour über die faszinierenden Naturaufnahmen verschiedenster Meeressäuger und Landlebewesen.

Um den Kinoabend langsam ausklingen zu lassen, lud Christel Müller auf ein Glas Rotwein ins Franki‘s ein. Das Franki‘s befindet sich direkt im Kino im ersten Obergeschoss. Die Sonne hatte seit eineinhalb Wochen auf die Stadt runtergebrannt und das Restaurant aufgeheizt, weshalb die beiden Geschwister sich einen Platz auf der Dachterrasse suchten. Christel bestellte sich eine Weinschorle. Und die Weinkarte in Müllers Hand versprach einen würzigen und mit einem fruchtigen Bukett untermalten Lemberger, dessen weicher Abgang die Zunge im dreiviertel Takt verwöhnt. Nach soviel Lobhudelei fiel es Müller nicht schwer, sich für diese rote Traube aus deutschem Weinanbau zu interessieren. Die Getränke kamen recht fix und die junge Kellnerin machte einen netten Eindruck. Ungewöhnlich für einen Laden, der jeden Tag von mittags bis abends gerammelt voll ist. Als Müller sich das Glas neugierig unter die Nase hielt, konnte von einem fruchtigen Bukett nicht die Rede sein. Der Wein roch schal und abgestanden. Um die Würze zu testen, ließ er den edlen Rebensaft in seine Mundhöhle laufen und sich in alle Richtungen ausbreiten. Es dauerte keine Sekunde, bis Müllers Gesichtsausdruck den wahren Wert des Gesöffs erkennen ließ. Der Wein war zu warm, sauer und der Abgang hatte mehr was von einem fusseligen Schimmelpilz in einem Abflussrohr als irgendwas musikalisches von Johann oder Richard Strauss. Müller spuckte die Brühe in den Topf einer neben dem Tisch stehenden Plastikpalme und bat seine Schwester, das Zeug zu probieren. Erstaunt über den Zitronenblick ihres Bruders nahm sie das Glas, nippte vorsichtig daran, schüttelte sich und gab angeekelt das Glas zurück. Mittlerweile war ein Pärchen am Nachbartisch auf die Beiden aufmerksam geworden. Sie sagten, dass sie auch Wein bestellt hätten, der am Ende ungenießbar war. Müller rief die Kellnerin, sagte ihr, dass der Wein wahrscheinlich zu warm gelegen hätte und deshalb gekippt sei und ließ den Fusel zurück gehen. Nach fünf Minuten kam die Kellnerin mit dem gleichen Glas zurück und sagte verlegen, dass sie nichts dafür könne, den Wein auch zu warm fände, aber ihre Chefin den Wein probiert hätte und ihn für tadellos hielt. Müller, keinen Bock auf Zoff, ließ sich die Rechnung bringen und bezahlte die Jauche. Christel, die nicht verstehen konnte, dass ihr Bruder den Mist auch noch bezahlte, stiefelte stinksauer ins Restaurant und verlangte die Chefin zu sprechen. Die nette Angestellte deutete stumm mit dem Zeigefinger auf ihre Brötchengeberin und bediente den nächsten Tisch. Christel fand die Chefin mit einem Mitarbeiter kräftig flirtend hinter der Theke gackern und gab der Tussi lautstark zu verstehen, was sie von der Art und Weise hielt, wie sie ihre Gäste behandelte. Arrogant und durch Christel in ihrem Flirt gestört, sagte sie noch einmal in einem herablassenden Tonfall, dass sie den Wein probiert hätte und nichts Schlechtes daran finden könne. Die Meinung des Pärchens, das ihren Wein auch für ungenießbar hielt, oder das Zugeständnis ihrer jungen Kellnerin, die das Gesöff ebenfalls als zu warm einstufte, interessierte die Besitzerin nicht. Es ging eine ganze Weile hin und her und ein Wort gab das andere. Und da Müller in dem ganzen Geplänkel mit der abgewichsten Pissnelke keinen anderen Sinn sah außer die Möglichkeit, ihr mit einem Baseballschläger die widerliche Fresse zu polieren, schlug er Christel vor, den Scheißladen einfach zu verlassen.

„Du siehst doch, dass sie es nicht nötig hat. In dem Scheißladen gibt es keinen freien Stuhl mehr!“, sagte Müller damals während sie das Lokal verließen. Und die Pissnelke ließ keinen Zweifel daran, dass Müller recht hatte und rief ihnen frech:

„Hab‘ ich auch nicht!“, hinterher.

 

„Soviel zur Servicewüste Deutschland“, sagt Müller. Er schaufelt den letzten Bissen 18b in sich rein und legt die Gabel an die Seite. Lena schafft ihre Ente süß sauer nur bis zur Hälfte.

„Die Pissnelke hat die nette Kellnerin sicher gefeuert, nachdem ihr sie verpetzt habt“, gibt sie zu bedenken.

„Möglich … Auch wenn‘s so war“, sagt Müller, „haben wir ihr sicher die Entscheidung abgenommen, irgendwann selbst zu kündigen.“

Er ruft den Kellner, bezahlt die Zeche und Lena lässt den Rest ihrer Ente einpacken. Nach zehn Minuten kommt der Kellner zurück an ihren Tisch. In seiner Hand baumelt eine weiße Plastiktüte mit Lenas halber Ente drin. Als Lena dem Kellner die Tüte aus der Hand nehmen will, lässt er sie demonstrativ an ihrer Hand vorbei auf den Tisch fallen, dreht sich um und macht sich in Richtung Küche aus dem Staub. Überrascht über das respektlose Benehmen des Kellners, sagt sie:

„Kannst du mir mal verraten, was wir dem Arsch getan haben?“

„Ich hab ihm kein Trinkgeld gegeben“, sagt Müller lächelnd und bevor Lena ihre Krallen ausfahren kann, lenkt er sie mit einem Kuss auf den Mund ab und schiebt sie durch den Ausgang auf die Straße.

„Ich kenn dich ja noch nicht lange“, sagt Müller, „aber ich glaube, wenn ich dich da nicht schnell genug rausbugsiert hätte, müsste der Chinese seinen Laden jetzt wegen Renovierung zwei Wochen dicht machen.“

„Da kannst du Recht haben“, sagt Lena wütend, „und ich mag es gar nicht, wenn du mich so überrumpelst. Ich entscheide lieber selber, ob ich einem beschissenen Kellner ’ne Gabel in den Arsch ramme oder nicht …, klar!“

„Is angekommen“, sagt Müller und fühlt sich unwohl nach dem Tadel.

„Außerdem werde ich jetzt nach Hause gehen“, sagt sie.

„Na denn“, sagt Müller. Er bietet ihr diesmal nicht an, sie zu fahren. Er möchte jetzt lieber alleine sein. Lena fängt an, ihn zu fordern und das bedeutet Anstrengung. Müller ist es gewohnt, für sich zu sein. Er würde Frauen lieber aus dem Weg gehen, wenn es da nicht diesen vorhäutigen Egomanen in seiner Hose gäbe. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren dreht Lena Müller den Rücken zu und macht sich mit ihrer toten Ente auf den Weg. Müller schaut ihr noch eine Weile nach, bis sich ihre schmale Silhouette am Ende der Straße in der Dunkelheit verliert.

„Nur mal ‘n Bisschen gevögelt, schon geht die ganze Scheiße los“, denkt Müller und schlendert den gleichen Weg zurück, den er zuvor mit Lenas Arschbacke in der Hand gekommen war. In seiner Wohnung genehmigt er sich ein kühles Bier mit Zigarette und ist froh, alleine zu sein. Er stellt den Wecker auf halb sieben und tut das, was die Meisten machen, bevor sie sich ins Bett legen. Mit Lenas süßem Duft in den Kissen, schläft er ein.

 

23. Kapitel: Müller hat Rücken

 

Das Gerappel des Weckers reißt Müller aus einem unruhigen Schlaf. Er dreht sich auf den Rücken und merkt, dass ihn sein altes Rückenleiden wieder am Wickel hat. Aus Erfahrung weiß Müller, dass er jetzt keine falsche Bewegung machen darf. Vorsichtig stemmt er sich aus dem Bett und geht in gebückter Haltung zur Toilette. Jeder falsche Schritt wäre in diesem Augenblick fatal. Er schafft es bis zur Toilettenschüssel und ist glücklich, mit einem relativ geringen Schmerzaufwand die richtige Sitzposition auf der Klobrille gefunden zu haben. Müller war deswegen schon bei verschiedenen Ärzten, aber keiner konnte ihm wirklich sagen, um was es sich bei dieser Krankheit handelt. Er selbst vermutet, dass sein Körper in diesem Fall völlig übersäuert ist. Denn meistens tritt der Schmerz in Verbindung mit Stress auf.

„Scheiß Bullen, scheiß Weiber“, denkt Müller schlecht gelaunt, „alles fucking Sodbrenner und ’ne richtige Plage.“ Das Resultat in der Kloschüssel bestätigt seine Vermutung. Obwohl Müller an diesem Mittwochmorgen auf seine Katzenwäsche verzichtet, dauert die ganze Prozedur eine dreiviertel Stunde. Im Kriechgang, vom Bad ins Wohnzimmer, erreicht Müller sein altes Sofa. Unter Schmerzen stemmt er sich hoch und lässt sich mit einer gekonnten Drehung in die Kissen fallen.

„Ich muss Hinrich anrufen“, denkt er und sucht mit den Augen das Telefon. „Ich muss ihm sagen, dass ich heute nicht arbeiten kann.“ Er entdeckt das Telefon auf dem Schreibtisch neben dem Computer. In seinem jetzigen Zustand ist das Telefon unerreichbar. Der Weg vom Bad zum Sofa hat ihm schon zu viel Kraft gekostet. Er wird sich mindestens zehn Minuten ausruhen müssen, bevor er sich auf die lange Reise zum Telefon machen kann. Es ist fünf nach acht. Das Telefon klingelt. Normalerweise stimmt Müller das Geräusch froh, denn es ist noch das originale, manuelle Klingeln, nicht diese digitale Scheiße, die sie in den heutigen Handys als Old Phone verkaufen. „Das kann nur Hinrich sein“, denkt Müller. Unter Schmerzen lässt er sich vom Sofa rollen und nimmt wieder seine alte Kriechposition ein. Bis er die Beine des Schreibtisches vor sich sieht, hat das Geläut des Telefons längst den Geist aufgegeben. Müller greift mit der rechten Hand die Kante der Tischplatte und zieht sich langsam nach oben. Mit der linken Hand hält er sich am Tischbein fest. In gebückt schräger Haltung versucht Müller die Schnur des Telefons zu packen.

„Langsam, ganz langsam, Müllerchen“, ermahnt er sich selber, aus Angst vor dem Schmerz, der augenblicklich in seine Glieder fahren würde, wenn er auch nur eine falsche Bewegung macht. Wie eine Spinne krabbelt Müllers rechte Hand im Schneckentempo zur Telefonschnur. Sein Zeigefinger erreicht die Schur als erster, gefolgt vom Daumen. Müller klemmt das schwarze Kabel zwischen die beiden Finger und zieht das Telefon langsam zu sich heran. Er nimmt den Hörer aus der Gabel, legt ihn neben das Telefon und wählt Hinrichs Nummer. Mit dem Hörer in der Hand lässt er sich wieder vorsichtig auf den Fußboden sacken. Hinrich ist schon dran, als er es endlich schafft, sich den Hörer ans Ohr zu halten.

„Moin, Hinrich“, sagt Müller, „kann heute leider nicht kommen. Hab Rücken … das alte Leiden.“

„Scheiße, nicht zu ändern“, sagt Hinrich, „dann ruh dich mal aus. Und falls du dich krankschreiben lassen musst, melde dich. Dann muss Wolle den Kombi holen.“

„Alles klar, Hinrich“, sagt Müller, wünscht ihm noch einen schönen Tag und legt den Hörer neben sich auf den Boden. Er überlegt, wie er das Telefon ohne Schmerzen mit zum Sofa bekommt.

„Wenn das eben mit der Tischkante und dem Tischbein geklappt hat, dann wird es auch noch einmal klappen“, denkt Müller und macht sich langsam wieder an den Aufstieg. Als er den Gipfel einigermaßen schmerzfrei erreicht und mit der rechten Hand das Telefon greifen will, belehrt ihn sein Rücken eines Besseren. Ein heftiger Druck in der unteren Rückenpartie lähmt seinen Körper und verhindert alle kontrollierten Bewegungen. Müller kann sein Gleichgewicht nicht mehr halten und fällt, das Telefon in der Hand, schreiend zu Boden. Er ist nicht im Stande etwas dagegen zu unternehmen. „Verfluchte Hurenkacke. Jetzt bloß nicht bewegen“, denkt Müller. Ihm ist klar, dass er auf keinen Fall in Panik geraten darf. Er liegt auf dem Rücken und hat das Telefon vor sich auf dem Bauch liegen. Ohne seinen Kopf zu bewegen versucht er die Wählscheibe ins Blickfeld zu bekommen. Langsam steckt Müller den Zeigefinger in das Loch Nummer Fünf und dreht die Scheibe bis zum Anschlag. Er hat noch vier Zahlen vor sich, bevor er die komplette Rufnummer seiner Schwester im Kasten hat. Es dauert eine Ewigkeit, aber Müller schafft das Unmögliche. Er hat den Hörer neben sein rechtes Ohr auf den Fußboden gelegt und hört es tuten.

„Hallo, hier ist Christel“, meldet sich der Anrufbeantworter, „ich bin leider nicht zuhause. Aber wer mich lieb hat, spricht auch mit meiner Maschine!“

Müller wartet den Piepton ab und sagt:

„Hi, Schwesterlein … Ich liege auf dem Fußboden und kann mich nicht bewegen. Du kannst dir sicher denken warum. Mein altes Rückenproblem macht mir wieder die Hölle heiß. Bloß, dass ich glaube, dass mich dieses Mal nicht nur der Scheiß Antichrist, sondern auch der Wichser mit der Scheiß Sense bei den Eiern hat. Bitte ko…“

Christels AB unterbricht Müllers wehleidige Schilderung seiner misslichen Lage mit einem schrillen Pfeifton.

„Blödes Scheißding!“, schreit Müller und will reflexartig zum Telefon greifen um es gegen die Wand zu schmeißen. Doch auf halber Strecke stoppt ihn ein heftiger Stich im Schulterbereich und verhindert jede weitere bösartige Absicht in dieser Angelegenheit.

„Swing low, sweet Chariot!“ In seiner Verzweiflung fängt Müller an zu singen. Es ist ein Gospel in E-Dur, den er als Kind in der Schule lernen musste.

Come in for to carry me home“, etwas lauter, „swing low, sweet Chariot, come in for to carry me home!

Müller stellt sich den Chor mit blauen glänzenden Umhängen in einem alten Kirchenschiff vor.

I louked over Jordan and what did I see, come in for to carry me home. The bangs of Angeles come in after me. Come in for to carry me home!

„Jetzt hab’ ich den Salat, jetzt fang ich auch noch an, Kirchenlieder zu trällern. Warum kommt Einem in solchen Situationen immer Gott in die Quere?“, denkt er und versucht, sich langsam auf den Bauch zu drehen. Und während das Telefon von seinem Bauch runter auf den Fußboden scheppert klopft es an der Eingangstür.

„Herr Müller, ist alles in Ordnung bei Ihnen!?“ Es ist Hausmeister Kowalski.

„Danke der Nachfrage, Herr Kowalski!“, ruft Müller gequält, „außer, dass mir Gevatter Tod mit seinem Rasenmäher über den Rücken fährt und der Gehörnte daneben steht und grinst ist alles im Lot!“

„Soll ich Ihrem Hausarzt Bescheid geben, Herr Müller?!“

„Nein danke, ist nett von ihnen, aber ich schaff ’s schon alleine!“

„Na gut, aber wenn ich helfen kann, melden Sie sich!“

„Alles klar, Herr Kowalski, und danke noch mal!“, ruft Müller in ersticktem Tonfall aus der Bauchlage.

Vorsichtig und mit den letzten Energiereserven wuchtet Müller sich in die Krabbelposition. Der Schweiß läuft ihm von der Stirn in die Augen. Die visuelle Wahrnehmung getrübt, versucht sich Müller mit einer gut bedacht ruckartigen Kopfbewegung das Zeug von der Stirn zu schütteln. Ohne Erfolg.

„Jetzt noch irgendwie das Scheiß Telefon mitkriegen“, denkt Müller. Er verharrt eine Zeit lang in der Krabbelposition und bewegt sich dann langsam zum Telefon. Müller greift die Schnur und achtet darauf, mit beiden Händen auf dem Boden zu bleiben. Den Fernmeldeapparat hinter sich herschleifend, krabbelt Müller ganz sachte zum Sofa.

„Was hier alles für ein Mist auf dem Fußboden liegt, das fällt einem in der Senkrechten gar nicht so auf“, wundert sich Müller und bläst mit gespitzter Lippe eine Wollmaus unter das Sofa. Er nimmt sich vor, nach der Schmerzattacke eine Grundreinigung zu machen.

Gott und die Welt verfluchend zieht er sich, das Telefon krampfhaft festhaltend, auf das rettende Sofa. Der Hörer liegt noch auf dem Boden und hat sich mit der Schnur um das rechte Sofabein gewickelt.

„Verfluchte Scheiße!“, schreit Müller, nimmt die Schnur fest in die Hand und versucht mit einem Ruck den Hörer vom Sofabein zu befreien. Die Schnur, die dreißig Jahre lang das triviale, menschliche Gesülze durch seine Kupferdrähte ertragen musste, ist porös und reißt aus dem Hörer. Hilflos hält Müller sich das zerfledderte Kabelende vors Gesicht.

„Jetzt biste am Arsch, Müller“, sagt er zu sich selber. Er überlegt, ob er nach dem schwulen Hausmeister rufen soll, verwirft diesen Gedanken aber wieder schnell.

„Es gibt noch eine Chance“, denkt Müller, „dass Christel ihren Anrufbeantworter abhört, versucht mich anzurufen und merkt, dass die Leitung tot ist. Das wird sie stutzig machen und dann wird sie sicher gleich vor der Tür stehen.“

Ein kleiner Hoffnungsschimmer. Aber eine andere Lösung hat Müller im Augenblick nicht parat. Mit diesem Gedanken im Kopf schläft er ein.

 

Das Geschepper des Telefons, das mit einem lauten Krach vom Sofa auf den Fußboden fällt, reißt Müller jäh aus dem Schlaf. Es ist gerade Mittag und durch die beiden Fenster flimmert das weiße Sonnenlicht auf Müllers gepeinigten Körper. Er hofft, dass der Schlaf eine heilsame Wirkung auf seinen kranken Rücken hatte und versucht, sich vorsichtig in eine Sitzposition zu bringen. Die Hitze im Zimmer ist kaum auszuhalten und die Nadel des imaginären Thermometers dürfte die Dreißig- Grad-Marke längst gesprengt haben. Müller hat das Gefühl, bei lebendigem Leib geröstet zu werden während der kalte Schweiß ihm die letzten Reste von Hoffnung aus den Poren spült. Dieser Umstand macht es ihm nicht gerade leichter, sein nächstes Vorhaben in die Tat umzusetzen. Müller braucht dringend Flüssigkeit. Sein Mund ist staubtrocken und seine Zunge hat sich einen Platz unter dem Gaumen gesucht und sich da festgeklebt. Seine Blase steht kurz vor einem Deichbruch und sein Magen schreit nach Nahrung.

Wenn nicht jetzt, wann dann“, zitiert er einen Titel von einer bekannten Kölner Karnevalsband und lässt sich langsam vom Sofa auf den Fußboden gleiten. Er hat das Gefühl, dass der Schmerz etwas nachgelassen hat und bewegt sich auf allen Vieren in Richtung Badezimmer. Müller kommt sich vor wie ein lahmer alter Wasserbüffel, der nur noch als Löwenfutter taugt. Unterwegs erinnert er sich an eine alte Geschichte, die er kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag erlebt hat. Er ist überrascht, warum ihm ausgerechnet jetzt der alte Krempel durch den Kopf geht.

 

Er war gerade dabei, seinen Führerschein zu machen und stand kurz vor der Prüfung. Der Vollmond stand hell am Nachthimmel als Müller die Geburtstagsfeier seines Kumpels Ludwig verließ. Mit gefühlten drei Promille Alkohol im Blut machte er sich auf den Weg nach Hause und da ihm die reguläre Strecke in seinem Suffkopp als zu weit erschien, torkelte er einfach gerade aus. Müller passierte mehrere Hintergärten, zog seine Spur durch liebevoll angelegte Blumenbeete, fiel über und in Hecken und holte sich nasse Füße in einem Gartenteich. Auf halber Strecke stieß er auf einen kleinen Schuppen, der zu einer Tankstelle gehörte. Müllers glasige Augen sahen, dass die Doppeltür einen Spalt breit offen stand und dachte sich nichts dabei, mal nachzuschauen, was sich hinter der Tür verbirgt. Er fand eine Sackkarre mit Bierkartons drauf, ein paar Ölkanister und noch anderen Kram. Er riss einen der Bierkartons auf, nahm sich eine Flasche raus und achtete nicht auf die Beiden, die dabei auf den Betonfußboden fielen und mit einem lauten Knall zu Bruch gingen. In seinem Zustand war es ihm egal, ob jemand den Krach gehört haben könnte oder nicht. Er ließ sich neben der Sackkarre auf den Boden runter, köpfte die Flasche und machte sich an den Inhalt. Müller leerte danach noch eine, kämpfte sich wieder auf die Beine und drückte die Tür wegen der vielen Einbrecher richtig ins Schloss. Mit dem sicheren Gefühl im Bauch etwas, Gutes für den Tankstellenpächter getan zu haben, stolperte er weiter seinem Ziel entgegen.

Müller hatte zu diesem Zeitpunkt noch ein Zimmer in der Wohnung seiner Mutter. Seine Mutter machte jedes Mal ein Riesentheater, wenn er besoffen nach Hause kam und sie im Flur schon auf ihn wartete. Sie warf ihm vor, dass er auf dem besten Wege sei, ein genauso schlimmer Trinker zu werden wie sein Vater einer war. Mit diesem Vergleich traf sie Müller an seiner empfindlichsten Stelle und das wusste sie. Seine Antwort für diesen ungerechten Stich in seine verkorkste Kinderseele war deshalb auch meistens die Gleiche. Er beschuldigte sie, dass sie genau gewusst habe, was dieses brutale kranke Arschloch mit ihm gemacht habe und nichts dagegen unternommen hätte. Er würde im Suff wenigstens nicht zum Kinderschänder werden. Das reichte im Allgemeinen um seiner Mutter die Tränen in die Augen zu treiben. Müller hasste dieses weinerliche Selbstmitleid. Er wusste, dass sie damit versuchte, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen. Ihm unverhohlen zeigte, was für ein schlechter und undankbarer Sohn er doch sei und das er nicht so über seinen toten Vater sprechen dürfe, der sich schließlich mühsam für alle aufgeopfert habe und immer nur das Beste wollte, aber es anscheinend bei ihm nichts genützt habe.

Gegen soviel Dummheit und Ignoranz kam Müller nicht an. Dies war immer der Zeitpunkt die weiße Fahne zu hissen und das Schlachtfeld zu verlassen. Hätte sie ihm nur einmal geholfen, als sein Vater ihn in der Mangel hatte, wäre aus Müller sicher ein besserer Sohn geworden.

Um sich nach Ludwigs lustiger Party diese Psychoscheiße zu ersparen, setzte sich Müller hinter das Steuer des alten blauen Renault R5 seiner Mutter. Der Wagen war abgemeldet und stand unabgeschlossen neben dem Haus auf einem Parkstreifen. Die Nummernschilder waren abmontiert und lagen im Kofferraum. Der Wagen war in einem jämmerlichen Zustand: durchgerostet, Reifen runter und eine schleifende Kupplung. Der Schrotthändler war beauftragt und sollte den blauen Franzosen gegen Abend abholen. Ihm blieb also noch genug Zeit für ein Nickerchen. Er griff zum Knopf des Radios und stellte den Sender mit den neuesten Hits des Monats ein. Im Zündschloss, links neben dem Radio, steckte der Schlüssel. Neugierig nahm Müller den Schlüssel zwischen die Finger und drehte ihn nach rechts. Der Motor sprang an und ließ in Müllers schwindeligem Kopf einen neuen Plan reifen. Er legte den ersten Gang ein, ließ die kaputte Kupplung langsam kommen und lenkte den Schrotthaufen auf die Straße. Müller hatte sich vorgenommen, mit dem Auto zurück zu Ludwig zu fahren. Er wollte unbedingt die Chance nutzen und der Erste aus der Clique sein, der mit einem Auto vor die Tür fährt. Müller hatte einige Mühe, den Renault mit der schleifenden Kupplung auf Tempo zu bringen. Er durfte nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig Gas geben. Es war ein Spiel, das seine ganze, vom Alkohol benebelte, Aufmerksamkeit forderte, während sich im Fahrgastraum langsam der beißende Gestank von verbranntem Öl und Gummi breit machte. Aber das war ihm egal.

Müller hatte die Stadt damals unfallfrei hinter sich gelassen und befand sich auf einer Landstraße, als der Krach eines Straßenbegrenzungspfahls auf der Motorhaube seinen Sekundenschlaf unterbrach und ihn veranlasste, den blauen Franzosen wieder flink auf die Fahrbahn zu steuern. Dieser kleine Zwischenfall warf Müller aber nicht aus der Bahn, ganz im Gegenteil. Belustigt steuerte er den Wagen zurück auf die Grasnarbe und machte ein Spiel daraus. Irre lachend rammte er einen Pfahl nach dem anderen und freute sich besonders über die, die nach dem Crash in einem hohen Bogen über das Autodach flogen. Sein ursprüngliches Ziel hatte Müller längst vergessen, als ihm das Benzin ausging und er den Wagen mit leerem Tank auf einer schmalen Straße abstellen musste. Links und rechts neben der Straße waren tiefe Gräben. Flugs kam Müllers Suffkopp auf die Idee, einen davon als Endlager zu nutzen. Er stellte den Schalthebel in den Leerlauf und schob den Wagen mit einem irren Gekicher über den Rand der Böschung. Der Wagen klatschte laut mit dem Kühler voran in den Bach und zischte eine kleine weiße Rauchwolke in den dunklen Himmel.

Müllers Hang zum Deutschen Kriminalfilm kreierte seine nächste Aktion. Ihm war klar, dass die Polizei den Wagen schnell finden würde. Er musste also unbedingt seine Spuren verwischen. Müller ließ sich auf seinem Hintern runter zum Wagen gleiten, öffnete die Heckklappe und nahm die alten Nummernschilder raus. In einem Tatortkrimi hatte er einmal gesehen, wie ein Typ seine Frau im Streit mit einem Golfschläger gekillt hatte und war danach mit ihr im Kofferraum zu einem Steinbruch gefahren. Er hatte sie aus dem Kofferraum geastet, sie hinters Lenkrad gesetzt und den Wagen in Brand gesteckt. Danach stieß er den Wagen über den Rand der Steinbruchkante in die Tiefe. Es gab mehrere dramatische Explosionen, als der Wagen auf dem felsigen Boden aufschlug. Die Spurensicherung tat sich schwer, nach dem Brand in der Asche noch brauchbares Beweismaterial zu finden.

Zuversichtlich, die Polypen auf eine falsche Fährte zu locken, machte Müller es mit dem Renault genauso. Er öffnete die Fahrertür und hielt sein Feuerzeug an den Bezug des Fahrersitzes. Er staunte, wie schnell sich die Flammen auf dem Sitz ausbreiteten. Sie züngelten bereits gegen den gelbbraunen Autohimmel als er die Tür ins Schloss drückte. Müller steckte sich die alten Nummernschilder hinten in die Hose und robbte, halb auf dem Bauch liegend, halb kriechend, die Böschung wieder nach oben. Ohne sich noch einmal umzuschauen, machte Müller sich zum zweiten Mal auf den Weg nach Hause. Die Sonne kletterte langsam im Osten über die Hausdächer als er die letzten Beweisstücke hinten aus seiner Hose zog und in einem Fluss versenkte.

Es war später Nachmittag, als seine Schwester Christel ihn weckte und ihm sagte, dass die Polizei angerufen hätte und seine Mutter sich auf dem Weg zum Revier befände.

Es ginge um den schrottreifen R5. Er sei geklaut worden. Müller tat ahnungslos und bat seine Schwester, ihn weiterschlafen zu lassen. Aber sie war völlig aufgeregt. Sie erlebte zum ersten Mal in ihrem Leben, dass das Verbrechen auch vor ihrer Tür lauert. Müller versuchte, sie zu beruhigen und fragte sie, ob sie noch mehr darüber wissen würde. Christel sagte, dass der Wagen brennend von einem Bauern nahe am Stadtrand in einem Graben gefunden worden war und die Feuerwehr den Brand gelöscht hätte. Und ein Abschleppwagen das Ding aus dem Graben gezogen und mitgenommen hätte. Noch halb betrunken und hundeelend versuchte Müller sich zu erinnern. Von der Party wusste er nicht mehr viel und von den Bierkartons auf der Sackkarre hatte er so eine Ahnung. Aber seine frühmorgendliche Spritztour mit dem Blauen Franzosen hatte er noch klar vor Augen. Er schwang sich aus dem Bett, zog sich sein verdrecktes Zeug wieder an, gab Christel einen Klaps auf die Schulter und machte, dass er da weg kam. In seinem Zustand wollte er seiner Mutter an diesem Tag auf keinen Fall begegnen. Müller nahm sich sein Moped und fuhr zurück zu Ludwig. Restesaufen war angesagt.

 

Am Dienstag war in der Presse als Überschrift zu lesen: Einbrecher hatten durst!

 

Osnabrück. Der Tankstellenpächter an der Mühlenstraße staunte nicht schlecht, als er am Morgen die Tür des Geräteschuppens seiner Tankstelle öffnete. Wie jeden Morgen wollte er die sich auf einer Sackkarre zum Verkauf befindlichen Bierkartons vor den Haupteingang schieben und neben der Tür zum Kassenraum abstellen. Doch als er die Doppeltür seines Schuppens öffnete bot sich ihm ein Bild der Verwüstung. Einbrecher hatten sich gewaltsam an seinen Bierkartons vergangen. Die Kartons waren aufgerissen worden und einige Flaschen lagen zerbrochen in einer großen Bierlache auf dem Fußboden verstreut. Zwei Flaschen standen unbeschadet, aber leer neben der Sackkarre. Wie ein Sprecher der Osnabrücker Polizei uns mitteilte, tappe die Polizei noch im Dunkeln und könne sich noch keinen Reim daraus machen, wie der oder die Täter das Türschloss unbeschadet öffnen und wieder schließen konnten.

 

Altes Autowrack brannte vollständig aus!

 

Osnabrück. Die Feuerwehr Osnabrück Mitte wurde in den frühen Morgenstunden von einem ortsansässigen Landwirt wegen eines brennenden Kraftfahrzeugs alarmiert.

Wie ein Sprecher der Feuerwehr unserer Zeitung mitteilte, handelte es sich um einen blauen Renault R5, der von ihnen hell lodernd in einem tiefen Graben in der Nähe des Ortsteils Pye vorgefunden wurde. Der Brand war schnell gelöscht und da sich der Fahrer des Kraftfahrzeugs offensichtlich nicht am Unfallort befand, wurde zu den weiteren Ermittlungen des Sachverhaltes die Osnabrücker Kriminalpolizei eingeschaltet. Bernd Tegeler, von der Kripo Osnabrück hielt sich noch einwenig bedeckt in seinen Ausführungen über die laufenden Ermittlungen. Er sagte, dass es sich hierbei offensichtlich um einen Diebstahl handele und der Wagen nicht, wie man glauben könnte, durch Unachtsamkeit oder überhöhter Geschwindigkeit in dem Graben gelandet sei. Der oder die Täter hätten sich absichtlich dem polizeilichen Zugriff entzogen. Desweiteren konnte die Polizei an Hand der noch lesbaren Fahrgestellnummer den Halter des Kraftfahrzeugs ausfindig machen. Der gab an, bis zum Anruf der Polizei nichts von dem Diebstahl bemerkt zu haben. Das Auto wäre abgemeldet gewesen und der Automobilverwerter hatte Order, das Wrack am Montagnachmittag abzuholen. Er könne sich nicht vorstellen, wie ein Verbrecher auf die Idee gekommen sei, sein kaputtes Auto zu stehlen.

 

Müller hatte damals Glück und wurde nicht erwischt. Von den hundert Straßenleitpfählen die er sauber abgemäht hatte, stand nichts in der Zeitung und seine Mutter kam damals nicht einmal auf die Idee, dass er es war.

 

Vor der Kloschüssel hält Müller auf allen Vieren inne und sammelt neue Kräfte. Er legt erst die eine und dann die andere Hand auf die Klobrille. Alles passiert sehr langsam. In der Hocke und mit beiden Händen auf der Brille, zieht Müller sich nach oben und lässt mit einer schmerzhaften Drehung seinen nackten Hintern auf die Klobrille klatschen. Sein Oberkörper zeigt dabei waagerecht in den Raum. Müller kann fast seine Knie küssen und lässt einen langen, lauten entspannenden Furz. Der Furz stinkt krank und bestialisch, aber Müller kann sich nicht erinnern, schon einmal so glücklich mit sich selber auf der Toilette gewesen zu sein.

 

Eine Freundin hatte mal im Zorn zu ihm gesagt, dass es widerlich sei, wie er rumfurze. Er würde nicht einmal im Bett seinen Arsch in die andere Richtung drehen, wenn er einen abbläst. Ihre Diagnose: Fäkalsyndrom.

 

Es stimmte, Müller hatte immer schon ein kindlich gesundes Verhältnis zu seinem Stuhlgang. Nur, dass er sich heute nichts mehr davon in den Mund steckt.

„Mögen alle Weiber dieser Welt ihre Fürze im Klange verheimlichen, aber stinken“, denkt Müller, „stinken tun sie schlimmer als jeder Männerschiss.“

„Tja“, überlegt Müller, „wie komm ich jetzt bloß ohne mir die Seele aus dem Leib zu schreien ans Toilettenpapier?“ Die Rolle steht links neben ihm auf dem Fußboden. Müller ärgert sich, sie nicht im gleichen Zuge wie sich selbst mit nach oben genommen zu haben. Er legt den rechten Arm angewinkelt über beide Oberschenkel und versucht so sein Gewicht auszugleichen. Den linken Arm lässt Müller jetzt vorsichtig von seinem linken Oberschenkel rutschen und nach unten hängen.

„Der erste Schritt wäre getan“, denkt Müller und kann einen leichten Wehlaut nicht unterdrücken. Langsam beugt er sich noch weiter nach vorne und kann fast die Rolle greifen, als sie umfällt und langsam in Richtung Dusche kullert.

„So eine verdammte Scheiße!“, schreit Müller und lässt noch einen fahren. Es bleibt ihm keine andere Wahl, als sich mit verschmiertem Kackarsch auf den Weg zur Toilettenrolle zu machen. Müller nimmt seinen ganzen Mut und lässt sich langsam nach vorne auf den Boden rutschen. Sein schmutziger Hintern hinterlässt einen braunen Streifen auf der weißen Klobrille. Aber das kann ihm egal sein. Er hat’s relativ schmerzfrei in die bewährte Krabbelposition geschafft.

„Du verschissene Lokusrolle, gleich hab ich dich“, sabbelt, Müller kirre und kommt ihr beharrlich näher.

Nach circa zwei Minuten hat er den begehrten Gegenstand erreicht und überlegt, welche Haltung die beste wäre, um sich den Arsch zu wischen. Müller hat einen Plan. Er legt sich langsam auf den Bauch und rollt sich auf den Rücken. Er reißt einen Streifen Toilettenpapier ab, winkelt die Beine an und liegt da wie ein Baby, dass darauf wartet, dass ihm jemand die dreckige Windel wechselt. Müller beugt sich vorsichtig nach vorne und versucht, mit dem Papier in der Hand das Problem zu lösen. Wieder wird er durch einen heftigen Stich durch die Wirbelsäule gestoppt.

„Himmel Arsch..., wie krieg ich bloß mein, verdammtes Arschloch wieder sauber?“, schreit Müller und ist einer Verzweiflung nahe. Er kommt sich vor wie eine zum Tode verurteilte Schildkröte die ihren letzten Atemzug im Gestank ihrer ungespülten Ausscheidungen macht.

„Ich hätte vorher abziehen sollen“, denkt Müller. „Die ganze Bude stinkt schon.“ Er zwingt seinen Körper wieder auf die Seite und drückt sich aus der Bauchlage zurück in die Krabbelposition. Mit einem Blick in die Duschkabine reift ein neuer Plan. Er setzt sich langsam in Bewegung und erklimmt den Rand der Duschtasse. Müller will’s mit der Brause versuchen. Er greift zur Duschstange und zieht sich auf die Knie. Dann umklammert er den Mischhebel der Brausearmatur, beißt die Zähne zusammen, drückt ihn nach oben und lässt das kalte Wasser über seinen Rücken laufen. Es dauert eine Weile, bis sich die passende Temperatur eingestellt hat und die Wärme die Verkrampfung löst. Unbeachtet des kotverschmutzten Wassers, sitzt Müller im Schneidersitz in der Duschtasse und genießt den warmen Regen. Das braune Wasser und den penetranten Gestank hinter sich lassend, verfrachtet sich Müller in eine andere Dimension.

Er sieht sprudelnd klare Bäche. Bunte Wiesen mit wundervoll duftenden Kräutern. Weiße Löwen mit pinkfarbenen Halsbändern, Rehe, Wölfe, Antilopen. Zebras mit schwarzen Flecken, wie bei einer Kuh. Einen großen weißen Pavillon, überwuchert von mehrfarbigen Rosen. Eine Blüte, so groß wie ein Pizzateller, und in der Mitte des Pavillons, eine Säule aus weißem Marmor, auf der ein magisch anmutend junges Mädchen in seine Richtung winkt. Ihre grazile Statur ist umgeben von einer hell leuchtenden Aura aus goldenem Schimmer. Sie ist nackt und ihr langes rotblondes Haar wird von einem Kranz aus blauen Kornblumen geschmückt. Alles ist friedlich. Alle Lebewesen sprechen dieselbe Sprache und sind miteinander verbunden.

 

„Rainer, Rainer, wach auf! Was ist mit dir?!“

Müller spürt eine kräftige Hand auf seiner rechten Schulter. Die Hand ist warm und zehrt ihn unsanft aus seinem Traum. Wie durch einen Schleier aus dichtem Nebel erkennt er seine Schwester Christel. Der warme Regen hat aufgehört und ihm ist kalt.

„Hallo Schwesterlein“, kommt es rau aus Müllers Kehle. „Schön, dass du’s noch geschafft hast.“

„Was ist denn mit dir los?“, sagt Christel mit sorgenvoller Miene, „hier stinkt ’s wie im Schweinestall und warum sitzt du in der Dusche und schläfst?“

„Mich hat der Tod am Wickel“, sagt Müller, hustet und rotzt einen Gelben neben sich ins kalte Wasser. „Es ist der Rücken, Chris. Es ist doch immer der Rücken. Ich schaff ’s nicht mehr auf die Beine. Es tut höllisch weh“, sagt Müller und wuchtet seine linke Arschbacke vom Abfluss, damit das kalte Wasser abfließen kann. Christel geht zur Toilette, betätigt die Spülung und betrachtet angeekelt den braunen Streifen auf der Klobrille.

„Warum hast du denn nicht Doktor Hasewinkel angerufen?“, sagt sie.

„Ich brauch hier keine Weißkittel die mir ’ne Ladung Kortison in den Arsch jagen. Ich muss einfach nur einen Tag Ruhe haben. Das ist alles.“

„Du hast ’ne ausgewachsene Meise, mehr nicht“, sagt Christel und wisch mit einem Fetzen Toilettenpapier Müllers Initialen von der Klobrille. Sie schmeißt das dreckige Papier in die Schüssel und betätigt die Spülung ein zweites Mal.

„Und was soll ich jetzt mit dir machen?“ sagt Christel während sie sich die Hände wäscht.

„Mir aufs Sofa helfen.“

„Okay, aber schrei mir nicht die Ohren taub, wenn ich dich falsch anfasse.“

„Ich werd mein Bestes geben“, sagt Müller.

Christel bückt sich, greift ihrem Bruder unter die Arme und hilft ihm vorsichtig auf die Beine. Die linke Hand an der Duschstange und den rechten Arm um Christels Schulter, bekommt Müller einen einigermaßen festen Stand.

„Geht’s?“

„Bis jetzt noch“, sagt Müller und gibt mit einem Kopfnicken den Startschuss. Er lässt die Duschstange los und humpelt auf Christels Schulter gestützt aus der Duschkabine. Der Absatz von der Duschtasse bis zum Fußboden macht ihm noch ein wenig zu schaffen, aber der Weg bis zum Sofa geht einigermaßen ohne Schmerzen ab. Christel bringt ihren Bruder in eine Sitzposition und hilft ihm, sich Hose und T-Shirt anzuziehen. Als Abschluss gibt es noch ein weiches Kissen hinter den Rücken.

„Hast du schon etwas gegessen?“, sagt sie.

„Nee“, sagt Müller, „könnte aber ’ne Kleinigkeit vertragen.“

„Dann werde ich mal etwas besorgen. Wie ich dich kenne hast du nichts im Haus, außer Alkohol.“

„Wie gut du mich doch kennst, Schwesterlein“, sagt Müller und zwinkert ihr zu.

Bevor Christel sich auf den Weg machen kann, bittet Müller sie, ihm seinen Tabak, das Feuerzeug und den Aschenbecher zu geben. Sie legt alles neben ihn aufs Sofa und verlässt die Wohnung. Nach einer halben Stunde ist sie wieder da und macht sich klappernd in der Küche zu schaffen. Müller mag das Geräusch. Es gibt ihm immer so ein Wohlbehagen, so etwas Häusliches. Am liebsten hat er es, wenn eine neue Freundin klappert, denn dann gibt es nach dem Essen meistens noch einen frivolen Nachtisch.

„Wie lange liegt denn schon die halbe Pizza im Mülleimer?!“, ruft Christel aus der Küche.

„Seit Samstag …, warum?“

„Die ist total verschimmelt und stinkt fast so wie du!“ ruft Christel und lacht. Müller ignoriert die Spießigkeit seiner Schwester und dreht sich eine Bulls-Houl. Er gibt sich Feuer und denkt an Lena.

„Scheiß Ende, gestern. Hoffentlich sehe ich sie wieder. Aber Frauen, die ihre Tage haben, sind eh etwas schwierig.“

Das Geklapper in der Küche hört auf und Christel steht mit zwei dampfenden Tellern Spagetti Bolognese in der Tür.

„Na, Lust auf Pasta?“

„Klar, her damit“, freut sich Müller. Christel stellt ihm den Teller auf die Beine, drückt ihm eine Gabel in die Hand, geht wieder in die Küche und kommt mit zwei Gläsern und einer Flasche Rotwein zurück. Sie setzt sich mit ihrem Teller neben ihn, füllt die Gläser und prostet ihm zu:

„Auf dein Wohl, mein kranker Stinker.“

„Ja, ja, wer den Schaden hat … Ich hoffe du erzählst es nicht deiner besten Freundin“, sagt Müller und trinkt den Wein auf ex.

Christel schenkt ihm nach und sagt:

„Keine Angst. Die sehe ich erst in drei Wochen wieder. Sie fliegt mit einer Freundin auf die Kanaren.“

„So, so“, sagt Müller spitz, „mit einer Freundin auf die Kanaren …, sehr interessant. Die wird sich da durch sämtliche Betten vögeln, nichts anderes.“

„Du hast ein ganz falsches Bild von Susanne. Eure Trennung damals ging ihr schwer ab. Außerdem hast du Schluss gemacht und nicht sie. Vergiss das nicht.“

„Na denn“, sagt Müller und belässt es dabei. Er drückt Christel den leeren Teller in die Hand und hält ihr das leere Weinglas entgegen. „War lecker, Schwesterchen. Danke.“

„Nichts zu danken. Bist doch mein Lieblingsbruder“, feixt Christel mit einem Lächeln. Sie nimmt die schmutzigen Teller und bringt sie in die Küche. Müller überlegt, wie er seinen Freund Hannes Blik erreichen kann. Ihr Treffen wäre um neun im Grünen Jäger. Es ärgert ihn, dass er den Termin absagen muss. Er hätte gerne gewusst, was Bliki über Harms herausgefunden hat.

 

 

 

 

 

 

24. Kapitel: Der Gummififfi

 

„Chris, kann ich mal dein Handy benutzen. Mein Telefon hat den Geist aufgegeben.“

„Klar, Brüderchen. Aber vielleicht solltest du mal darüber nachdenken, dein vorsintflutliches Telefon einem Museum zu stiften und dir ein modernes anschaffen.“ Sie greift in ihre Handtasche, findet das Handy und gibt es ihm. Müller wählt Hannes’ Nummer und wartet.

„Blik!“, meldet sich Hannes.

„Moin, Bliki, ich bin’s, Rainer. Ich kann heute Abend leider nicht kommen. Hab mal wieder Rücken.“

„Schade“, sagt Hannes, „hätte mir gerne mit dir ein paar Biere gezischt.

„Wo ist das Problem, Hannes? Besorg einfach welches und komm zu mir.“

Nach einer Bedenkpause sagt Hannes:

„Is gebongt. Bis gleich.“

Müller drückt auf den roten Knopf und gibt Christel das Handy zurück.

„Bliki kommt gleich. Wäre nett, wenn du noch so lange bleiben könntest, um ihm die Tür zu öffnen.“

„Ich hab nichts anderes vor. Außerdem würde ich mich freuen, Hannes mal wieder zu sehen“, sagt Christel.

„Das ist lieb von dir, Chris. Hannes wird sich sicher auch freuen.“

 

Christel war einmal schwer in Hannes verliebt. Da war sie sechzehn. Hannes hatte ihr damals eine Abfuhr erteilt und sie war drei Jahre sauer auf ihn. Aber das ist schon lange her und die Wogen hatten sich geglättet. Jetzt konnten die beiden herzhaft darüber lachen.

 

Punkt neun rappelt die Türklingel.

„Eine von Bliki’s Vorzügen war schon immer seine Pünktlichkeit“, sagt Christel, geht in den Flur, drückt auf den Summer und öffnet die Tür. Aus dem Hausflur kann Müller das sich nähernde Geklüngel von aneinander stoßenden Bierflaschen in einer Kiste hören. Ein vertrautes Geräusch. Müller tippt auf Osnabrücker Pilsener.

 

Die Osnabrücker Brauerei gibt es schon lange nicht mehr. Müller war noch ein Kind als die Brauerei ihre Kessel still legte und die alten Gebäude abgerissen wurden. Aber irgendwie muss ein findiger Geist auf die brillante Idee gekommen sein, das blonde Nass auswärtig produzieren zu lassen um es mit gleichem Etikett auf den heimischen Markt zu bringen. Einige Osnabrücker Gastronomen hatten den Braten schnell gerochen und ihre Bierkeller mit einer neuen regionalen Spezialität bereichert. Und so war nach vielen vergangenen Jahren der Trauer um den heimischen Gerstensaft ein neues Hochgefühl entstanden. Endlich wieder eigenes Bier! Für Müller hingegen hatte die Geschichte einen schalen Beigeschmack. Er konnte mit dieser feuchten Geilheit auf verstaubte Traditionen noch nie etwas anfangen. Trachtenvereine und ihre altertümlichen Sitten bescherten ihm schon immer ein komisches Gefühl. Sie implizieren den Menschen von heute eine falsche Sichtweise auf längst vergangene Zeiten und die längst nicht so rosig waren, wie sie gerne von ihnen zur Schau gestellt werden.

 

„‘N Abend, Chris, lange nichts von dir gehört. Schön dich zu sehen. Siehst gut aus“, hört Müller Hannes im Hausflur.

„Meine Schwester ist wirklich hübsch“, denkt Müller. Wäre sie nicht seine Schwester, würde sie fast in sein Beuteschema passen. Schlank, große Oberweite, blondes, fast weißes kurzes Haar, das auf dem Scheitel einen leichten Iro bildet und nach unten hin kürzer wird. Auf ihrer Nase trägt sie eine geschmackvoll dezente Brille, die perfekt zu ihrem schmalen Gesicht passt und mit ihren Outfits liegt sie, sicher auch schon allein berufsbedingt, immer im Trend. Christel arbeitet als Reisemanagerin in einem Reisebüro in der Innenstadt.

„Hi, Hannes … Dito“, erwidert Christel Blikis Gruß.

Dito … immer dieses blöde Dito. Kann sie nicht einmal dieses dämlichen Dito lassen“, denkt Müller im Hintergrund beim Zigarettedrehen.

„Hört endlich mit dem peinlichen Gesülze auf und kommt rein. Ich hab Durst!“, ruft Müller und gibt sich Feuer.

„Ich werd doch wohl noch deine Schwester knuddeln dürfen, du alter Saufbold!“, ruft Hannes zurück.

„Meinetwegen, aber Vögeln kostet mehr als ’ne Kiste Bier!“, sagt Müller

„Jetzt verhökert der miese Knochen schon sein eigen Fleisch und Blut!“ Hannes steht in der Wohnzimmertür und grinst.

Christel schaut ihm von hinten über die Schulter und sagt:

„So isser, aber man muss ihn einfach lieb haben. Schau mal wie er da sitzt, Hannes. Hätte ich ihm eben nicht aus der Dusche und in seine Klamotten geholfen, säße er jetzt immer noch mit dem nackten Po in seinem eigenen Stinkwasser.“

„Wir dürfen dem gar kein Bier geben“, sagt Hannes, „was macht der, wenn er pissen muss?“

„Dann piss‘ ich die leeren Flaschen voll! Kommt jetzt endlich rein und steht da nicht wie die Ölgötzen in der Türzarge rum.“

Hannes bringt die Kiste Bier in die Küche und füllt den Kühlschrank.

„Wovon lebst du eigentlich?! Außer ein vergammeltes Stück Mettwurst und einen leeren Pott Margarine hast du nichts im Kühlschrank!“, ruft Hannes und lacht.

„Is alles für Bier reserviert!“, ruft Müller zurück.

„Das erklärt auch seinen Bauchansatz!“, sagt Christel und setzt sich neben ihren Bruder auf das Sofa. Hannes kommt mit drei Flaschen Bier ins Wohnzimmer und stellt sie auf den Couchtisch. Er geht zum Schreibtisch, greift sich den Stuhl und setzt sich dazu.

„Für mich nicht“, sagt Christel, „ich bleib beim Wein.“

Hannes öffnet zwei Flaschen mit dem Feuerzeug und reicht Müller eine. Die drei prosten sich zu und trinken auf ein nettes Wiedersehen.

„Was gibt es Neues von der Bullenfront, Hannes?“

„Außer, dass wir einen Gummifetischisten eingelocht haben, nicht viel.“

„Erzähl“, sagt Christel.

„Okay.“

„Letzte Woche Donnerstag bekamen wir einen anonymen Anruf. Der Typ am Telefon sagte, dass sich vor dem Freibad in der Wüste so ein komischer Vogel herumtreiben würde. Er hätte so einen seltsamen Anzug an und würde den kleinen Mädchen auflauern.

Ich hab mir sofort meinen Kollegen geschnappt und mich in zivil auf den Weg gemacht. Als wir ankamen, war von dem Typen nichts zu sehen. Wir haben das Auto vor dem Freibad abgestellt und die Umgebung abgesucht. Später fanden wir ihn in der angrenzenden Laubenpieperkolonie. Er saß auf einer Bank in einer runtergekommenen Gartenparzelle. Als er sah, dass wir es auf ihn abgesehen hatten, nahm er die Beine in die Hand und flüchtete. Mein Kollege schrie hinter ihm her, dass er stehen bleiben soll oder er schießen würde. Keine Reaktion, der Typ lief weiter. Wir natürlich hinterher. Ungefähr nach zwanzig Metern hinderte ihn eine Brombeerhecke am Weiterlaufen. Was macht der Typ …?“

„Ja, was macht der denn?“ sagt Christel, „mach‘s nicht so spannend.“

„Na, er rennt rein und bleibt mit seiner schwarzen Lackuniform an den Dornen hängen. Wir bleiben stehen und betrachten uns das ganze Elend. In seiner Panik wühlt er sich immer tiefer in den Busch und zerreißt sich seinen Lackoverall. Sein Kopf steckte in so einer schwarzen Maske mit roten Streifen um die Augen und um den Mund. Das kennt ihr sicher. Das ist so ein Ding, mit Reißverschluss an der Mundöffnung.“

Müller nickt. Christel glotzt.

„Er jammerte und ritt sich immer tiefer rein und seine gelben Gummihandschuhe nützten ihm dabei auch nicht viel, die hingen ihm schon nach einer Minute in Fetzen an seinen Handgelenken runter. Irgendwie tat der Typ mir leid. Ich sagte ihm, dass er den Scheiß lassen soll, und dass wir nur mit ihm reden wollen. Aber der Gummififfi lässt sich nicht darauf ein. Er zerrt weiter am Gestrüpp bis ihm weiter nichts übrig blieb, als sich zu ergeben. Die Dornen hatten sich so in seinen Anzug gebohrt, dass er weder vor noch zurückkam.“

„Und ihr habt euch einen perversen Spaß draus gemacht“, wirft Müller ein.

„Kann man so nicht sagen“, verteidigt sich Hannes. Er nimmt einen Schluck Bier und erzählt weiter: „Ich hab dann die Feuerwehr mit leichtem Gerät und die Ambulanz angefordert. Mein Kollege und ich hatten alle Hände voll damit zu tun, den Typen zu beruhigen. Dazu kam noch, dass der Fetischist unter seinem Anzug keine Unterwäsche trug. Der Gummianzug war hauteng und wie schon gesagt, durch die Dornen überall aufgerissen. Er blutete schon aus mehreren Kratzwunden und sein Piephahn hing seitlich raus. Ich sage euch, so ein Mordsding habt ihr noch nicht gesehen. Der hing ihm fast bis zu den Kniekehlen runter.“

„Ach komm, Hannes“, unterbricht Christel mit einem zweifelnden Blick. „Da haste doch jetzt Zehne zu gemacht, oder?“

„Nee, wirklich, ohne Scheiß. Der hatte sooon Apparat“, sagt Hannes und breitet seine Arme auseinander um praktisch zu veranschaulichen, wie lang.

„Fleischpenis“, wirft Müller dazwischen.

„Wie –, Fleischpenis?“, sagt Christel.

„Na eben Fleischpenis“, sagt Müller. „Die einen haben einen Fleischpenis und die anderen einen Blutpenis.“ Er reißt die zweite Flasche Bier auf.

„Rainer meint“, versucht Hannes etwas verlegen zu erklären, „dass es Männer gibt, die einen Fleischpenis haben und welche, die einen Blutpenis haben. Bei den ersteren wird der Schwanz nicht länger, wenn er steif wird und bei denen mit Blutpenis wird er größer.“

„Das wusste ich noch gar nicht“, sagt Christel erstaunt.

„Bei Hannes weiß man das nicht so genau“, sagt Müller und lacht.

„Warte, mein Freund, wenn du pinkeln musst“, warnt Hannes.

„Dann hat Rainer einen Blutpenis. Das konnte ich eben sehen“, sagt Christel, steht vom Sofa auf und verschwindet in die Küche.

„Sag mal, ist die wirklich so naiv, oder verarscht die uns?“, sagt Hannes leise.

Müller trinkt den Rest aus der Flasche.

„Sexuell war Chris noch nie auf dem neusten Stand.“

„Das habe ich gehört“, mischt sich Christel in das Gespräch der Beiden und kommt mit einer neuen Flasche Rotwein und zwei Flaschen Bier um die Ecke.

„Nun denn“, berichtet Hannes weitert. „Der Gummififfi sitzt also fest. Mein Kollege und ich warten ‘ne halbe Stunde auf die Feuerwehr und versuchen ihn zu beruhigen, damit er sich nicht noch tiefer reinreitet. Als die Feuerwehr eintrifft, fragt uns der Chef der Abteilung, ob er die Pottsau nicht komplett mit Busch ausschneiden soll. Ich sagte ihm, dass es mir scheißegal wäre, wie er das täte, aber er soll ihm mit der Kettensäge nicht den Arsch ramponieren. Mittlerweile waren auch der Rettungswagen und der Notarzt eingetroffen. Der Notarzt wollte erstmal alleine mit dem Verletzten reden und bat uns, die Gartenparzelle zu verlassen. Die vier Feuerwehrmänner hinter uns konnten sich vor Lachen nicht mehr einkriegen. Der Eine sagte, dass der Perverse ihn an eine kranke Nacktschnecke im Einmachglas erinnere und wenn es nach ihm ginge, würde der Perversling in Zukunft sein Leben ohne Glockenspiel fristen. Naja, so gab ein Wort das andere und wir kamen an den Punkt, den Armleuchter aus seiner peinlichen Lage zu befreien. Der Feuerwehrchef gab seine Anweisungen und seine Mannschaft machte sich mit Kettensäge und Astschere an die Arbeit. Der Gummimann schrie und jammerte. Aber die drei Feuerwehrheinis kannten keine Gnade. Sie spotteten und rissen ihre Witze und verrieten ihm detailgenau, was sie von ihm hielten und was ihm blühen würde, wenn sie es zu sagen hätten. Mein Kollege hatte während der Aktion die Gartenlaube durchsucht. Als er wieder zu mir nach draußen kam sagte er, dass sich in der Hütte noch mehr Schweinkram befände und er es für ratsam hielte, die Spurensicherung einzuschalten. Aus Neugier bin ich dann auch in die Laube gegangen. Ich sage euch … ein Pornoshop ist da gar nichts gegen! In der Mitte an der Decke hing eine Schaufensterpuppe. Sie hing an einem Bein aufgehängt kopfüber nach unten und zwischen ihren Gipsbeinen waren überall Einkerbungen und getrocknetes Blut. Als wäre er mit dem Messer oder einer scharfen Peitsche auf sie los gegangen. Peitschen gab’s da drin nämlich mehr als genug.“

„Wo kam denn das Blut her?“, sagt Christel ernst.

„Der Typ war im Karnickelzuchtverein und wir fanden hinter der Laube einen Kaninchenstall mit Kaninchen drin und eine blutverschmierte Holzleiter mit Lederriemen dran. Unser Freund hatte das Blut von Meister Lampe für seine perversen Spielchen verwendet.“

„Euer Gummimann ist sicher ’ne ganz harmlose Pfanne. Er hat seine Perversion jahrelang alleine im Verborgenen ausleben müssen und ist dann, frag mich nicht wie … wahrscheinlich im Suff … auf das schmale Brett gekommen, dass die Gesellschaft nun reif genug für sein Gummizeug sei. Also ging er in voller Montur auf die Straße und glaubte dabei allen Ernstes, dass die Gesellschaft ihn so akzeptieren würde wie er ist und erlebte sein blaues Wunder.“ Müller nimmt einen kräftigen Zug von seiner Zigarette. „Und das im ultrakonservativen Osnabrück.“

„So harmlos wie du meinst ist der Typ aber nicht. Er ist in den letzten Jahren schon des Öfteren wegen unsittlicher Zurschaustellung seines Bammelmanns in der Öffentlichkeit verhaftet worden.“

„Wo hat er denn seinen Bammelmann überall gezeigt?“, sagt Christel neugierig.

Hannes reißt sich ein neues Bier auf.

„Auf der Bahnhofstoilette, im Zoo bei den Giraffen und vier Mal haben sie ihn schon im Schlossgarten erwischt. Einmal ist er wild onanierend aus einem Busch gesprungen und hat ein junges Mädchen, das sich im Bikini auf dem Rasen sonnte, mit seinem Sperma besudelt.“

„Wieso issen der nicht in der Geschlossenen?“ Wenn ich mir vorstelle, dass mich so ein Typ mit seinem Sperma bespritzt wird mir ganz schlecht“, sagt Christel und schüttelt sich vor Ekel.

„Vielleicht würde ich ja dann mal Onkel“, spottet Müller und grinst.

„Ha, ha…, sehr witzig, kann leider nicht darüber lachen“, erwidert Christel leicht angesäuert.

„Die arme Sau wurde ja nach jeder Festnahme eingeliefert“, unterbricht Hannes, „aber spätestens nach drei Monaten war er wieder auf freiem Fuß.“

„Habt ihr den eigentlich immer mit diesem Gummikram erwischt?“, sagt Müller.

„Nee, er macht’s auch in zivil“, sagt Hannes, sammelt die leeren Bierflaschen ein und geht in die Küche um volle zu holen.

„Hätte auch Bulle werden sollen“, sagt Müller, „scheint ja ein richtig lustiger Job zu sein.“

„Ich glaub, dass der Job ganz schön gefährlich sein kann“, gibt Christel zu bedenken. „Was ist, wenn der Typ ne Knarre gezogen hätte?“

„Dann musste eben schneller sein, Schwesterlein. Die lernen das doch in der Bullenschmiede in Iburg“

Hannes stellt zwei volle Bierflaschen auf den Couchtisch und setzt sich wieder.

„Müllerchen, du hast mal wieder keine Ahnung“, sagt Hannes. „Die Bullenschmiede, wie du sie nennst, ist nur für die Grundausbildung zuständig. Wie in jedem anderen Beruf, lernst du erst mit den Jahren, wie‘s funktioniert.“

„Hör auf zu sülzen, Hannes und sag uns lieber, wie es weiter ging mit dem Gummimann?“

„Was soll ich sagen, selbe Folklore. Krankenhaus, Geschlossene und nach spätestens fünf Monaten lochen wir ihn wieder ein.“

„Mann, ich meine die Geschichte in der Gartenparzelle“, drängelt Müller.

„Ach so“, sagt Hannes. „Okay … Die Jungs von der Feuerwehr haben den Typen mit der Kettensäge und der Astschere befreit. Mein Kollege und ich sind anschließend mit ihm im Rettungswagen ins Krankenhaus gefahren. Die Leute von der Notaufnahme kannten den Gummiheini schon und fragten, was er denn dieses Mal angestellt hätte und woher er die blutigen Kratzwunden an seinem Körper hätte. Besonders interessierte sie das zerschnittene Ohrläppchen. Ich schilderte ihnen die Sache mit der Brombeerhecke, konnte ihnen aber über das verletzte Ohrläppchen nichts sagen. Ich schätze, dass der Feuerwehrmann mit der Astschere einen kleinen Ausrutscher hatte. Gewollt oder nicht. Auf jeden Fall nannte er ihn immer Schornsteinfeger, und dass er ihm am liebsten einen ordentlichen Dammschnitt vom Arschloch bis zur Sacknaht verpassen würde. Der mit der Säge hatte es auf seinen langen Riemen abgesehen. Er sagte, dass so ein kleiner Schnitt mit der scharfen Kette jede Psychotherapie als Heilmittel um Längen schlagen würde und der Steuerzahler diese Kur sicher begrüßen würde. Und der Dritte, der die abgeschnittenen Zweige an die Seite räumte, fand, dass es ein Jammer wäre, einen Mann mit soviel Talent zwischen den Beinen nicht bei der Feuerwehr zu haben. Er hätte schließlich ein von der Natur gegebenes C-Rohr und einen natürlichen Hang zu wasserdichter Kleidung.“

Hannes’ trockene Schilderungen über die drei feisten Feuerwehrmänner treiben Müller vor Lachen die Tränen in die Augen und er fleht Hannes an, aufzuhören.

„Ich finde das gar nicht lustig“, sagt Christel. „Solche Menschen gehören nicht in den öffentlichen Dienst.“

„Die sind nicht im öffentlichen Dienst … Viel schlimmer…, das sind Beamte“, spottet Hannes und schüttet vor Lachen sein Bier über den Tisch.

„Ihr seid echt widerlich. Ich glaub, ich fahr jetzt lieber“, sagt Christel.

„Ach Chris, wir meinen das doch nicht so“, sagt Müller und schaut Hannes an. Im selben Moment geht das Gelächter wieder los.

„Das war’s, Jungs, ich mach mich jetzt auf den Heimweg. Außerdem muss ich Kittimo füttern und das Katzenklo hat’s auch mal wieder nötig.“

Christel steht vom Sofa auf, schnappt sich ihre Tasche, verabschiedet sich kurz und zieht die Flurtür hinter sich ins Schloss.

„Ich hoffe, sie ist jetzt nicht sauer“, sagt Hannes.

Müller drückt seinen Zigarettenstummel in den Aschenbecher und schaut seinem besten Freund hilfesuchend in die Augen. „Keine Angst, die kriegt sich wieder ein. Hilf mir lieber mal aufs Klo.“

Hannes schnappt sich seinen Saufkumpanen und grinst.

„Ich hab im Keller noch den alten Rollator von Tante Paula stehen. Den könnte ich dir leihen.“

„Lass die Häme, Hannes, und bring mich endlich zum Porzellan.“

„Sehr wohl, eure Lordschaft. Aber seinen königlichen Zipfel kann der Herr schon noch selbst ins Klo halten, oder?“

„Red kein Stuss, Knatterton, und pass auf, dass wir nicht auf die Schnauze fallen“, lacht Müller. Auf dem Weg zum Klo fällt ihm der Pinguin wieder ein. „Haste eigentlich was über Harms rausgefunden?“

„Hab ich“, sagt Hannes, „aber wring mal erst deinen Blutpenis aus, bevor ich dir den Kram verklicker.“

Müller und Hannes bringen die Klogeschichte hinter sich und sitzen wieder mit ihrem Bier am Couchtisch.

„Wat nu?“, sagt Müller erwartungsvoll.

„Wie –, wat nu?“, sagt Hannes.

„ Wat issen jetzt mit Harms?“

„Ach das meinst du!“

„Wat meinst du denn wat ich meine, du Fussel! Red ich nich deutlich, oder was?“

„Is ja gut, Müllerchen, reg dich wieder ab, Mann … Also, ich hab meinen alten Kümpel Bodo …“

Müller unterbricht Hannes und wiederholt belustigt seinen Versprecher: „Sü, sü, müt dünem Kümpel Büdü …“

„Halt die Fresse Blödsack und hör mir zu.“

Hannes übergeht Müllers Stichelei und erzählt weiter:

„Also, mein Freund Bodo war unterwegs und hat einiges über die Geschichte mit dem Autohändler in Erfahrung bringen können. Der Typ ist schon länger im Geschäft und ist bekannt dafür, seine Kunden zu bescheißen. Die Latte der Anzeigen gegen ihn bei der Staatsanwaltschaft reicht bereits bis über den Mount Everest und beweist sein mieses Treiben … Das erstmal zu Auto-Manne. Viel wichtiger ist, dass Harms dich beschatten lässt.“

Müller verschluckt sich fast an seinem Bier. Er setzt erstaunt die Flasche ab und schaut Hannes mit großen Augen über den Flaschenhals an.

„Wie – beschatten? Bin ich so wichtig für den Penner?“

„Bist du“, sagt Hannes und bleibt ernst. „Ich habe dir schon am Telefon gesagt, dass mit dieser Ratte nicht zu spaßen ist.“

Hannes nimmt einen Schluck Bier.

„Auf jeden Fall ist Bodo mit viel Vitamin B an deine Ermittlungsakte gekommen. In der Akte steht, dass du mit einem rothaarigen Mädchen gesehen wurdest.“

Müller unterbricht Hannes und sagt aufgeregt: „Ermittlungsakte ...?! Und da steht was …?! – Lena – der meint sicher Lena. Aber Lena hat rotblondes Haar und ist mindestens einen halben Kopf kleiner als die Frau um die es hier geht.“

Hannes glotzt Müller an, als hätte er ‘ne fliegende Untertasse gesehen.

„Wer zum Teufel ist Lena?!“

„Ach, Lena ist meine neue Bekanntschaft. Ich hab sie am Sonntag bei einer Motorradausstellung in Bissendorf getroffen.“

Dann erzählt Müller Hannes die ganze Geschichte.

„Dann hattest du ja ein geiles Wochenende“, sagt Hannes und grinst bis über beide Ohren.

„Das kannste wohl annehmen“, sagt Müller. „Aber das Blöde an der Sache ist, dass ich mich verliebt habe und praktisch nichts über sie weiß. Ich hab keine Ahnung wo sie wohnt, oder ob sie noch anderswo irgendwas am Laufen hat. Sie hat mir nur gesagt, dass sie in Osnabrück wohnt. Ach ja, ihre Handynummer hab ich auch noch.“

„Ist zwar alles etwas komisch, aber ich freu mich für dich“, sagt Hannes. „Es wurde ja auch mal wieder Zeit, dass du was Weiches zwischen deine klobigen Klempnerpranken bekommst.“

„Ich hätte ja auch so ‘n dämlicher Bulle werden können. Dann hätte ich jetzt genau so ‘n fetten Arsch wie du.“

„Na, na, Müllerchen, so fett is mein Allerwertester nu auch wieder nicht. Schließlich spiele ich zweimal in der Woche Squash und den einzigen Sport den du kennst, ist das einarmige Humpenreißen.“

„Siehst du, Hannes, da hab ich dir in Sachen Fitness einiges voraus. Ich betreibe meinen Sport jeden Tag und du deinen nur zweimal die Woche.“

„Schluss jetzt mit dem Scheiß Gesabbel“, sagt Hannes, „lass uns wieder zum Thema kommen!“

„Alles klar, mein Freund. Reg dich nicht auf“

„Gut, du Pappnase. In der Akte steht weiter, dass du dich im Park mit Manfred Linnerts Handlanger, diesem Daniel Tiess getroffen hast und ihn gezwungen haben sollst, eine Falschaussage am Telefon zu machen.

„Wassen das für'n verdrehter Haufen Scheiße, Hannes!“, regt sich Müller auf. „Der Wichser hat doch den Arsch offen. Mann, Hannes, der baut sich da ’ne Geschichte zusammen, die vorne und hinten nicht stimmt! Das kann doch nur ein Witz sein?!“

„Leider nein, Rainer. Der meint das völlig ernst“, sagt Hannes und öffnet die nächste Runde Bierflaschen.

Müller kann kaum glauben, was Hannes ihm da erzählt. „Mensch, kannst du da nichts mache? Du bist doch Bulle. Ich meine, bevor der ganze Scheiß eskaliert?“

„Hab ich schon, Müllerchen, Bodo bleibt weiter am Ball und informiert mich sofort, wenn sich die Dinge ändern. Hast du denn noch keine Vorladung im Briefkasten gehabt?“

„Kann sein, dass eine drin liegt“, sagt Müller nachdenklich. „Hab den Kasten das letzte Mal vorigen Samstag geleert.“

„Nicht so schlimm“, beruhigt Hannes. „Ich schätze, dass sie gestern oder heute angekommen ist. Das heißt, dass du höchstens für Freitag, oder Montag einen Termin bekommen hast.“

„Na dann is ja alles gut“, sagt Müller, „und jetzt scheißen wir auf Harms und saufen uns die Hucke voll.“

„Gute Idee, hab morgen frei“, sagt Hannes und leert sein Bier auf ex.

Es wird ein lustiger Abend. Müller macht mit stetig steigendem Alkoholpegel seine Drohung wahr und pisst sämtliche leere Bierflaschen voll und Hannes ist jedes Mal erstaunt darüber, wie zielsicher sein Freund den Strahl mit seinem Blutpenis in den Flaschenhals lenkt. Nur einmal geht eine knappe Ladung daneben und streift den Couchtisch.

 

Es ist kurz vor neun Uhr morgens, als Müller von seiner Türklingel geweckt wird. Und in derselben Sekunde fällt es ihm wie Schuppen von den Augen.

„Hinrich, Scheiße“, denkt Müller. „Ich hab ganz vergessen, Hinrich Bescheid zu sagen, dass ich zum Arzt muss.“ Müller quält sich vom Sofa und geht in gebückter Haltung in den kleinen Flur.

„Wer issen da?!“, fragt er durch die geschlossene Tür.

„Pack dein Ding ein und mach die Tür auf! Ich bin’s, Wolle, du Schnarchsack! Ich soll den Kombi holen!“ Müller dreht den Schlüssel um und öffnet die Eingangstür.

Vor ihm steht sein Kollege Wolle und röhrt:

„Na, Müller, siehst aus, als hättste dich an deim eigenen Morgenschiss verschluckt?!“

„Mein Telefon ist im Arsch und ich muss zum Arzt. Komm rein“, sagt Müller, „ich geb dir die Schlüssel.“

„Wat issen mit dein Rücken los. Du gehst ja wie ‘ne Schwuchtel, die grad ‘ne Fünfzigzentimeterbratwurst mit Pulsschlag verdaut!“, grölt Wolle.

„Mensch Wolle, sei mal bisschen leise. Hannes pennt noch“, flüstert Müller und nickt zur Bettecke.

„Siehste, da liegt ja dein Häschen“, sagt Wolle und lacht.

„Wolle, halt endlich dein blödes Maul“, droht Müller, findet die Autoschlüssel und drückt sie seinem Kollegen in die Hand. „Und jetzt verpiss dich.“

Wolle steck sich die Autoschlüssel in die Tasche seiner verkrusteten blauen Latzhose und sagt grinsend:

„Müller, riechste dat nich? Hier stinkt‘s wie auf ‘m Bahnhofsklo. Ihr beiden Schlingel steht wohl auf Natursekt, wat?“

„Mensch, mach jetzt bloß, dass du auf deine Scheiß Baustelle kommst.“ Müller schiebt Wolle in den Hausflur und schließt die Tür wieder ab.

„Was war das denn für ‘n Arschloch?“, hört Müller Hannes müde aus der Ecke fragen.

„Mein Asikollege, Wolle“, sagt Müller und schlurft vorsichtig weiter in die Küche. Sein Rücken ist besser in Form als gestern, aber von einem einigermaßen passabel- aufrechten Gang, kann noch nicht die Rede sein.

„Auch ‘n Kaffee, Hänschen?“

„Immer“, sagt Hannes, „und nenn mich noch einmal, Hänschen, du Arschloch, dann reiß ich dir die verdammten Klöten ab.“

„Is scho recht“, sagt Müller und greift sich die Dose mit dem Kaffeepulver.

Nach dem Kaffee verabschiedet sich Hannes und Müller macht sich vorsichtig daran, seine Bude wieder in den müllerschen Urzustand zu versetzen. Die Pisse aus den Bierflaschen entsorgt er in der Kloschüssel und der Restmüll, wie Kippen und Kronkorken, verschwindet in einer alten, verblassten Alditüte. Die stinkende Urinlache neben dem Couchtisch bekämpft Müller mit einem scharfen Universalreiniger und verätzt sich mit dem Zeug die rechte Innenhand. Fluchend humpelt Müller in die Küche zum Spülbecken. Er dreht den Wasserhahn auf, hält seine Hand in den Wasserstrahl und verschafft sich ein wenig Linderung. Als der Schmerz nachlässt dreht Müller den Hahn wieder zu und geht ins Wohnzimmer. Er kramt den alten Verbandskasten aus den Achtzigern aus dem Regal und umwickelt die verletzte Hand mit einer Mullbinde.

„Im Moment läuft nichts glatt“, denkt Müller wütend und im selben Augenblick fliegt der alte Verbandskasten durch das Zimmer und nimmt Kurs auf den PC-Bildschirm. Bullseye würde der Amerikaner sagen. Der Kasten erwischt das Ding genau in der Mitte und teilt sich in zwei Hälften. Zusammen mit vergilbten Mullbinden, Leukoplast, Scheren und Pinzetten fällt der Bildschirm auf den Fußboden und verabschiedet sich mit einem leisen Piepton.

„Scheiße“, denkt Müller verwirrt, „jetzt ist auch noch der letzte Kontakt zur Außenwelt beim Teufel.“ Er setzt sich aufs Sofa und versucht sich wieder in den Griff zu bekommen. Seine Schwester Christel hatte ihm einmal für so einen Fall eine spezielle Atemtechnik empfohlen. Sie lernte diese Technik auf einer Reise durch Tibet von einem Mönch und Müller findet, dass jetzt genau die Situation eingetreten ist, diese Technik für sich in die Praxis umzusetzen. Er zwingt seine Beine in den Schneidersitz und streckt seinen kranken Rücken so gut es geht, um einen einigermaßen geraden Sitz zu bekommen.

„Tief ein und ausatmen und an nichts denken“, erinnert sich Müller. Er legt seine Hände mit den Handflächen nach oben auf seine Knie und schließt die Augen. „Ohmmmmmm!“ Nach dem dritten Ohm meldet sich sein verkorkster Magen und lässt ihm keine Zeit, den Weg bis zur Toilette zu schaffen. Im hohen Bogen und mit viel Druck göbelt Müller seinen Morgenkaffee über den Couchtisch. Christel hatte ganz vergessen ihm zu sagen, dass sich maßloser Alkoholkonsum und tibetanische Meditationen nicht vertragen. Den Tränen nahe und mit dem Gefühl, dass ihm sein Leben aus den Händen gleitet, steht Müller vom Sofa auf und geht in den kleinen Flur. Er streift sich seine Cowboystiefel über die nackten Füße, nimmt seine Jacke und verlässt die Wohnung. Müller will nur noch weg. Weg von all den Dingen, die ihn an sein verkorkstes Leben erinnert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

25. Kapitel: Doktor Hasewinkel

 

Er geht Richtung Innenstadt und schafft es ohne Unterbrechung bis zu seinem Hausarzt. Im Wartezimmer sitzt ein alter Mann und eine Frau mit ihrer kleinen Tochter. Um die Formalitäten zu erledigen, geht Müller ins Nebenzimmer.

„Kasse oder privat?“, sagt die dralle Arzthelferin.

„Kasse, wat sonst“, sagt Müller und geht zurück ins Wartezimmer. Er greift sich wahllos eine Zeitung vom Stapel und setzt sich neben dem alten Mann auf einen Stuhl ohne Armlehnen.

„Als Privatpatient säße ich jetzt sicher in einem gemütlichen Ohrensessel und müsste mir nicht die abgelaufenen scheiß Zeitungen vom Anfang des Jahres reinziehen“, denkt Müller und schaut rechts neben sich in ein schwarzes Loch. Dem alten Mann fehlt offensichtlich das linke Ohr.

Diesmal schafft es Müller bis auf die Toilette. Der Umstand, mit dem Zeigefinger durch das schwarze Loch im Gehirn des Alten herumpulen zu können, verträgt sein angeschlagener Magen nicht. Müller würgt noch den letzten Rest Kaffee in das Waschbecken und klemmt sich mit seinen Lippen unter den laufenden Wasserhahn. Gierig schluckt er das frische Wasser in sich rein und mit dem letzten Schluck versucht er sich den schalen Geschmack von erbrochenem Kaffee und Magensäure aus der Kehle zu gurgeln. Danach reinig Müller das Waschbecken mit einem Fetzen Toilettenpapier und geht zurück ins Wartezimmer. Erleichtert stellt er fest, dass der alte Mann nicht mehr im Zimmer ist. Er setzt sich wieder auf denselben Stuhl ohne Armlehne und legt sich eine Zeitung auf die Knie.

 

Das Weihnachtsgeschäft verlief besser als erwartet!

 

Osnabrück. Anders, als vom Fachverband des Deutschen Einzelhandels prognostiziert, konnte eine Umsatzsteigerung von …

 

„Wassen das für’n Scheiß“, denkt Müller, „wir haben Sommer.“

Auf der nächsten Seite stößt er auf die Werbung eines großen schwedischen Möbelherstellers. In der Mitte, auf einem runden roten Teppich, sitzt ein kleines Kind mit einem zweifach gekröpften Sechskantschlüssel in der Hand und lächelt in die Kamera.

„Man kann den Köder nicht früh genug auslegen“, denkt Müller und muss innerlich schmunzeln. „Man braucht nur einen beschissenen Sechskant und die Sache ist geritzt. Der eiserne Zauberstab der die Buden zukünftiger Generationen verkorkst.“

 

Buswartehäuschenreinigungsprojekt für Hartz-Vier-Empfänger ein voller Erfolg!

 

Mulle. Oberbürgermeister Johannes Baum äußert sich positiv über das neue, vom Landkreis ins Leben gerufene Reinigungsprojekt der Städtischen Buswartehäuschen für Hartz-Vier-Empfänger.

Besonders bedankte sich der Oberbürgermeister bei seinem Parteifreund und Ehrenvorsitzenden Roland Schlüter für die Idee und das Engagement in dieser, wie er sagt, besonders sozialverträglichen Angelegenheit. In einem Schreiben an unsere Redaktion äußerte sich der Oberbürgermeister so: Unser Projekt will diesen, von der Gesellschaft vernachlässigten Menschen eine neue Perspektive geben und ihnen dadurch einen leichteren Start in die reguläre Arbeitswelt ermöglichen. Außerdem wird jede Arbeitsstunde mit einem Euro zusätzlich zu dem schon vorhandenen Arbeitslosengeld II vergütet.

 

Über dem Artikel gibt es ein Foto auf dem zu sehen ist, wie fünf Stadträte plus stellvertretender Bürgermeister die Arbeit von sechs putzenden Hartz-Vier-Empfängern an einem Buswartehäuschen begutachten. Die Seitenwände und die Rückwand sind aus Glas. In den Gesichtern der Kommunalpolitiker kann Müller keinen Funken von Scham erkennen. Die ganze Szenerie erinnert ihn stark an ein Bild aus seinem Geschichtsbuch in der Schulzeit. Es ging damals um die Judenverfolgung im dritten Reich im Österreichischen Wien. Auf dem Bild wurde gezeigt, wie ein Jude von mehreren Trachtenanzug tragenden Nazis mit Fußtritten dazu gezwungen wurde, den Davidstern an seine Hauswand zu malen. Der hämische Ausdruck in ihren Gesichtern kommt dem der Stadträte sehr nahe und veranlasst Müller dazu, angeekelt die Zeitung wieder auf den Stapel zu legen.

 

„Herr Müller, bitte.“

In der Tür steht freundlich lächelnd die dralle Arzthelferin und bedeutet Müller, ihr zu folgen. Sie sagt: „Behandlungsraum zwei bitte“, und zeigt mit einer schwungvollen Handbewegung auf eine Tür am Ende des Gangs.

„Danke, Miss Moneypenny, ich kenne den Weg“, grinst Müller und erntet ein verlegenes Lächeln.

An den Wänden links und rechts des Ganges hängen einige Originalgemälde verschiedener Osnabrücker Künstler. Darunter auch ein Bild, das er schon einmal bewundern durfte, auf der alljährlichen Kulturnacht im offenen Atelier einer Künstlerin. Es ist ein Arbeit der Künstlerin S. Kahlo. Es zeigt die Künstlerin mit ihrem Lebensgefährten in humoristischer Pose. Beide tragen komische Kopfbedeckungen und schneiden dazu eine Grimasse. Müller fand das Gemälde damals schon klasse und hatte überlegt, sich auch in diesem Stil von der Künstlerin portraitieren zu lassen. Aber wie der Teufel es will, hatte Müller sein Vorhaben schnell vergessen.

„Aha, der Herr Müller interessiert sich für Kunst. Aber nun wird es Zeit, sich von einer anderen Muse küssen zu lassen, nämlich von mir. Wo fehlt es denn diesmal, Herr Müller?“

Etwas erschrocken aus seinen Gedanken und den Tiefen des Gemäldes gerissen, schaut Müller in das Gesicht seines hageren, glatzköpfigen Hausarztes.

„Morgen Doc, Hand verätzt und die alte Rückengeschichte.“

„Na dann lassense mal sehn“, sagt der Arzt und bittet Müller in sein Behandlungszimmer.

„Womit haben sie sich denn die Hand verätzt, Herr Müller.“

„Mit einem Reiniger, der eigentlich für die Kloschüssel gedacht ist.“

„Und wofür haben sie den Reiniger verwendet?“, sagt Dr. Hasewinkel neugierig.

„Da möchte ich jetzt nicht näher drauf eingehen, Herr Doktor. Das ist privat.“

Müller hat nicht vor, dem Arzt den Verlauf des gestrigen Abend auf die Nase zu binden. Sich aus purer Not in leere Bierflaschen zu erleichtern versteht nicht jeder auf Anhieb.

„Na, dann setzen sie sich mal auf die Liege und zeigen mir ihr Geheimnis“, brummt der Doc und kramt eine Tube Salbe aus der oberen Schublade eines alten abgenutzten, weißen Medizinschranks.

 

Doktor Hasewinkel und Müller kennen sich schon seit der Zeit, als Müller mit zwölf die Masern bekam. Er hatte damals sehr hohes Fieber und wäre fast daran gestorben, wenn seine Mutter nicht den Doktor gerufen hätte. Sein Vater hingegen konnte die ganze Aufregung nicht verstehen und sagte nur, dass heute kein Mensch mehr an Masern sterben müsse und wenn doch, wäre es nur eine natürliche Auslese von Schwächlingen, mit denen auch sonst kein Blumentopf zu gewinnen gewesen wäre.

 

„Wie geht es denn Ihrer Schwester Christel, Herr Müller? Die habe ich hier schon lange nicht mehr gesehen“, sagt Dr. Hasewinkel und verteilt die Salbe auf Müllers Innenhand mit einem Holzspatel.

Müller versucht eine bequemere Sitzposition um seinen Rücken zu entlasten.

„Das ist jetzt kein Geheimnis, Doc. Die hat sich der Homöopathie und der Naturheilkunde verschrieben. Chris hält nichts mehr von der Schulmedizin.“

„Das ist aber schade. Ihre Schwester war immer so nett. Ich habe sie immer gerne behandelt.“

Müller kann sich einen kurzen Lacher nicht verkneifen.

„Nicht was Sie denken, Sie Ferkel“, sagt Doktor Hasewinkel und spielt den beleidigten.

„Wieso, was denk ich denn, Doc?“, sagt Müller spöttisch.

Ohne auf die Frage einzugehen befestigt der Doktor beflissen den Verband um die verätzte Hand mit einem Zwickel und sagt:

„So, Herr Müller. Das war Streich Numero uno und der zweite piekt ein wenig. Aber das kennen sie ja schon.“

„Ja, ja, kenn ich“, sagt Müller, „Kabine eins, richtig?“

„Ganz genau, Herr Müller.“

Doktor Hasewinkel begleitet Müller zur Tür und ruft seine Arzthelferin.

„Fräulein Mittwoch. Bringen Sie den Herrn Müller bitte in die Kabine eins und bereiten Sie alles für die Akupunktur vor, und einen Schein. Herr Müller darf eine Woche nicht arbeiten!“

„Wird gemacht Herr Doktor“, sagt Fräulein Mittwoch und lächelt Müller aufmunternd zu.

„Aber bitte kein Blut abnehmen, sonst kann ich für nichts garantieren, Fräulein Mittwoch. Ich hatte gestern einen schweren Tag müssen Sie wissen.“

„Keine Sorge, Herr Müller. Wir machen nur das, was Sie wollen“, beruhigt ihn Fräulein Mittwoch.

Sie führt Müller in die Kabine eins und bittet ihn, sich auf der Liege auf den Bauch zu legen.

„Recht gemütlich, so eine Lederliege“, denkt Müller, als er die richtige Position gefunden hat.

„Sagen Sie mal, Fräulein Mittwoch, was hat den der alte Opa, der eben neben mir im Wartezimmer saß, mit seinem Ohr gemacht?“

„Das darf ich Ihnen nicht sagen, Herr Müller. Das fällt unter die ärztliche Schweigepflicht.“

Fräulein Mittwoch stellt die Utensilien für die Akupunktur auf das Schränkchen neben der Liege und verlässt lächelnd die Kabine.

„Dann frage ich eben den Doc“, denkt Müller entspannt und schläft ein.

 

„Herr Müller, aufwachen. Sie können jetzt nach Hause gehen“, hört Müller Lenas süße warme Stimme aus der Ferne. Er öffnet die Augen und schaut verwirrt in das überkandidelt-verständnisvoll lächelnde Gesicht der Arzthelferin.

„Wie nach Hause?“, staunt Müller. „Ich muss doch noch akupunktiert werden.“

Die Arzthelferin greift Müller unter die Arme, hilft ihm in den aufrechten Sitz und sagt verlegen:

„Das haben sie wohl verträum … äh … verschlafen.“

„Kann mich an keinen Stich erinnern“, wundert sich Müller.

Er stellt vorsichtig die Füße auf den Boden und stemmt sich nach oben. Erst jetzt bemerkt er die Beule in seiner Hose und versucht die peinliche Situation mit einer leicht gebückten Haltung nach vorne zu entschärfen.

„Geht es schon besser, Herr Müller?“, fragt Fräulein Mittwoch. Ihr Versuch, die verhärtete Angelegenheit zu ignorieren, scheitert kläglich. Mit hochrotem Kopf begleitet sie Müller zum Ausgang und drückt ihm das Attest in die gesunde Hand.

„Auf Wiedersehen, Herr Müller und gute Besserung“, verabschiedet sie sich von ihm und kann sich ein leichtes Kichern nicht verkneifen.

„Scheiße“, denkt Müller, „warum passiert immer mir so was?“

Im Wartezimmer sitzt wieder der Mann ohne Ohr und schaut zu Müller. Das Loch ist jetzt verbunden. Er sagt:

„Sie gehen aber ganz schön schief, junger Mann.“

„Altes Rückenleiden“, lügt Müller.

In seiner derzeitigen Lage, hat er nicht vor, sich auf ein längeres Gespräch über Krankheit im Alter einzulassen und humpelt weiter in Richtung Ausgang. Er geht noch einmal in die Patiententoilette und setzt sich zum Pinkeln auf die Kloschüssel. Er drückt mit Zeige- und Mittelfinger der gesunden Hand seinen starrsinnigen Freund nach unten in die Schüssel und lässt es laufen. Gleichzeitig, mit sinkendem Blasenpegel, löst sich auch dieses Problem.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

26. Kapitel: Müller fährt Omnibus

 

Wieder locker im Schritt verlässt Müller die Arztpraxis. Er geht zum Neumarkt und steigt in den Bus, der ihn in den östlichen Teil der Stadt bringen soll. Müller hat sich vorgenommen, Hinrich den gelben Schein persönlich zu geben.

„Macht zwo Euro“, sagt der Busfahrer.

Müller greift mit der gesunden linken Hand in die linke Hosentasche und erbeutet ein Tictac, Sandkrümel und zerfleddertes, altes Kaugummipapier. Er steckt die Pfefferminzpastille in den Mund, stopft das alte Kaugummipapier und die Krümel zurück in die Tasche und versucht es mit der rechten Hosentasche.

„Wird das heute noch was?“, sagt der kleine dicke, glatzköpfige Busfahrer ungeduldig. Seine Oberlippe, überwuchert von einer grauen struppigen Popelbremse, wird von einem leichten nervösen Tremolo gepeinigt.

„Mal immer mit der Ruhe, Tetzlaff“, mosert Müller, „Sie sehen doch, dass ich nur meine linke Hand benutzen kann.“ Unbeirrt versucht Müller weiter, seine linke Hand in die rechte Hosentasche zu bekommen.

„Wenn Sie kein Geld haben, müssen Sie wieder aussteigen“, zischt der Busfahrer böse.

„Hören Sie mal“, erwidert Müller angesäuert, „wenn Sie mich wegen meiner Behinderung aus dem Bus schmeißen, werde ich ihrem Vorgesetzten eine saftige Beschwerde schreiben!“

„Das können Sie ruhig machen!“, bellt der Busfahrer. „Ich fahre schon seit zwanzig Jahren Omnibus und ich kenne meine Pappenheimer, das können Sie mir glauben und bei fünf bis sechs Beschwerden im Monat rührt mein Boss noch lange keinen Finger!“

„Dann schreibe ich eben sieben auf einmal!“, droht Müller und knallt den längst gefundenen Zwanzigeuroschein auf den Wechseltisch.

„Größer haben Sie es wohl nicht“, pöbelt der Busfahrer, greift sich angewidert den Zwanziger und pumpt wütend das Wechselgeld aus den Münzröhrchen. Er schmeißt das Geld laut scheppernd in die Blechschale und drückt wutentbrannt auf den Knopf der Falttür.

Müller ahnt schon, was als nächstes kommt. Vorsorglich schaut er dem Busfahrer direkt in die glasigen Augen und sagt: „Wenn Sie jetzt meinen, sie müssten einen auf wilde Sau machen bevor ich auf meinem Platz sitze und mich mit Vollgas in den Gang werfen, sage ich Ihnen, dass außer meiner Hand hier auch noch mein Rücken aus dem letzten Loch pfeift und Ihnen mein Anwalt, gesetzt dem Fall, Sie täten das, sämtliche Besitz- und Reichtümer aus dem Arsch klagen wird …, klar?!“ Müller meint, einen Funken von Angst in den Augen des feisten Busfahrers gesehen zu haben. Er lässt die Haltestange am Einstieg los und geht mutig durch den Mittelgang. Er setzt sich auf den Platz neben der hinteren Tür und streckt die Beine aus.

„Geht doch“, denkt Müller und im selben Moment setzt sich der Bus in Bewegung.

Links neben ihm sitzt ein junges Mädchen und zwinkert ihm lächelnd zu.

„Danke“, sagt sie, „Sie haben mir den Tag gerettet. Ich fahre schon seit einem Jahr mit dieser Linie und jedes Mal, wenn der blöde Stinker am Steuer sitzt, legt er sich mit den Fahrgästen an. Kommt selten vor, dass sich mal einer wehrt, so wie Sie eben.“

„Schön, dass dir die Vorstellung gefallen hat“, sagt Müller. „Hat er dich denn auch schon mal aufs Korn genommen?“

„Nee, mit mir flirtet der immer nur. Er fragt mich manchmal, ob ich mit ihm ausgehe.“

„Kein Wunder“, denkt Müller, „bei so einem Sahnestück. „Wäre ich zwanzig Jahre jünger, würde ich die Kleine auch angraben.“

Er schätzt das Mädchen so auf sechzehn, oder siebzehn und sie erinnert ihn ein bisschen an Drew Barrymoore in jungen Jahren. Bloß noch ein Tacken hübscher. Ihre dunkle ruhige Stimmfarbe hat es ihm besonders angetan. Müller könnte ihr stundenlang zuhören, egal welches Thema, er würde niemals auf die Idee kommen, sie zu unterbrechen. Eine goldene warme Dusche nach einem eiskalten Tag auf einer zugigen Baustelle.

Um den süßen Wortschwall nicht abbrechen zu lassen, fragt Müller sie:

„Fährst du denn jeden Tag mit dieser Linie?“

Das Mädchen legt sich ihren Rucksack auf den Schoß und sagt:

„Leider noch zwei Jahre. Ich bin gerade ins zweite Lehrjahr gekommen.“

„Was machst du denn?“, sagt Müller.

„Ich lerne Bürokauffrau bei EMK … Und was machen Sie so?“

„Ach“, antwortet Müller ein wenig geschmeichelt, „ich kümmere mich darum, dass meine Mitmenschen warmes Wasser, eine warme Bude und eine funktionierende Toilette haben.“

„Dann sind Sie Klempner“, lächelt das Mädchen.

„Auch“, sagt Müller, „aber hauptsächlich bin ich Heizungsbauer.“

„Mein Onkel ist auch Klempner“, sagt sie.

„Tja“, sagt Müller belustigt, „von unserer Sorte gibt’s ’ne Menge.“

Als der Bus in die Knollstraße einbiegt, steht das Mädchen auf und drückt auf die rote Stopptaste an der Haltestange. Sie nimmt ihren Rucksack und stellt sich neben Müller vor die Bustür. Bis zur Haltestelle sind es noch hundert Meter. Müller hat sie jetzt ganz nah bei sich und kann ihr süßes Parfum riechen. Als der Bus zum Stillstand kommt und sich die Tür öffnet schaut sie Müller noch einmal in die Augen, verabschiedet sich und schenkt ihm, während sie die zwei Stufen nach unten auf den Gehweg steigt, ein letztes Mal ihr rosiges Lächeln.

„Alt werden kann zu einer richtigen Qual werden“, denkt Müller. „Überall die jungen Küken mit ihren heißen Körpern und du weißt, dass dieser Zug für dich längst abgefahren ist. Scheiß Welt.“

 

„Moin, Hinrich!“

„Was machst du denn hier, Rainer?“

„Gelben Schein abgeben und die Lage peilen.“

„Wie lange?“, sagt Hinrich.

„Eine Woche“, sagt Müller.

„Scheiße“, sagt Hinrich, „gerade jetzt muss das passieren. Mir steht der Bürokram bis zum Hals und jetzt kann ich auch noch sehen, wie ich das mit dem Kundendienst auf den Schirm kriege. Wolle kann ich unmöglich auf die Kunden loslasse, das weißt du.“

„Tut mir ehrlich leid, Chef. Aber wie du siehst, kann ich unmöglich mit dieser Pranke arbeiten und schon gar nicht mit meinem Scheiß Rücken.“

„Ich weiß“, jammert Hinrich. „Aber könntest du wenigstens den alten Fierer bedienen? Ich würde dir das Geld auch bar auf Tasche geben.“

„Keine Chance, Hinrich. Um die veraltete Haustechnik in der Villa zu checken müsste ich mit der großen Leiter arbeiten und ohne Werkzeug hätte das ganze Manöver auch keinen Sinn.“

„Hast ja recht“, bedauert Hinrich und blättert abwesend in seinem Terminkalender rum.

Hast du dem Alten denn für heute schon abgesagt?“

„Ja, heute Morgen. Er hat mir am Telefon gesagt, dass er so lange warten will, bis du wieder gesund bist … Was hast du mit dem Stiesel eigentlich gemacht? Diese Wendung finde ich äußerst komisch.“

„Keine Ahnung, Hinrich, ich muss wohl mit meiner weitreichenden Kompetenz einen Teil seiner schwarzen Seele erweicht haben.“

„Mann, hör auf zu sülzen, Müller. Irgendwas hast du mit dem Alten gemacht. Sonst wäre der nicht so lammfromm!“

„Wenn ich’s dir doch sage, Hinrich. Ich … habe … keinen … Schimmer!“

„Okay, dann will ich das mal glauben.“ Hinrich bleibt misstrauisch.

„Kann sein, dass es Montag wieder geht“, versucht Müller seinem Chef entgegen zu kommen. „Ich werde dich am Samstag oder Sonntag anrufen und dir bescheid geben, Okay?“

„Samstag wäre besser, Rainer, dann könnte ich noch einen Termin für Montag mit dem alten aushandeln.“

„Alles klar, Samstag“, ist Müller einverstanden, verabschiedet sich und macht sich auf den Rückweg.

 

Die Busfahrt zum Neumarkt verläuft nach Plan. Müller steigt ausgeruht aus dem öffentlichen Verkehrsmittel und geht in Richtung Schlosswall. Er denkt dabei an das junge Mädchen und vergleicht sie mit Lena. Außer der Stimme und dem Alter kann Müller nichts finden, was sie Lena voraus haben könnte. Lena fehlt ihm und wenn er Zuhause angekommen ist, wird er sein Telefon reparieren und sie anrufen.

Auf halber Strecke kommt Müller an ein paar Siedlungshäuser vorbei. Das Thermometer auf der Preistafel einer Tankstelle zeigt siebenundzwanzig Grad im Schatten an. Es ist lange her, dass er so einen warmen Sommer erlebt hat.

Aus einigen Vorgärten lärmen Rasenmäher und randalieren Müller den letzten Rest gute Laune aus dem Hirn. Spießer und ihre Terrormühlen. Müller hat sie allesamt gefressen. Eine Mischpoke, die ihn an Revolution und Krieg denken lässt. Kranke egoistische Arschlöcher die auf Teufel komm raus jedem schönen Tag mit Lärm und Gestank den Garaus machen müssen. Gedankenlose Zombies ohne Feingefühl. Nichts als beschissene Zecken im Wabbelfleisch der Gesellschaft.

Eine Woche auf Krankenschein kommt ihm jetzt sehr gelegen und die peinliche Situation bei seinem Hausarzt hat er längst vergessen als er den Bürgersteig entlang schlendert und unfreiwillig Zeuge eines Gartenzaunstreits auf der anderen Straßenseite wird.

 

 

 

 

 

27. Kapitel: Der Flegel

 

Eine kleine alte grauhaarige Lady ist gerade dabei, ihren kleinen wuscheligen Hund in ein Beet mit Rosen kacken zu lassen. Als sie merkt, dass sie jemand aus einem der unteren Fenster des Hauses beobachtet, versucht sie gewaltsam ihren Hund an der Leine aus dem Beet zu ziehen. Aber der Köter sträubt sich, knurrt und gräbt sich mit allen vier Pfoten gegen die Zugrichtung in die frisch geharkte Gartenerde und hinterlässt zwei tiefe Furchen.

Der kleine Kerl versteht Frauchens Absicht nicht und bringt sich verständnislos immer wieder in Position. Er krümmt seinen Rücken und will loswerden, was schon zur Hälfte aus seinem kleinen verfilzten Hundearsch herausschaut.

„Was für ein Drama“, denkt Müller. Der kleine Hund tut ihm leid. Jedes Tier, Insekt, selbst der mieseste Knochen von einem Zweibeiner, haben das uneingeschränkte Recht, ihren Hintern an einen Baum zu lehnen um sich Erleichterung zu verschaffen. So sieht es Müller.

„Wenn ich seh, dat deine dämliche Töle noch mal in mein Vorgarten scheißen tut, ramm ich den Mistvieh diesen Besenstiel hier in sein Spundloch und verscherbel dein Mopp als Zuckerwatte an den nächsten Penner, der hier langmarschiert!“, hört Müller eine raue Männerstimme.

Müller kann den Mann nicht sehen, er steht im Hauseingang und der Hauseingang wird von einer drei Meter hohen Eibe verdeckt. Aber eins ist ihm jetzt schon klar. Der Typ hat offensichtlich seinen ganz eigenen Dialekt.

„Abgangszeugnis Hauptschule, Notendurchschnitt fünf Komma acht“, denkt Müller sarkastisch.

„Was erlauben Sie sich, Sie Flegel“, wert sich die Alte, „Sie haben wohl nie gelernt, wie man sich einer älteren Dame gegenüber benimmt?“

„Doch, doch, dat hab ich schon, du Schrawelflunze! Dat is nich dat erste Mal, dat dein stinkiger Bettvorleger in mein Garten scheißt, dat will ich dir aber mal sagen, du!“, pöbelt der Mann weiter.

Die Alte zerrt jetzt noch heftiger an der Leine. Der kleine Köter hat keine Chance und schrappt mit seinen Krallen über die grauen Bürgersteigplatten. Unaufhaltsam plumpsen ihm dabei kleine Köttel aus dem Hintern und verteilen sich über den frisch gefegten Gehweg.

„Mensch, halt bloß den verfitzten Flohsack dat Arschloch zu! Getz kann ich dem ganzen Bürgersteich noch mal fegen und wenn ich ’n Miststreuer sehen will, fahr ich nachen Land hin!“, bölkt der Flegel.

„Komm, Hänschen, mit so einem Wüstling müssen wir uns nicht unterhalten. Der hat seine Manieren sicher im Zuchthaus gelernt“, kontert die Alte erhobenen Hauptes und reißt weiter an Hänschens Leine rum. Aber Hänschen, der sich seinen letzten Brocken Notdurft am Kotflügel einer funkelnagelneuen S-Klasse abstreifen konnte, geht zur nächsten Fäkalattacke über. Er hebt sein Bein, erwischt die frisch pikierten Tomatensetzlinge des Flegels und setzt nebenbei die komplette Pflanzenschale unter Wasser. Außer sich über das ignorante Verhalten der alten Lady stampft der Mann mit einem Besen in der Hand Richtung Gartentor. Er zeigt mit dem Stielende auf den ahnungslosen Vierbeiner und schreit:

„Getz schifft dem kleinen Scheißer mir auch noch die Tomaten voll! … Mensch mach bloß, dat du hier bald Land gewinnst, du verkalkte Klawitterhexe, sonst is hier gleich Gemetzel, sach ich dir! Dann kannste dein Köter nach Icker inne Fettschmelze begraben! Dann machen se da ordentlich Seife von, sach ich dir!“

Genau so hat Müller sich den Typen vorgestellt: Trainingsanzug aus lila Ballonseide mit himmelblauen Streifen an den Außennähten und aus der offenen Jacke ragt ein nacktes, gepflegtes, sonnenverbranntes, haariges Pilsgeschwür (Bierbauch). Auf dem Kopf setzt sich die dunkle Haarpracht fort und endet glatt nach hinten gekämmt in seinem unrasierten Nacken. An den dreckigen Füßen trägt er gelbe Badelatschen, die ihm zwei Nummern zu klein sein dürften und seine Zehen in eine unnatürlich krumme Haltung zwingen.

Der Typ erinnert Müller stark an eine Figur, die seinerzeit Dieter Krebs in der Sendung „Sketch- up“ gespielt hatte. Der arbeitslose, biersaufende Prollo auf dem Sofa, der über alles Bescheid weiß und alles besser könnte als andere wenn man ihn nur lassen würde und nebenbei seiner kittelbeschürzten Frau beim Bügeln in den Arsch tritt.

„Wenn Sie meinem Hänschen auch nur ein Haar krümmen, Sie Grobian Sie, werde ich dafür sorgen, dass Sie dahin kommen wo sie hin gehören, nämlich wieder ins Zuchthaus“, kräht die Alte.

„Dat hamwo gerne“, brüllt der Flegel, „Dem Köter scheißt mir die Rabatten zu und du willst, dat ich dafür hinter Gitter komm! Außerdem, wenn de mal Bisken aufen Laufemden wärst und nich zugekalkt bis unterm Ponny, wüsteste, dat se dat Zuchthaus längst abgeschafft ham!“

Der kleine Köter, der neben dem ganzen Geplänkel sein Geschäft längst erledigt hat, ist mittlerweile dazu übergegangen, die klebrigen Kotreste aus seinem verfilzten Dreadlockarsch zu knabbern. Er leckt und zerrt und reißt sich dabei büschelweise das Fell aus seinem kleinen Kackarsch. Die Lefzen voll mit schmutzigen Fellresten, fängt der Kleine an, seinen Kopf zu schütteln. Einige Büschel lösen sich, wirbeln durch die Luft und nehmen Kurs auf den wütenden Hobbygärtner. Ein Fussel davon pappt sich an sein rechtes Hosenbein und Müller kann beobachten, wie die rötliche Gesichtsfarbe des Flegels in ein sattes Violett übergeht. Müller überlegt, ob er eingreifen soll, bevor die Sache vollends aus dem Ruder läuft, entscheidet sich aber dagegen. Für ihn hat dieser Tag schon problematisch genug angefangen, er muss nicht auch noch in einer Katastrophe enden. So wie sich die Dinge entwickeln, wäre es in diesem Moment durchaus möglich, dass der Flegel ‘ne Knarre zückt und Amok läuft. Oder der Alten mit dem Besen eins über brät. Oder den Köter vierteilt und der Lady zum Mittag serviert. Aber nichts von Müllers brutalen Vorahnungen soll eintreffen.

„Bennad, Bennad, komm getz in Haus! Kaffee is fettich und lass die Alte mit ihrn Köter in Ruhe! Und denk an dem Fahrrad, wat noch im Keller muss! Heute Abend fängt an Regen, sacht dat Fernsehn.“

„Ja mein Täubchen!“, ruft der Flegel, nimmt seinen Besen und verschwindet wieder hinter der drei Meter hohen Eibe.

„Pah!“, macht die Alte und dann sieht Müller, wie sie stolz und mit ihrem Fiffi gen City marschiert.

 

„Was für ein Wichser“, denkt Müller und setzt seinen Weg fort.

Für heute hat er genug erlebt. Die Scheiße zuhause, die Latte beim Arzt, der unfreundliche Busfahrer und dann noch das Theater am Gartenzaun geben ihm den Rest. Müller sehnt sich nach seinen vier Wänden. Er hat noch zwei Straßen vor sich und ist guter Dinge, seine Wohnung ohne weitere Unterbrechungen zu erreichen. Sein Gang wird schneller und was jetzt auch passieren mag, Müller würde es ignorieren. Er will sich auf keinen Fall mehr auf irgendwas einlassen. Noch eine Straße und einmal links ab, stolpert Müller in den Hauseingang.

„Geschafft“, freut er sich und schließt erleichtert seine Wohnungstür auf.

Eine Mischung aus Urin, abgestandenem Bier und kaltem Rauch gepaart mit saurem Mageninhalt schlägt ihm entgegen. Die Luft in seiner Bude ist zum Schneiden dick. Müller hätte vor seinem Gang zum Arzt die Fenster öffnen sollen. Verwirrt setzt er sich auf sein altes Sofa und findet noch eine volle Flasche Bier. Müller flippt mit seinen Zähnen den Deckel vom Hals und setzt an. Er nimmt einen tiefen Zug aus der Flasche und stellt sie auf den Couchtisch.

„Sammele dich“, mahnt er sich selbst, „sammele dich und dann reparier das verfickte Telefon.“

Er geht zum Schreibtisch und öffnet die unterste Schublade. In der linken Ecke findet er das kleine Etui mit dem Feinwerkzeug. Müller greift sich das Telefon, befreit die Schnur des Hörers vom Sofabein und setzt sich wieder hin. Nach einer Stunde Fummelarbeit vernimmt Müller wieder ein Freizeichen. Erleichtert kramt er den Zettel mit Lenas Handynummer aus der Ablage des Couchtisches und fängt an zu wählen. Hoffnungsvoll hält er sich den Hörer ans Ohr und wartet. Aber am anderen Ende der Leitung erzählt ihm eine Frauenstimme, dass der Teilnehmer momentan leider nicht zu erreichen ist. Enttäuscht legt Müller den Hörer wieder auf die Gabel und leert die Bierflasche. Er dreht sich eine Bulls-Houl, gibt sich Feuer und lehnt sich, eine gewaltige Rauchwolke ausstoßend, zurück in die Sofakissen. „Scheiß drauf“, denkt Müller, drückt die angerauchte Kippe in den Aschenbecher, steht auf, zieht sich aus und legt sich auf sein zerwühltes Bett. Müller will diesen verkorksten Tag so schnell wie möglich hinter sich bringen und macht die Augen zu.

Unvermittelt muss er an Sara denken. Eine kurze Beziehung, die schon lange zurückliegt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

28. Kapitel: Der penetrante Schmetterling

 

Sara war etwas größer als er, dünn und schlaksig. Ihre kurzen Haare färbte sie jeden Monat in einer anderen Farbe und ihr größtes Talent war die Lügerei. Aber das bekam Müller erst viel später mit. Sie hatte es in dieser Disziplin zu einer wahren Meisterschaft gebracht und das Komische daran war, dass sie nach einer gewissen Zeit ihren Mist selber glaubte. Müller lernte sie in einer Billardkneipe kennen. Das war so eine Kneipe von der Sorte, in der man beruhigt den harten Alki in sich rauskehren konnte. Dummes Rumgelaber, Rülpserei und Gefurze fielen da nicht groß auf. Wenn Müller sich bis zur Besinnungslosigkeit besaufen wollte um seine Probleme zu vergessen war das genau der richtige Ort. In dem Laden gab es nur einsame Säufer und einsame Säuferinnen und Müller passte in gewissen Gemütszuständen genau da rein.

An diesem warmen Spätsommerabend saß Müller an der Theke und hatte schon reichlich intus, als Sara sich neben ihn auf einen leeren Barhocker setzte. Er hatte sie erst gar nicht wahrgenommen. Aber anscheinend drehte sich nach ihrem Eintreffen alles um sie. Die Leute in der Kneipe, einschließlich des Barmannes, kannten sie und fingen gleich mit ihr ein Gespräch an. Sie hatte so eine raue Stimme und es lag etwas Lustiges darin. Eine Mischung, die Müller damals neugierig auf den Rest der Lady machte. Sie war eindeutig so etwas wie ein Star in diesem gammeligen Billardloch. Ihre Beine waren lang und sie war barfuß. An ihrem rechten kleinen Zeh steckte ein schmaler Silberring und bis rauf zu ihren Schenkeln hatte die Sonne ganze Arbeit geleistet. Sie trug eine weiße Hotpants, die eng ihre schmale Teile umspannte und die Hälfte ihrer kleinen Arschbacken preisgab. Das Fleisch war braun und fest und weckte Müllers Jagdtrieb. Oben rum trug sie ein eng anliegendes bauchfreies Trägershirt mit türkisfarbenen Streifen und auf ihre kleinen hervorstehenden Brustwarzen blieben Müllers Augen schließlich hängen. Er hörte sich selber sagen: „Jau, du…, für deine Hose brauchste aber ‘n Waffenschein.“

Am nächsten Morgen fand Müller sich in ihrem Bett wieder. Die weiße Vierundvierziger Hotpants lag neben der Matratze und sie trug nichts als einen weißen String mit Schmetterlingsmotiv vorne drauf. Sara schlief noch, als Müller seine Augen langsam öffnete. Er war nackt, hatte eine staubtrockene Kehle und einen heftigen Kater. Müller ging es damals sehr schlecht und darüber, wie er in Saras Bett gelandet war, machte er sich keine großen Gedanken. Sein erstes Ziel war die Toilette. Allerdings wusste er nicht wo er suchen sollte. Er hatte einen glatten Filmriss.

Sara wohnte in einem kleinen Holzhaus am Waldrand, Südhanglage. Das Häuschen diente dem Vermieter mal als Gartenhütte, bevor er auf die Idee kam, daraus Kapital zu schlagen.

Gegenüber stand das Haus des Vermieters. Die gesamte Energieversorgung der kleinen Hütte konnte man von dort aus steuern, was sich später für Sara, als der Vermieter sie aus dem Haus haben wollte, als großer Nachteil entpuppte. Aber das war eine Geschichte, die Müller nur noch am Rande mitbekam.

Saras Schlafzimmer war direkt unter dem Dach und ein Stockwerk tiefer gab es eine kleine Kochnische und ein kleines Wohnzimmer. Um die Hütte im Winter warm zu bekommen reichte ein kleiner Ölofen.

Als Müller dabei war die schmale Holztreppe nach unten zu torkeln musste er feststellen, dass er von vier aufmerksamen Hundeaugen beobachtet wurde. Auf dem Sofa lag eine dänische Dogge und auf einer Decke auf dem Fußboden ein Husky. Müller hatte nicht den Eindruck, dass die beiden vor Freude Männchen machen würden, wenn er sich an ihnen vorbei zwängen würde, um den gestrigen Abend in die Kloschüssel zu würgen. Drei Stufen und wenige Meter bis zur einzigen Tür in diesem Raum, die Müllers Vermutung nach als Toilettentür in Frage kam, trennten ihn noch, um sein Dilemma zu entsorgen. Den aufkommenden Gedanken, Sara zu wecken um ihm zu helfen, zerschlug er schnell wieder. Er musste es alleine schaffen. Er wollte bei seiner neuen Bekanntschaft nicht den Eindruck erwecken, ein weinerliches Weichei zu sein, und am ersten Tag schon ihre Bude voll kotzen, wollte er auch nicht. Also kratzte Müller seinen letzten Rest Courage zusammen und stieg langsam, unter den wachsamen vier Hundeaugen, die Treppe runter. Aber als er fast das Sofa mit der Dogge erreicht hatte, kam es armdick aus seiner Kehle und klatschte vor dem Sofa auf den Holzfußboden. Spagetti mit Pesto und Parmesan, fiel es Müller wie Schuppen von den Augen, hatte Sara gestern noch gekocht. Bei dieser Gelegenheit fiel ihm auch verschwommen wieder ein, dass er die Hunde schon einmal gesehen hatte. Sie warteten vor der Billardkneipe in Saras Auto. Im Suff hatte es Müller nichts ausgemacht, mit zwei großen Hunden auf dem Rücksitz bis zu Saras kleiner Hütte zu fahren. Aber Vorweg beichtete sie ihm noch, dass sie keinen Führerschein besäße und er auf eigene Gefahr mitfahren würde. Müller war das damals egal. Er war voll, mutig und geil. Der Gedanke, ob es im Bett überhaupt noch klappen würde, kam ihm in seinem Zustand nicht mehr.

Sara besaß einen kleinen VW-Polo, das war so einer mit Steilheck. Und an den Stellen, wo man die vier Stoßdämpfer vermutete, hätten auch vier Eisenstangen sein können. Der Wagen war mehr am hüpfen als am rollen. Die Mühle hätte ein Sportfahrwerk, hatte sie Müller damals weiß machen wollen. Ja, so war Sara, sie log, dass sich die Balken bogen. In Wahrheit waren die Stoßdämpfer einfach nur altersschwach und keinen Pfifferling mehr wert. Aber was soll’s, die Karre brachte die Vier heile ans Ziel.

Da stand Müller nun. Vor ihm auf dem Fußboden Spagetti mit Pesto und Parmesan, auf dem Sofa eine verständnislos glotzende Dogge und auf der Decke auf der Erde der Schlittenhund, der die Situation auf seine Weise, in dem er die Nase rümpfte, für sich klärte. Müllers Lage war an diesem Augustmorgen recht brisant. Er musste es nicht nur bis zum Klo schaffen, jetzt musste er auch noch überlegen, wie er den Schlamassel beseitigen könnte, ohne dass Sara etwas davon merken würde. Aber wie’s der Teufel will, hatte Müller Glück im Unglück. Die Dogge kletterte neugierig vom Sofa runter und fing an, Müllers peinlichen Auswurf aufzufressen. Der Husky blieb dabei auf seinem Platz und schlief wieder ein. Als die Dogge den mediterranen Leckerbissen bis auf den letzten Rest intus hatte, legte sie sich wieder auf das Sofa und fing an zu schnarchen. Müller war nicht mehr interessant und das war ihm auch recht so. Als hätte sie nur darauf gewartet, dass er ihr vor die Pfoten reihert. Müller hatte den Eindruck, dass die Dogge nicht zum ersten Mal mit Kotze gefüttert wurde. Ein komischer Gedanke den er aber schnell wieder verdrängte.

Der Weg zur Toilette war endlich frei, und Müller zögerte keinen Augenblick, von dieser neuen Freiheit Gebrauch zu machen. Er setzte sich, splitternackt wie er war, auf die Kloschüssel und ließ es laufen. Danach hängte er sich unter den Wasserhahn, um das klebrig-trockene Gefühl in seiner Kehle los zu werden.

Sara hatte er in ihrer kurzen Beziehung nie etwas von diesem verkorksten Morgen erzählt. Aber die dänische Dogge hatte nach dieser Aktion einen völlig anderen Stellenwert in Müllers Respektecke bekommen. Er fand das Vieh einfach nur noch dämlich. Der Husky hingegen entpuppte sich sehr schnell als intelligentes Wesen. Er wusste genau, wie sein Frauchen tickte und hatte nützliche Methoden entwickelt und dazu auch noch verstanden, sie gewinnbringend für sich einzusetzen. Eine davon war, einfach auf Durchzug zu stellen. Die andere war, das Feld zu räumen, wenn Frauchen schlecht gelaunt war. Er tat das immer sehr geschickt, so dass man es erst nach ein oder zwei Stunden merkte. Er hatte wohl mehrere Geheimplätze, wo ihn niemand finden konnte. Da half auch Saras wütendes Geschrei und Gepfeife nichts. Der Hund kam erst wieder, wenn sich die Wogen geglättet hatten.

An diesem Morgen lief nicht mehr viel. Müller stieg die Treppe wieder nach oben, kramte seine Klamotten zusammen, zog sich an und ließ sich von Sara nach Hause fahren. Die Unterhaltung im Auto war spärlich und ließ Müllers Hoffnung schrumpfen, Sara noch einmal wieder zu sehen.

Zwei Tage später stand sie abends mit ihrem Kopfkissen und einer Flasche Rotwein in der Hand vor seiner Tür. Sie leerten die Flasche bis zur Hälfte und kamen schnell zur Sache. Sara trug wieder ihren weißen Schmetterlingsstring, hatte aber ihre Hotpants mit einem kurzen knapp sitzenden schwarzen Rock getauscht. Zu diesem Zeitpunkt wusste Müller noch nicht, dass ihn dieser Schmetterling bis über das Ende ihrer Beziehung hinaus verfolgen sollte.

Sara hatte eine ziemlich lange Nase und für ihr Alter schon reichlich viele Falten auf der Stirn und um die Augen. Ihre Hände konnte man mit denen eines Bauarbeiters vergleichen und an ihren Füßen trug sie Schuhe der Größe vierundvierzig. Aber der Rest ihres Körpers hatte etwas von einem jungen Teenager, braun, fest und knackig. Für Müllers Geschmack nur etwas zu dünn. Aber dafür konnte sie nichts, denn an ihrem Essverhalten war nichts auszusetzen. Sara aß Portionen, die einem kanadischen Holzfäller alle Ehre gemacht hätten und sie war sogar futterneidisch. Müller bekam das oft zu spüren, wenn er für ihre Verhältnisse ein Stück Fleisch zuviel aß. Sie meinte dann immer, dass er fett genug sei und sie, aus schon rein medizinischen Aspekten, mehr als er essen müsse.

Nach einem Monat fing Sara an, Müller für den Mist, den ihre Hunde verzapften, verantwortlich zu machen. Ließen die Köter einen Furz, war er‘s. Pisste einer in die Bude, weil sie nicht früh genug mit ihm draußen war, hätte er es merken müssen und sich sofort die Leine schnappen müssen. Sabberte die Dogge auf den Tisch, hätte er dafür sorgen müssen, dass sie es nicht tut, indem er ihr schnell die Lefzen mit Klopapier abwischt.

Am Anfang hatte Müller sich noch in die Erziehungsmethoden ihrer Vierbeiner eingemischt, musste aber sehr schnell feststellen, dass Sara in dieser Angelegenheit nicht den geringsten Einspruch zuließ: Sie hätte schließlich ihr ganzes Leben lang schon mit Tieren zu tun gehabt und ihr Engagement im Tierschutzverein sei auch nicht von der Hand zu weisen.

Im Klartext hieß das: „Müller, halt die Fresse, du hast eh keinen Schimmer!“

Müller brachte damals in einem Anflug von Romantik, seinen selbst gebauten Kerzenständer mit in ihre Hütte. Den Ständer hatte Müller aus Holz gebaut und den Kerzenhalter aus Kupfer gedengelt. Er war schmal und hatte eine Länge von ungefähr einem Meter fünfzig und immer, wenn es Streit gab und es gab fast jeden Tag Streit, meistens im Suff, klemmte er sich das Ding unter den Arm und fuhr wütend mit dem Fahrrad nach Hause. Es dauerte oft nur zwei Tage, bis Müller mit dem Ständer wieder bei ihr auftauchte und es passierte nicht selten, dass er den Ständer am gleichen Tag wieder mit nach Hause nahm. Ganz genau kann Müller nicht mehr sagen, wie oft er mit dem Ding unter dem Arm nach Hause gefahren ist und wie oft er damit wieder zu ihr zurückgekommen war. Aber eins hatte das Ding ganz sicher … einen starken symbolischen Stellenwert. Hinter das Geheimnis, was für einen Stellen- wert das Ding in ihrer Beziehung hatte, ist Müller nie gekommen. Aber sicher ist, dass der Kerzenständer eine passive Machtposition eingenommen hatte. Ein stummes Mahnmal kreativer Stärke. Willst du mich nicht, bist du auch meinen Ständer nicht wert. Ich nehme dir mein Licht, dann stehst du wieder im Dunkeln. Genutzt hat der Schwachsinn nichts. Am Ende stand der Kerzenständer wieder einsam, als grinsender Zeuge einer kranken, Lebensenergie raubenden Beziehung, in Müllers Wohnzimmerecke und verstaubte.

Eines Tages erzählte Sara ihm, dass sie ein Kind, einen Jungen, von einem Polizisten hätte und dass das Kind bei ihm leben würde. Sie hätte sich von ihm getrennt, als sie noch schwanger war und ihn in flagranti mit einer blonden Polizistin erwischt hatte. Sie würde ihr Kind aber ab und zu besuchen. Drei Monate später erzählte sie Müller, dass ihr Sohn nicht bei seinem Vater leben würde, sondern bei Pflegeeltern und das sie ihn nicht besuchen dürfe. Aber schreiben dürfe sie ihm.

Müller hatte zu diesem Zeitpunkt schon die Schutzmechanismen des klugen Schlittenhundes angenommen und keinen Kommentar dazu abgegeben. Wahrscheinlich hätte er sich sonst wieder seinen Kerzenständer unter den Arm klemmen müssen. So konnte der Ständer erstmal bleiben wo er war.

Der Sex mit ihr war gut. Sara ließ sich immer wieder etwas Neues einfallen und sie übernahm gerne die Kontrolle. Sie zeigte ihm detailgenau, wie er sich bei ihr unten mit der Zunge anstellen musste. Das fand Müller spannend. Das hatte vorher noch keine gebracht. Er ließ sich da gerne unterweisen. Und sein Ehrgeiz besorgte ihr dann zwei bis dreimal am Tag einen schmetternden Höhepunkt, bevor er selbst am Zug war. Wobei er sich nie sicher sein konnte, ob sie ihre Orgasmen vortäuschte, oder ob sie echt waren. Denn mit der Zeit hatte Müller den Eindruck bekommen, dass aus Sara eine fantastische Schauspielerin geworden wäre, denn sie hatte neben einem natürlichen Hang zur Dramatik noch einen ausgeprägten Sinn zur Selbstdarstellung, gewürzt mit einen Tick Exhibitionismus oben drauf. Sie kreierte sich ihr eigenes Bühnenbild, das nach einer Weile fest in ihrer Realität verankert war. Und diese Realität hatten gefälligst alle zu schlucken, die mit ihr zu tun hatten. Da gab’s keinen Widerspruch.

Müller war damals arbeitslos und Sara half manchmal im Betrieb einer Freundin aus. Sie arbeitete bei ihr im Büro und es gab nicht jeden Tag etwas zu tun. So hatten er und Sara eine Menge Zeit zum Trinken, Ficken und Streiten. Diese Phase dauerte zwei Jahre, bis das Geld knapp wurde und Müller sich wieder einen Job suchen musste. Er hatte jetzt weniger Zeit für Sara. Aber dafür gab es zu Weihnachten einen großen Tannenbaum und gebackenes Zanderfilet mit Kartoffeln und Senfsoße. Sara schmückte den Baum und Müller saß auf dem Sofa, beobachtete sie und trank dazu Weizenbier. Sie unterhielten sich den ganzen Abend, tranken, vögelten und Müller fühlte sich wohl. Das war einer von den guten Tagen, die die Beiden hatten. Im nächsten Jahr betrog sie ihn mit einem Freund und gab ihm die Schuld. Sie meinte, dass er, seitdem er arbeite, keine Zeit mehr für sie habe und sie sich einfach einsam fühlte.

Sara besuchte Müller noch zwei Mal an seinen Geburtstagen. Beim ersten Mal schenkte sie ihm eine Flasche Sekt und hatte anstelle einer Schleife ihren weißen String mit dem Schmetterling vorne drauf um den Flaschenhals geknotet. Müller fragte sich damals, was der Scheiß soll und schickte ihr später das Symbol ihrer Leidenschaft per Post in einem großen Karton wieder zurück. Er legte einen Brief dazu, auf dem stand: Lass mich einfach in Ruhe! Gruß, Rainer.

Am zweiten Geburtstag hatte sie schon den Status eines fast ganz normalen Gastes. Zu einem dritten kam es nie.

 

Es braucht einen halben Tag Arbeit, bis Müller zufrieden ist und seine Wohnung nicht mehr nach Erbrochenem und Pisse stinkt.

Er war morgens früh aufgewacht und hatte nach dem Morgenkaffee seinen Putzmittelschrank im Bad geplündert, aber dieses Mal beim Putzen Gummihandschuhe verwendet. Doktor Hasewinkels Verband wanderte bei dieser Gelegenheit in den Mülleimer. Müller lässt seine Wunden lieber an der frischen Luft heilen.

Mit dem Staubsauger kümmerte er sich um die Wollmäuse und danach kreiste der nasse Feudel. Den kaputten PC-Bildschirm brachte er in seinen Kellerraum und die leere Kiste Bier verstaute er in dem kleinen Vorratsspeicher, den man von der Küche aus durch eine Schiebetür erreichen kann. Müller bezog sein Bett neu und stopfte die dreckige Wäsche in die Waschmaschine.

 

„So lässt sich’s wieder aushalten“, denkt Müller und steckt sich entspannt eine Selbstgedrehte an. Er geht rüber zur Fensterfront und schließt das erste Fenster. Als er am zweiten ankommt wirft er einen kurzen Blick zu Manne rüber. Die Corvette steht wieder mit heilen Scheiben an ihrem Platz. Hinter der neuen Windschutzscheibe steckt ein weißes Preisschild. Müller löscht seine Kippe zwischen Daumen und Zeigefinger und versucht zu erkennen, welche Summe Manne für den flotten Ami haben will.

„Keine Chance … zu weit weg“, brabbelt Müller und holt den Feldstecher aus dem Williregal.

Müller hält sich das Fernglas vor die Augen und peilt das Preisschild an. Er justiert die Schärfe und wundert sich: „Junge, Junge, ganz schön happig.“

Manne will 128.000 Euro für den Schlitten haben.

„Ganz schön happig“, wiederholt Müller sich. Er stellt den Feldstecher zurück auf seinen Platz und schließt auch das letzte Fenster, als es an der Tür klingelt.

„Wer ist da?!“, ruft Müller misstrauisch.

„Deutsche Post AG!“, hört Müller eine Frauenstimme. „Ich habe hier ein Einschreiben für Sie. Sie müssten mir den Empfang mit ihrer Unterschrift bestätigen!“

Erleichtert, nicht Harms‘ komische Stimme zu hören, öffnet Müller die Tür.

„Moin“, begrüßt er die Postfrau.

„Hallo“, erwidert die Postfrau mit einem Lächeln. „Hier, Ihr Einschreiben. Sie müssen da unterschreiben.“

Müller unterschreibt da und nimmt ihr den Brief ab.

„Danke“, sagt er, wünscht der Postlerin noch einen schönen Tag und schließt die Tür.

Polizeidirektion Osnabrück-Nord, steht als Absender auf dem Brief.

„Bestimmt die Vorladung vom Pinguin“, vermutet Müller und reißt den Umschlag auf.

 

Vorladung

 

Sehr gegehrter Herr Rainer Müller.

 

In der Ermittlungssache wegen Beteiligung u. a. zum Nachteil M. Linnert ist Ihre Vernehmung als Beschuldigter erforderlich.

Sie werden daher gebeten, am … um 09:30 Uhr, bei der oben genannten Adresse Zimmer 9 vorzusprechen.

 

Mit freundlichen Grüßen

H. K. Walter Harms

 

„So ein dreckiges Arschloch!“, schreit Müller und schmeißt wütend die Vorladung auf den Fußboden.

Er setzt sich aufs Sofa und schnappt sich das Telefon. Er wählt Hannes’ Nummer und wartet. Am anderen Ende meldet sich nur der Anrufbeantworter.

„Ey, Hannes!“, ruft Müller aufgebracht in den Hörer, „die Drecksau von Harms ist schon fleißig dabei, mich einzulochen! Ruf mich mal zurück!“

Müller knallt den Hörer auf die Gabel und schnappt sich seinen Tabak. Mit zittrigen Fingern versucht er aus den letzten Krümeln noch eine einigermaßen rauchbare Zigarette hinzubekommen. Aber er ist viel zu aufgebracht. Das Blättchen reißt und die Tabakkrümel verteilen sich auf dem frisch gewischten Fußboden vor dem Sofa. Alles, was er jetzt dringend nötig hätte, um sich wieder zu beruhigen, hat er nicht. Nichts zu rauchen, kein Bier, keine Lena. Müller geht zur Garderobe, greift sich seine alte Lederjacke und verlässt die Wohnung. Sein Weg führt ihn geradewegs zu Otto.

Ottos Fettschmelze beeindruckt den hungrigen Gast bei Tageslicht noch mehr als in der Abenddämmerung. Alles wirkt noch eine Spur abgewrackter und verkommener.

29. Kapitel: Der Stammgast

 

Wie jeden Tag um diese Zeit sitzt der alte Karl Lohmeyer in der linken Ecke am Tisch, als Müller den Laden betritt. Der Alte war schon bei der Eröffnungsfeier dabei und gehört seitdem unumstritten zum Inventar. Er bestellt immer dasselbe, ein Bier und einen Korn. Kenner sagen auch Herrengedeck dazu. Der alte Lohmeyer schafft fünf Herrengedecke in vier Stunden. Dann macht er sich wieder auf den Weg. Wohin auch immer, keiner weiß es. Er hat es nie verraten. Aber es hat auch noch nie jemand danach gefragt. Lohmeyer redet nicht viel. Er ist einer von den Stummen, die man in jeder Kneipe finden kann. Die Stummen, die immer schon da waren und keinem mehr auffallen. Und fragt mal einer, sagen sie ihm: „Wer …? Ach der. Das ist Punktpunktpunkt, der war hier schon immer.“ Wie so ein vergessener Fussel unterm Bett. Und das war’s dann auch schon. Karl Lohmeyer ist so ein Stummer. Einer von denen, die in stillem Einverständnis mit den anderen Gästen ihren Stammplatz beanspruchen und wie ein knöcheriger alter Baum auf ihr gesetzmäßiges Gewohnheitsrecht pochen. Nur, dass ihr Gesetz ungeschrieben ist. Aber genauso wirksam.

„Mahlzeit, Müllerchen. Wo haste denn deine Steht-mit-eener-Faust jelassen?“, sagt Otto, als er Müller durch die Tür kommen sieht.

Müller stellt sich vor den braunen Schandfleck und sagt:

„Otto, mach mir mal auch so ’n Herrengedeck und einmal wechseln für Aktive“, und hält Otto einen Zehn Euroschein vor die Nase.

„Wat is dir denn über die Leber jelofen, Müllerchen. Siehst aus wie ne olle Schrippe im Milchglas.“

Ohne auf die Antwort zu warten, nimmt Otto Müller den Zehner aus der Hand, öffnet die Kasse und wechselt auf einen Fünfer, zwei Zweier und einen Einer. Müller geht zum Zigarettenautomat, der seinen Stammplatz gegenüber von Lohmeyer hat, und zieht sich eine Schachtel Julis. Er reißt das Zellophan von der Verpackung, schnippt sich eine raus und steckt sie an. Er inhaliert so tief, dass beim Ausatmen kaum noch Rauch aus seiner Lunge kommt.

„Hier, Müllerchen“, sagt Otto und hält Müller väterlich den Kurzen entgegen. „Jeht uff’s Haus. Ick jlobe, den kannste jetze jut jebrauchen.“

Ohne ein Wort zu sagen, nimmt Müller Otto das Glas aus der Hand und kippt den Korn in einem Zug nach unten. Angenehm benebelt vom Alkohol findet Müller seine Sprache wieder: „Danke Otto, bist ’n wahrer Freund. Den hab ich jetzt wirklich gebraucht.“ Müller greift zum Bierglas, macht damit dasselbe und bestellt das Gleiche nochmal.

„Wat issen nu mit dir Müllerchen …, kann ick dir irjendwie helfen?“

„Ich glaube nicht“, sagt Müller und fängt an, Otto seine Geschichte zu erzählen.

Er erzählt ihm von der Rothaarigen beim Autohändler, dem alten Fierer, übergeht die Vögelei mit Lena im Auto und endet mit der Vorladung von Harms, worauf sich der alte Lohmeyer in seiner Ecke rührt und mit einer tiefen ruhigen Stimme sagt: „Ich glaube, den Fierer, über den du gerade gesprochen hast, den kenne ich.“

Müller bleibt der letzte Schluck Bier im Hals stecken, als er das hört. Er stellt das Glas auf den Tresen und schaut Lohmeyer an.

„Erzähl“, sagt Müller nur knapp. Und deutet mit einem Nicken auf sein leeres Glas. Otto versteht und macht sich an die Arbeit.

„Ich kenne den alten Professor aus dem Krieg“, sagt Lohmeyer. „Er war damals Leiter der Irrenanstalt am Riss. Er hat aussortiert, wer von den Bekloppten noch für die Maloche im Steinbruch taugt, oder wer es mit dem guten alten Deutz Diesel zu tun bekommen sollte.

„Wie“, fragt Müller neugierig, „der alte Fierer hat Behinderte ermordet?“

Lohmeyer nickt seinen Klaren in sich rein und redet weiter. „Wohl eher, ermorden lassen. Die Drecksarbeit haben andere für ihn erledigt. Viele von denen wurden damals nach Hadamar transportiert. Die hatten da mehr Kapazitäten, und mehr Feinschliff als die hier am Riss.“

Während Otto dem alten Lohmeyer ein neues Herrengedeck vor die Nase stellt fragt Müller:

„Woher weißt du das alles?“

„Mein Vater war da Hausmeister und musste sich so manches Mal um die Scheiße von den armen Schweinen kümmern. Er war dafür zuständig die grauen Busse wieder auf Vordermann zu bringen, nachdem eine Spezialeinheit die Leichen ins Krematorium gebracht hatte. Der alte Fierer achtete peinlichst genau darauf, dass niemand von dem Pflegepersonal die Toten zu Gesicht bekam.“

Müller bläst eine dicke Qualmwolke in die Luft und drückt den Stummel im Aschenbecher aus.

„Haben die Engländer denn den alten Fierer nach dem Krieg nicht drangekriegt?“

„Den alten Fuchs!“, erwidert Lohmeyer laut. „Der hatte überall Beziehungen und Gönner. Klar haben sie den vor Gericht gestellt. Aber er hat’s irgendwie gedeichselt, dass der Tommy ihm nicht die Rübe abgeschossen hat.“

„Wie kann das sein, dass der unbehelligt in Osnabrück lebt?“, sagt Müller und genehmigt sich einen Schluck aus dem Bierglas.

„Ach Müllerchen“, mischt sich Otto ein, „Du jlobst ja nich, wie viele von denen noch unter uns weilen. Jeden Tag jeht ener von den Drecksäcken an dir vorbei und du weest von nüscht. Mein Alter war och unterm Arm tättowiert und hat sein janzes Leben lang mit seinen Heldentaten jeprahlt und jlob mir, dit fan viele jut wat der jemacht hat.“

„Was hat dein Alter denn gemacht?“

„Der war bei der Gestapo und hat Juden uffjemischt und andere staatsfeindliche Subjekte, wie er dit immer so sagte.“

Um Lohmeyer bei Laune zu halten, bestellt Müller zwei Bier und bittet Otto, eins davon Lohmeyer zu bringen. Während Otto die Gläser unter den Zapfhahn hält, fragt Müller:

„Kennst du zufällig einen Hermann Müller?“

Lohmeyer überlegt einen kurzen Moment:

„Hermann Müller – Hermann Müller? Nein, kenn ich nicht. Jedenfalls nicht aus der Zeit, warum?“

„Ach“, sagt Müller, „nicht so wichtig.“ Und belässt es dabei.

 

Kurz vor Mitternacht sitzt Müller wieder auf seinem Sofa und versucht, Lena ans Telefon zu kriegen. Das Besetztzeichen am anderen Ende des Telefons lässt Müller hoffen. Er öffnet sich eine Flasche Bier aus dem Sixpack, den er sich von Otto mit auf den Weg geben lassen hat und schnickt sich eine Julis aus der Packung. Müller reißt ein Streichholz an und gibt sich Feuer. Er denkt dabei an seinen alten Freund Freddy und lehnt sich gemütlich, mit einem Lächeln auf den Lippen, die Füße auf den Tisch, in die Sofakissen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

30.Kapitel: Freddy’s Verwandlung

 

Freddy, wie man sagt, ein Bär von einem Mann, drohte mal seinem Zahnarzt, dass er ihm, wenn er ihm weh tun würde, auch weh tun würde. Müller lernte ihn auf einer WG-Party kennen. Freddy hatte dort ein Zimmer mit Atomkraft-Nein-Danke-Aufkleber an der Tür. Er war Parteimitglied bei den Grünen und fast jedes Wochenende unterwegs um gegen irgendwas zu demonstrieren und er aß nichts ohne Biosiegel auf der Verpackung und Tiere schon gar nicht. Dann war da noch Maike. Maike war Freddys Freundin und Freddy war schwer verliebt in Maike und als Maike auf Gran Canaria mit Alfons ins Bett stieg, verbrannte Freddy sein Parteibuch, kaufte sich ein Motorrad, tauschte Wollpullover gegen Kutte und wurde Mitglied einer Bikergang. Und da Freddy keine halben Sachen machte, ging er zweimal in der Woche zum Boxtraining. Es dauerte kein Jahr, da gehörte Freddy bereits zum harten Kern der Gang und wer ihm dumm kam, hatte nichts zu lachen. Wobei ihm dumm zu kommen nicht schwer war. Manchmal reichte schon ein nett gemeintes: „Hallo Freddy, wie geht‘s …? Alles fit im Schritt?“, dass Freddy kurz durchlud und der ambulanten Kieferchirurgie im Krankenhaus zu einem lukrativen Job verhalf. Auf der anderen Seite: Hatte man Freddy als Freund, konnte man sich hundertprozentig auf ihn verlassen. Aber bis es soweit war musste man durch eine harte Schule gehen.

 

Als Müller gerade an Freddys verfaulte Zähne denkt und seiner immens großen Angst vor dem Zahnarzt, klingelt das Telefon. Er nimmt ab und hält sich aufgeregt den Hörer ans Ohr.

„Hallo Raini, ich bin’s, Lena!“

„Hy Süße“, freut sich Müller.

„Hast grade versucht mich anzurufen?“, sagt Lena.

„Ja, hab ich“, sagt Müller und bekommt eine Gänsehaut von ihrer Stimme.

„Hab grad ‘ne Stunde mit meinem Vater telefoniert. Ich wollte ihm ein paar Euros aus der Tasche leiern, als er mir wieder mit meinem schlechten Lebenswandel kam. Er sagt immer, dass ich nicht eher Geld bekäme, bevor ich mir nicht einen anständigen Job besorge. Aber bis jetzt hat er mir immer die Miete überwiesen. Er meint, dass ich ein Händchen dafür hätte, mir die falschen Freunde auszusuchen … Stimmt das?“

Müller überlegt kurz, bevor er antwortet:

„Dann hast du diesmal den Jackpot geknackt. Ich habe einen anständigen Job und kann für mich alleine sorgen. Ich bin schuldenfrei und in der Lage, auf jeder Familienfeier die Bierkisten leer zu saufen. Außerdem pinkel ich im Sitzen … wenn es sein muss.“

Müller kann Lena am anderen Ende lachen hören und stellt sich dabei ihr kleines Grübchen vor.

„Wie wäre es, wenn wir uns morgen treffen?“, schlägt Lena vor.

„Hab nichts dagegen“, sagt Müller und merkt, dass so eine Art Glücksgefühl in ihm aufsteigt. Er hat schon fast vergessen, wie sich so etwas anfühlt und genießt es.

„Um acht im Merlin?“

„Okay, dann um acht im Merlin.“

„Bis dann“, sagt Lena.

„Werde da sein“, verspricht Müller und legt auf.

„Lenchen scheint aus gutem Hause zu sein“, vermutet Müller. „Geht nicht arbeiten und kann sich ‘ne Wohnung leisten – Papa zahlt – na denn.“

Müller raucht noch eine letzte Zigarette, schlürft den Rest Bier aus der Flasche, legt sich ins Bett, onaniert und lässt den Samstag auf sich zu kommen.

Es ist kurz vor zehn als Müller die Augen öffnet. Er steht auf, geht ins Bad, setzt sich aufs Klo und danach stellt er sich unter die Dusche. Sein Gehirn ist noch im Dämmerzustand und der andere Rest seines Körpers steckt noch im Standby-Modus, als das Telefon klingelt. Müller scheißt auf das Geläut und genießt mit geschlossenen Augen das warme Wasser, das jeden Teil seines Körpers umschmeichelt und ihn in eine Art Meditation versetzt, die ihn all die komischen Begegnungen und Ereignisse der letzten Tage für einen kurzen Moment vergessen lässt. Nach fünfzehn Minuten stellt Müller das Wasser ab und schnappt sich ein Handtuch. Er geht zum kleinen Hängeschränkchen, neben dem Spiegel und greift nach dem verstaubten Fläschchen mit dem teuren Aftershave, dass er nur zu besonderen Anlässen auflegt. Heute ist so ein besonderer Anlass. Er wird sich rasieren und um acht mit Lena treffen.

Das kostspielige Duftwässerchen hat Müller vor drei Jahren von Christel zum Geburtstag bekommen. Genau wie bei dem elektrischen Dosenöffner vor zwei Jahren dachte sie sich dabei, Müller auf den neuesten Stand der jeweiligen Zeit zu bringen. Einen versteckten Köder, damit er mal einen kleinen Einblick in die wundersamen Gewohnheiten der breiten Masse bekommt. Christel hat noch nie verstehen können, weshalb ihr Bruder so ein eigenwilliger und introvertierter Mensch ist, wo sie doch jede neue Mode-Erscheinung aufregend und spannend findet und die gleichen Müllerschen Gene in sich trägt.

Nach der Rasur benetzt Müller die wunden Stellen am Kinn, sprüht sich das teure Zeug unter die Achselhöhlen und weil man nicht wissen kann was der Abend so bringt, kippt er seinem kleinen runzeligen Freund auch noch eine Ladung über den Rüssel. Dann steigt Müller in eine frisch gewaschene Jeans und versucht, ein Paar Socken ohne Löcher im Schubfach unter dem Bett zu finden. Die Auswahl ist groß, aber ein Paar ohne Löcher, außer die weißen mit dem Krümelmonster drauf, kann er nicht finden. Er nimmt die grauen mit dem Loch am rechten kleinen Zeh und verstaut sie zusammen mit seinen Füßen in die alten Cowboystiefel. Er zieht das schwarze T-Shirt mit dem Motörhead-Logo an und geht in die Küche, um sich eine Tasse Kaffee zu holen. Er setzt sich aufs Sofa, greift zum Telefon und wählt Hinrichs Nummer.

„Brüggemeier!“ meldet sich Hinrich.

„Mahlzeit, Hinrich, hast wohl nie Feierabend, was?“

„Moin Rainer. Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, muss ich, während du im Bett liegst und mit deinen Eiern spielst dafür sorgen, dass sich die Räder drehen. Irgendwo muss die Kohle ja herkommen, die du für dein vieles Bier ausgibst.“

„Nu mach mal halb lang, Hinrich! Wer so einen Stiefel wie du verträgt, der muss im Training sein. Oder was oben rein läuft, läuft ohne ins Hirn zu steigen unten wieder raus und das wäre Geldverschwendung. Und da du der größte Geizkragen der nördlichen Hemisphäre bist, kann ich mir nicht vorstellen, dass du dir so deinen teuren Whisky in den Schädel hämmern würdest.“

„Siehst du, Müller, das unterscheidet uns. Ich genieße den Alkohol und du säufst den Alkohol. Ich kenne wenigstens die Geschichte und die inhaltlichen Zusammenhänge von meinem teuren Whisky. Aber du weißt nicht mal, ob der Braumeister mit seinem Pimmel oder mit der Kelle dein scheiß Bier umrührt, bevor er’s auf billige Plastikflaschen zieht.“

„Tja“, lacht Müller, „bei manch Sorte wird es wohl der Pimmel sein. Da muss ich dir zustimmen. Aber ich habe auch gehört, dass der rauchige Geschmack im Whisky nicht durch das Ausbrennen der Fässer kommt, oder vom spanischen Cherry, der vorher drin war.“

„Sondern?“

„Schottenkacke, Hinrich. Die reiben die Fässer vorher mit Schottenkacke aus. Dass wissen nur Eingeweihte.“

„Und du bist so ein Eingeweihter?“

„Klar Hinrich, hab den Jungs auf der Insel jahrelang meinen eigenen Morgenschiss als Schottenkacke angedreht und mich dumm und dämlich dran verdient … Im- und Export, sag ich nur und das ist auch der Grund, weshalb ich lieber Bier saufe.“

„Mensch, Müller, du kannst vielleicht einen Haufen Scheiß erzählen. Du solltest Bücher schreiben, anstatt mir auf den Sack zu gehen.“

„Ach, Hinrich, dir würde doch was fehlen, wenn ich dir keinen Scheiß mehr erzählen würde. Und jetzt mal was ganz anderes.“

Müller erzählt seinem Chef die Geschichte, die der alte Lohmeyer ihm über den Professor berichtet hat. Verschweigt ihm aber, dass sein Onkel Hermann da irgendwie mit drin hängt.

„So ein mieser Knochen“, sagt Hinrich. „Was meinst du, Rainer, sollen wir bei der Ratte weiter arbeiten?“

„Ich schätze mal ja“, sagt Müller, und dass er sich soweit wieder in Form fühlt, um am kommenden Dienstag die veraltete Haustechnik beim alten Fierer genauer unter die Lupe nehmen zu können.

Nach längerem Zögern ist Hinrich einverstanden. Will sich aber erst dann endgültig entscheiden wie es mit dem Alten weiter geht, wenn er Müllers Schadensanalyse vor sich liegen hat.

Müller wünscht Hinrich noch ein schönes Wochenende und legt den Hörer auf. Er denkt an Onkel Hermann. Er würde zu gerne wissen, was für eine Rolle er in dieser Geschichte spielt. Die Telefonnummer liegt rechts vor ihm auf dem Couchtisch und dieser Anblick lässt ihm keine Ruhe. Automatisch greift er wieder zum Telefon, nimmt den Hörer ab und wählt. Aber auf halber Strecke zum Ohr legt er den Hörer wieder auf. Er ist sich unsicher, wie er das Gespräch anfangen soll. Was wird sein Onkel von ihm denken, wenn er sich erst nach fünfunddreißig Jahren mal wieder bei ihm meldet?

Müller verschiebt das Telefonat auf Montag und geht zum Kühlschrank. Er köpft die vorletzte Flasche Bier und setzt sich wieder aufs Sofa. Er greift sich eine Julis und steckt sie sich zwischen die Lippen. Die Vorladung von Harms liegt wie ein ekliger Parasit vor ihm auf dem Fußboden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

31. Kapitel: Das Merlin

 

Um acht sitzt Müller im Merlin. Auf dem Tisch liegt ein frischer Beutel Bulls-Houle und daneben steht ein halber Liter Weizenbier. Müller hat sich einen Tisch im Raucherraum geangelt und hilft dem Raum dabei, seine vergilbte Berechtigung zu festigen. Er ist nervös und hat keine Erklärung dafür. Neben ihm steht ein Billardtisch und zwei Jungs, in Jeans, die ihnen bis zu den Kniekehlen runter hängen und Müller einen Einblick auf die Farben ihre Unterhosen geben, spielen das mieseste Billard, das er je gesehen hat.

„Cool“, sagt der eine trocken zum anderen, als der mit einem brutalen Anstoß die weiße Kugel, über die Tischkante durch die offene Tür mit einem lauten Knall in den Nebenraum ballert.

„Yeep, man“, sagt der andere, genau so trocken und macht sich langsam auf den Weg zur Kugel. Er versucht, in seinem Gang, eine lockere Federung einzubauen, so wie die schwarzen Hip Hoper in Amerika, was ihm aber gründlich misslingt.

Als Müller sich den letzten Schluck aus seinem Glas genehmigt, steht der andere wieder vor dem Billardtisch und legt die weiße Kugel auf den Spot. Er reibt die Pomeranze seines Kös übertrieben mit Kreide ein und macht keinen Hehl daraus, dass sein vorangegangener Fehlstoß, der zu kurz gekommenen Einkreidung zuzuschreiben ist.

„Wenn der Bauer nicht schwimmen kann, liegt’s an der Badehose“, denkt Müller sarkastisch.

Beim nächsten Anstoß trifft er das Dreieck voll und schafft es, mit einem Schlag die schwarze Acht zu versenken.

„Cool“, sagt der Eine trocken.

„Yeep, man“, sagt der andere trocken, stellt sein Kö in die Ecke und federt gen Ausgang. Der eine stellt seins daneben und federt hinterher.

„Echt cool“, denkt Müller trocken und bestellt sich trocken noch einen Halben.

Als er das Glas bis zur Hälfte geleert hat steht Lena in der Tür. Sie fetzt ihre kleine Umhängetasche unter den Tisch, stürzt sich in seine Arme und gibt ihm einen langen Kuss.

„Du hast mir so gefehlt“, flüstert sie ihm ins Ohr und schmeißt ihren Hintern auf seinen Schoß.

„Du mir auch“, sagt Müller und schaut ihr dabei direkt in die Augen. Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr, sein gut eingerichtetes Singleleben hat einen Sprung bekommen.

„Ich würd ’s am liebsten gleich hier mit dir machen“, sagt Lena leise und knabbert ihm dabei am Ohrläppchen rum.

„Schätze, dann würde uns die Sitte einlochen“, sagt Müller, halb betäubt von ihrem Duft.

„Scheiß auf die blöde Sitte“, jammert Lena spielerisch, vergräbt ihre linke Hand zwischen Müllers Oberschenkel und steckt ihm ihre Zunge ins Ohr. Mit den Fingerspitzen der anderen Hand streichelt sie zärtlich seinen Nacken. Müller kann sich nicht mehr beherrschen und lässt seine rechte Hand über Lenas rechtes Bein nach oben wandern, bis ihn die harte Jeansnaht zwischen ihren warmen Schenkeln stoppt. Er spürt, dass ihre Küsse heftiger werden und sich ihre Fingernägel tiefer in seinen Nacken bohren, wenn er mit seinem Zeigefinger in kurzen Intervallen einen leichten Druck auf die Stelle ausübt, wo er ihre zarte Perle vermutet.

„Nicht so schnell, sonst bin ich ja gleich schon da“, flüstert Lena, als sich seine Hand immer tiefer zwischen ihre Beine gräbt. Müller spürt, dass sie zittert und dass ihm dasselbe passieren könnte, wenn er so weiter macht.

„Dann lass uns erstmal was trinken“, schlägt Müller vor und legt seine Hand auf ihr Knie.

Lena schaut ihm lächelnd in die Augen und nickt zustimmend. Sie hüpft von seinem Schoß, schnappt sich einen Stuhl und setzt sich ihm gegenüber.

„Bestellst du, oder soll ich?“, sagt sie und holt ihre Zigaretten aus der kleinen Umhängetasche. Sie pult zwei aus der Packung, steckt sie sich zwischen die Lippen und zündet sie an. Eine davon, steckt sie Müller zwischen die Lippen.

„Was möchtest du denn trinken?“, sagt Müller.

„Ich nehme mal – ein großes Pils. Von Weizenbier werde ich noch speckiger als ich schon bin“, meint Lena. Wobei Müller nicht erkennen kann, welche Stelle ihres Körpers sie meinen könnte. Für ihn ist sie perfekt. Er hatte noch keinen Speck von ihr in der Hand gehabt. Alles, was er in der Hand hatte, fühlte sich gut an … sehr gut sogar!

„Na dann, geh ich mal um die Ecke und hol uns was“, sagt Müller, steht auf und geht zum Tresen.

Rund um den Tresen süffeln die Nichtraucher. Sie stehen direkt an der Quelle und haben den Vorteil, prompt bedient zu werden. Im Raucherbereich könnte es sein, dass man eine Stunde auf die Bedienung wartet. Aber diese kleine Diskriminierung nimmt Müller gerne in Kauf. Bier trinken ohne rauchen …, nicht mit Müller.

Zwischen all den Nichtrauchern federn auch die beiden Homies und auf der Platte vor ihnen stehen zwei Dosen Black Cow. Müller beachtet sie nicht weiter und bestellt bei der Barfrau die Getränke.

 

Als Jugendlicher war Müller fast jeden Abend im Merlin. Aber jetzt ist es schon einige Jahre her, als er das letzte Mal da war. Der Besitzer hatte mittlerweile gewechselt und anstatt Bockwurst mit Kartoffelsalat gibt es jetzt jugoslawisches Essen. Man mag es als Fortschritt sehen, oder nicht. Müller ist jedenfalls ganz froh darüber, dass der Besitzer gewechselt hat, denn sein letzter Abend in der Kneipe endete in einer wüsten Schlägerei und einem Hausverbot auf Lebenszeit.

 

Die ahnungslose Barfrau stellt die beiden Biere vor im auf den Tresen und kassiert das Geld. Müller bezahlt mit einem Zehner und steckt sich die drei Euro Wechselgeld in die Tasche.

„Dreifünfzig für einen Scheiß Halben“, denkt er, „vierzehn Kracher hätte zu D-Markzeiten keiner auf den Tisch gelegt.“

Als er Zurück in den Raucherraum geht sitzt Lena mit ihrem Handy am Ohr auf der Billardtischkante. Müller stellt die beiden Biere auf den Tisch und setzt sich.

„Diese beschissenen Handys“, denkt er, „killen jede Konversation.“

Ohne ihn anzusehen, vertieft in ihr Gespräch, lässt sie sich von der Billardtischkante rutschen und verzieht sich in die hinterste Ecke. Müller genehmigt sich einen Schluck aus dem Glas und versucht etwas von dem Gespräch mitzubekommen. Keine Chance. Aber nach Lenas Mimik und Gestik zu urteilen, muss es sich um ein sehr ernstes Gespräch handeln und als er Tränen auf ihren Wangen sieht wird ihm klar, dass dieser Abend gelaufen ist. Im gleichen Atemzug, in dem Müller sich den letzten Schluck aus seinem Glas in die Kehle schüttet, beendet Lena ihr Telefonat und sackt kraftlos, wie ein Mensch, der gerade erfahren musste, dass er unheilbar krank ist, in sich zusammen. Müller stellt das leere Glas auf den Tisch und geht zu ihr. Er hockt sich neben sie, legt seinen Arm um ihre Schulter und fragt:

„Was ist denn los, Süße, was ist passiert?“

„Kann ich dir jetzt nicht sagen.“

„Warum denn nicht?“

„Später, Rainer. Ich muss jetzt gehen.“

„Soll ich dich bringen?“

„Nein, lass mich einfach in Ruhe“, sagt sie, geht zum Tisch, nimmt ihre Tasche und verlässt, ohne sich von ihm zu verabschieden, das Merlin.

„Was für ’n Scheiß geht denn jetzt schon wieder ab“, denkt Müller. Er ist verwirrt und gleichzeitig geht ihm Lenas Misstrauen schwer an die Nieren. Müller spürt die Wut in sich aufsteigen. Längst tot geglaubte Gefühle randalieren durch seinen Körper und zetteln dabei einen Krieg an. Herz gegen Verstand. Amors Knebel hat sich fest um seine Eier gelegt und fordert Satisfaktion. Alles sichere Zeichen dafür, dass er schon viel zu tief drin hängt, im Morast des kollektiven Humanismus mit all seinen sinnvollen und idiotischen Facetten.

Müller geht zurück zu seinem Platz und versucht sich mit Lenas abgestandenem Pils wieder etwas auf Vordermann zu bringen. Was auch immer sie für einen Scheißhaufen an den Hacken kleben hat, ist er ihr jetzt dankbar dafür, dass sie einfach so gegangen ist. Müller bestellt sich noch einen Halben und überlegt, ob es nicht besser wäre, nach Hause zu gehen. Eine andere Option wäre, sich in diesem gammeligen Raucherraum einfach die Kante zu geben. Am Geld sollte es nicht liegen, davon hat er genug im Portmonee.

„Tja, so ist das, wenn man seine Innereien nicht im Griff hat.“

Erst in diesem Moment bemerkt Müller den Neuzugang in der linken Ecke neben dem Spielautomaten.

„Was meinst ’n damit?“, sagt Müller und schaut sich den Typen mal genauer an. An seinen Klamotten kann er nichts Besonderes finden. Aber mit seiner Frisur muss der Typ in den Achtzigern hängen geblieben sein.

„Tja, hab’s mir nicht aussuchen können. Meine Augen und Ohren sind noch top.“

„Was heißt hier noch? Du bist doch höchstens so alt wie ich.“

„Sechzig.“

„Wie –, sechzig?“, sagt Müller.

„Baujahr, Mann“, sagt der Typ.

Müller dreht sich eine, gibt sich Feuer und legt die Kippe in den Aschenbecher. Ohne den komischen Typen weiter zu beachten, holt er sich einen frischen Halben von der Theke und setzt sich wieder an den Tisch. Ihm ist jetzt nicht nach zwischenmenschlichem Gedankenaustausch.

„Ich kannte mal einen, der hielt nichts von Monogamie“, plappert der Typ.

„So?“, Müller knapp.

„Ja. Er meinte, dass das ganze Elend dieser Welt am Festhalten der Monogamie und an der trügerischen Moral der Religionen läge.“

„Da kann ich dem, den du kanntest, nicht widersprechen. Aber irgendwie ist mir das auch scheißegal“, versucht Müller das Gespräch zu beenden. Er trinkt einen Schluck Bier und dreht sich noch eine.

„Der Mensch glaubt, alles besitzen zu müssen“, plappert der Typ weiter, „weil Besitz die Voraussetzung von Macht ist!“

„Scheiße Mann!“, bellt Müller den Prediger an, „Merkst du nicht, dass ich keinen Bock auf deinen philosophischen Krempel habe! Das ich hier einfach nur in Ruhe sitzen und mein Scheiß Bier saufen will?! Ich brauch keinen Meister, der mir den Weg zur beschissenen Erleuchtung zeigt und mir nebenbei, meine letzten paar lumpigen Kröten aus der Tasche leiert, nur um sich dann damit die hundertste englische Nobelkutsche zu kaufen …, alles klar?! Wer bist du eigentlich? Hast du keine Freunde, denen du ’ne Klinke an den Sack labern kannst?!“

Ohne auf Müllers Fragen zu reagieren widmet sich der Philosoph dem Spielautomaten und versenkt mit einem metallischen Geräusch zwei Zwei-Euro-Stücke in den Bauch der innovativen Suchtmaschine.

„Soviel zu Anstand und Moral“, denkt Müller und verlässt schlecht gelaunt das Merlin.

Und es hat mal wieder wunderbar geklappt, dass ihm seine Mitmenschen den Abend versaut haben. Zuerst die Billardprofis, der Scheiß mit Lena und dann noch diese Vokuhila-Arschgeige.

Auf dem Weg nach Hause kauft Müller an einer Tankstelle sechs Dosen Bier. Verstaut sie in eine Plastiktüte und findet auf halber Strecke eine Bank in einer ruhigen Ecke neben einem Kinderspielplatz. Müller dreht sich eine, reißt die erste Dose auf und leert sie bis zur Hälfte. Im Mülleimer neben der Bank findet er ein Pornoheft und schlägt die erste Seite auf. Gina Wilde im durchsichtigen Spinnenbody besorgt‘s sechs Männern gleichzeitig.

„Verdammt alter Schinken“, sagt Müller leise zu sich selbst, „Gina ist schon seit Jahren aus dem Geschäft.“

Er nimmt noch einen Schluck aus der Dose und will die nächste Seite aufschlagen. Keine Chance, hier hatte einer ganze Arbeit geleistet. Müller hätte es wissen müssen, dass man so ein Pornoheft nicht wie die Neue-Osnabrücker-Zeitung liest. Angeekelt schmeißt er Gina wieder in den Mülleimer und kippt sich fluchend den Rest Bier aus der Dose über die Hände. Müller knackt die nächste Dose und macht sich wieder auf den Weg. Er denkt darüber nach, wie es wäre ein Pornostar zu sein, gerät an einem Bordstein ins Straucheln und stolpert in eine Dornenhecke. Glücklich über das Gefühl, die bereits geöffnete Dose Bier noch unversehrt in der rechten Hand zu halten, versucht er sich zu orientieren. Seine linke Hand steckt zwischen den dornigen Zweigen fest und schmerzt. Blut läuft warm von seiner Stirn über die Nase und tropft zäh auf seinen rechten Oberschenkel. Müller rappelt sich auf und fängt laut an zu lachen. Das Pärchen, das ihm eben noch entgegen kam, wechselt die Straßenseite und legt einen schnelleren Gang ein. Sie können nicht wissen, dass der Sturz in die Dornenhecke Müller sofort an Blikis Geschichte mit dem Gummifetischisten erinnert hat.

„Ja, lauft nur alle weg! Haut bloß ab! Ihr Ignoranten!“, ruft Müller den Beiden nach. „Ich bin der Gummimann von Ossenbridge Castle und zeige jeder verfickten Tussi in dieser vor Verblödung triefend, stinkenden Stadt, meine Pissgurke und wedel mir dabei den Schmand aus den Klöten!“

Müller setzt die Dose an und macht sie leer. Er befreit sich langsam aus der Dornenhecke und hält Ausschau nach der Tüte mit den restlichen Bierdosen. Aus einem Fenster im Erdgeschoss ruft eine Männerstimme:

„Machen Sie bloß, dass Sie hier verschwinden! Sonst rufe ich die Polizei …, Sie Saufbold!“

Müller lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und entdeckt die Tüte in etwa zehn Metern Entfernung neben einer Straßenlaterne liegen. Eine Dose liegt verbeult daneben, die restlichen drei scheinen sich noch in der Tüte zu befinden.

„Der Mensch muss auch mal Glück haben“, denkt Müller. Während er sich umständlich aufrappelt, zerquetscht er die leere Dose mit der Hand und nutzt die dornigen Zweige der Hecke als Endlager.

„Und nehmen sie bitte ihren Müll mit!“, ruft wieder die Männerstimme.

Müller versucht einen Blick auf den Schreihals zu werfen, kann ihn aber nicht entdecken. In keines der offenen Fenster kann er eine Gestalt, oder ein Gesicht sehen.

„Komm doch raus, du feiges Arschloch!“, brüllt Müller, „und zeig mir, was du dagegen unternehmen willst! … Wenn ich will, steck ich deinen verschissenen Arsch gleich mit in diese verpisste Dornenhecke!“

„Ich habe die Polizei schon angerufen!“, hört Müller wieder die Männerstimme.

„Na, dann fick dich doch ins Knie!“, brüllt Müller zurück, greift sich die Tüte und die einsame verbeulte Dose und macht, dass er da weg kommt. Polente hatte er schon genug in den letzten Tagen, und dass der Typ die Bullen gerufen hat, daran besteht kein Zweifel.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

32. Kapitel: Uli und Iwan

 

Vor zweiunddreißig Jahren hatte Müller sich noch aus reiner Notwehr in irgendwelche Hecken werfen müssen. Er war damals mit Uli und Iwan unterwegs. Wenn die Langeweile sie am Wickel hatte, fing meistens einer von den Dreien an, auf fremde Haustürschellen zu drücken. Sie nannten die Aktion Mäusepingeln. Die meisten reagierten nicht auf das Geläut, aber es gab auch welche, die die Verfolgung aufnahmen und sauer nach ihnen suchten. Da war so eine Hecke immer ein prima Versteck. Es war klar, dass Choleriker bei den Dreien ganz oben auf der Liste standen. Ihr Lieblingscholeriker war der dicke Meyer. Der stieg sogar in seinen blauen Fiat um sie dran zu kriegen und er war sehr ausdauernd. Es gab einen Abend, da verfolgte er das Trio über zwei Stunden lang und fast hätte er Müller erwischt. Müller hockte in einem Busch und konnte den dicken Meyer neben sich schwer atmen hören. Mit nur knapp einem Meter Abstand entging er damals einer Katastrophe.

Uli war der Organisator. Er klaute alles was gerade gebraucht wurde. Fehlte eine Decke fürs Schwimmbad, ging Uli ins nächste Kaufhaus, klemmte sich eine unter den Arm und ging damit einfach an den Kassen vorbei durch die Tür nach draußen. Sein größter Cup war ein ferngesteuertes Modellauto. Der Karton war fast so lang und so breit wie er selbst. Aber auch damit hielt ihn keiner vom Kaufhauspersonal auf. Niemand traute einem Vierzehnjährigen soviel Dreistigkeit zu. Eine andere Erklärung gab es dafür nicht. Später verlegte er sich darauf, noch sein Portmonee auf die Beute zu legen, denn bei Modellautos blieb es nicht. Seine Maranz Stereoanlage hatte ihm keine müde Mark gekostet.

Müller und Uli gingen in dieselbe Klasse. Uli musste ein Jahr nachholen. Er war knapp zwei Jahre älter als die anderen. Während der Rest der Klasse noch kein Haar am Sack hatte, hatte Uli schon reichlich davon. Der Physikunterricht fand meistens im Physiksaal statt. Dort gab es nach vorne geschlossene Tischreihen. Uli, Müller und ein paar von den anderen Jungs hatten mit Physik nicht viel am Hut und hatten ihre Plätze in den hinteren Reihen. Der Unterricht war stumpf und langweilig und um sich die Zeit zu vertreiben, stachelten sie Uli jedesmal an, seinen Dicken aus der Hose zu holen. Uli war für sein Alter überdurchschnittlich gut entwickelt und ließ sich nicht lange bitten. Er schwenkte das große, haarige Ding einige Male hin und her und packte es wieder in die Hose. Ihm gefielen die neidischen Blicke seiner Kameraden und mit der Zeit tat er es auch ohne, dass sie ihn vorher anstacheln mussten. Die Mädchen in der Klasse hielten sich da raus. Sie interessierten sich nicht für Uli oder seinen Bammelmann. Jedenfalls taten sie so. Wenn man’s genau nimmt, war Uli auch nicht der Hellste und die Mädchen hatten das schnell begriffen. Sie hielten ihn strikt für einen Vollidioten.

Da Uli schon rein hormonell bedingt auf einem anderen Level als Müller und Iwan war, nahm er sich im Freibad mit Vorliebe die Umkleidekabinen der Ladys vor. Es gab mehrere Reihen von blauen Kabinen. Sie standen frei in einem großen Raum, der nach vorne hin offen war. Eine Reihe hatte zehn Umkleidekabinen, fünf auf der einen Seite und fünf auf der anderen Seite, Rückwand an Rückwand. Uli lag den ganzen Tag auf der Lauer und wenn er ein Opfer ausbaldowert hatte, schlich er sich in die gegenüberliegende Kabine. Es gab zwei Möglichkeiten, die Ladys zu beobachten. Die eine, sich auf die Kabinenbank zu stellen und dann vorsichtig über den Rand nach unten zu spähen und die andere, sich auf den Boden zu legen um drunter her zu linsen. Uli bevorzugte die zweite. Er nannte sie: den Fotzenglotzer. Danach berichtete er Müller und Iwan detailgenau, was er gesehen hatte und da die beiden keine Ahnung hatten wovon er sprach, glaubten sie ihm auch jeden Scheiß und taten so, als wüssten sie genau was er meinte. Auch als Uli ihnen von der Frau mit dem Lippenstift erzählte. Sie hätte sich das Ding unten rein gesteckt und laut gestöhnt. Müller und Iwan fanden es ekelig, aber Uli schien darüber mehr zu wissen. Eines Tages erwischten sie Uli und er kam nochmal mit einer Verwarnung davon. Der Bademeister hatte sogar Verständnis für Uli und schlug ihm vor, sich stattdessen lieber irgendeine Zeitschrift mit nackten Weibern drin zu besorgen.

Eine Woche später schmissen sie Uli endgültig aus dem Freibad. Er hatte, während er durchs Becken paddelte, einen Braunen abgeseilt. Zu Müller und Iwan sagte er später, dass er nicht damit gerechnet hätte, dass Scheiße oben schwimmt. Er war der festen Überzeugung, dass Scheiße schwerer ist als Wasser. Aber diesen Irrtum konnte man Uli nicht ankreiden, da er ja im Physikunterricht ständig abgelenkt wurde und seinen Bammelmann herzeigen musste.

Erst vor zwei Wochen traf Müller Uli an einer Tankstelle wieder. Sie hatten sich zwanzig Jahre nicht gesehen. Uli erzählte ihm, dass er gerade drei Wochen Knast hinter sich hätte, wegen Sachbeschädigung und Trunkenheitsfahrt mit dem Motorroller. Sie unterhielten sich eine Weile ganz normal so, über dies und das und alte Zeiten, bis Uli die Augen verdrehte und laut: „Fotze lecken!“, schrie. Müller hatte keine Ahnung, dass Uli wahrscheinlich am Tourette-Syndrom litt und verließ schnell den Tatort. An weitere Konversation war nach diesem Ausraster nicht zu denken. Uli war ganz klar nablo und die vergangenen Jahre hatten ihn zum Alkoholiker werden lassen und wer weiß, was sonst noch.

Müllers Freund Iwan starb mit sechzehn Jahren bei einem Verkehrsunfall. Ein besoffener Autofahrer rammte ihn samt Fahrrad mit circa einhundert km/h. Iwan war auf dem Weg nach Hause. Er hatte keine Chance.

 

Es wird bereits hell, als Müller die Tür zu seiner Wohnung aufschließt. Er hatte noch einen Umweg gemacht und sich bei Otto den Rest gegeben. Normalerweise schließt Otto um Mitternacht, aber für Freunde, Nachtschwärmer, Nutten und Zuhälter, die sich nach getaner Arbeit noch mit einer Currywurst belohnen wollen, drückt Otto schon mal ein Auge zu. Es kommt vor, dass Otto seinen Laden erst früh morgens um sieben dicht macht.

Müller zieht die Tür hinter sich ins Schloss, verliert das Gleichgewicht und schlägt lang auf den Fußboden. Mit dem Gedanken, dass er in seinem Alter die Fingen vom Wacholderschnaps lassen und lieber beim Bier bleiben sollte, schläft er ein.

Die Sonne brennt bereits senkrecht auf die Stadt runter, als Müller vorsichtig das linke Auge öffnet und in das grelle Licht seiner IKLERA Flurdeckenleuchte OLAF linst. Müller liegt auf dem Rücken und er hat das Gefühl, dass er es nicht mehr bis zur Toilettenschüssel schaffen wird, wenn er noch das rechte dazu nimmt.

„Scheiße“, denkt Müller, „ich brauch unbedingt was gegen dieses verdammte Schädelreißen.“

Er hat keine Wahl. Langsam öffnet er auch das rechte Auge. Er hat Glück. Sein verkorkster Magen rumort und schmerzt, behält aber das ungesunde Gemisch aus Bier, Wacholderschnaps und Currywurst bei sich. Müller wird jetzt mutiger und versucht sich auf den Bauch zu drehen. Auch dagegen hat sein Magen noch nichts. Aber als er versucht aufzustehen, gibt es nur noch zwei Möglichkeiten: Schirmständer oder Fußbodenfliese in Terrakotta-Optik. Müller entscheidet sich für den Schirmständer. Es dauert eine Weile, bis der Würgereiz nachlässt und er versuchen kann, sich auf die Beine zu stellen.

 

Eine Freundin sagte mal nach durchzechter Nacht, dass er der typische Saufkotzer wäre und dass er seine dämliche Sauferei lieber an den Nagel hängen sollte. Es sei offensichtlich, dass er mit Alkohol nicht umgehen könne. Seine ständige Kotzerei danach würde ihr tierisch auf die Nerven gehen.

Müller hatte ihr darauf geantwortet, dass sie ihr blödes Maul halten solle und dass er nur deshalb mit ihr zusammen wäre, damit er jemanden hat, der den Scheiß wieder vom Fußboden wischt. Müller war damals so sauer wegen ihres Vorwurfs, dass er ihr dazu noch den Wischfeudel vor die Füße warf und ihr mit einem kurzen Kopfnicken zu verstehen gab, endlich ihren Job zu erledigen. Diese Beziehung dauerte nur zwei Monate.

 

Müller stellt einen Fuß vor den anderen und schafft es bis ins Bad. Er greift sich eine Brausetablette und hält den Zahnputzbecher unter den Wasserhahn. Er schmeißt die Tablette dazu und wartet, bis sie sich aufgelöst hat. Dann leert er den Becher in einem Zug und füllt ihn nochmal mit Wasser. Als er auch den intus hat, sucht er in seinen Taschen den Tabak. Schließlich findet er ihn in der linken Gesäßtasche und dreht sich eine. In der rechten Hosentasche findet er das Feuer dazu und inhaliert den ersten Zug so tief, dass auch noch das letzte Lungenbläschen zu seinem Recht kommt. Müller würde jetzt gerne einen Kaffee trinken. Aber als langjähriger und erfahrener Süffel weiß er, dass das in seinem Zustand nur dazu führen würde, dem Schirmständer noch eine Ladung zu verpassen. Müller geht ins Wohnzimmer, drückt die angerauchte Kippe in den Aschenbecher, legt sich aufs Sofa und schließt die Augen. Sein Kopfschmerz beschert ihm nur einen leichten Schlaf und lässt ihn wirres Zeug träumen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

33. Kapitel: Der Naziverbrecher

 

Um achtzehn Uhr wird Müller von seinem Telefon geweckt. Er rappelt sich auf, nimmt den Hörer von der Gabel, klemmt ihn sich zwischen Schulter und Ohr und greift zum Tabak.

„Ja, wer ist denn da?“, sagt Müller mit rauer Stimme.

Er bekommt kaum einen klaren Ton raus. Sein Mund ist trocken und der ekelige Geschmack von fauliger Karies liegt ihm auf der Zunge

„Ich bin’s, dein Onkel Reinhold.“

Mit Reinhold hat Müller nicht gerechnet.

„Reinhold, sei mir nicht böse, aber das überrascht mich.“

„Ach, papperlapapp“, sagt Onkel Reinhold und Müller erinnert sich wieder, dass dieses „Papperlapapp“ schon damals seine Lieblingsfloskel war, wenn er sich unsicher fühlte oder anderer Meinung war.

„Hör zu“, sagt Reinhold, „diese Sache, die du mir über deinen Vater, Hermann und Fierer erzählt hast, hat mir keine Ruhe gelassen und da habe ich Hermann lieber mal angerufen.“

„Und, konntest du was rausfinden?“

„Ja. Hermann wollte nicht so recht über diese Sache sprechen. Er meinte nur, dass dein Vater ihn immer als Verräter und Feigling beschimpft hätte.“

„Tja, Reinhold, du weißt ja, dass es keinen Härteren gab als ihn.“

„Ach, dein Vater war nie der Hellste und immer ein wenig auf rechts gepolt. Es hat ihn furchtbar gewurmt, im Krieg noch ein kleiner Junge gewesen zu sein. Er hätte so gerne an der Front Kariere gemacht.“

„Da hätte ihm der Iwan den Sack rasiert und mir wäre Vieles erspart geblieben“, sagt Müller mehr zu sich selbst.

„Was meintest du, Rainer?“

„Ach nichts, Onkelchen, red einfach weiter.“

„Also, als ich ihm von dir und deiner Frage, wegen dieses Professor Fierers erzählt habe, sagte er, dass du lieber die Finger von dem alten Teufel lassen solltest und dass der Mann keine Skrupel hätte, jemanden ins Jenseits zu befördern. Er war damals, als der alte Fierer noch im Sanatorium am Riss tätig war, sein Fahrer und Atjudant gewesen. Der alte Fierer hatte den Rang eines Obersturmbannführers bei der SS und war einer der führenden Köpfe im Dritten Reich, wenn es um psychotherapeutische Fragen ging. Hermann hatte ihn oft nach Berlin begleiten müssen, wenn der Führer ihn sehen wollte.“

„Interessant, interessant, Reinhold. Aber warum haben mein Alter und er sich in den Haaren gelegen, und das bis zu seinem Tod?“

„Das will ich dir sagen. Er hat es mir aber auch nur erzählt, damit du dich nicht in Gefahr begibst.“

„Wie –, in Gefahr?“

„Hermann meinte, weil du dem alten Fierer seinen Namen auf die Nase gebunden hast. Und jetzt hör zu Rainer. Was ich dir jetzt erzähle weiß nur ich, Hermann, der alte Fierer und gleich du … Das Ganze spielte sich Ende des Krieges, in Berlin ab. Hermann und Fierer waren mit dem Auto unterwegs zum Reichstag. Auf halber Strecke lief ihnen ein kleiner Junge vors Auto. Er kam aus einer schmalen Gasse. Hermann konnte nicht mehr bremsen und überfuhr den Jungen. Übrigens weinte Hermann, als er mir diese Geschichte erzählte.“

„Das kann ich verstehen. Muss hart für ihn gewesen sein“, sagt Müller.

„Hart ist noch gelinde ausgedrückt, Rainer. Es geht ja noch weiter. Als er dann ausgestiegen ist um zu sehen, ob dem Jungen etwas passiert ist, sah er, dass er dem armen Bengel mit dem linken Vorderrad direkt über den Bauch gefahren war. Der Junge lebte noch und schrie wohl entsetzlich und aus seinem Mund lief schon das Blut raus. Hermann hatte die Befürchtung, dass der Junge diese schwere Verletzung wahrscheinlich nicht überleben würde, wenn er nicht so schnell wie möglich ärztliche Hilfe bekäme. Also bat er den alten Fierer, ihm zu helfen, damit er den kleinen Kerl ins Krankenhaus fahren könne. Fierer sollte ihm nur die Tür vom Wagen aufhalten, denn es wäre für Hermann so leichter gewesen, den Jungen auf die Rücksitzbank zu legen. Fierer muss der Vorfall damals wohl sehr unangenehm und lästig gewesen sein, sagte Hermann. Er hatte schließlich einen Termin beim Führer einzuhalten und das nächste Krankenhaus lag ausgerechnet in der entgegengesetzten Richtung. Als Hermann den Kleinen dann vorsichtig an den Beinen unter dem Wagen her zog, fiel ihm sofort auf, dass er einen Davidstern auf der Brust trug.“

„Scheiße“, sagt Müller, „ich kann mir schon vorstellen, wie die Geschichte weiter geht.“

„Papperlapap, das glaube ich nicht, Rainer … Hör zu und lass mich ausreden … Als Fierer das sah, zückte er sofort seine 08-Mauser, schoss dem Jungen direkt eine Kugel durch den Kopf und sagte dann zu Hermann, dass er die Beine der Judensau loslassen und sich endlich wieder hinters Steuer klemmen soll, um seinen Job zu erledigen. Sie seien schließlich schon sechs Minuten in Verzug und der Führer hasse nichts mehr, als Unpünktlichkeit. Außerdem hätte sich um solchen Müll sein Freund, Heinrich, zu kümmern. Er wolle nicht auch noch die Pflichten des Reichsführers SS übernehmen. Obgleich dieser Gedanke für ihn immer einen durchaus gewissen Reiz gehabt hätte, meinte Hermann … Jetzt siehst du, Rainer, mit wem du es hier zu tun hast.“

„Ich weiß nicht was ich sagen soll, Reinhold. Ich bin sprachlos. Aber warum hat man den Alten nach dem Krieg deswegen nicht dran gekriegt?“

„Weil Hermann, als man den alten Fierer vor Gericht stellte, geschwiegen hat. Er war zwar als Zeuge geladen, musste aber um sein Leben fürchten. Dafür hatte der Drecksack Fierer im Vorfeld schon gesorgt. Deshalb wohnt Hermann auch in Bad Waldsee bei Ulm. Er ist nach den Verhandlungen sofort aus Osnabrück verschwunden, denn er wusste, dass er der einzige Zeuge war, der den alten Fierer schwer belasten konnte und dass Fierer sicher schon einen Plan hatte, ihn aus dem Weg zu räumen. Dass Hermann nicht den Mut aufbringen konnte, vor Gericht auszusagen, hat er sich bis heute nicht verziehen.“

„Hermann kann doch immer noch aussagen“, schlägt Müller vor. „Mord verjährt nicht.“

„Ach“, widerspricht Reinhold, „wie lange hat der alte Fierer denn noch zu leben. Er dürfte mittlerweile um die – fünfundneunzig sein und glaubst du, dass ihn da noch irgendein Gericht für haftfähig erklärt?“

„Nee, wohl nicht“, stimmt Müller seinem Onkel zu. „Aber du hast mir immer noch nicht den Grund verraten, weshalb mein Alter Hermann nicht leiden konnte.“

„Ach, dein Vater konnte doch niemanden leiden. Sich selbst am wenigsten. Er hat mal mitbekommen, wie Hermann über den alten Fierer hergezogen ist. Für deinen Vater war der alte Fierer ein Kriegsheld. Als kleiner Hitlerjunge hatte er ihn bewundert und wollte, wie Kinder nun mal so sind, genau so werden. Er kannte ja nicht die Geschichte mit dem kleinen Judenjungen.“

„Das wäre meinem Alten scheißegal gewesen. Er hat bis zu seinem Tod fest daran geglaubt, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte, dass er bei der SS groß rausgekommen wäre.“

„Papperlapapp, dein Vater war ein Spinner und er hat viel zu viel Alkohol getrunken. So schlimm wie du ihn machst, war er sicher nicht.“

„Du musst es ja wissen, Onkel Reinhold, du warst ja sein Bruder “, sagt Müller und geht auf dieses Thema nicht weiter ein.

Müller bedankt sich bei seinem Onkel für die wichtige Info, lässt ihn Tante Margot noch einen schönen Gruß ausrichten und legt den Telefonhörer auf die Gabel.

Die Kopfschmerzen sind weg und Müller ist nach was Fettigem zumute. Er geht in die Küche, löscht seinen Durst unter dem Wasserhahn und stellt die Kaffeemaschine an. Der Kühlschrank ist leer und Müller hat keine andere Wahl als sich irgendwo außerhalb etwas Essbares zu besorgen oder einen Lieferservice zu ordern. Die letzte Lieferung vom Pizzatornado noch in guter Erinnerung greift Müller sich seine Jacke, trinkt den letzten Schluck Kaffee aus der Tasse und verlässt die Wohnung. Ottos Imbiss kommt nicht in Frage, da Müller keine Lust hat, sich den Kram von gestern anzuhören. Er ist sich aber, trotz Filmriss`, relativ sicher, nicht die Sau abgegeben zu haben. Er kann sich noch an eine junge Schwarze erinnern, bei der er auf Tuchfühlung gegangen war. Aber was er ihr alles erzählt hat, dran kann er sich nicht mehr erinnern. Otto wird’s ihm bei der nächsten Currywurst brühwarm auf dem Silbertablett servieren, daran hat Müller keinen Zweifel. Wobei Silbertablett etwas hoch gegriffen ist, für Ottos Verhältnisse. Otto besitzt höchstens ein schmantiges Holzbrett mit zwei eingefrästen Grifflöchern drin.

Müller geht Richtung Weststadt. Am Saarplatz, neben einer Poststelle gibt es einen Imbiss, auf den es Müller abgesehen hat.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

34. Kapitel: Anne

 

Dort ist er vor zwanzig Jahren öfters eingekehrt, als er in der Nähe in einer WG wohnte. Müller war zu der Zeit arbeitslos und hatte nicht viel Geld. Das Zimmer war relativ klein und kostete hundertsiebzig Mark im Monat. Auf dem Fussboden lag eine alte Futton-Matratze vom Vorgänger und links an der Wand, neben der Matratze, stand ein alter Kleiderschrank. Die Türen hingen etwas in den Angeln und damit sie nicht ständig offen standen verkeilte Müller sie mit kleinen Papierkrampen. Einen Schlüssel gab es nicht.

Die WG bestand aus fünf Leuten: Ralf studierte Kunstgeschichte und Germanistik. Er hatte eine feste Beziehung und war kaum da. Micki war an der Fachhochschule und wollte Gartenbauingenieur werden. Er feierte seine ersten Erfolge in dieser Sparte mit dem Anbau von Hanf. Micki hatte schon sehr früh begriffen, dass Hanfpflanzen am besten unter warmen Infrarotferkelleuchten gedeihen. Davon hatte er zehn in seiner Bude an der Decke hängen und die Dinger brannten Tag und Nacht. Man muss dem Chinesen an der Ecke nicht erst seinen Köter verhökern um zu wissen, dass das Rädchen am Stromzähler so seine fünftausend Touren machte und Micki von seinen Mitbewohnern gezwungen wurde, seine Fixkosten neu zu berechnen. Um einen Krieg zu vermeiden, verlegte Micki seine wissenschaftlichen Experimente mit der verbotenen Pflanze an einen anderen Ort.

Dann gab es noch Sabina und Heike. Sie hatten es mit der Pädagogik und sorgten dafür, dass es wegen jedem Krümel Brot, der im Mülleimer landete, ellenlange Diskussionen über den Hunger in der Welt und die Verschwendung von lebenswichtigen Ressourcen gab. Sabina und Heike trieben es miteinander und Müller, so dann und wann, mit Heike. Meistens, wenn Sabina ihre Eltern übers Wochenende in Husum besuchte.

Müller hielt es ein halbes Jahr in der WG. Er fand einen neuen Job und zog in einen anderen Stadtteil.

 

Müller vermisst den Firmenwagen. Er ist nicht daran gewöhnt, alles zu Fuß zu erledigen. Bis zum Imbiss sind es noch ein Paar Straßen und Müller merkt den Restalkohol in seinen Knochen. Ein bis zwei Konterbiere würden jetzt helfen. Nachts muss es geregnet haben, denn in den Schlaglöchern des Asphalts haben sich Pfützen gebildet und der Wind weht frisch aus Südwest. Müller fängt an zu schwitzen und bereut längst, sich für den weiteren Weg zum Saarplatzimbiss entschieden zu haben. Ottos Kaschemme wäre näher gewesen und die Paar Frotzeleien über den letzten Abend hätte er sicher schadlos überstanden. Aber das ist jetzt zu spät. Müller muss noch über eine Fußgängerampel und an eine Schule vorbei gehen, dann ist er am Ziel. Er schafft die Fußgängerampel noch knapp bei grün und als er die Mitte des Zebrastreifens erreicht, wird aus dem grünen Männchen ein rotes Männchen, was eine alte, feiste dauerwellen-belockte Schnalle in einem roten Crysler-Cabrio dazu bewegt, auf ihr persönliches Recht als Verkehrsteilnehmerin zu pochen um Müller fast über den Haufen zu fahren. Und als die Stoßstange des roten Amis knapp vor Müllers linkem Schienenbein zum Stillstand kommt keift sie:

„Mach ma hinne!“

Das sind diese Momente, in denen Müller sich ein liberaleres Waffengesetz für Deutschland wünscht. Wo die Tötung solcher respektlosen Schmeißfliegen unter dem Begriff „Notwehr“ abgehandelt würde. Er würde keine Sekunde zögern, dieser fetten Kuh ihre pissefarbene Dauerwelle mit einer Ladung Schrot zu einem besseren Sitz zu verhelfen.

Müller bleibt stehen, zeigt der Kuh seinen Mittelfinger und macht, bevor die Kuh es sich anders überlegt, dass er auf die andere Straßenseite kommt.

Der Saarplatzimbiss ist genau das Gegenteil von Ottos Schmierbude. Er besitzt sogar eine Salattheke und man bekommt frisch gezapftes Bier. Der Fußboden ist sauber und die Bedienung hübsch. Bei Otto gibt es zwar auch Bier vom Fass, aber man kann davon ausgehen, dass Ottos Bierleitungen aus dem letzten Loch pfeifen.

Müller bestellt sich ein großes Bier und dazu eine Frikadelle mit Pommes-Majo. Er greift sich vom Zeitungsstapel die Bild am Sonntag und setzt sich an einen Tisch, der sich in der hintersten Ecke des Ladens befindet. Müller legt das Boulevardblatt vor sich auf die Tischplatte und schlägt die erste Seite auf.

 

Kein Glücksspiel für Hartz-Vier-Empfänger!

Glücksspiel-Verbot für Arme löst Empörung aus … Köln. Nach Entscheid des Kölner Landgerichts dürfen Lotteriestellen in Zukunft keine Sportwettscheine von Hartz-IV-Empfängern mehr annehmen. Doch die Umsetzung des Urteils ist nur schwer umsetzbar.

 

„Wassen das für’n Scheiß“, denkt Müller. „Die meisten Arschbacken sind kurz vorm Abspritzen, wenn sie die Worte, nachhaltige, innovative Politik in einem Satz verwenden dürfen, aber mit zukunftsorientierter, oder nachhaltiger Politik hat dieses Urteil nichts zu tun. Wie kann sich irgend so ein Arschloch anmaßen, armen Leuten das Zocken zu verbieten? Wahrscheinlich musste der nie vom Flaschenpfand leben oder alte Kippen aufbröseln, um nicht ganz den Verstand zu verlieren. Den Hungerleidern jetzt auch noch die letzte Hoffnung auf goldene Wasserhähne rauben grenzt an eine Diktatur.“

„Wissen sie, dass wir bald wieder in einer Diktatur leben werden?“, fragt Müller die hübsche Imbissbedienung, als sie ihm mit einem Lächeln das volle Bierglas vor die Nase stellt.

„Ihr Essen kommt auch gleich“, sagt sie und geht keinen Deut auf Müllers Frage ein.

„Recht hat sie“, denkt Müller, schiebt die Zeitung an die Seite, dreht sich eine, greift sich das Bierglas und geht damit an die frische Luft. Neben der Eingangstür stehen zwei Bierzeltgarnituren und an der ersten macht sich’s Müller bequem. Er gibt sich Feuer und setzt das Bierglas an.

„Soll ich ihnen das Essen draußen servieren?“, fragt ihn die Bedienung.

„Das wäre nett“, sagt Müller und bestellt schon mal ein neues Bier.

Sie stellt den Teller vor ihm auf den Tisch und legt das Besteck daneben. Als sie sich umdreht und wieder zurück in den Imbiss geht bleiben Müllers Augen an ihrem Hintern hängen. Sie trägt einen engen kurzen, schwarzen Rock und lässt viel von ihren sexy langen Beinen sehen. An ihren Füßen trägt sie schwarze Ballerinas und ihr schulterlanges Haar hat dieselbe Farbe. Müller ist sich sicher, ihr schon einmal begegnet zu sein. Als sie ihm das nächste Glas Bier auf den Tisch stellt, schaut er sich ihr Gesicht mal genauer an. Es gibt keinen Zweifel, er kennt die Frau. Die blauen Augen, die etwas schiefe Nase, das freundliche Lächeln.

Anne?“ Der Name kam ganz von allein aus seinem Mund.

„Ja, und du bist Rainer, nicht?“

„Ja, aber ich weiß nicht, in welche Ecke ich dich stellen soll. Ich hatte die ganze Zeit schon das Gefühl, dich zu kennen. Hilf mir mal.“

Anne nimmt das leere Glas vom Tisch und sagt:

„Jan, Schaf, Fischteiche, Lagerfeuer“, und macht sich wieder auf den Weg zu ihrer Friteuse.

Müller steckt sich eine Ladung Fritten und ein Stück Frikadelle in den Mund und spült die Mischung mit einem Schluck Bier nach unten, während eine Wespe im Zickzack über den Teller kreist, um einen kleinen Fitzel von seinem Fleischklops zu ergattern. Müller versucht das stachelige Insekt mit einem Bierdeckel zu vertreiben, erreicht damit aber nur, dass die Wespe jetzt auch noch etwas von seinem Bier haben will.

„Na, Angst vor Wespen?“, sagt Anne, die mit einem frischen Glas Bier in der Hand zu ihm an den Tisch kommt und sich neben ihn setzt.

„Hier“, sagt sie, „geht aufs Haus. Das andere kannst du ja der Wespe lassen.“

„Kommt nicht in Frage“, sagt Müller und erwischt das lästige Vieh mit der flachen Hand. Benommen fällt die Wespe auf den Boden und Müller gibt ihr mit dem Absatz seines Cowboystiefels den Rest.

„Danke für das Bier.“

„Keine Ursache. Und ist bei dir endlich der Groschen gefallen?“

„Kann man wohl sagen. Diese Geschichte mit dem Schaf erlebt man kein zweites Mal“, sagt Müller und muss lachen.

„Nee“, lacht Anne, „da hast du recht. Aber du weißt ja selber, dass Jan schon immer mit Tieren zu tun hatte und sie auch selber geschlachtet hat.“

„Ich hatte mit Jan nie so viel am Start. Ich kenn ihn eigentlich nur stockbesoffen.“

„Das hat sich auch bis Heute nicht geändert“, sagt Anne. „Er ist immer noch ein leidenschaftlicher Alkoholiker.“

„Hast du noch viel mit ihm zu tun?“

„Wir wohnen zusammen.“

„Scheiße nee!“, platzt es aus Müller raus.

„Nicht was du denkst, Rainer“ sagt Anne, schüttelt den Kopf und schnalzt mit der Zunge. „Ich, Wolf und Jan mit seiner Frau, wir haben uns zusammen ein Doppelhaus gekauft. Wolf und ich haben die vordere Hälfte und Jan mit Tina die hintere Hälfte.“

„Sesshaft geworden, was?“, sagt Müller.

„Wie man’s nimmt. Und du, Rainer, Hast du Kinder?“

„Um Gottes Willen. Ich kann ja kaum auf mich selbst aufpassen. Aber, ich hab auch nichts gegen die kleinen Hosenscheißer. Gab halt nie die richtige Frau dazu, oder die Gelegenheit. Mit dir hätte ich’s auch gern mal getrieben, Anne“, verrät Müller ihr. „Ich stand immer schon auf deinen knackigen Arsch.“

„Nicht nur du … Und, findest du ihn immer noch knackig?“

„Nach wie vor, auch wenn die zehn Jahre nicht spurlos an dir vorbei gegangen sind. Deine Haare waren damals länger und du warst naturblond und ich erkenne einen leichten Ansatz von Schildkrötenhals“, sagt Müller und lächelt ihr in die Augen.

„Sehr charmant“, empört sich Anne. „Immer noch der alte Hauklotz, Müller. Hast nichts dazu gelernt, was Frauen betrifft. Kein Wunder, dass du keine Kinder hast.“

„Ach Shit“, lenkt Müller ab, schiebt den leeren Teller an die Seite und steckt sich eine an. „Hast du welche, Anne?“

„Was?“

„Kinder?“

„Nee.“

„Und, warum reitest du dann bei mir drauf rum?“

„Neugier.“

„Fuck it, ich wüsste viel lieber, ob Jan noch mit abgemurksten Schafen ohne Fell auf dem Beifahrersitz durch den Grönegau juckelt?“

„Nicht, dass ich wüsste. Er hat im Moment auch keine Schafe, nur ein Paar Hühner und Kaninchen“, sagt Anne, während ein kleiner Mann um die Ecke schleicht und im Imbisslokal verschwindet.

„Ich muss mal wieder“, entschuldigt sich Anne, „Herbert wartet nicht gerne.“

„Lass dich nicht aufhalten. Kannst mich ja anrufen, wenn ich mir mal deinen Knackarsch vornehmen soll.“

„Ich glaub, da hätte Wolf was dagegen“, lächelt Anne, steht auf und macht sich mit einem Augenzwinkern wieder an die Arbeit.

Müller trinkt den letzten Schluck Bier aus dem Glas und macht sich wieder auf den Weg. Die Geschichte mit dem Schaf lässt ihn schmunzeln. Jan hatte das Vieh sogar angeschnallt. Die Augen hatte er drin gelassen und an den Füßen waren noch die Hufe. Wer Gunther von Hagens „Körperwelten“ kennt, kann sich so ungefähr vorstellen, wie das tote Schaf ausgesehen hat. Nur, dass es vorab nicht plastiniert worden war.

Eine alte Lady kommt ihm entgegen und glaubt, sein Lächeln galt ihr und lächelt zurück. Müller muss sich schütteln bei dem Gedanken, es mit einer achtzigjährigen zu treiben. Er hat sich noch nie vorstellen können, dass Sex im Alter funktionieren kann. Müller hat sich selbst eine Grenze von sechzig Jahren gesetzt. Danach will er die Vögelei drangeben und Angeln gehen, oder Briefmarken sammeln. Die Vorstellung, die Dritten im Wasserglas auf dem Nachttisch und vorweg noch mal auf die Toilette, damit ihm nicht während der Popperei, oder soll man sagen, Fledderei, der Rüssel tropft, oder Schlimmeres, löst permanent einen Würgereiz in ihm aus. Für Müller ist Sex ab sechzig Nekrophilie. Er sagt immer, eine alte Schachtel zu vögeln sei, als wenn du auf dem Autofriedhof einen Totalschaden volltankst. Es würde keinen Sinn ergeben. Aber was er tun würde, wenn ihm im Alter noch mal etwas Frisches vor die Flinte käme, darüber war Müller noch geteilter Meinung. Wahrscheinlich würde er es als ein Wink des Schicksals sehen und sich mit Viagra auf Vordermann bringen. Sein Kollege Wolle schwor auf das Zeug. Er meinte, dass er zwei Tage einen Dauerständer davon gehabt hätte, von nur einer Scheiß Pille, und dass er seine Alte in Grund und Boden gerammelt hätte. Aber wer Wolle kennt, weiß, dass Wolle von solchen Geschichten lebt und man muss wenigstens fünfzig Prozent davon abziehen um dann auch noch knapp an der Wahrheit vorbei zu schrappen. Wolle liest jeden Morgen die Bildzeitung und die war seiner Zeit vollgestopft mit Berichten über die blaue Wunderpille. Den Rest kann man getrost Wolles Fantasie überlassen.

Müller lässt die Lotter Straße hinter sich und biegt vor dem Heger Tor rechts ab. Das Felix- Nussbaum-Museum auf der rechten Seite erinnert ihn wieder an den alten Fierer.

 

Felix Nussbaum war im letzten Jahrhundert ein recht passabler Maler. Aber seine jüdische Abstammung wurde ihm damals zum Verhängnis. Ständig auf der Flucht mit seiner Frau wurden beide kurz vor Kriegsende in Frankreich denunziert und in Auschwitz ermordet.

Müller hatte sich vor etlichen Jahren von einem Freund überreden lassen, sich die Ausstellung mal anzusehen. Nach den Gemälden seiner frühen Jahre zu urteilen muss es sich um einen lebensfrohen und lustigen Menschen gehandelt haben. Am Ende seiner Zeit, auf den letzten Bildern, konnte Müller nichts Lustiges mehr finden. Nussbaum wird schon sehr früh gewusst haben, dass es Konzentrationslager gegeben hat und dass dort vorsätzlich Menschen umgebracht wurden.

 

Müller geht weiter den Wall entlang und lässt auf der linken Seite die Osnabrückhalle hinter sich. Er hält sich weiter rechts, überquert die Parkstraße und hat noch circa fünfhundert Meter bis zu seiner Wohnung. Vom Alkohol will Müller bis nach seinem Termin am nächsten Morgen bei Harms die Finger lassen und verkneift sich Charlys Kiosk.

In seiner Wohnung stellt er die Kaffeemaschine an und setzt sich aufs Sofa. Er schlägt die letzte Seite der kostenlosen Sonntagszeitung auf, die er vorab in seinem Briefkasten gefunden hat, findet einen Kugelschreiber und macht sich daran, das Kreuzworträtsel zu lösen. Als Müller darüber nachdenkt, welcher Europäer mit drei Buchstaben geschrieben wird der letzte Buchstabe ein „E“, rappelt die Türklingel. Müller legt den Stift auf die Zeitung und geht zur Tür. Die Ereignisse der letzten Tage haben ihn vorsichtiger werden lassen, was das spontane Öffnen der Eingangstür betrifft. Harms und Co liegen ihm schwer im Magen. Schwerer, als er es sich selber eingestehen möchte. Müllers persönliches Recht auf Privatsphäre ist beim Teufel und lässt intuitiv die Frage in ihm aufkommen, was für einen Bullshit das Schicksal als nächstes für ihn parat hält. Denn der spitze Stiefel der Idiotie steckt schon bis zum Anschlag in seinem Arsch und es gibt kaum noch Spielraum für Nachschub.

„Wer ist da?!“, ruft Müller mit flauem Gefühl im Magen, und auf alles gefasst.

„Ich bin’s, mach auf!“

„Wer ist –, ich bin’s?!“

„Lena, du Schmock. Erkennst du meine Stimme nicht, oder erwartest du noch andere Weiber?!“

Müller überlegt kurz, ob Lena nicht der Teil jenes spitzen Stiefels der Idiotie seien kann der noch fehlt um auch noch den letzen kleinen Rest Hohlraum in seinem gepeinigten Arsch auszufüllen und was ihn die Tür öffnen lässt, ist nicht sein gesunder Menschenverstand.

„Das tut mir so leid, dass ich gestern einfach so abgehauen bin, mein süßer Rammler“, jammert sie, schmeißt sich ihm in die Arme und steckt ihm ihre Zunge in den Hals.

Froh, sie zu sehen, steckt Müller ihr seine rein und presst sie fest an sich.

„Ist mir scheißegal, was gestern war“, flüstert Müller, nimmt Lena auf den Arm, tritt die Tür ins Schloss, geht zum Bett und schmeißt sie bäuchlings auf die Matratze. Schwer atmend öffnet er den Knopf ihrer Jeans, zieht den Reisverschluss nach unten und hat mit einem Ruck ihren nackten Hintern vor seinen Augen. Dass Lena keinen Slip trägt lässt Müller noch geiler werden und die Tatsache, dass sie sich nicht wehrt ist für ihn der Fahrschein, ihr die Jeans ganz von den Beinen zu reißen. Er wirft das lästige Stück Stoff in die nächste Ecke, holt mit zittrigen Händen seinen Pecker aus der Hose, drängelt sich zwischen ihre Schenkel und lässt einen Moment spielerisch die Eichel zwischen ihren Schamlippen auf- und ab gleiten, bevor er ihn ganz verschwinden lasst. Müller ist völlig außer sich. Mit ein paar wilden egoistischen Stößen treibt er sich zum Höhepunkt und lässt es sprudeln. In diesem kurzen Augenblick ist es ihm egal, ob Lena etwas davon hat oder nicht. Als wäre es eine Art Bestrafung für den verkorksten Samstagabend im Merlin; und mit ein paar letzten Zuckungen sackt Müller in sich zusammen und legt müde seinen Kopf auf Lenas heißen Hintern. Er schließt die Augen und hört, wie sein Herz langsam wieder zu seinem normalen Rhythmus findet.

Kurz vor dem Einschlafen weckt ihn Lenas Stimme:

„Ey, kannst du mal von mir runter gehen, du wirst mir langsam zu schwer.“

„Oh, tut mir leid, Süße, aber ich hatte gestern eine harte Nacht und wenig Schlaf, entschuldige.“ Müller stemmt sich hoch und legt sich neben sie.

„Hoffentlich bist du noch fit genug für die zweite Runde, ich bin nämlich grad erst warm geworden“, droht Lena spielerisch, kneift Müller in den Oberschenkel, steigt aus dem Bett und geht zur Toilette.

„Wenn du gleich wieder zurückkommst, könntest du uns Kaffee mitbringen, er ist gerade durchgelaufen!“, ruft Müller ihr hinterher.

„Okay.“

Bei Lena ist alles so leicht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

35. Kapitel: Ein nützlicher Erbfeind

 

Er hatte Frauen, die ihm nach dieser Frage sicher zur Antwort gegeben hätten, dass er sich seinen beschissenen Kaffee selber holen könne und dass er wohl noch nie etwas von Emanzipation gehört hätte. Das Positive an der Sache war aber, dass diese Frauen auch genauso fickten wie sie sabbelten und es Müller leicht fiel, sie auf die eine oder andere Weise wieder loszuwerden. Einer ganz Hartnäckigen hatte er gesagt, dass er die Franzosenkrankheit hätte (Syphilis) und dass diese Krankheit höchst ansteckend sei. Sie fing darauf an zu lachen und beichtete ihm, dass sie auch gerne Urlaub in Frankreich machen würde, bevorzugt in Paris, und sie längst angesteckt sei. Müller sagte ihr dann, dass sie ihn wohl falsch verstanden hätte und die Franzosenkrankheit nichts mit Urlaub an der Champs-Élysées zu tun hätte, sondern eher eine Geschlechtskrankheit wäre, an der schon Henri de Toulouse-Lautrec jämmerlich verreckt sei. Sie machte es Müller wirklich nicht einfach und war der Ansicht, dass solche Krankheiten heute sicher heilbar seien und sie so lange warten würde. Müller gab ihr zur Antwort, dass das Jahre dauern könne und in manchen Fällen keine Chance auf Heilung bestünde und er ihr nicht zumuten könne so lange, oder vielleicht für immer, auf Sex zu verzichten. Das war der Punkt, an dem ihre liberale Einstellung einen Sprung bekam und ihre Liebe zu Müller anfing zu bröckeln. Müller sah sie nie wieder.

Sein Vater hatte seine eigenen Ansichten, was die Franzosen betraf.

„Der Franzos ist unser Erbfeind“, versuchte er ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit einzutrichtern. Müller konnte als kleiner Junge mit dem Wort, „Erbfeind“, nichts anfangen und hatte auch nie einen Franzos kennen gelernt. Aber in späteren Jahren kann so ein „Erbfeind“ sehr nützlich sein und wie in seinem Fall, hartnäckige Frauen vertreiben.

 

Müller hört die Klospülung, den Wasserhahn, und ist gespannt, welchen Auftritt Lena dieses Mal hinlegt, wenn sie aus dem Badezimmer kommt.

„Ich würde jetzt erstmal nicht ins Bad gehen, jedenfalls nicht ohne Gasmaske“, sagt sie.

Müller fängt laut an zu lachen und beißt ins Kopfkissen. Er hatte etwas ganz anderes erwartet. Aber das ist es ja, was Müller so an dieser Frau fasziniert. Du kannst dir niemals sicher sein, was als nächstes kommt.

„Was issn …, was lachsten so?“

„Einfach so.“

„Keiner lacht einfach so.“

„Ich schon.“

„Du Spinner“, sagt sie und geht in die Küche. Als sie wieder mit zwei Tassen Kaffee in den Händen ins Wohnzimmer kommt, kann Müller nicht anders, als ständig ihre Muschi an zu starren.

„Was glotzt’n so auf meine Möse?“, sagt Lena. Sie drückt Müller eine von den zwei Tassen in die Hand.

„Das letzte Mal hattest du da unten noch Haare dran.“

„Das hab ich nur für dich getan, mein alter Stinker“, sagt Lena und schaut Müller lächelnd von der Seite an. „Und … außerdem hab ich den Kaffee extra etwas stärker gemacht.“

„Der Kaffee war doch schon fertig?“, wundert sich Müller.

„Na ja, so ’n kleiner Schluck Weinbrand wird dir schon nicht schaden und außerdem wird davon deine Zunge etwas rauer.“

„Wie –, Zunge rauer und woher hast du den Weinbrand?“

„Da standen noch drei so kleine Probierfläschchen in der Abstellkammer, hinter dem Staubsauger und mit deiner Zunge hab ich gleich noch was vor … wenn du verstehst? Außerdem würde ich es gut finden, wenn du mich das nächste Mal, bevor du mich vergewaltigst, meine Jacke ausziehen lässt. Ich hab nämlich jetzt einen puterroten Abdruck vom Reißverschluss neben dem Bauchnabel und mein linker Flipflop ist weg.“

„Der liegt sicher unter dem Bett“, sagt Müller.

„Wer?“, sagt Lena.

„Dein Flipflop.“

Lena stellt die Tasse aufs Regal und bückt sich. Sie schaut unter das Bett und findet auf den ersten Blick ihren linken Flipflop.

„Ich hab ihn“, freut sie sich und hält ihn stolz in die Höhe. Sie trägt nur ein weißes T-Shirt ohne BH drunter und Müller sitzt auf dem Bett und vor ihm steht diese sagenhaft hübsche Frau mit diesem Latschen in der Hand. Ihre blanke Muschi direkt vor seinen Augen, umschließt Müller mit beiden Händen ihre Taille und zieht sie zu sich ran. Er spürt, dass ihre Beine etwas zittern.

„Ich weiß nicht, ob ich im Stehen kommen kann“, sagt Lena, unternimmt aber auch keinen Versuch, daran etwas zu ändern.

„Wenn nicht, spendier ich dir bei Otto ’ne Currywurst“, droht Müller und macht sich an die Arbeit; und dabei kommen ihm die Lehrstunden, die ihm Sara in dieser Angelegenheit vor ein paar Jahren gegeben hatte, sehr gelegen. Müller gräbt sich langsam tiefer und merkt, dass er auf dem richtigen Weg ist. Ihr Atem wird schwerer und sie drückt ihr Becken leicht nach vorne um es ihm einfacher zu machen. Zwischen seinen Händen spürt Müller ihre warme, feuchte Haut und ihr süßer Duft lockert mehr und mehr seine Zunge. Lena lässt den Flipflop auf den Boden fallen, greift sich Müllers Kopf und drückt ihn fester zwischen ihre Beine. Er merkt, dass sie fast da ist und macht eine kleine Pause. Er weiß, dass er jetzt mit ihr spielen kann.

„Hör nicht auf, hör nicht auf, du mieser alter Knochen“, hört er Lena über sich winseln und bringt sie dazu, seinen Kopf noch fester zwischen ihren heißen zitternden Beinen zu pressen. Müller lässt jetzt keinen Schlenker mehr aus und beendet ihre Qualen. Zufrieden lässt sie sich aufs Bett fallen, schließt die Augen und flüstert:

„Auch wenn’s jetzt kitschig klingt, aber du bist der erste, der es geschafft hat, dass mir im Stehen einer ab geht.“

„Danke für die Blumen, aber dafür ist meine Zungenspitze jetzt ganz taub und mein Schwanz pfeift aus dem letzten Loch“, gibt Müller zu bedenken.

„Sei nicht blöd, du arme taube Nuss“, lächelt Lena, „du weißt doch wo er sich am wohlsten fühlt und knutschen müssen wir ja nicht, wegen deiner tauben Zunge, meine ich.“

Das lässt Müller sich nicht zweimal sagen und steigt auf. Dieses Mal, lässt es Müller langsamer angehen und wartet mit dem Finale, bis er sich sicher sein kann, dass es bei ihr auch funkt.

Nach einer Weile fragt Lena einfach so:

„Woher hast du denn diese Kratzer im Gesicht?“

„Das ist nichts“, wehrt Müller ab, „ich hab mich nur mit einer Dornenhecke angelegt.“

„Wann?“

„Auf dem Nachhauseweg vom Merlin.“

„Warst du besoffen?“

„Ein bisschen.“

„Du trinkst ganz schön viel.“

„Meist nur Bier. Aber du spuckst auch nicht grad rein.“

„Nur wenn es sich ergibt.“

„Und was war mit dir, als ich dich vollgekotzt im Treppenhaus gefunden habe und was ist mit dieser Schürfwunde an deinem Kinn?“

Müller merkt, dass Lena zögert und sagt:

„Eigentlich weiß ich nichts von dir und eigentlich stört mich das auch nicht.“

„Dann frag auch nicht“, sagt Lena ernst.

„Okay.“ Müller, dreht zwei Bulls-Houle und schlürft den letzten Rest lauwarmen Kaffee mit Weinbrand in sich rein. „Willst du auch ’ne Selbstgedrehte?“

„Klar“, sagt Lena und sorgt für Feuer. Sie nimmt einen tiefen Zug und bläst den Rauch in seine Richtung.

„Sag mal, Raini, riechst du das auch?“

„Wassn?“

„Irgendwie …, so säuerlich.“

„Scheiße“, denkt Müller, „der Schirmständer. „Bin gleich wieder da.“

„Wo willst du denn hin?“

„Ich hab auch Geheimnisse“, sagt Müller.

Er geht in den Flur, nimmt sich den Schirmständer und bringt ihn zur Kloschüssel. Er kippt die Spuren der durchzechten Nacht ins Porzellan und drückt die Spülung. Dann stellt er den Schirmständer in die Dusche und lässt Wasser reinlaufen. Er greift zur Shampoo-Flasche und drückt etwas davon in den schwarzen Metalleimer, um den Restgestank zu überdecken. Als Müller wieder ins Wohnzimmer geht, sitzt Lena mit dem Rücken an der Wand gelehnt im Bett und lächelt ihn an.

„Na …, die Sünden von gestern beseitigt?“

„Wie man’s nimmt.“

„Wie oft musste der Eimer denn schon dran glauben?“, sagt Lena spöttisch und fängt laut an zu lachen.

„Einmal. Meistens schaff ich’s bis zum Klo, oder kotz draußen in die Rabatten“, gibt Müller freiwillig zu. „Hab‘ gestern noch Wacholder getrunken, bei Otto.“

„Ich denk, du trinkst nur Bier?“

„Meistens, sagte ich und jetzt lass uns einfach mit diesem Scheiß, wer was und wie viel säuft, aufhören.“

Gespräche über dieses Thema waren ihm schon immer ein Dorn im Auge, denn Müller bezeichnet sich selbst gerne als leidenschaftlichen Trinker und Raucher. Ein Mittel, um sein Leben so dann und wann wieder ins rechte Licht zu rücken, oder um einfach etwas zu tun zu haben, um abzuschalten, ein Stück Erholung vom tristen Alltag. Flucht vor dem täglichen Wahnsinn, Flucht vor sich selbst.

„Ist ja schon gut, mein Müllerchen. Brauchst ja nicht gleich zickig werden. Ich fand’s halt lustig, dass du in den Schirmständer gekotzt hast … Warum gehst ‘n gleich an die Decke?“

„Wenn ich an die Decke gehe sieht das anders aus, mein Lenchen“, sagt Müller. Wobei er das „Lenchen“ besonders betont.

„Magst du nicht, wenn ich „Müllerchen“ sage?“

„Nicht die Bohne.“

„Otto sagt doch auch „Müllerchen“ zu dir.“

„Der darf das.“

„Ach, und ich nicht?“

„Bei dir klingt das so – komisch.“

„Wie …, komisch?“ Lena schaut Müller neugierig an.

„Irgendwie überheblich. Bei Otto kommt das Müllerchen von Herzen.“

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht beleidigen“, sagt Lena und wirft ihm einen Handkuss zu.

„Du kannst nichts dafür“, sagt Müller. „Das ist ‘ne alte Geschichte.“

„Erzählst du sie Mir?“

„Wenn du unbedingt willst.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

36. Kapitel: Herr Kloppener

 

Müller war damals in der fünften Klasse und was seinen Notendurchschnitt betraf, eher mäßig und sein Klassenlehrer hieß Herr Kloppener. Kloppener hatte Ähnlichkeit mit dem Schlagersänger Heino. Er war nur etwas größer und breiter als der Schlagerstar und genau wie sein trällernder Doppelgänger Brillenträger. Der Unterschied war nur: Heino war ein Star und Kloppener hielt sich dafür. Kloppener ging nicht einfach nur, Kloppener stolzierte. Er war der schillernde Gockel auf dem stinkenden Misthaufen, die Sau, die ihre Ferkel frisst, der Schierlingsbecher der deutschen Schulpädagogik, der psychopatische Diktator im modernen Zweireiher und der einzige aus dem Pädagogenhaufen, der einen goldenen Mercedes fuhr. Ein Mensch, der sich die Bezeichnung „Arschloch“ wirklich verdient hatte. Dieses „Müllerchen“, anstatt „Rainer“, war stets Kloppeners geringschätzige Art, dem kleinen Müller zu zeigen, welchen Rang in der Schuhlhierarchie ihm zustand und welchen Rang er ihm zudachte. Müller zweifelte nie daran, dass er für diesen arroganten, eitlen und geltungssüchtigen Egomanen nichts weiter als der Schütze-Arsch im letzten Glied war.

„Müllerchen …, dir kann ich schon jetzt prophezeien, dass du bei der Müllabfuhr landest.“

Der Spruch war Kloppeners Lieblingsknebel, wenn Müller mal wieder einen Mathetest in den Sand gesetzt hatte. Müller hasste diesen Lehrer dafür. Er setzte niemals absichtlich einen Mathetest in den Sand, denn er musste den Test zu Hause zeigen und unterschreiben lassen. Also gab’s nicht nur Hohn vom Lehrer, sondern auch noch Dresche vom Alten mit der Pferdepeitsche.

Müller hatte ihn auch im Sportunterricht und Klopper, wie ihn die Schüler auch nannten, hatte so seine ganz eigenen perversen Vorstellungen davon, wie er die Kinder dazu bringt, ihm bedingungslos zu gehorchen. Bei großen aber auch kleineren Verstößen, gab’s einen Backenflitscher. Diese Backenflitscher taten sauweh und Klopper hatte richtig Spaß dabei. Er quetschte dabei ein Stück Haut von der Wange zwischen Zeige- und Mittelfinger, drehte das Ganze um dreißig Grad und ließ es dann, ohne seinen Kniff zu lösen, ruckartig los. Drei, vier Jungs hatten immer rote Wangen, wenn sie aus dem Sportunterricht kamen und Müller war meistens dabei.

Erwischte Klopper einen Schüler beim Mogeln, gab’s außer der Flitsche noch zehn DIN-A4- Seiten „Ich darf meinen Lehrer nicht betrügen“ als Strafarbeit zu schreiben. Der blaue Brief an die Eltern war bei diesem Verbrechen obligatorisch. Dass er es mit einigen seiner Kolleginnen trieb war ein offenes Geheimnis und wurde niemals vom Elternrat oder vom Rektor zur Sprache gebracht. Wahrscheinlich hätten sie in diesem Fall nicht nur Kloppener, sondern auch die Hälfte des weiblichen Lehrkörpers entlassen müssen und das wäre sicher nicht spurlos an der Öffentlichkeit vorbeigegangen.

Als Müller achtzehn war und längst aus der Schule traf er Kloppener zufällig auf dem Jahrmarkt an einer Bierbude. Müller fackelte nicht lange und erwischte Kloppener mit einem harten rechten Schwinger direkt unter dem linken Auge. Es gab einen Tumult und einige hielten Müller davon ab, auch noch einen wuchtigen Leberhaken ins Ziel zu bringen.

„Ey, Müller“, sagte jemand, „das Arschloch hat’s zwar verdient, aber verpiss dich jetzt lieber. Die haben sicher schon ’ne Streife gerufen.“

Müller sah dabei direkt in Kloppeners Augen und außer ein angeknacktes Selbstbewusstsein konnte er die pure Angst in ihnen flimmern sehen. Kloppener war ein Feigling, eine miese kleine Wanze, nichts anderes. Müller hätte es wissen müssen.

Zu einer Anzeige kam es nicht, aber das lag wahrscheinlich daran, dass Kloppener über seine eigene Arroganz gestolpert war und Müller nicht erkannt hatte. Oder die Angst vor Vergeltung, hielt ihn davon ab. Kloppener schaffte es noch bis zum Rektor, bevor er in Pension ging. Warum auch immer. Aber mit dem deutschen Schulsystem oder den deutschen Pädagogen war eh kein Stich zu machen. Müllers Meinung ist, was das betrifft bis Heute so geblieben.

 

Lena kuschelt sich in Müllers Arme und ist fast schon eingeschlafen als sie leise sagt:

„Armer Raini. Aber solche kranken Wichser findest du in jeder Schule. Ich werde jetzt auch nie wieder „Müllerchen“ zu dir sagen, versprochen.“

„Das wäre nett. Ich sag dann auch nicht mehr „Lenchen“ zu dir.“

„Das ist mir egal“, nuschelt sie und fängt an zu schnarchen.

„Mein Gott, kann die Frau sägen“, denkt Müller, stellt den Wecker auf sieben und macht das Licht aus.

 

 

 

 

 

 

 

 

37. Kapitel: Die Vernehmung

 

„Zu wem wollen sie?“

„Hauptkommissar Harms, Zimmer neun. Hier ist die Vorladung.“

Müller zieht Harms Brief aus der Innentasche seiner alten gammeligen braunen Lederjacke und gibt ihn der uniformierten Lady hinter dem Empfang.

„Da müssen sie den rechten Gang ganz runter und dann ist es die letzte Tür auf der linken Seite.“

„Danke.“

„Keine Ursache. Und vergessen Sie ihre Vorladung nicht!“, ruft sie Müller hinterher und wedelt mit dem Schreiben in der Hand in seine Richtung. Müller geht zurück, greift sich den Schrieb und geht den Gang runter. Er fühlt sich beschissen und würde am liebsten auf dem Absatz kehrt machen und wieder zu Lena unter die Decke kriechen. Sie war noch fest am Schlafen als er sich um sieben aus dem Bett quälte. Nicht einmal die volle Tasse Kaffee, die Müller in der Küche aus der Hand gerutscht war und auf dem Fliesenboden in tausend Stücke schepperte störten ihren Schlaf. Lena fängt an, ihm unheimlich zu werden. Was ist bloß los mit dieser Frau? Ihre seltsame Geheimniskrämerei geht ihm langsam gegen den Strich. Es macht ihn nervös.

„Ah, Herr Müller, kommen Sie rein und setzen Sie sich.“ Harms sitzt hinter seinem Schreibtisch und hackt auf seiner Computertastatur herum. Er schaut dabei sehr ernst in den Monitor. Müller würdigt er dabei keines Blickes.

Müller setzt sich und wartet. Ihm ist klar, dass der Pinguin sein Scheiß Spiel mit ihm treibt und wahrscheinlich nichts als Moorhühner abknallt. Nach geschlagenen zehn Minuten hält Müller es nicht mehr aus und sagt:

„Hören Sie, Harms, ich bin pünktlich um halb Zehn bei Ihnen auf der Matte gestanden und Sie haben nichts Besseres zu tun, als mich hier warten zu lassen, während sie auf ihrem PC Moorhühner Moorhühner abballern. Ich werde jetzt aufstehen und wieder nach Hause gehen, oder Sie fangen endlich an mir ihre Scheiß Fragen zu stellen. Übrigens kann man Ihr, Erstmal-den-Beschuldigten-zappeln-lassen-Spielchen, in jedem beschissenen Tatort-Krimi sehen. Lassen sie sich mal was Neues einfallen.“

Ohne den Blick vom Monitor zu wenden fragt Harms Müller ruhig:

„Haben Sie denn Schuld auf sich geladen, Herr Müller?“

„Nein.“

„Warum sagen Sie dann Beschuldigten und nicht Zeugen?“

„Ah“, denkt Müller, „Harms‘ Revier. Hier hat er an jedes Stuhl- und Tischbein gepisst bevor er seine bescheuerten Utensilien verteilt hat.“

Auf der rechten Seite neben dem Schreibtisch an der Wand steht ein alter brauner, klobiger Rollschrank aus den Sechzigern und oben drauf, eine Sammlung von Polizeimützen aus der ganzen Welt, oder fast aus der ganzen Welt. Ein Paar Exemplare werden ihm sicher noch fehlen. Hinter Harms an der Wand ein Portrait des Bundesinnenministers in schwarz-weiß. An der gegenüber liegenden Wand, derselbe klobige Rollschrank, voll geproppt mit staubigen Akten. Über dem Rollschrank an der vergilbten Wand, ein gerahmtes Foto, das Harms mit diversen Kollegen im schwarzen Kampfanzug zeigt. Jeder mit einer Maschinenplempe im Anschlag.

„Es gibt sie immer noch“, denkt Müller, als er sich das Foto aus dem Augenwinkel betrachtet, „diese Vollpfosten, die geil darauf sind, für den Staat auf Menschenjagd zu gehen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wem sie mit ihrer neun Millimeter den Sack rasieren. Ob es gerecht ist oder nicht interessiert diese Penner nicht. Solange es solche Plattköppe gibt, wird es keinen Frieden auf der Kugel geben.“

Den einzigen Spruch aus den Siebzigern, den Müller voll und ganz unterschreiben kann, ist: Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin.

„Das ist schon lange her, Herr Müller. Ausbildung beim Bundesgrenzschutz“, unterbricht Harms, Müllers Gedanken.

„Und, haben Sie schon einen umgelegt, Harms?“, sagt Müller, angeekelt vom übertriebenen Stolz, den Harms offensichtlich beim Anblick dieses Fotos empfindet.

Harms merkt Müllers Abneigung und fragt grinsend:

„Haben wohl nicht gedient, Müller …, was?“

„Hab damals leider vergessen zu verweigern.“

„Ah, ein Drückeberger. Unter meinen Fittichen hätten solche Typen damals nichts zu lachen gehabt.“

„Tja, Harms, deshalb sind solche Typen wie Sie, auch nie am Wochenende mit dem Zug nach Hause gefahren.“

„Was meinen Sie denn damit, Müller?“

„Ach, kommen Sie, Harms …, Sie wissen genau wovon ich spreche.“

„Tut mir leid, nein.“

„Die Züge waren voll mit den untersten Dienstgraden und alle waren dabei, sich den Frust aus den Knochen zu saufen. Solche Heizkisten wie Sie, wären da niemals lebend raus gekommen, dass wissen Sie.“

„Na, na, na, Herr Müller, Die Heizkiste will ich mal überhört haben“, beschwert sich Harms und drückt auf Enter. Der Drucker fängt an zu rattern und unterbricht das Gespräch. Er schmeißt um die zehn Seiten aus dem Spalt und geht wieder in den Stand-By-Modus.

„Nun, Müller, bevor wir hier ganz vom Thema abschweifen, erzählen Sie mir mal ihre Version vom Hergang, Betreff: Manfred Linnert“, sagt Harms und sortiert dabei die ausgedruckten Seiten. Dann legt er sie vor sich auf den Schreibtisch.

Müller schlägt das linke Bein über das rechte und fragt noch mal grinsend:

„Haben Sie denn nun schon mal einen umgelegt?“

Müller merkt an Harms Gesichtsausdruck, dass er lieber nicht weiter auf diese Frage beharren sollte und bekommt auch prompt die rüde Antwort von ihm geliefert:

„Die Fragen stell hier ich, Müller und Sie sitzen hier, weil ich das so will … verstanden? Ich kann auch ganz andere Saiten aufziehen.“

Müller schlägt das rechte Bein über das linke, holt seinen Tabak aus der Jackentasche und fängt an zu drehen.

„Hier wird nicht geraucht, Müller.“

„Ist für gleich, Harms. Ich schätze, wir brauchen hier nicht lange.“

„Das werden wir ja noch sehen“, droht Harms, dessen Kopf langsam eine rötliche Färbung annimmt und mit einem Blatt Papier in der Hand um den Schreibtisch geht und es Müller vor die Nase hält. Auf dem Blatt ist ein Foto, das Müller mit Dante im Park zeigt. Sie sitzen auf einer Bank und Dante bietet ihm eine Dose Bier an.

„Und …, was soll das?“, sagt Müller.

„Das zeigt“, sagt Harms siegessicher, „dass Sie den Mitarbeiter von Herrn Linnert persönlich kennen und ich glaube, dass ihr beiden Busenfreunde seid.“

„Seien Sie nicht blöd, Harms. Ich wohne schon eine ganze Zeit in diesem Haus und da kommt man gar nicht drum herum mal ein paar Worte mit seinen Nachbarn zu wechseln. Dante ist ’ne arme Sau und sucht Kontakt. Er hat keine Freunde und mir geht der Penner schräg ab. Ich war auf dem Weg zum Kiosk als er mich ansprach und mir ’ne Dose von seinem Gesöff anbot.“

Harms greift sich ein anderes Blatt Papier und sagt:

„Dieser Dante, wie Sie ihn nennen, hat bei mir angerufen und gesagt, dass Sie ihn gezwungen hätten mir zu sagen, dass er sich getäuscht hätte, sie am Fenster gesehen zu haben. Stimmt das, Müller?“

„Hören Sie, Harms, bevor das hier in die falsche Richtung läuft, erzähl ich Ihnen mal, wie die Sache wirklich abgelaufen ist.“

„Dann lassen Sie mal hören.“

Müller erzählt Harms die ganze Geschichte und lässt nichts aus.

„Also hatte ich doch recht“, sabbert der Pinguin, „Sie haben Daniel Tiess gezwungen eine Falschaussage zu machen.“

„Ich wollte einfach nur meine Ruhe haben, verdammt. Was gehen mich die miesen Geschäfte von diesem fetten Autohändler an. Mich interessiert der ganze Scheiß nicht.“ Müller wird langsam sauer.

„Sie geben also zu, Daniel Tiess gezwungen zu haben“, lauert Harms.

„Nein“, lügt Müller. „Ich hab ihm frei gestellt, das zu tun oder nicht.“

„Herr Müller, Sie wissen, dass Sie sich damit strafbar gemacht haben?“ Harms grinst.

„Einen Scheiß hab ich, Harms. Kann ich ahnen, dass der Spinner bei Ihnen anruft und sich irgendwelchen Mist aus den Knochen leiert?“

Harms greift sich einen Bleistift und steckt sich, Müller dabei ernst in die Augen schauend, das stumpfe Ende in den Mund. „Ich glaube nicht, dass Tiess mir einen Bären aufgebunden hat. Ich habe ihn übrigens für Morgen vorgeladen.“

„Harms, was wollen Sie eigentlich von mir? Ihnen muss doch klar sein, dass ich mit dem ganzen Scheiß nichts zu tun habe. Das einzige Verbrechen, das ich begangen habe, ist, der rothaarigen Lady nicht geholfen zu haben, während Linnert dabei war, ihr diesen weißen Schrotthaufen anzudrehen.“

„Auch von ihr, mit Ihnen im Chinarestaurant, gibt es ein Foto, Müller“, sagt Harms und greift sich das nächste Blatt Papier vom Stapel.

Müller kann es kaum glauben. Er hat den Eindruck, wenn er Harms’ zufriedenes Grinsen dabei sieht, chancenlos zu sein. Hannes wäre jetzt eine große Hilfe. Aber er würde sicher auch nichts daran ändern können. Müller ist in der Zwickmühle. Harms legt das Foto auf Müllers Schoß und wartet.

„Das ist Lena“, sagt Müller gelangweilt.

„Sehen Sie, Herr Müller, den Vornamen haben wir schon mal. Jetzt müssen sie mir nur noch den Nachnamen verraten und wir sind auf dem Weg, richtig gute Freunde zu werden.“

Harms kommt Müller immer größer vor. Seine Arroganz und Überheblichkeit scheint nicht gespielt. Harms glaubt wirklich alles was er sagt. Für ihn hat die Geschichte schon ein Ende und am Ende sieht sich Müller als Angeklagten vor dem Richter stehen.

Müller fängt sich wieder und sagt trocken:

„Harms, bevor ich Ihr Freund werde, wird Liselotte Pulver sich ‘nen Pimmel annähen lassen oder Mario Barth witzig sein. Außerdem hab ich keinen Schimmer, um was es da unten beim Autohändler wirklich ging.“

„Es ging um dieses rote, hübsche amerikanische Auto, Müller. Was können Sie mir darüber sagen?“

„Corvette Stingray Baujahr 67, oder 68“, frotzelt Müller, „ein Klassiker.“

Harms setzt sich hinter seinen Schreibtisch und hält zu Müllers Erstaunen ein kleines Diktiergerät in den Händen. Er öffnet die Klappe und wechselt die Kassette. Harms drückt die Aufnahmetaste und legt das Gerät wieder auf den Tisch.

„Sagen sie mal, Harms, hätten Sie mich nicht vorher fragen müssen, bevor Sie mich hier aufnehmen?“

Harms lächelt Müller überlegen an und sagt:

„Nein.“

Müller merkt schon wieder die Wut in sich aufsteigen. Er hätte gestern nicht im Traum daran gedacht, dass diese kleine Ratte von Harms ihm so zusetzen würde. Hannes hatte ihn gewarnt. Müller erinnert sich wieder an Hannes’ Vergleich mit dem kleinen Köter und dem Dobermann. Harms ist zweifellos ein harter Knochen, mit dem nicht zu spaßen ist, der jede Schwäche seines Gegenübers erkennt und auch weiß, sie zu seinen Gunsten auszunutzen. Müller wird sich etwas einfallen lassen müssen um Harms nicht weiter auf dem Leim zu gehen.

Müller versucht, eine einigermaßen angenehme Sitzposition auf dem ungemütlichen Stuhl zu finden, und zwingt sich zur Ruhe.

Harms steht auf, kommt um den Schreibtisch herum und setzt sich Müller gegenüber auf die Tischkante. Müller hat ein schlechtes Gefühl dabei, dass er zu Harms aufschauen muss, während Harms versucht, ihn mit seinen Fangfragen durch die Mangel zu drehen. Auge in Auge wäre ihm lieber. Aber er hat mittlerweile begriffen, dass Harms diese Tour mit voller Absicht durchzieht. Psychologische Kriegsführung.

„Ich weiß, was Sie hier abziehen“, sagt Müller spontan. „Ich hab Sie längst durchschaut, Harms.“

Harms schaut eine Weile angeekelt auf Müller runter und sagt:

„Sie wissen gar nichts, Herr Müller, und ich will jetzt wissen, wer das rothaarige Mädchen im Chinarestaurant war! Den Vornamen haben Sie mir ja schon verraten, fehlt nur noch der Rest.“

„Wer hat eigentlich diese Fotos gemacht?“, will Müller wissen.

Dass Harms ihn beschatten lässt hat Müller nicht überrascht. Das hatte Hannes ihm schon am Telefon verraten.

„Das geht Sie nichts an, Müller, und glauben Sie mir, ich mach meinen Job gründlich.“

Müller ist drauf und dran, Harms zu erzählen, was er durch Hannes über ihn weiß. Es könnte möglich sein, ihn genau so vor den Kopf zu stoßen, wie den alten Fierer, als er ihm Onkel Hermanns Namen unter die Nase rieb. Aber von Harms wusste Müller noch zu wenig. Er braucht noch mehr Material, dass er gegen ihn verwenden könnte. Müller fehlen eindeutig noch ein paar Trümpfe, um diesen stupiden Polypen maultot zu machen.

„Ich kenne Lena seit dem vorletzten Sonntag. Wir haben uns ein paarmal getroffen und unterhalten. Ihren Nachnamen weiß ich nicht und ihre Adresse hat sie mir auch nicht verraten. Aber um sie zu beruhigen, Herr Hauptkommissar, die Lady, die Auto-Manne in den Arsch getreten hat, war mindestens einen Kopf größer als sie und auch röter. Lena ist rotblond und hat mit der ganzen Sache nichts zu tun.“

„Haare kann man färben, Müller.“

„Klar, Harms, von rot in rotblond. Für wie blöd halten sie ihre Mitmenschen eigentlich?“, staunt Müller.

„Ehrlich gesagt, Müller …? Für saublöd.“

Müller stellt beide Beine auf den Boden, verschränkt die Arme vor die Brust und muss lachen.

„Außer Ihnen, sind auf diesem Planeten alle nablo, was Harms? Ich würde mir freiwillig die Rübe wegballern, wenn alle so wären wie Sie.“

Harms grinst, sagt nichts und setzt sich wieder hinter seinen Schreibtisch. Er greift zum Telefon und wählt eine Nummer. „Karin, wie wäre es, wenn du mir zwei Tassen Kaffee bringst?“.

Harms schaut Müller an und fragt:

„Sie mögen doch Kaffee, Herr Müller?“

„Nee, Harms …, ihre Beamtenplörre können Sie alleine saufen und versuchen Sie jetzt nicht mit mir das, Guter-Bulle-böser-Bulle-Spiel durchzuziehen und außerdem werde ich jetzt von meinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch machen und die Spur ziehen.“

Müller steht auf und geht zur Tür. Er steckt sich demonstrativ die Zigarette in den Mund und reißt ein Streichholz an. Er hält die Flamme unter die Selbstgedrehte, nimmt einen tiefen Zug und bläst den Rauch in Harms‘ Richtung. Den Ekel, den er für diesen Menschen empfindet, ist unbeschreiblich. Harms schein alles das zu verkörpern, was Müller an Mord denken lässt.

Harms reagiert nicht auf Müllers kleine Provokation und zischt:

„Wenn Sie jetzt gehen, Müller, machen Sie sich erst recht verdächtig und glauben Sie mir“, Harms jetzt lauter, „ich kriege Sie dran!“

Müller öffnet die Tür und dreht sich noch mal um.

„Harms, Sie haben offensichtlich nicht alle Latten am Zaun. Es ist so wie ich es Ihnen gesagt habe und mehr kann ich Ihnen nicht sagen und ich gehe jetzt, weil ich Sie einfach nicht mehr ertragen kann. Und wenn ich darüber nachdenke, dass ich für solche kranken Typen wie Sie Steuern zahlen muss bin ich kurz davor meinen Job zu kündigen.“

Müller schlägt wütend die Tür ins Schloss und macht sich auf den Weg zum Ausgang. Als er fast die Mitte des Flurs erreicht hat, hört er Harms hinter sich rufen:

„Sie können jetzt ruhig weglaufen, Müller, aber glauben Sie mir, ich krieg Sie dran, und wenn ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen muss!“

Müller dreht sich nochmal, obwohl es ihm schwer fällt, um, und versucht, ruhig zu bleiben. Der kranke Ehrgeiz dieses Menschen treibt ihn fast zur Weißglut. Müller zittert am ganzen Körper. Es fällt ihm schwer, sich unter Kontrolle zu halten um nicht eine Klage wegen Beamtenbeleidigung zu riskieren.

„Harms, wenn Sie das nächste Mal zum Telefonhörer greifen, dann rufen Sie lieber die Jungs mit den weißen Turnschuhen an und lassen sich ’ne Zwangsjacke verpassen! Sie sind eine Gefahr für die ganze verdammte Menschheit!“

„Müller, wir werden ja sehen, wer am Ende aus dem Blechnapf frisst!“, hört Müller, Harms noch zetern, als er die Eingangstür des Polizeipräsidiums hinter sich lässt und tief durchatmend den Weg zu seinen vier Wänden einschlägt. Er glaubt, fast ein Lächeln auf den Lippen der uniformierten Lady am Empfang gesehen zu haben, als er an ihr vorbeiging.

Müller geht in die City und ersteht für hundert Euro in einem Kaufhaus für Elektronikartikel einen neuen PC-Bildschirm. Er klemmt sich den Karton unter den Arm und verlässt das Kaufhaus wieder.

 

„Ey Müller, alte Schwuchtel, was geht ab, Mann!?

Es ist Gerry. Er sitzt alleine an einem Tisch vor einem Chinaimbiss und schiebt sich gerade eine Frühlingsrolle zwischen seine verfaulten Zähne. Das Fett läuft ihm dabei an den Seiten runter und tropft auf die Bild-Zeitung, die er vor sich auf dem Tisch liegen hat.

„Setz dich, lange nicht gesehen, wa?“, ruft er und stopft sich dabei das letzte Ende von der Frühlingsrolle in den Mund. Es sind höchstens zehn Meter Distanz zwischen ihnen, was Müller stutzig macht und einen kurzen Moment darüber nachdenken lässt, warum der Idiot so schreit.

„Scheiße Mann, Gerry, ich hätt mir fast in die Hose geschissen, musst du so laut sein?“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

38. Kapitel: Fotzengerry

 

Gerry nannten sie früher, Fotzengerry. Es war die Zeit, Ende der Siebziger, als die Discomusik und die Discotheken in waren. Müller hatte damals nie was übrig für diesen Trend und den Leuten, die sich piekfein im weißen Hemd mit dünner Lederkrawatte und Schmodder im gestylten Haar Weinbrand-Cola hinter die Binde kippten und lockenbepackt stark parfümierte Schnepfen unter den engen roten Kunstlederrock fummelten. Es gab ständig brutale Schlägereien in den Dingern und meistens wegen irgendwelcher Banalitäten. Ein leichter unbeabsichtigter Rempler reichte meist schon, um mit einem Satz dicker Augen im nächsten Polizeirevier in der Ausnüchterungszelle wieder aufzuwachen. Bei Müller waren’s die falschen Klamotten, die einem muskelbepackten Schwachkopf in schwarzen Bundfaltenhosen dazu animierten, ihn ohne ein Wort der Warnung auf die Bretter zu schicken.

Gerry war so ein Typ, der in mehreren Teichen schwamm, der mit allen Leuten klar kam und ein feines Gespür dafür entwickelt hatte, brenzlige Situationen schnell zu erkennen und sich dann ruckzuck zu verpissen.

Gerry war mit jedem Discobesitzer in der Gegend per Du und trieb sich auf jeder Privatfete herum. Ob er eine Einladung hatte, spielte keine Rolle. Gerry war einfach da, so als ob er immer schon da gewesen wäre, und keinen kümmerte es und während die anderen dicke Karren fuhren, nudelte Gerry mit einem rostigen, gebrauchten VW Golf durch die Gegend und prahlte damit, sämtliche Disco-Miezen in- und auswendig zu kennen. Gerry wusste, welche eine enge und welche eine weite Möse hatte und der verdiente Spitzname „Fotzengerry“ ließ bei seinen plastischen Schilderungen weiblicher Feuchtgebiete nicht lange auf sich warten.

„Bist ganz schön fickerig wa, Müller? Komm setz dich, ich geb’ ein‘ aus, wa“, sagt Gerry und rückt Müller einen Stuhl zurecht.

Müller denkt:

„Dieses scheiß, „WA“, hatte der Penner früher schon drauf“, und setzt sich auf den Stuhl.

„Na, Fotze, was machst du denn hier so? Dich endlich mal bilden?“, sagt Müller mit einem Kopfnicken zum meist gekauften Boulevardblatt Deutschlands.

 

Müller hatte noch nie viel Respekt vor Gerry gehabt. Er könnte ihn heute, wie früher, ohne mit der Wimper zu zucken einmachen. An ihm war nie mehr dran gewesen als eine Dose Haarspray und eine Flasche Aftershave, und das auch nur vom billigsten. Körperlich machte Gerry nie viel her. Er war dünn und klein und nicht sehr muskulös.

 

„Ach Scheiße, wa, Müller, kannste nich mal dieses Scheiß, „Fotze“, lassen, das sagt kein Mensch mehr zu mir, wa.“

„War nur die Strafe für die Schwuchtel und deine blöde Schreierei. Ich kann dich auch Gerhard nennen“, sagt Müller und winkt die Bedienung an den Tisch.

„Nee, sag lieber Gerry, wa. Gerhard will ich nicht heißen, wa.“

„Okay, dann sind wir uns ja einig“, sagt Müller und bestellt sich einen halben Liter naturtrübes Weizenbier.

Gerry faltet die Bild zusammen und steckt sie in die Plastiktüte, die an seinem Stuhl lehnt und bestellt sich dasselbe.

„Was machsten so, Müller, lange nicht gesehen, wa, mindestens dreißig Jahre oder so, wa?“

„Kann hin kommen, Gerry. Mach immer noch in Sachen Gas, Wasser, Scheiße. Aber hauptsächlich kümmere ich mich um anderer Leute Heizungen und … was treibst du so?“

„Im Moment krieg ich Stütze, wa, steig aber demnächst wieder bei Stephan ein, wa.“

„Wie, gehste jetzt einbrechen?“, frotzelt Müller.

„Ach, Müller, du Spinner, ich mein doch, Stephan macht einen neuen Laden auf, wa, und ich arbeite dann wieder für ihn.“

Die Bedienung unterbricht das Gespräch und stellt die beiden Biere auf den Tisch. Sie fragt:

„Zusammen, oder getrennt?“

„Ich zahle, wa“, sagt Gerry und zückt einen Zehner. Er lässt sich das Wechselgeld geben und gibt einen Euro Trinkgeld. Die Bedienung sackt das Geld ein und nimmt sich die Gäste am Nebentisch vor.

„Hätte wenigstens danke sagen können, wa?“

Müller lässt sich das bayrische Gesöff durch die Kehle laufen und sagt:

„Und zu warm ist die Brühe auch noch, aber scheiß drauf und wer ist Stephan –? Kenn ich den?“

„Dem gehörte früher das „Sir Morgan“, wa und danach ist er mit dem „Saladin“ pleite gegangen. Den müsstest du eigentlich kennen, wa.“

„Vom Sehen, ja, aber sonst auch nicht“, erinnert sich Müller.

„Naja … Auf jeden Fall hat er ’ne super Geschäftsidee, wa. Er will jetzt alles so auf Raumschiff machen und da soll’n nur Transen hinter dem Tresen stehen, wa.“

„Was hat Stephan denn nach der Pleite gemacht?“, sagt Müller und setzt das Bierglas an.

„Keine Ahnung, wa. Ich glaube, er war eine Zeit lang in den Staaten und hat da Häuser verkauft.“

Müller stellt das Bierglas wieder auf den Tisch. „Warum nur Transen?“

„Er meint, dass Aliens beides haben, wa.“

„Wie, beides?“

„Na eben beides.“

„Du meinst, Pimmel und Titten?“

Gerry steckt sich eine an und lacht.

„Nicht nur …, ‘ne Pflaume auch, wa.“

„Wo haben sie die denn sitzen, Garry. Transen haben keine Pflaume. Nur wenn sie ‘ne OP hinter sich haben.“

Müller hat fast den Eindruck, dass Gerry den Scheiß glaubt, den er da erzählt.

„Mann, Müller, das sitzt alles in denen drin, wa, nicht sichtbar, nur die Titten kann man sehen, wa.“

Jetzt will es Müller genau wissen und geht in den Verarschmodus.

„Und, wie werden die ihre Pisse und ihre Scheiße los, wenn die da unten kein Loch haben?“

„Mann, Müller, die werden doch nur so verkleidet, wa. Glaubst du, ich weiß nicht wie ‘ne Transe aussieht?“

„Hatte ich gedacht.“

„Klar, Müller“, sagt Gerry und schaut enttäuscht aus der Wäsche. Er lässt den letzten Rest Weizenbier in sich rein laufen, greift sich seine Zigaretten, die Tüte und steht auf und bevor er sich auf den Weg macht sagt er noch:

„Ich wusste schon damals, dass du ein Stinkstiefel bist, Müller, wa.“

Soviel Sensibilität hatte Müller Gerry gar nicht zugetraut, aber den Stinkstiefel kann er auf keinen Fall auf sich sitzen lassen und lässt ihn prompt auf diese Beleidigung antworten:

„Mir sind halt im Leben schon zu viele von solchen Typen wie du einer bist über den Weg gelaufen, Gerry, und wenn ich mal eine Sekunde darüber nachdenke, konnte ich dich auch noch nie leiden. Für mich warst du schon immer ein Großmaul, ein schleimiger Arschkriecher und Mitläufer. Nichts weiter als ein parfümierter Pinscher, der seinem Herrchen die dreckigen Stiefel leckt.“

„Ach fick dich doch, Müller, wa!“, ist das Letzte, was Müller von Gerry hört, bevor er wütend auf sein altes Mountainbike steigt und in der Menge verschwindet.

„Tja“, denkt Müller, „damit wäre das auch geklärt.“

Er bestellt sich noch ein weiteres Weizenbier, raucht dazu ein Paar Zigaretten, schnappt sich seine Neuanschaffung und macht sich wieder auf den Weg. Die Begegnung mit Fotzengerry war kurz, aber hatte mehr seelischen Inhalt als das Gespräch zuvor mit Harms. Müller mag es, wenn sich die Dinge klären und zum Ende kommen. Denn eins ist sicher, die Sache mit Gerry ist ein für allemal gelaufen; und tief in seinem Inneren ist Müller allen Transvestiten dieser Welt dafür dankbar.

Die Idee mit der Alien-Disco findet Müller genial. Aber ob sich so viele Transen in Osnabrück auftreiben lassen, daran zweifelt er. Er hat in OS noch nie eine gesehen.

Müller muss lachen als er sich vorstellt, wie eine Horde ausgehungerter Klingonen Stephans neuen Laden ramponiert und die gesamte Meute vom Bird-of-Prey-Schlachtkreuzer Pagh, ihm in seinem piekfeinen Büro auf dem Neonschreibtisch zeigt, wie bei ihnen so eine klingoonische Kot’baval-Zeremonie abgeht.

 

Als Müller die Tür aufschließt, findet er im Flur auf dem Fußboden einen Zettel mit einer Nachricht von Lena. Und Irgendwie hatte er es schon geahnt.

 

Moin Rainer!

Hatte völlig vergessen, dass ich heute einen wichtigen Termin habe. Muss mich tierisch beeilen, um nicht zu spät zu kommen.

Bis später.

 

Dicker Kuss, „Lenchen!“

 

„Scheiße“, denkt Müller, „diese Frau ist ein Geist, nicht real, nur ein beschissener Traum, der zum Problem wird“, wenn er dabei Harms Vermutungen in Betracht zieht.

Müller installiert den neuen Bildschirm und während der PC hochfährt dreht er sich eine Bulls-Houle.

 

 

 

Müller klickt auf elf neue Nachrichten und findet elfmal Werbung. Der einmillionste Besucher-Köder ist diesmal nicht dabei. Aber dafür gibt es eine Spinne und eine Zecke und die Frage, wer von den beiden Insekten die Spinne ist. Eins davon soll man anklicken. Müller fragt sich, ob die Pappnasen es ernst damit meinen, oder ob sie wirklich nicht wissen, dass die Zecke wegen ihrer acht Beine ebenfalls zu den Spinnen zählt. Wundern tät’s ihn nicht. Müller löscht den Kram und logt sich aus.

 

Er drückt die Kippe in den Aschenbecher und greift sich sein Telefon. Er wählt Hannes’ Nummer und wartet.

„Blik.“

„Moin, Hannes, ich bin’s, Rainer.“

„Gut, dass du dich meldest. Ich wollte dich auch schon anrufen.“

„Warum, was gibt’s denn, Bliki?“

„Hatte grade ein interessantes Gespräch mit meinem Spion, Bodo.“

„Und?“

„Kaum warst du aus der Tür, hat Harms ein Durchsuchungsbefehl bei der Staatsanwaltschaft für deine Bude beantragt.“

„Das ist nicht dein Ernst, Hannes, oder?“

Müller kann es nicht glauben. Harms wird allmählich zu einer größeren Plage als er dachte.

„Es geht nicht in meinen Schädel, Hannes. Was will dieser Spinner eigentlich von mir? Warum sucht der sich nicht ‘ne fettere Beute als mich. Wenn er geil auf ‘ne beschissene Beförderung ist, gibt es doch sicher genug Kriminelle in Osnabrück, die wirklich Dreck am Stecken haben?“

„Merkst du nicht, dass die schleimige Ratte längst dabei ist, dich zu einer fetten Beute zu machen? Ich weiß, dass du deiner Nachbarin Dope besorgst. Falls du noch etwas von dem Zeug in deiner Wohnung hast, lass es lieber verschwinden … klar!“

Müller ist sich sicher, Hannes nie etwas von dem kleinen Gefallen, den er Herta monatlich tut, gesagt zu haben.

„Woher weißt du das? Ich hab dir das nie erzählt.“

„Im Suff, Rainer …, im Suff, oder was dachtest du, woher ich das weiß? Und falls das Arschloch mit seinem Antrag durchkommt, kannst du davon ausgehen, dass das Arschloch nicht unvorbereitet kommt und für den Fall, dass bei dir nichts zu finden ist, wird er sicher ‘ne Kleinigkeit in der Tasche haben, mit der er dich hundertprozentig ans Kreuz nageln kann.“

Müller geht in Gedanken noch einmal das Gespräch mit Harms durch und kann nichts finden, was Harms gegen ihn in der Hand haben könnte, um bei der Staatsanwaltschaft einen Durchsuchungsbefehl zu rechtfertigen.

„Rainer, bist du noch dran?“

„Ja, ich hab nur grad nachgedacht.“

„Über was?“

„Was ich Harms erzählt haben könnte, woraus er mir einen Strick drehen kann.“

„Was hast du denn alles erzählt?“

„Nichts, was mich belasten würde“, sagt Müller.

„Und was? Lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!“

Müller lässt den ganzen Vormittag noch einmal zusammen mit seinem Freund Revue passieren.

„Der Spinner hat Fotos von dir und Lena gemacht?“, sagt Hannes erstaunt. „Nicht zu glauben.“

„Hat er, Hannes. Der Wichser storcht mir nach.“

„Was tut der Wichser?“

Der storcht! Noch nie was von Storching gehört, du Superbulle?!“

„Doch schon. Nur das du es falsch ausgesprochen hast, du Superklempner. Stalking hat nämlich nichts mit Störchen zu tun“, lacht Hannes.

„Arschloch“, sagt Müller.

„Harms storcht mir nach“, wiederholt Hannes und Müller hört, wie er dabei vor Lachen ins Telefon spuckt.

„Mann, Hannes, glaubst du etwa wirklich, ich weiß nicht, das dass Stalker heißt?“

„Das glaub ich“, sagt Hannes und muss sich unüberhörbar zusammenreißen, um keinen Lachkrampf zu kriegen.

Müller stellt sich Harms mit Storchenbeine und Strapse vor und muss mitlachen.

„Lass uns mal wieder zur Sache kommen“, sagt Hannes nach einer Weile schwer atmend. „Die Sache ist ernst genug.“

„Okay.“, stimmt Müller ihm zu und versucht, sich wieder in den Griff zu bekommen.

„Sogar von dir und Dante auf der Parkbank gibt es ein Foto?“

„Das sagte ich bereits.“

„Der Typ muss demnach noch auf der Lauer gelegen haben, als du später deine Wohnung verlassen hast.“

„So muss es gewesen sein, Hannes, du schlaues Kerlchen.“

Hannes übergeht Müllers Stichelei.

„Ich kann mir absolut keinen Reim daraus machen, weshalb Harms es unbedingt auf dich abgesehen hat. Du warst wahrscheinlich nur zur falschen Zeit am falschen Ort.“

„Meine Rede, anders kann ich mir das auch nicht erklären. Die Ratte hat sich mich als Opfer für seinen Wiederaufstieg ausgesucht. Der würde mich eiskalt über die Klinge springen lassen, wenn es seinem Scheiß Zweck dient.“

„Da kann ich dir nicht widersprechen, Rainer.“

„Ja und … was soll ich jetzt machen, du Superbulle?“

„Nichts. Außer das, was ich dir schon am Anfang geraten habe.“

„Ich hab kein Dope in der Wohnung. Herta bekommt immer die ganze Ladung auf einmal. Ich kann mit dem Zeug eh nichts anfangen. Mir wird davon schlecht.“

„Dann ist’s ja gut, Müllerchen. Dann kann man dir auch nichts im Blut nachweisen.“

„Ich hoffe mal, dass es soweit nicht kommt. Nicht, dass das Arschloch mich noch anzapfen lässt.“

„Zuzutrauen ist es ihm. Aber lass uns erstmal abwarten, was Bodo noch so ans Tageslicht bringt.“

„Was kann ich denn machen, wenn die Sau mit einem Durchsuchungsbefehl vor der Tür steht?“

„Dann kannst du nichts mehr machen außer, ihn nett rein bitten.“

„Scheiße.“

„So kann man‘s auch sagen, Rainer. Aber beruhig dich mal, denn wenn das bei der Vernehmung alles so abgelaufen ist wie du gesagt hast, wird es niemanden von der Staatsanwaltschaft geben, der ihm den Wisch unterschreibt.“

„Und die Aufnahme mit dem Diktiergerät? Die kann man technisch mittlerweile so manipulieren, dass alles gegen mich spricht.“

„Dafür braucht man jemanden der das kann. Ich bezweifele, dass Harms dazu in der Lage ist.“

„Dein Wort in Odins Ohr, Bliki“, sagt Müller, verabschiedet sich und legt den Hörer auf.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

39. Kapitel: Der Supermarkt

 

Stress und kein Bier im Haus. Müller greift sich seine Jacke und geht nach draußen. Charly hat montags seinen Kiosk geschlossen, weshalb Müller gezwungen ist, den nächsten Supermarkt anzusteuern.

Im Eingangsbereich nimmt er sich einen Einkaufskorb vom Stapel und geht direkt zur Getränkeabteilung. Müller will den Einkauf so schnell wie möglich hinter sich bringen und überlegt nicht lange, welche Biersorte ihm heute am besten schmecken würde. Er nimmt zwei Sixpacks vom Standard aus dem Regal und stellt sie in den Korb. Neben ihm steht eine alte Frau mit ihrem Rollator und brabbelt:

„Ach, seitdem Herbert nicht mehr da ist, weiß ich nie, wie viel Bier ich kaufen muss.“

Müller schätzt ihr Alter auf circa achtzig Jahre. Auf ihrer rechten Schulter wölbt sich ein spitzer Buckel. Sie hält sich in leicht nach vorne gebeugter Haltung mit der linken Hand am Rollator fest.

„Kann ich ihnen helfen?“, sagt Müller.

Aber die Alte scheint keine Notiz von ihm zu nehmen und starrt weiter ins Regal mit den verschiedenen Biersorten. „Herbert hatte immer dasselbe Bier und Konrad hatte immer anderes. Aber Konrad ist ja auch schon lange tot.“

„Tja“, denkt Müller, „die ist durch“, und macht sich mit Korb und Bier auf zur Abteilung mit den Konserven. Er legt zwei Dosen Linsen und zwei Dosen Eierravioli zu den Bierkartons. Aus dem SB-Backwarenregal nimmt er sich ein Bauernbrot und aus dem Kühlregal zwei Packungen Butter, eine Tüte Milch und eine Edelsalami mit Knoblauchgeschmack. Für Lena legt er noch eine Flasche Sekt dazu, die er in einer Wühlkiste im Kassenbereich findet. Müller weiß, dass diese Wühlkisten reine verkaufspsychologische Verarschung sind und die gleichen Produkte in den regulären Regalen denselben Preis haben. In den Wühlkisten sind sie manchmal sogar teurer.

Der Supermarkt gönnt sich den Luxus, dem Kunden fünf Kassen anzubieten. Auf den nach saurer Milch stinkenden, schwarzen Laufbändern steht bei vieren ein rotes Schild „KASSE NICHT BESETZT“ und vor der fünften hat sich eine lange Schlange leise vor sich hin nörgelnder Verbraucher gebildet. Müller stellt sich ans Ende der Schlange und wartet, bis es weiter geht. Den Korb stellt er vor sich auf den Boden und schiebt ihn langsam mit dem Fuß vor sich her. In der Kassenschleuse fängt ein kleiner Junge an zu weinen und schreit:

„Ich will aber den Saurier haben!“ Die Mutter des Jungen schaut verschämt in die Runde und versucht den Kleinen mit einem:

„Pscht“, zu beruhigen.

Der Junge hält krampfhaft einen kleinen Plastiksaurier in den Händen, während die Mutter versucht, ihm die dünnen Finger aufzuhebeln.

„Du hast schon genug Saurier zuhause“, zischt die Mutter und hebelt nervös weiter an den Fingern des Jungen herum.

„Ich will aber den Saurier! Du bist blöd! Ich will den Saurier!“

Mit etwas Anstrengung, schafft sie es endlich, ihrem Sohn den Saurier aus den Händen zu reißen, der bei dieser Gelegenheit noch eine Schüppe drauflegt und ihr mit einem gut gezielten Tritt vors linke Schienbein zu verstehen gibt, was er von ihren Erziehungsmethoden hält.

„Scheiß Mama!“, schreit er verzweifelt und nimmt nochmal Anlauf. Die Mutter pariert den Versuch ihres Bengels, ihr ein zweites schmerzhaftes Hämatom zu verpassen, mit einem leichten Rückzieher, so dass der Tritt ins Leere geht. Sie legt den Saurier wieder ins Regal und entschuldigt sich mit gesenktem Blick für das unpassende Verhalten ihres Kindes.

Die Kassiererin hat trotz des Spektakels weiter ihren Job gemacht und Strichcode für Strichcode über den Scanner gezogen, während der Junge heimlich in einem unbeobachteten Moment wieder in das Fach mit den Sauriern greift. Aus der Mitte der Menschenschlange hört Müller eine Männerstimme: „Nun kaufen sie ihrem Schreihals schon diesen blöden Saurier, sonst stehen wir hier noch bis zum jüngsten Tag. Meine Mittagspause ist eh schon im Eimer. Ist doch auch kein Wunder, dass der Bengel durchdreht, wenn die Marktheinis ihm den Mist direkt vor die Nase stellen.“

„Da haben Sie recht“, stimmt ihm eine Frau etwas weiter vorne zu.

„Da ist System bei“, sagt ein anderer.

Müller sieht, dass die Frau den Saurier aufs Fließband legt und muss innerlich schmunzeln.

„Ein weiterer Sieg für die nächste Generation“, denkt er und schiebt seinen Korb mit einem knirschenden Geräusch über die vergilbten Fußbodenfliesen.

Nach einer Viertelstunde bekommt Müller allmählich das Tabakregal über dem Laufband zu Gesicht. Links daneben stehen die kleinen Fläschchen und Flachmänner mit den diversen Likör- und Schnapssorten. Darunter die Fächer mit Hustenbonbons, Halspastillen und Schokoriegel.

„Ein Schlaraffenland für Raucher, Alkis, Kiffer und Kids“, denkt Müller. „Fehlt nur noch was gegen Kopfschmerzen. Säufer haben sogar die Möglichkeit Pfefferminz einzuschmeißen, bevor sie in ihr Auto steigen. So eine Supermarktkasse ist das reinste Tor zur Hölle.“

Nach zwanzig Minuten und zwei ungültigen EC-Karten, gepaart mit drei zittrigen Kleingeld- Zahlern, ist Müller endlich soweit, seinen Einkauf auf das stinkende Band zu legen. Und damit nichts durcheinander gerät, legt ein aufmerksamer junger Mann vor ihm, zwischen seiner und Müllers Ware einen Stab, mit Werbung dran. Ein grinsender, gelackter Immobilienhai im schwarzen Jupp-Anzug, weißem Hemd, blauer Krawatte mit goldener Krawattennadel, verspricht faire Behandlung und kompetente Fachberatung für kleines Geld.

„Sogar der Satan himself zeigt seine falsche Fresse und lacht sich eins. Die Supermarktkasse ist der lebende Beweis dafür, dass es den Antichristen wirklich gibt“, stellt Müller fest.

Hannes Bliks Opa hatte damals schon in weiser Vorahnung gesagt:

„Da sit de Düwel inne“, wenn Hannes‘ Eltern am Wochenende losfuhren und ihre Einkäufe im neu gebauten Riesen-Mega-Einkaufszentrum am Stadtrand machten.

„Der Typ hat sicher einen Eichensarg im Keller, wo er drin pennt“, spricht Müller den jungen Mann vor ihm an und zeigt auf die Werbetafel mit dem Immobilienhai.

„Eh …, was meinen Sie?“

„Vergessen Sie’s“, sagt Müller und bereut im selben Moment seinen vergeblichen Versuch zwischenmenschlicher Konversation. Er hatte nicht bedacht, dass der Makler sogar der Chef des Typen vor ihm sein könnte. Denn wenn Müller mal genauer hinschaut, passt das Outfit des Typen genau zu dem des Immobilienhais.

Unter dem Fließband, fast am Ende der Schleuse, in Kassennähe, gibt es drei Fächer mit Einkaufstüten. Man muss sich bücken, um an die Biester ran zu kommen und fast jedes Mal hat Müller einen Kerl vor sich, der ihm seinen Arsch vor die Nase hält.

„Entschuldigung, dürfte ich mal“, spricht Müller den jungen Mann noch einmal an und zeigt auf die drei Fächer mit den Tüten.

Sichtlich genervt zieht der Typ seinen Arsch ein und macht Müller platz. Müller hat die Wahl zwischen zehn-Cent-Tüten, fünfundzwanzig-Cent-Tüten, oder ein-Euro-Tüten. Die für zehn Cent aus Plastik schließt Müller gleich aus, zu schwach. Bei der für fünfundzwanzig hat er so seine Zweifel. Die Luxusvariante aus Stoff scheint ihm am stabilsten. Immerhin hat er einige Meter zu gehen und da will er kein Risiko eingehen. Der Nachteil ist nur, dass die Stoffbeutel kleiner sind als die Plastiktüten. Einen Sixpack muss er wenigstens verstauen können. Den anderen könnte er notfalls in der Hand tragen, oder ihn sich unter den Arm klemmen.

Nach kurzem hin und her greift sich Müller einen Stoffbeutel und die Tüte für fünfundzwanzig Cent. In die Plastiktüte will er die Lebensmittel verstauen und der Stoffbeutel wird für einen Sixpack herhalten müssen. Der Typ vor ihm hat seinen Einkauf gerade verstaut und seine EC- Karte in der Hand, als Müller den Beutel und die Tüte zu seinen Einkäufen aufs Band legt und die Kassiererin sagen hört:

„Es tut mir leid, aber bei einem Einkaufswert unter zehn Euro ist eine Kartenzahlung bei uns leider nicht möglich.“

Die Kasse zeigt auf dem Display neunachtundneunzig an. Der Typ fängt an nervös in seinem Portmonee zu wühlen und zählt sein Kleingeld.

„Ich bekomme leider nur sechs Euro zusammen. Können Sie keine Ausnahme machen?“

„Leider nicht. Wir wurden angewiesen, keine Kartenzahlung unter zehn Euro abzuwickeln.“

„Mensch“, hört Müller einen Mann von hinten ungeduldig rufen, „dann leg doch noch ‘ne Packung Gummis dazu, die kann man immer mal gebrauchen!“

Müller überlegt, ob er dem Arsch die vier Euro schenken soll, bevor er hier noch elendig verdurstet.

„Ich finde es unerhört, dass Sie mir nicht erlauben mit meiner Karte zu bezahlen!“, wird der Typ lauter.

„Es tut mir leid, aber ich darf Ihnen nicht erlauben mit der Karte zu bezahlen.“

Was als nächstes kommt weiß Müller schon, bevor die Arschgeige es ausgesprochen hat.

„Ich möchte sofort den Geschäftsführer sprechen!“

T. Großeknecht“, liest Müller auf ihrem Namensschild. Sie kommt Müller noch sehr jung vor, Anfang zwanzig. Sie trägt eine ägyptische Hieroglyphe an einem Lederbändchen um den Hals und macht einen sehr ruhigen, ausgeglichenen Eindruck. Sie hat langes, glattes, schwarzes Haar und dazu einen leicht schräg geschnittenen Pony, der ihrem hübschen Gesicht noch einen ausgesprochen kecken Ausdruck verleiht. Frau Großeknecht greift zum Telefonhörer, wählt eine Nummer und legt wieder auf.

„Können Sie nicht erst mich dran nehmen, bis der Stress hier geklärt ist?“, fragt Müller Frau Großeknecht.

„Leider nein“, sagt sie und greift nochmal zum Telefon. Sie wählt wieder eine Nummer und legt wieder auf.

„Scheiße, wann geht‘s denn endlich weiter da vorne?!“, schreit von hinten der Mann, der eben noch den klugen Vorschlag mit den Kondomen gemacht hat.

Frau Großeknecht steht auf, beugt sich über den Kassenrand und ruft in die Schlange:

„Wenn Sie möchten, können Sie zur Kasse drei gehen, da kommt gleich ein Kollege!“

Das lässt sich die Meute nicht zweimal sagen. Einkaufswagen scheppern, Kartondisplays mit diversen Schokoriegeln werden gerammt und zu Boden gerissen, Schmerzensschreie aus der Menge. Ein verwirrter kleiner Mann lässt nichts anbrennen und drängelt sich ohne Rücksicht mit seinem Wagen durch die aufgebrachte Horde und killt dabei die Achillesferse einer älteren Dame, die in diesem Augenblick des stechenden Schmerzes nur noch ein gequältes:

„Blöde Sau!“, durch ihre aufeinander gepressten Lippen quetscht.

Müller hat mit dieser Art menschlichen Sozialverhaltens gerechnet und sich nicht anstecken lassen. Er denkt ernsthaft darüber nach, seinen Einkauf auf dem Band liegen zu lassen und einfach zu verschwinden, als er Frau Großeknecht leise sagen hört:

„Mein Gott, was für Asis.“

Der junge Mann wartet weiter auf den Geschäftsführer und wippt dabei nervös von einem auf den anderen Fuß. Müllers Laune wird schlechter und er hat wieder das Gefühl, dass die Regierung endlich das deutsche Waffengesetz lockern sollte. Menschliche Massenaufläufe sind ihm seit eh und je ein Gräuel und es kommt ihm dabei immer der Vergleich mit einer Horde aufgebrachter Gnus in die Quere. Krokodilfutter.

„Sagen Sie mal“, spricht Müller nochmal den jungen Mann an, nimmt eine Rolle Pfefferminz aus dem Regal und hält sie ihm unter die Nase, „wenn ich Ihnen jetzt diese Rolle Pfefferminz gebe und sie die bezahlen und ich kauf Sie ihnen danach für das Doppelte ab hätten alle was davon und der Käse wär gegessen?“

„Darum geht’s nicht und ich möchte nicht, dass Sie sich in meine Angelegenheiten einmischen. Hier geht es ums Prinzip“, schnoddert er wütend und wippt weiter von einem auf den anderen Fuß.

Müller ist nicht darauf aus, es hier noch auf eine Schlägerei ankommen zu lassen und reißt einen seiner unbezahlten Sixpacks auf. Er greift sich eine Flasche, öffnet sie mit den Zähnen, trinkt und setzt sie erst wieder ab, bis sie über die Hälfte geleert ist. Dann putzt er sich genüsslich mit dem Handrücken die letzten Tropfen von den Lippen. Er stellt die Flasche aufs Band und merkt, dass Frau Großeknecht ihn anlächelt.

„Das könnte ich jetzt auch vertragen“, sagt sie.

„Bedienen Sie sich.“ sagt Müller, nimmt eine weitere Flasche aus dem Karton und hält sie Ihr entgegen.

„Lieber nicht, sonst bin ich meinen Job los und kann wieder hartzen gehen.“

Es sind bereits zwanzig Minuten vergangen, als ein großer, sehr dünner Mann mit Halbglatze und Hakennase im weißen Kittel auf Kasse fünf zu geht und auf der, für Kunden verbotenen Seite stehen bleibt. Er beugt sich runter zu Frau Großeknecht und fragt:

„Was gibt es den für ein Problem, Tanja?“

„Der Herr“, sagt sie und zeigt auf den sichtlich wütenden Kartenkunden, „hat Ware im Wert von neunachtundneunzig gekauft und möchte mit seiner EC-Karte bezahlen. Ich habe ihm schon zweimal gesagt, dass wir unter zehn Euro keine Kartenzahlung machen.“

Bevor der lange, dünne Mann ein Wort sagen kann bellt der Typ los:

„Es ist eine Riesensauerei, wie Sie hier mit Ihren Kunden umgehen und es ist unerhört, dass ich eine halbe Stunde auf Sie warten musste und mich gleich mit meinem Chef auseinander zu setzen habe, weshalb ich zu spät aus meiner Mittagspause komme. Ich werde ihm sagen müssen, dass meine EC-Karte beim Supermarkt um die Ecke nichts taugt und er wird mir darauf antworten, dass es ihm scheißegal ist, dass meine Karte nichts taugt und mir eiskalt eine Abmahnung auf den Tisch legen Er wird nicht wissen wollen, dass ich wegen läppischer zwei Cents in Schwierigkeiten geraten bin.“

„Bitte beruhigen Sie sich doch erst einmal. Wie ich sehe, handelt es sich, wie sie ja schon sagten, nur um eine Differenz von zwei Cents und um Ihnen weitere Unannehmlichkeiten zu ersparen, lassen wir es ausnahmsweise zu und gestatten Ihnen mit ihrer EC-Karte zu bezahlen.“

„Warum nicht gleich so. Muss man denn immer erst wütend werden?“

Der Mann greift erneut in sein Portmonee und gibt Frau Großeknecht seine Karte. Der Geschäftsführer nickt ihr kumpelhaft zu und verschwindet hinter Kasse drei. Von Kasse drei aus hört Müller ihn zu den aufgebrachten Kunden sagen:

„Bitte haben Sie ein wenig Verständnis, wir sind hier heute leider nur zu dritt. Zwei Kollegen sind krank und einer ist im Urlaub.“

„Das ist mir doch scheißegal“, schreit einer aus der Menge.

Einige Kunden haben die Warterei nicht ausgehalten. Sie haben ihre vollen Körbe und Einkaufswagen einfach abgestellt und das Geschäft verlassen und während Frau Großeknecht die Karte von dem Lackaffen ins Kartenlesegerät schiebt und ihn bittet seine Geheimzahl einzugeben, genehmigt sich Müller den letzten Schluck aus seiner noch unbezahlten Bierflasche.

„So“, sagt Frau Großeknecht erleichtert, „jetzt sind endlich Sie dran.“ Sie nimmt die leere Bierflasche, die Müller zurück in den Karton getan hat und stellt sie hinter sich auf den Boden.

„Als kleine Entschädigung“, sagt sie. „Manchmal geht eben auch mal was zu Bruch.“

Müller bedankt sich für die nette Geste, bezahlt den Rest in bar und verteilt den Kram so in die Beutel, dass er relativ sicher davon ausgehen kann, die Paar Meter ohne Sachschaden nach Hause zu kommen.

 

Unterwegs denkt Müller an Tanja Großeknecht. Es geht ihm nicht aus dem Kopf, dass sie seine Tochter hätte sein können und gleichzeitig verwirrt ihn der Gedanke, dass er sich in sie verlieben könnte.

„Scheiße, was ist das bloß“, denkt er, „immer wenn mal ‘ne Frau nett zu mir ist, will ich ihr gleich an die Wäsche. Ich vögel mit Lena und wenn ich ehrlich bin, könnte ich gleichzeitig auch mit Tanja was anfangen. Ihr Alter wär mir scheißegal. Auch die Kleine mit der süßen Stimme im Bus, auf dem Weg zu Hinrich, wär mein Fall. Ich glaub‘, ich steck selber in ‘ner fetten Midlifecrisis und will es nicht wahrhaben. Ich sollte mir vielleicht auch so ‘ne beschissene Fransenlederjacke aus Froschfotzenleder kaufen, wie dieser Prollo bei der Motorradausstellung.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

40. Kapitel: Die Bestechung

 

„Ey, Müller …, alles paletti!? Haste dir was zu saufen besorgt!? Zischt die Leber, oder wat is los!?“

Es ist Dante.

„Scheiße …, Dante, Mann! Warum hör‘ ich dich immer nur und sehe dich nicht! Ich habe dir schon mal gesagt, dass du dich nicht immer so anschleichen sollst! Sonst könnte es wirklich mal passieren, dass ich dir eins überbrate! Außerdem, verpiss dich lieber, ich werd‘ nämlich von der Stasi verfolgt und fotografiert!“

In diesem Augenblick keimt in Müller ein skurriler Gedanke. Könnte Dante ihn bespitzelt haben? Hatte Harms Dante auf ihn angesetzt?

„Sag mal, Dante, musst du Morgen nicht bei Harms antanzen?“

„Woher weißtn das, Müller, schieb mal lieber ’ne Pulle Pils rüber!“

„Ich war da, heute morgen.“

„Und, Müller …, hab ich doch gut gemacht, dass ich den noch angerufen hab und dem gesagt hab, dass ich dich nicht gesehen hab … oder?“

„Der hat aber gesagt, du Rübe, dass ich dich gezwungen hätte, ihn anzurufen, um das zu sagen“, sagt Müller und reicht Dante eine Flasche von seinem Bier rüber.

Dante nimmt strahlend die Flasche aus Müllers Hand und öffnet sie mit einem Einwegfeuerzeug.

„Danke fürs Bier, Müller. Ich hab dem Penner aber nicht gesagt, dass du mich gezwungen hast.“

Daniel setzt die Flasche an und leert sie auf ex.

„Dann lügt also der Bulle?“

Durch einen fetten lauten Rülpser kann Müller noch ein paar Wortfetzen heraushören:

„Klar lügt der.“

„Sag mal, Dante, was ist das eigentlich mit dieser Corvette und was hatte denn überhaupt dein fetter Boss mit der scharfen Rothaarigen für ein Problem?“

Müller merkt, dass Dante dabei ist, den Laden dicht zu machen und hält ihm noch eine Flaschen hin. Dante nimmt auch diese mit einem breiten Grinsen und ist nach einem tiefen Schluck aus derselben etwas redseliger.

„Den Ami hat Manne beim Pokern einem Luden abgenommen und die Karre gehörte dem gar nicht“, sabbelt Dante, nuckelt dabei an der Flasche rum und schaut Müller misstrauisch an.

„Gehörte wem nicht?“ Müller will‘s genauer wissen.

„Na, dem Luden.“

„Die Karre gehörte also der Lady, wenn ich dich richtig verstanden habe?“

„Ja, die is ‘ne verdammte Nutte und Manne wollte ihr die Corvette nicht zurück geben. Manne wollte ihr dann den Panda andrehen und hat dann noch gefragt, ob sie ihm ein‘ bläst und da is die Alte durchgedreht und hat Manne durch die Autoscheibe geprügelt.“

„Das sieht dem kleinen widerlichen fetten Autoschieber ähnlich“, denkt Müller, „schade um jeden Schlag, der bei dieser miesen Ratte daneben geht.“

„Hat Manne denn die Papiere für die Corvette?“

„Keine Ahnung, Müller, kannst mir aber ruhig noch was Bier geben.“

„Mehr gibt’s heut‘ nicht, Daniel. Das muss fürs Erste reichen. Ich habe nämlich keine Lust, nochmal in diesen verfickten Supermarkt zu gehen um mir meine eh schon angeschlagene Laune vollends in den Keller prügeln zu lassen. Daniel, weißt du übrigens, in welchem Puff die Lady anschaffen geht?“

Dante fängt laut an zu lachen und kriegt sich kaum noch ein. Für Müller ist das nichts Besonderes, aber die Leute ringsum können mit Dantes irrem Gelächter nichts anfangen und wenden sich angeekelt oder verstört ab. Als Dante langsam wieder zu sich kommt, fragt er:

„Willst dir auch wohl ein‘ blasen lassen, Müller, was? Oder stehste mehr auf Arschfick?“

„Mann, Dante“, muss Müller mitlachen, „wenn du noch alle Latten am Zaun hast, will ich Inge Meisel heißen … Weißt du’s jetzt, oder nicht?“

„Weiß ich was?“

„Oh Mann, Daniel! Was hab‘ ich dich denn eben gefragt, du Korkenzieher, eh?“

„Nee, weiß ich nich.“

„Weißt was nicht?“

„Jetzt bist du aber blöd, Müller! … In welchem Puff die malocht, Mann!“

„Mehr wollte ich doch gar nicht von dir wissen, Daniel, und mach ’s gut.“ Müller klemmt sich wieder seine Tüten und lässt Daniel Tiess und seine Vermutung, er sei Harms Spitzel, hinter sich.

Zu Hause verstaut er seinen Einkauf und setzt sich erleichtert mit einer Flasche Bier und Tabak auf das Sofa. Müller hätte gerne gewusst, wo die Rothaarige ihrem Job nachgeht. Er würde gerne ihre Version der Geschichte hören. Müller weiß, dass man auf Dantes Gewäsch im Allgemeinen nicht viel geben kann, aber sein Gefühl sagt ihm, dass Dante dieses Mal keinen Mist erzählt hat. Aber was Harms mit dem armen Kerl am nächsten Morgen veranstalten wird, wird sicher nicht zu seinen Gunsten ausfallen. Harms wird Dante auseinandernehmen, da ist sich Müller sicher. Dante wird keine Chance haben. Er ist die kleine Fliege, die der verschlagenen Spinne, Harms ins Netz gehen wird und Harms wird schon seine Fäden im fetten Spinnenarsch parat haben, mit denen er Dante einwickeln wird, um ihn dann langsam und genüsslich auszusaugen. Aber zuallererst, wird Harms ihm seine ekligen Giftstachel in den Wanst jagen. Das Gift wird Dantes Innereien schön geschmeidig werden lassen und er wird Harms alles sagen, was Harms von ihm hören will. Er wird ihm die Worte direkt in den Mund legen und Dante wird nichts davon merken. Müller denkt ernsthaft darüber nach, ob er vorsorglich schon mal seine Zahnbürste und ein Paar Unterhosen einpacken soll, falls es zum Schlimmsten kommt, als das Geläut seines Telefons ihn aus seinen dunklen Vorahnungen reißt.

„Müller.“

„Ja, Hinrich hier … Rainer, wie sieht’s denn bei dir aus? Kannst du morgen wieder arbeiten?“

„Moin, Hinrich, schön, dass du anrufst. Ich hatte schon das Gefühl, von Gott und der Welt verlassen worden zu sein.“

Gott“, ist zu viel der Ehre, kannst mich nach wie vor „Hinrich“ nennen und die Welt habe ich auch nicht erfunden. Was ist denn los mit dir? Wolle meinte, du wärst jetzt ans andere Ufer gewechselt.“

Müller kann Hinrich am anderen Ende der Muschel lachen hören.

„Wolle kann sich doch nicht mal nach dem Scheißen seinen pickligen Arsch richtig sauber wischen. Das muss seine Alte für ihn tun und ich möchte nicht wissen, in welchem Zustand sich mein Kombi jetzt befindet. Ich hoffe, er hat sich da drin keinen runtergeholt und das Armaturenbrett verkleistert.“

„Ganz so schlimm ist es nicht, Rainer. Betti hat sich am Samstag angeboten und der Karre eine Grundreinigung verpasst.“

 

Betti ist Hinrichs Freundin. Hinrich war einmal verheiratet und hat eine Tochter. Die Ehe hielt nur drei Jahre und seine Tochter ist mittlerweile erwachsen und arbeitet in einer großen Anwaltskanzlei in Frankfurt.

 

„Dann sag Betti einen schönen Dank. Ich hoffe nur ich finde alles wieder.“

„Keine Angst. Sie hat dein Werkzeug nicht angerührt … Wat is nu, Rainer, kannste morgen wieder loslegen, oder nicht? Wenn ja, bringt Wolle dir nach Feierabend dein Auto. Du musst ihn dann nur nach Hause fahren, zu Fuß läuft die faule Sau nämlich keinen Meter. Aber da erzähl ich dir ja nichts Neues.“

„Ja, Hinrich, ich kann wieder. Aber über den alten Fierer müssen wir nochmal reden.“

„Geht klar, Rainer. Wolle ist dann um halb fünf mit dem Wagen bei dir … Bis Morgen.“

„Hau rein mein Chef!“

Müller legt den Hörer auf und dreht sich eine. Er öffnet die Flasche Bier und gibt sich Feuer. Er Inhaliert tief und entspannt.

„Mein Gott, was für ein Tag“, spricht Müller leise vor sich hin und denkt: „Scheiße, morgen wieder fucking malochen. Ich sollte mal ernsthaft in Erwägung ziehen, in den Sack zu hauen. Mir lag dieser Kackjob noch nie. Ich hab die Scheiß Lehre damals nur angefangen, weil’s nix anderes gab, verdammt.“

41. Kapitel: Rohrbruch

 

Müller wollte eigentlich Uhrmacher und Goldschmied werden. Aber die Juweliere bildeten damals nur ihre eigene Verwandtschaft aus und die Fünf in Mathe auf dem Abschlusszeugnis war auch nicht gerade förderlich was das betraf. Müller bekam nur Absagen und letzten Endes landete er auf dem Bau. Sein Vater war froh darüber. Er hielt von Anfang an nichts davon, dass Müller Uhrmacher und Goldschmied werden wollte. Goldschmiede waren für ihn eh nichts anderes als Schwuchteln, die anstatt Weiberklamotten Schnickschnack aus Gold herstellten, den kein Mensch braucht. Gegen Uhrmacher ging er nicht ganz so hart zu Felde. Er trug selber eine am Handgelenk und hatte sie, so dann und wann, reparieren lassen müssen. Eine Schwuchtel hätte er nie im Leben an seine Uhr gelassen. Müllers Vater war der festen Meinung, dass ein Mann sich mindestens soweit im Griff haben sollte, dass er die Finger vom gleichen Geschlecht lässt. Nur Perverse und Weichlinge, ohne Moral und Ehre, würden sich gegenseitig in den Arsch pimpern, sagte er immer. Auch Filme, ob im Fernsehen oder auf Videokassette, mit lesbischen und schwulen Schauspielern, waren im Hause Müller strikt verboten. Wobei Müllers Vater die Auswahl traf, welcher Schauspieler oder welche Schauspielerin vom anderen Ufer war oder nicht. Da kam es auch schon mal vor, dass verheiratete Heteroschauspieler mit drei Kindern von einer Sekunde zur anderen, zu Hinterladern deklariert wurden. Müllers Vater wusste eben Bescheid und Widersprüche hatten Prügel zur Folge.

 

Die Zeiger auf Müllers Küchenuhr stehen auf fünfzehn Uhr dreißig, als er den Kühlschrank öffnet, um sich ein weiteres Bier zu holen. Er fragt sich, was Lena mit, bis später meinte? Wird sie gleich vor der Tür stehen, oder wird er sie heute überhaupt wiedersehen? Er wird ihr vorsichtshalber eine Nachricht vor die Wohnungstür heften, falls sie auftaucht, während er Wolle nach Hause bringt. Müller bleiben noch knapp sechzig Minuten, bis sein schmieriger Kollege auf der Matte steht und ihm mit seinem lauten Organ die Pelle von den Ohren rubbeln wird. Also genießt er die letzten Minuten der Ruhe und versucht an nichts zu denken.

„Ey, Müller, alte Schwuchtel, zieh dein‘ Stecker aussem Arsch von deim Süßen und mach die Tür auf. Ich hab deine Karre hier!“

Müller war eingeschlafen und steht augenblicklich senkrecht vor dem Sofa.

„Müller, spritz ab und lass mich endlich rein!“, bölkt Wolle und trommelt gegen die Tür.

Müller greift zur Bierflasche, die noch bis zum Drittel gefüllt auf dem Tisch steht und setzt an. Er zündet die halb abgebrannte Kippe, die er im Aschenbecher findet, mit einem Streichholz an und geht zur Tür.

Als er die Tür einen Spalt breit geöffnet hat weht ihm der Gestank von ranzigem Körperschweiß und billigem Rasierwasser entgegen.

„Wolle, du Arschloch, ich hab‘s dir schon mal gesagt, du sollst hier nicht so rumschreien. Ich wohne hier nicht alleine.“ Müller ist nicht in der Stimmung, seinen Kollegen in die Wohnung zu lassen und schlägt ihm vor, unten vor der Tür zu warten. Er geht zum Schreibtisch, nimmt ein Blatt Papier, findet beim dritten Anlauf einen Kugelschreiber der funktioniert und schreibt:

 

Moin Lenchen!

 

Ich bin in zwanzig Minuten wieder da. Bringe nur grade meinen stinkenden Asikollegen nach Hause.

Fänd’s schön, wenn du auf mich warten würdest.

 

Rainer

 

Müller reißt einen Streifen Tesa von der Rolle und pappt die Nachricht an die Wohnungstür. Im Hausflur ist alles ruhig. Keine Menschenseele. Am halb geöffneten kleinen Fenster in der Ecke versucht eine fette Fliege vergeblich ins Freie zu kommen und klatscht immer wieder mit dem Kopf gegen das fahle Glas. Müller erinnert diese Fliege stark an sich selbst. Immer mit dem Kopf durch die Wand. Selbst wenn die Wand einen halben Meter dick ist und alleine in der weiten Botanik stehen würde, käme er erst gar nicht auf die Idee, drum herum zu gehen. Müller zieht die Haustür ins Schloss und braucht nicht lange suchen.

Wolle hat direkt vor der Toreinfahrt nebenan geparkt und versucht einen aufgebrachten älteren Mann zu beruhigen, der offensichtlich mit seinem Auto durch genau diese Toreinfahrt auf das Grundstück fahren möchte.

„Mach mal den Kopp zu, du Pinsel, wir ham hier Rohrbruch. Da kann ich keine Rücksicht auf dein Scheiß Parkplatz nehmen.“

Müller beeilt sich, schnell zum Wagen zu kommen damit die Situation nicht eskaliert. Er kennt Wolle lange genug um zu wissen, dass der stur sein Ding durchzieht, egal wer da gerade vor ihm steht.

„Alles klar, Wolle, Rohr is wieder dicht. Wir können fahren!“

Wolle grinst Müller an und zwinkert ihm kumpelhaft zu. „Siehste, du Pinsel, ich hab dir doch gesagt, das Rohrbruch is.“

„Das wird noch ein Nachspiel haben, das verspreche ich Ihnen. Ihren Kollegen da habe ich hier schon öfters gesehen, der Wohnt hier nebenan. Von wegen, Rohrbruch und für Sie Herr Werner und nicht Pinsel, merken Sie sich das mal!“

Müller steigt ins Auto, legt den ersten Gang ein und lässt die Kupplung kommen. Der Wagen fährt los und bringt die Beiden Richtung Westen, stadtauswärts.

„Ziehst du immer noch die alte Rohrbruchnummer durch, Wolle?“

„Wat denkst du denn, Müller, denkste ich hab Lust, lange nach ‘nen beschissenen Parkplatz zu suchen und denn kilometerweit das verdammte Werkzeug zu schleppen? Nich mit mich. Ich hab dir ‘n Pappschild gemacht, das liegt im Handschuhfach. Hab mitten Edding Rohrbruch drauf geschrieben. Kannste hinter de Scheiben klemm‘. Kannste überall mit parken.“

„Sehr fürsorglich, Wolle, du bist wirklich ein Freund“, bedankt sich Müller, mit leicht ironischem Unterton. Er drückt auf den Knopf für den elektrischen Fensterheber und legt mit einem Sack voll Frischluft ein Gegenfeuer. Wolles Schweißgestank ist kaum auszuhalten und das Thermometer am Armaturenbrett steht auf achtundzwanzig Grad. Müller ist weiß Gott nicht religiös, aber er wird drei Kreuzzeichen machen, wenn er die fünf Kilometer bis zum Ziel hinter sich gebracht hat und Wolle seinen modrigen Arsch aus dem Auto wälzt.

„Boh …, Müller …, hast du die Titten gesehen?!“

„Ja, Wolle, Hab‘ ich.“

„Mann …, die hatte Titten, wa?!“

„Komm mal wieder runter. Deine Alte hat doch auch Titten, oder?“

„Klar hat die Titten, aber da is der Lack bald von ab. Letzte Woche war ich im Puff, Müller, Flatratepoppen.“

„Flatratepoppen?“

„Kennste nich?“

„Nie gehört.“

„Mann, Müller, verarscht du mich jetzt?“

„Nee.“

„Da kannste dich fürn Hunni den ganzen Tag quer durch den Laden vögeln. Fressen und Bier gibt’s umsonst und duschen is auch mit drin.“

„Leck mich am Arsch, Wolle, und du hast es da sicher sämtlichen Nutten richtig besorgt, was?“

Gelangweilt flitscht Müller den vierten Gang rein und drückt das Gaspedal voll durch. Noch einen halben Kilometer bis zum Ziel.

„Ich will ja nich angeben, Kollege“, plustert sich Wolle auf, „aber die eine hab ich dreimal hintereinander gepfeffert und so wie die gestöhnt hat, bin ich mir sicher, dass der ordentlich einer abgegangen is.“

„Dreimal hintereinander …, sicher Wolle.“

„Wat denkst du denn, Müller und danach hab ich mich noch um zwei andere Kandidatinnen gekümmert.“

Müller hält den Wagen vor Wolles Reihenhaushälfte an und lässt den Motor laufen.

„Machs gut, Wolle, bis morgen.“

Wolle öffnet die Beifahrertür und steigt aus.

„Womwo nochen Pilsken aufe Terrasse zischen, Müller? Kannste meiner Alten mal aufe Titten glotzen und mir sagen, watte davon hälst.“

„Lass mal stecken, Wolle, in diesem speziellen Fall ruf mal lieber Dr. Sommer an. Der kennt sich bestens aus damit. Oder Apothekenrundschau, da steht auch manchmal was über Titten im Alter drin.“

„Bist so ‘n richtigen Spielverderber, Müller. Bis Morgen.“ Wolle schlägt die Tür zu und macht sich auf den Weg zu seiner Alten.

Müller wendet den Wagen und fährt los. Ihm tut Nils leid, der es den ganzen Tag mit dem alten Stinksack auf der Baustelle aushalten muss. Lehrjahre sind eben keine Herrenjahre.

 

Müller erinnert sich nur sehr ungern an seine eigene Lehrzeit. Firma Alberts war damals der größte Installateur-Betrieb in der Gegend und mit einer Belegschaft von hundertsechzig Angestellten in dieser Sparte der Ausnahmefall. Es gab sogar einen Betriebsrat und Müller wurde gleich am ersten Tag ernsthaft nahegelegt, der Gewerkschaft beizutreten. Müller hatte bis dahin keine Ahnung, was Gewerkschaften eigentlich machen, oder was für Vorteile er als Mitglied haben würde. Nur eins war sicher, dass am Monatsende die IG Metall einen kleinen Teil seines Lehrgeldes einstrich.

Um nicht gleich als Querulant und Außenseiter abgestempelt zu werden, trat Müller der Gewerkschaft bei und nahm den kleinen Obolus in Kauf. Müller bekam hundertfünfundsiebzig Mark im ersten Lehrjahr und das Meiste davon setzte er in Tabak und Alkohol um. Sein Alter riss ihm monatlich ein Loch von fünfzig Mark in die Tasche. Kostgeld.

 

„Mein Junge, du verdienst jetzt eigenes Geld und wer eigenes Geld verdient, muss zum Wohle der Familie beitragen“, sagte er und sorgte dafür, dass die Kneipenwirte in der Nähe ihren Familien neue Socken davon kaufen konnten.

 

Müller bekam eine neue blaue Latzhose, Schuhe mit Stahlkappe einen Satz Handschuhe und Hanno, der Betriebsrat, setzte ihm noch einen gelben Plastikhelm auf den Kopf, der ihm zwei Nummern zu groß war.

„Wirst sehen“, sagte er, „nächstes Jahr passt er wie angegossen.“

Außer Müller waren noch fünf weitere Lehrlinge unter Vertrag genommen worden. Einer ging aufs Lager. Zwei G. W. S. ler (Gas-Wasser-Sanitär) und drei Heizungsbauer, zu denen Müller gehörte. Am ersten Tag teilte der Meister noch die Lehrlinge den Gesellen zu. Später pickten sich die Gesellen die Rosinen selber raus. Brauchbar, oder nicht brauchbar. Die Brauchbaren landeten bei den Akkordmalochern und Überstundenreißern. Für die anderen Kollegen blieb der Rest, die weniger- oder Unbrauchbaren. Am ersten Tag landete Müller bei den Akkordmalochern und musste neun Stunden lang mit der manuellen Gewindekluppe zölliges Gewinde auf schwarzes Eisenrohr schneiden. Am nächsten Tag hatte er so einen Muskelkater, dass ihm die Scheiß Kluppe aus den Händen rutschte. Mit Gewindeschneiden war es Essig und sie ließen Müller die zuvor geschnittenen Gewinde mit Hanffasern einwickeln. An dem Tag lernte er auch Hinrich kennen, der neben ihm am Schraubstock Absperrventile auf die eingehanften Gewinde schraubte.

„Ey, wie heißten du?“

„Rainer und du?“

„Hinrich.“

„Bist du auch neu angefangen?“

„Nee, ich bin ins Zweite gekommen“, sagte Hinrich und versuchte dabei ein Ventil auf ein Gewinde zu murksen, das offensichtlich unsauber geschnitten war. Es dauerte fast zehn Minuten, bis Hinrich wütend aufgab und das Ventil in die nächste Ecke ballerte.

Müller musste damals schmunzeln und als Hinrich ihn böse ansah bekam er fast einen Lachanfall. Hinrich hatte so ein komisches Zucken am rechten Nasenflügel, dass auch noch ein Stück Oberlippe mit zucken ließ. Das passierte immer, wenn er sauer war.

„Dieser beschissene Job geht mir auf die Eier!“, schrie er und lachte mit.

Und nach diesem Ausraster, brauchte Hinrich erstmal was Kühles und nahm Müller mit aufs Flachdach. Es war ein großer Wohnkomplex mit vier Häusern und jedes Haus hatte fünf Etagen. Hinrich zeigte Müller sein Privatversteck, das er sich hinter einem der vielen Schornsteine eingerichtet hatte. Aus einer Kühltasche zauberte er zwei Flaschen Bier und als Sitz hatte er sich mehrere Styroporplatten zurechtgelegt. Müller war nicht ganz wohl bei der Sache, sich schon am zweiten Tag zu verpissen um Bier zu saufen.

„Merken die anderen das denn nicht, wenn wir weg sind, Hinrich?“

„Die merken gar nichts“, sagte er. „Die kennen nur ihren scheiß Akkord und die nackten Weiber aus der Bild-Zeitung. Da geiln‘ se sich beim Frühstück immer dran auf und außerdem, sind die alle im Keller und braten die fetten Verteiler zusammen.“

Müller wurde sofort ins kalte Wasser geworfen und lernte das Leben auf einer Großbaustelle kennen. Zuallererst lernte er, dass es wichtig war, sich seinen eigenen privaten Freiraum zu schaffen, um ab und zu mal der tristen Maloche zu entkommen, und falls der Geselle doch mal merkte, dass man weg war, konnte man immer noch sagen, dass der Durchfall einen am Wickel hätte.

Hinrich Brüggemeier und Rainer Müller wurden über die Zeit Freunde und trafen sich auch nach der Arbeit. Hinrich war ein Jahr älter und hatte schon eine Mofa. Eine Mobilette. Das Ding lief siebzig Kilometer pro Stunde und machte einen Höllenlärm. Hinrich musste ständig vor den Cops flüchten und lernte dabei sämtliche kleinen Gassen und Schleichwege zwischen den Häusern von Osnabrück kennen. Das kleine Nummernschild hatte Hinrich nach oben gebogen, damit man die Zahlen und Buchstaben darauf nicht gleich erkennen konnte. Ansonsten hätten sie ihn sicher zwei bis dreimal in der Woche bei den Eiern gehabt und er wäre nie im Leben für den Autoführerschein zugelassen worden.

Firma Alberts hatte viele Großbaustellen. Neben den großen Mietshäusern von diversen Wohnungsbaugesellschaften, Banken oder Krankenhäusern, bedienten sie gleichzeitig fast alle englischen Barracks in der Gegend. Müller war öfters dabei, wenn es in den Kasernen etwas zu tun gab und er nebenbei erleben durfte, wie ein Staff Sergeant seine Truppe zusammenschiss. Das waren andere Kaliber als die, die er später bei der Bundeswehr kennenlernen durfte. So ein englischer Staff Sergeant schlägt einen deutschen Feldwebel um Längen, wenn es um äußerste Disziplin und hartem Drill geht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

42. Kapitel: Die Zehn-Zentner-Bombe

 

Müller war gerade ins zweite Lehrjahr gekommen, als ein Bagger beim Ausschachten eines Grabens für Fernheizungsleitungen in einer Kaserne eine alte Fliegerbombe aus dem zweiten Weltkrieg in der Schaufel hatte und der Baggerfahrer sich nach diesem Schrecken von seiner Frau frische Unterhosen bringen lassen musste. Es wurde sofort großräumig abgesperrt und die Menschen, die in der näheren Umgebung wohnten, wurden evakuiert. Müller hatte sich damals nichts dabei gedacht und sich die Bombe mal genauer angesehen. Rostig, oval und feist lag sie in der Baggerschaufel. Der Zündkopf war noch zu erkennen und in einem Stück sah das Ding wie ein großes langgezogenes Ei aus. Müller hatte so etwas noch nie gesehen und sich fast eine halbe Stunde lang damit beschäftigt. Bis ihn ein mutiger englischer Armeeangehöriger aus zwanzig Metern Entfernung zu verstehen gab, dass sich nur verdammte Selbstmörder und gehirnlose Vollidioten in der Nähe einer intakten Zehn-Zentner-Bombe aus dem zweiten Weltkrieg aufhalten.

Heute wird Müller schlecht bei dem Gedanken, dem Tod so nahe gewesen zu sein.

Eine Abteilung für Kampfmittelbeseitigung entschärfte die Bombe und die Arbeit an den Fernheizungsleitungen konnte am nächsten Tag wieder weiter gehen.

Mit der Zeit fing Müller an seinen Job zu hassen. Er ging immer öfters zum Arzt und trank viel Alkohol. Er vernachlässigte die Berufsschule und bekam Ärger mit dem Meister. Die meisten seiner Kollegen gingen ihm schräg ab und es dauerte kein Jahr, bis Müller die unterste Stufe der firmeninternen Hackordnung erreicht hatte. „UNBRAUCHBAR“

Müller war es recht.

Bei der Firma Albers war es üblich, dass sich die Lehrlinge am Montagmorgen im Eingangsbereich des Firmengebäudes versammeln mussten. Es war ein relativ großer, in einem satten Grau getünchter Raum. In der linken Ecke standen ein Cola- und ein Kaffeeautomat. Hier wurde an jedem Wochenanfang die Spreu vom Weizen getrennt. Hier durften die Gesellen ihre Auswahl treffen. Es ging zu wie auf einem mittelalterlichen Sklavenmarkt oder wie im Sportunterricht, in dem die Mannschaftsführer ihre Teams zusammenstellen durften. Die letzte Lusche wollte keine Sau haben.

An so einem Morgen war Müller meistens noch verkatert und es war ihm scheißegal, ob ihn einer wählt oder nicht. Die Akkordmalocher konnten Müller nicht leiden und Müller die Akkordmalocher nicht und dem größten Teil der Lehrlinge ging er aus dem Weg.

Es war immer das Gleiche. Die Gesellen stritten sich um die Azubi-Elite und die Azubi-Elite stach sich gegenseitig aus. Es war ein ständiger Scheiß Kampf, der das menschliche Mindestmaß an Respekt und Höflichkeit noch bei weitem unterbot. Die Gesellen und vor allem die Akkordler, nahmen kein Blatt vor dem Mund und sprachen offen aus, was ihnen jeder einzelne von den Azubis wert war. Müller war ihnen zu langsam, faul, blöd und aufsässig. Sie waren sich allesamt einig, dass er niemals die Gesellenprüfung schaffen würde. Es gab einen Lehrling, den sie für noch dämlicher hielten als Müller. Das war Ingolf.Läkamp Ingolf wurde permanent verarscht. Sie schickten ihn ständig los um Dinge zu holen, die es nicht gab. An einem Tag sollte er ein rundes Kantholz organisieren. Ingolf lief los und sie ließen ihn bis zum Feierabend suchen. Wenn so eine Verarsche lief, machten alle mit. Maurer, Elektriker, Fliesenleger und was sich sonst noch so alles an Handwerker auf der Baustelle herumtrieb.

Manchmal gingen sie so weit, dass sie Ingolf zur Firma schickten, um einen Rohrhobel zu besorgen oder eine Wasserstrahlbiegezange. Selbst die Leute in der Firma machten den Scheiß mit und schickten Ingolf zum Großhändler. Der Großhändler ließ dann von Ingolf ausrichten, dass sie nur Ambossfett und einen Kurzschlitz-Schraubendreher für Linkshänder auf Lager hätten und den Rohrhobel und die Wasserstrahlbiegezange erst bestellen müssten.

Was aus Ingolf später geworden ist weiß keiner und ob er am Ende noch ein Augenmaß gesucht hat, bleibt an dieser Stelle offen.

Paul Lemme war der Säufer der Firma und schon dreißig Jahre dabei. Er malte Müller mit gelber Kreide ein Kreuz auf den Meißelkopf, wenn er sich beim Löcher Stemmen damit auf die Finger schlug. Müller mochte Paul nicht. Aber Paul war einer von den wenigen, die ihn noch mit auf die Baustelle nahmen. Mit Akkord hatte Paul nichts am Hut. Er soff den ganzen Tag Bier und hinter versteckter Hand genehmigte er sich in regelmäßigen Abständen einen Schluck Kräuterschnaps aus seinem Flachmann. Müller hatte den Job, ständig für Nachschub zu sorgen und ging vier- bis fünfmal am Tag Bier holen. Damals gab es noch Kartons mit zehn nulldreiunddreißiger Einwegflaschen drin und am Anfang hatte Müller nichts dagegen, Pauls Sauferei zu unterstützen. Er konnte den Hammer fallen lassen und ließ sich viel Zeit dabei und durch seinen Vater war er ja schon so etwas wie ein Profi, was das Bierholen betraf.

Außer ein paar kleineren Macken, über die Müller hinweg sehen konnte, hatte Paul eine große. Er gab ihm nichts ab von seinem Bier. Müller fand das ungerecht und eines Tages beschloss er, sich zu weigern. Er sagte Paul, dass er sich ab jetzt sein Scheiß Bier selber holen könne und er nicht einsehen würde, einem Spritti auch noch den Alk zu besorgen. Das war das letzte Mal, dass Paul sich am Montagmorgen in der Firma Müller aus dem Hühnerhaufen pickte.

Dann blieb nur noch Dietrich. Er war der Geselle, mit dem kein Lehrling arbeiten wollte. Dietrich bekam immer den Ausschuss, Müller oder Ingolf.

Dietrich entschied sich für Müller und Ingolf hatte die ehrenvolle Aufgabe, Müllers Job als Arsch-zum-Bierholen (Azubi)zu übernehmen.

Müller verstand sich auf Anhieb mit Dietrich und blieb bis zu seiner Gesellenprüfung bei ihm. Er bestand die Prüfung gerade so mit der Note vier und wurde fristlos gekündigt. Er schwor sich damals, nie wieder in diesem Scheiß Job zu arbeiten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

43. Kapitel: Der Pornostar

 

Auf dem Weg nach Hause macht Müller noch einen Abstecher und parkt den Wagen vor Ottos Etablissement. Der alte Lohmeyer sitzt nach wie vor in seiner Ecke und süffelt sein Bier als Müller den Laden betritt und nach Otto Ausschau hält.

„Na, was machen die Recherchen, Herr Müller?“, spricht ihn Lohmeyer an.

Müller wundert sich. Lohmeyer hat ihn noch nie einfach so angesprochen.

„Keine besonderen Vorkommnisse“, lügt Müller und fragt: „Wo issen Otto?“

Lohmeyer steckt sich einen dünnen Zigarrillo in den rechten Mundwinkel und hält sei Feuerzeug drunter.

„Otto ist grad schiffen.“

„Wo kann man hier denn schiffen?“, sagt Müller erstaunt.

Er hätte in dieser Kaschemme niemals einen Pisspott vermutet. Er dachte immer, dass das kleine Spülbecken im Nebenraum dafür herhalten muss. Als alter Installateur kennt Müller sich mit Pisse aus und empfindet weniger Ekel davor als Leute, die im Büro arbeiten.

„Na, Müllerchen, wieda nüchtern?“ Otto steht in der Tür vom Nebenraum und putzt sich die nassen Hände an seiner gammeligen Schürze ab.

„Wo hast du denn hier einen Pisspott, Otto?“

„Ick piss immer draußen, Müllerchen, jenau wie du, wenn du dir bei mir een‘ jenemigst und schwarze Edelnutten janz in weiß vor den Traualtar schleifen willst.“

Müller war sich sicher, letzten Samstag im Suff nicht die Sau abgegeben zu haben und an eine schwarze Frau kann er sich nur verschwommen erinnern.

„Wat darfet denn heute sein, du Galan? Wieder Tequila bis zum Abwinken und Pilsbier en gros?“

Otto lächelt Müller an, kommt rüber zum Tresen und stützt sich mit beiden Fäusten drauf ab. Er sagt:

„Is jut, das du kommst, Müllerchen. Ick hab hier son Zettel da steht wat druf.“

„Lass mal Otto“, sagt Müller, „ich kann’s mir schon denken. Sag mir einfach, wie viele Stellen die Zahl vor dem Komma hat.“

„Noch knappe zwee“, sagt Otto.

„Dann hab ich ja nochmal Glück gehabt.“ Müller dreht sich eine und gibt sich Feuer.

„Gib mir heute mal ‘ne kalte Flasche von deinem belgischen Bier und dazu ‘nen Wacho, Otto.“

„Jet klar, Müllerchen.“ Otto verschwindet in seine kleine Lagerklitsche und kommt mit einem halben Liter belgisches Bier zurück. Er flippt den Deckel von der Flasche und stellt sie vor Müller auf den Tresen. Das Pinnchen mit dem Wacholderschnaps stellt er daneben. Müller nippt den Wacho auf ex und spült mit einem Schluck Bier nach.

„Du hast der Kleen erzählt, dass du mal Pornostar werden wolltest“, wirft Otto in den Raum und grinst über beide Backen.

Müller hat schon geahnt, dass Otto sein blödes Maul nicht halten kann und zeigt stumm mit dem Finger auf sein leeres Schnapspinnchen. Otto holt die eiskalte Wacholderschnapsflasche aus dem Kühlschrank und schenkt nach.

„Und denne haste ihr haarkleen von deinem Vorstellungstermin bei Sunshine Movies erzählt. Jibs den Laden überhaupt, oder haste dir dit allet eenfach so aussem Ärmel jeschüttelt, Müllerchen?“

Müller schlürft den letzten Schluck Bier aus der Flasche und sagt:

„Kannste mir den Scheiß nicht ersparen, Otto?“

„Nee, Müllerchen“, sagt Otto, „dit kann ick nich, dazu haste hier viel zu dicke uffjetragen.“

„Ich selbst bin da nicht gewesen“, gibt Müller zu. „Mein alter Kumpel Birdy hatte dieses Vorstellungsgespräch.“

Er bestellt sich einen weiteren halben Liter belgisches Bier und steckt sich die nächste Zigarette an.

„Birdy hatte diese Annonce von dieser Pornoproduktion in der Zeitung gefunden. Er war damals schon länger ohne Job und meinte, dass er eh ständig geil wäre und so einen Weg aus seiner Arbeitslosigkeit gesehen hätte. Dass er sich da vor versammelter Mannschaft einen runterholen sollte, hatte er nicht eingeplant.“

„Und …, hatta sich een runtajeholt?“, sagt Otto.

„Birdy hat`s versucht“, sagt Müller. „Er dachte an all die saftigen jungen Schnitten, die er später vor die Flinte bekäme und rubbelte drauflos. Aber er hat das Ding nicht hoch gekriegt. Die Leute von Sunshine Movies haben sich das Elend ungefähr ‘ne halbe Stunde angesehen und ihm dann von einer Karriere als Pornodarsteller abgeraten. Sie sagten, ihm würde das Quäntchen Exhibitionismus fehlen, das dazu nötig wäre.“

„Der kleen Edelnutte haste aber erzählt“, sagt Otto, „dass du die janze Meute mit deinem Saft zujekleistert hättst und dass die scharfe Blondine, die dabei war, hinterher ihre Haare waschen musste, weil du ihr dit Zeugs quer über die Rübe jewichst hättst. Hast die janze Meute hier im Laden zum Lachen jebracht mit deiner Story, Müllerchen.“

„Scheiße, Otto, dann hab ich Samstag wohl doch die Sau abgegeben.“

Müller hält Otto das Pinnchen vor die Nase und sagt:

„Mach voll, Otto, ich lass die Karre heute vor deiner Tür stehen und gehe zu Fuß.“

Otto macht Müllers Schnapsglas wieder voll und sorgt für ein weiteres Bier aus Belgien.

„Jetze sind`s schon drei Stellen, Müllerchen.“

Müller winkt lässig ab und nickt sich den Wacho durch die Kehle. Nach einem Liter Bier und drei Schnäpsen nimmt er die Sache schon gelassener und versucht sich an die hübsche schwarze Lady zu erinnern.

„Wie sah sie denn aus, Otto?“

„Oh …, dit war wat janz edelet, Müllerchen. Kannst froh sein, dass die nüscht von deinem Jequatsche verstanden hat. Wie ick am Rande so jehört habe, kam die jerade frisch aus Jamaika. Die konnte aber jut Englisch. Wat man von dir nicht behaupten kann, Müllerchen.“

„Wie –, Englisch hab ich auch noch geredet?“

„Ick sage nur“, sagt Otto und legt dabei wieder dieses breites Grinsen auf, „I take my cock in my right hand and I am wenking like a big grey nosehorn in Timbuktu und dänne haste se noch jefragt, wat man in Englisch zu abspritzen sagt. Die Kleene hat dich nur blöde anjekiekt und denne haste dir vor sie uffjebaut und ihr ‘ne Trockenwichsübung vorjemacht.“

Müller drückt die abgebrannte Kippe in den Aschenbecher und sagt:

„Und …, hat sie mir verraten, was Spritzen auf Englisch heißt?“

„Hat se.“

„Und?“

„Jack off, meinte sie und splash. Aber in deinem Fall ehr, Jack off, wa“, lacht Otto und füllt nochmal das Pinnchen.

Müller kippt den Wacho in einem Zug runter und fragt:

„Wo ist denn der Unterschied? Jack off oder splash. Mit splash kann ich ja noch was anfangen, aber jack off hör ich zum ersten Mal?“

„Jack off kommt deiner Sache näher“, meldet sich plötzlich der alte Lohmeyer aus seiner Ecke.

„Warum?“, wird Müller neugierig. „Und wieso sollte ich dir glauben? Kannst du Englisch?“

„Man mag es mir nicht ansehen“, sagt Lohmeyer, „ aber ich habe zehn Jahre in Los Angeles gelebt.“

„Was hast du denn in LA Gemacht?“, sagt Müller erstaunt.

„Ich habe da Wohnmobile und Wohnwagen vermietet und verkauft“, sagt Lohmeyer und drückt seinen Zigarrillo in den Aschenbecher.

„Wohnwagen und Wohnmobile? Wie kamst du denn dazu?“ Müller merkt, dass sich der Wacholder und das Belgische Bier in seinen Eingeweiden ausbreiten und ihn zwingen, die Sache etwas langsamer anzugehen und darauf zu achten, kein Kauderwelsch zu reden.

„Ich war mit einer Amerikanerin verheiratet. Ihrem Bruder gehörte das Geschäft und ich habe damals meine sämtlichen Ersparnisse mit rüber genommen und in dieses Unternehmen gesteckt. Lydias Bruder war ein übler Säufer und hatte die Klitsche fast in den Ruin getrieben. Als es wieder aufwärts ging ließ er sich von mir auszahlen und verschwand nach Florida. Ein Jahr später bekamen wir die Nachricht, dass sie ihn in Miami in einem Toilettenhäuschen im North Trail Park mit einer Überdosis Heroin in den Adern gefunden hätten.“

„Und wie bist du wieder in Osnabrück gelandet?“

„Wie es eben so geht. Lydia hatte einen anderen gefunden. Der Typ war Schriftsteller und hing gleichfalls an der Flasche. Ich weiß nicht mehr genau wie er hieß, aber der Name hatte etwas Polnisches und er kam ursprünglich mal aus Deutschland.

Lydia hatte immer schon einen diffizilen Hang zur Dramatik und zu verschrobenen Außenseitern. Als Lydia ihn kennenlernte, war er ein menschliches Wrack. Sie hat versucht ihn mit vegetarischer Nahrung und gesunden Obst und Gemüsesäften wieder auf Vordermann zu bringen. Und vor ein paar Jahren kam eine Meldung durchs deutsche Fernsehen, dass er mit zweiundsiebzig Jahren an Krebs gestorben sei. Aber da war sie schon lange nicht mehr mit ihm zusammen. Schon komisch … ich hätte auf Leberzirrhose getippt. Ich hab damals das Geschäft verkauft und hab die nächste Maschine zurück nach Deutschland genommen.“

„Warum bist du denn nicht da geblieben?“, sagt Müller verständnislos.

Er wäre niemals wieder nach Deutschland zurückgekommen, wenn er jemals die Gelegenheit gehabt hätte, in den USA zu leben.

„Zu viele Erinnerungen und Los Angeles war von Anfang an nie die Stadt in der ich leben wollte. Zu viel Dreck, zu viel Gewalt und Kriminalität und das von den Europäern so hoch gelobte Hollywood ist dabei noch eine der schlimmsten Ecken.“

Müller widmet sich kurz seinem belgischen Bier und steckt sich eine an. Der alte Lohmeyer wird für ihn immer interessanter. Seine Vorurteile, was den Alten betrifft, fangen an zu bröckeln. In seinen Gedanken war Lohmeyer nichts anderes als ein verkalkter alter einsamer Wolf, der jeden Tag damit zu kämpfen hatte, sein Wasser zu halten und dass der nächste feuchte Furz für ihn den sicheren Tod bedeuten würde. Aber was Lohmeyer jetzt von sich gibt zwingt ihn umzudenken.

Otto hat die ganze Zeit hinter seinem Tresen gestanden, zugehört und geschwiegen. Müller hat Otto nie so ruhig erlebt, aber Lohmeyers Geschichte scheint ihm für einen Augenblick die Sprache verschlagen zu haben.

„Noch eins vonne Frittenerfinder“, durchbricht Müller das Schweigen und hält Otto die leere Flasche vor die Nase.

„Jeht klar, Müllerchen.“ Otto, nimmt ihm die leere Flasche aus der Hand und latscht damit Richtung Lagerklitsche.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

44. Kapitel: Shanka und Jagdev

 

Der Mond hängt silbern und voll am dunklen Himmel, als Müller stocksteif versucht, seinen Türschlüssel ins Schloss zu bekommen. Die Zeilen, die er für Lena vor zwölf Stunden auf einem Stück Papier vor seine Wohnungstür geheftet hat, hängen unverändert an ihrem Platz. Er hat Lena völlig vergessen gehabt.

Was Müllers Wecker um halb sieben nicht geschafft hat, schafft sein Telefon um halb acht.

Er liegt in voller Montur auf dem Sofa und drückt seinen schweren Schädel in die muffigen Sofakissen. Mit jedem Herzschlag spürt er sein alkoholverseuchtes Blut durch die Schläfen hämmern. Es ist wieder dieser Schmerz, der ihn daran hindert, sich schnell zu bewegen. Das immer wiederkehrende Elend nach durchzechter Nacht. Müllers Kehle ist staubtrocken und der Geschmack in seinem Mund gleicht einem Katzenfurz. Er dreht sich langsam auf die Seite und der erste Ton aus seinem Mund ist ein lauter ekeliger Rülpser, der ihn daran erinnert von Ottos leckerem Sahnehering gekostet zu haben. Der Hering war noch vom Mittagstisch übrig geblieben und Müller hatte ihn ohne Kartoffeln hungrig in sich reingeschaufelt. Der Fisch liegt ihm nun schwer im Magen und langsam dämmert es ihm, dass er, wenn er sein trostloses Leben auch in Zukunft finanzieren will, weiter seinen Scheiß Job als Installateur erledigen sollte. Müller reckt sich vom Sofa zum Couchtisch rüber und greift zum Hörer des Telefons.

Mit versoffen rauer Stimme quetscht er ein: „Müller hier“, durch die Muschel.

Es ist Hinrich.

„Scheiße, Rainer, hast du vergessen, dass du heute wieder arbeiten musst? Ich warte schon eine Viertelstunde auf dich. Du hast um acht einen Termin in Altenmelle und wenn du da fertig bist, kommst du in die Firma! Wir wollten doch nochmal über den alten Fierer sprechen.“

Müller räuspert sich und versucht, eine klare, einigermaßen verständliche Stimme zu bekommen.

„Tut mir leid, Hinrich, aber der verfluchte Wecker hat mich im Stich gelassen. Gib mir die Adresse von dem Kunden und ich mach mich von hier aus auf den Weg. Was liegt denn an?“

„Kesselwartung und die Hauswasserpumpe hat den Geist aufgegeben“, sagt Hinrich. „Das ist eine WG, ein alter Kotten mitten im Feld. Ich hab mir das gestern angesehen. Du musst dir von Oskar Pumpen einen neuen Dichtungssatz für eine Doppelkolbenpumpe besorgen und schau bitte im Auto nach, ob noch genügend Düsen für Ölbrenner im Fach sind.“

Müller stemmt sich aus dem Sofa, nimmt das Telefon mit in die Küche und hält die dreckige Tasse mit einem Rest Kaffe-Weinbrand-Gemisch unter den Wasserhahn und kippt die Plörre ohne abzusetzen auf den toten Hering.

„Alles klar, Hinrich, ich bin praktisch schon auf dem Weg.“

„Das will ich hoffen“, sagt Hinrich und verabschiedet sich knapp.

Müller kann froh sein, so einen Chef zu haben. Hinrich hat ihm schon einiges durchgehen lassen, was aber gleichzeitig die Frage in den Raum wirft, ob er überhaupt schon Auto fahren darf. Ohne Führerschein würde Hinrich ihn sicher nicht mehr gebrauchen können und Müller müsste sich wieder für ein paar lumpige Kröten auf den langen Fluren bei der Agentur für Arbeit auf diese, gewollt, unbequem, harten Stühle, den Arsch platt sitzen.

Den Kaffee verkneift sich Müller an diesem Morgen und an ein Frühstück ist nicht zu denken.

Er quält sich in sein Arbeitszeug, verstaut Tabak, Feuerzeug und Portmonee, schrubbt sich kurz mit der Zahnbürste über die Zähne und verlässt das Haus. Auf dem Weg zum Kombi meldet sich sein verkorkster Magen und alles, was er auf die Schnelle finden kann, ist ein alter rostiger Straßengully neben dem Bordstein. Müller meint, in der stinkenden Pampe ein Fischauge zu erkennen und kann den Würgereiz kaum noch kontrollieren. Immer wieder würgt er etwas von dem Hering nach oben und schaut, wie es zwischen den Sprossen des alten Gullys verschwindet. Müller kann die Nacht nicht lange geschlafen haben, sonst wäre von dem Fisch nichts mehr zu sehen gewesen. Die Verdauung war noch nicht abgeschlossen und das Resultat vor seinen Füßen warnt ihn stumm und stinkend, doch lieber die Finger vom Lenkrad zu lassen. Denn nach dieser ekeligen Prozedur hat Müller die Gewissheit, mehr Alkohol im Blut zu haben als das Gesetz erlaubt. Und wegen der Spionagefotos, die Harms von ihm im Computer gespeichert hat, kann es sein, dass hinter jedem Baum ein Spitzel mit Kamera steht und jeden Furz von ihm fotografiert und per MMS an Harms weiterleitet. Müller vermutet, dass Harms sich selber mit der Kelle ins Auto setzen würde, um ihn auf halber Strecke nach Melle kontrollieren zu können. Diese Genugtuung will Müller dem kranken Bullen nicht geben und geht zurück in seine Wohnung. Er versucht Christel anzurufen. Er weiß, dass sie erst um neun im Reisebüro sein muss und hofft, dass sie sich einen halben Tag frei nehmen kann um ihn zu fahren.

Müller hält den Hörer ans Ohr und bekommt ein Freizeichen.

Nach dem dritten Tuten hat er seine Schwester an der Strippe.

„Christel Müller hier, wer da?“

 

Christel meldet sich immer mit dem gleichen Spruch und egal, zu welcher Zeit man sie anruft, Christel ist immer gut gelaunt dabei. Müller ging dieser Spruch immer schon auf die Nerven. Für ihn ist es unverständlich, wie man permanent gut gelaunt sein kann. Die meisten Leute, die mit ihm telefonieren, langweilen ihn zu Tode, oder machen ihn wütend. Allerdings gibt es auch nicht mehr viele von seinen früheren Freunden und Bekannten, mit denen er noch regelmäßigen Kontakt hat. Sie sind mit den Jahren verschwunden. Leben ein anderes Leben, haben Häuser gebaut, geheiratet und Kinder bekommen.

Nur das Wort „HEIRATEN“, treibt Müller schon den Kotter in den Hals. Er hat nie verstehen können, was es ihm geben könnte, mit ein und derselben Frau sein ganzes Leben zu teilen. Müllers Beziehungen gingen nie über sieben Jahre hinaus und bei der einen oder anderen Beziehungskiste hätte es am Ende im Scheidungsfall Mord und Totschlag gegeben. Die Geschichte mit Susanne nimmt Müller immer gerne als Präzedenzfall wenn es darum geht, ob Mord eine Lösung wäre.

 

„Moin, Schwesterlein.“

„Rainer? … Was ist los? Warum rufst du mich so früh an? Geht’s dir gut?“

Müller merkt, dass sie sich schon wieder Sorgen macht. Christel macht sich immer Sorgen wenn es um ihn geht.

„Nur ein kleines Problem“, beschwichtigt Müller und versucht, die richtigen Worte zu finden. Ihm ist die ganze Geschichte peinlich. Er hätte wissen müssen, dass sich Alkohol und Arbeit nicht vertragen.

„Um es kurz zu machen. Ich war gestern bei Otto.“

„Ja und?“

„Naja, ich hab da wohl etwas über die Stränge geschlagen.“

„Das ist ja nichts Neues bei dir, Rainer und du weißt, dass ich das nicht gut finde. Du benimmst dich dann immer so komisch und vergraulst die Leute.“

„Ich kann nichts dafür, Chris. Das liegt an meiner Erziehung“, versucht Müller sich rauszureden.

„Schieb das nicht immer alles auf Mama und Papa. Du bist alt genug, um selbst für dich verantwortlich zu sein.“

„Und ich sag dir jedesmal, dass dein so genannter „Papa“, ein brutales Arschloch war und mir jede Woche mindestens zweimal die Scheiße aus den Knochen geprügelt hat und deine „Mama“ hat nichts anderes zu tun gehabt, mir dabei zu sagen, dass Papa es doch nur gut meint.“

Müller hört Christel durchs Telefon weinen. Er wird unsicher.

 

Er wird jedesmal unsicher, wenn seiner Schwester wegen ihm die Tränen kommen.

Sie hat nie glauben können, dass ihr Vater so ein Mensch war. Sie hatte von ihm nur Gutes bekommen. Es gab nie ein lautes Wort und von Schlägen ganz zu schweigen. Christels Kindheit war unbeschwert und als sie mit ihrem ersten festen Freund auf der Matte stand sagte Müller ihr, dass sie froh sein kann, dass der Alte in der Hölle schmort. Müller stieß damals mit seiner Vermutung auf großes Unverständnis. Christel war drei Wochen sauer. Sie ignorierte Müller und sprach kein Wort mehr mit ihm.

 

„Du sollst nicht immer so über Mama und Papa reden“, weint Christel.

„Ich weiß, dass du die Wahrheit nicht vertragen kannst, Chris“, sagt Müller, „aber dir muss endlich klar werden, dass ich dir keine Märchen auftische und ich will dir auch nichts vorlügen.“

„Dass Papa zu viel getrunken hat“, sagt sie, „habe ich immer gewusst. Aber dass er mit dir so umgegangen ist wie du sagst kann ich nicht glauben.“

„Glaub was du willst, Chris, aber krieg es bitte auf die Reihe, mir einmal zu vertrauen. Ist das denn so schwer?“

Ein langes Schweigen durchzieht das Gespräch und Müller bereut schon, sie angerufen zu haben.

Nach einer Weile durchbricht Christel die beklemmende Stille. „Weshalb hast du mich eigentlich angerufen?“

„Ich wollte dich fragen, ob du dir einen halben Tag frei nehmen kannst, um mich nach Melle zu fahren. Ich darf noch nicht Auto fahren. Den Grund kennst du ja und deine Gardinenpredigt, denke ich, können wir uns sparen.“

„Was willst du denn in Melle?“

„Ich muss da arbeiten.“

„Ich denk, du bist krankgeschrieben?“

„Seit heute nicht mehr.“

„Warum machst du immer sowas, Rainer?“

„Christel, fährst du mich jetzt, oder nicht?“ Müller verliert langsam die Geduld.

„Muss ich ja wohl. Ich will ja nicht, dass du deine Arbeit verlierst.“

„Bis gleich, Schwesterlein.“

„Bis gleich, du alter Säufer.“

Das erste Ziel der Geschwister Müller ist die Warenausgabe der Oskar-Pumpen-Werke. Zehn Minuten später machen sich die Beiden Richtung Osten auf den Weg nach Melle. Die Fahrt verläuft sehr ruhig. Im Radio spielen sie Peter Maffay und der Wetterfrosch berichtet von schweren Gewittern, die in der letzten Nacht den äußersten Norden Deutschlands mit Sturmböen und Hagelschauern verwüstet haben. Dächer wurden abgedeckt und Bäume seien wie Streichhölzer abgeknickt worden. Es gab einen Toten und zehn Verletzte, und von dreien davon würde das Leben nur noch an einem seidenen Faden hängen.

„Da haben wir ja nochmal Glück gehabt“, durchbricht Müller die spannungsgeladene Stille im Auto und nestelt seinen Tabak aus der Gesäßtasche.

Mit einem kurzen Blick zu ihrem Bruder und einem Kopfschütteln sagt Christel:

„So betrunken wie du gewesen sein musst, hättest du sowieso nichts davon gemerkt.“

„Scheiße, Chris, warum reitest du immer noch drauf rum. Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe. Ich bin dir auch zu tiefst dankbar dafür, dass du mich fährst, aber bitte hör endlich damit auf, mir deswegen Kacke ans Bein zu schmieren.“

Müllers Hände zittern, während er den Tabak für eine Zigarette im Beutel portioniert und auf dem Zigarettenblättchen gleichmäßig verteilt.

„Rainer, schau mal wie deine Hände zittern. Mich würde es nicht wundern, wenn du den Alkohol schon brauchst.“

Müller hält sich das offene Blättchen an die Lippen und bewegt seine Zunge gleichmäßig über den Klebestreifen. Er rollt die Zigarette fertig und steckt sie sich in den Mund. Er öffnet das Seitenfenster einen Spalt und gibt sich Feuer. Müller inhaliert tief. Die Unterhaltung mit seiner Schwester geht ihm auf die Nerven und außer über eine Wegbeschreibung beschließt er, kein Wort mehr mit ihr zu reden.

Das Haus vor dem sie halten, ist aus rotem Backstein gebaut und hat in der Vergangenheit schon bessere Zeiten gesehen. Von den alten Holzrahmen an den Fenstern pellt sich die Farbe und das Dielentor lässt ahnen, schon eine Ewigkeit schief in den Angeln zu hängen. Hinrich hat nicht zu viel versprochen, als er sagte, das Haus würde mitten im Feld stehen. Auf mindestens zwei Kilometer im Umkreis gibt es keine Nachbarn. Der verwucherte Garten wird von einem großen Maisfeld umrahmt und links neben dem Haus, ein Bisschen abseits, steht ein Indianertipi. Außer dem Dielentor gibt es noch einen zweiten Eingang an der Längsseite.

Die Tür steht offen und daneben, von Unkraut fast eingewachsen, eine gammelige Holzbank mit einer schlafenden Katze drauf.

„Ich hoffe, es dauert nicht so lange“, sagt Müller und steigt aus dem Wagen.

Er öffnet die Heckklappe, greift sich die Werkzeugtasche, den Dichtungssatz für die Pumpe und den Koffer mit den diversen Messgeräten, die er für die Kesselwartung benötigt. Als er die Hecklappe ins Schloss drückt steht Christel neben ihm.

„Und, was soll ich jetzt die ganze Zeit machen? Im Auto sitzen und Däumchen drehen, oder wie hast du dir das vorgestellt?“

„Hör zu, Chris, wir können das so machen. Ich schau mir erstmal den ganzen Krempel in dieser Bruchbude an, hol mir aus dem Wagen, was ich an Ersatzteilen brauche und du kannst dann die Karre nehmen und von mir aus nach Melle fahren, was frühstücken, oder Shoppen gehen und wenn ich soweit bin rufe ich dich an.“

Christel überlegt einen Moment und sagt:

„Na gut, aber denk‘ dran, dass ich spätestens um zwölf wieder in Osnabrück sein muss.“

„Kein Problem“, beruhigt Müller seine Schwester und geht mit Koffer und Tasche zum Seiteneingang.

Müller hätte es wissen müssen, dass in solchen Hütten irgendwelche anarchistischen Köter ganz scharf drauf sind, ihr Revier zu verteidigen. Auf halben Weg vernimmt Müller ein tiefes Bellen und ein kratzig- piepsendes Gekläffe, das stetig näher kommt und im selben Augenblick rast eine schwarzweiße Mischung aus Dogge und Labrador im Drift aus der Tür und bleibt knurrend vor Müller stehen. Zwei Sekunden später zeigt sich der Kläffer im Türrahmen und peilt die Lage. Wo der Köter seine Augen hat, oder wo vorne und hinten ist, kann Müller nur vermuten. Sein weißes Fell ist lang, zottelig und dreckig. Die Katze auf der Bank ist von dem Punk längst aufgewacht und sieht Müller mit ihren schönen stolzen Augen an. So als wollte sie sagen:

„Mach dir kein Kopp, Dosenöffner, das sind doch nur zwei stinkende, großmäulige Schwachbirnen mit nichts als Pferdepisse unterm Pony. Ein Schlag mit der scharfen Kralle auf die feuchte Nase und die Sache ist geritzt.“

Leider hat Müller diese Krallen nicht. Außerdem ist diese Situation alles andere als heilsam für seinen kranken Magen. Müller muss würgen und außer ein wenig Speichel, der in langen Fäden aus seinen Mundwinkeln tropft, treibt es ihm die Tränen in die Augen, was dafür sorgt, dass er den Überblick verliert. Es vergehen höchstens vier Sekunden, als Müller etwas Warmes an seiner linken Wade spürt. Aber die Gewissheit, dieses große Riesenvieh knurrend vor sich stehen zu haben, verhindert jede schnelle Bewegung, um sich zu vergewissern, was sich da so emsig an seiner Wade zu schaffen macht. Müller bräuchte jetzt eine freie Hand um sich die Tränen aus den Augen zu wischen, kann in seiner starren Haltung aber nicht den Mut aufbringen, die Tasche oder den Koffer einfach fallen zu lassen. In die Knie gehen, um sich dieser zwei Probleme leiser zu entledigen, kommt nicht in Frage. Die Promenadenmischung aus Dogge und Labrador wäre diesen kurzen einen Moment größer als er und das will er auf keinen Fall riskieren. Müller spürt, dass die Bewegungen an seiner Wade heftiger werden und auch ohne einen Blick nach unten weiß Müller, was da vor sich geht. Der kleine Köter ist gerade dabei, sich in seine Wade zu verlieben und rammelt was das Zeug hält drauflos. Seine kurzen Beine hat er dabei eng um Müllers Schienenbein geschlungen und je mehr der Kleine in Fahrt kommt, umso fester wird die Umklammerung. Müller versucht das lästige Vieh mit langsamen, kurzen Bewegungen abzuschütteln und muss schnell feststellen, dass der Große was dagegen hat. Er legt noch mehr Bosheit in sein Geknurre und zieht dabei gefährlich die Lefzen hoch.

Müller wird von einem kleinen stinkenden Wischmopp vergewaltigt und kann nichts dagegen unternehmen. In dieser peinlichen Situation weinerlich um Hilfe rufen verkneift er sich, und wer weiß, ob bei dem Lärm der Große nicht endgültig ernst machen würde. In seinem Zustand hätte er keine Chance gegen das Kalb. Müller wünschte, er währe so mutig wie die Katze und betet zum Himmel, dass sich nach dem Kleinen, nicht auch noch der Große in gleicher Weise um ihn kümmert.

„Was für eine Scheiß Gang“, denkt Müller, als das Knurren abrupt verstummt und er die Schnauze des Doggen-Mischlings zwischen seinen Beinen spürt. Die Geräusche, die das widerliche Vieh dabei macht, sind zu vergleichen mit dem Geschmatze, das ein fettes Schwein von sich gibt, wenn es sich hungrig über einen Trog voll zermatschter Kartoffeln hermacht. Müller sieht sich selbst vor seinem inneren Auge, wie er da stocksteif steht, mit seinen beiden Koffern in der Hand, und wie ihm die beiden Köter den letzten Funken Ehre aus dem verkaterten Körper vögeln. Er hat das Ekelgefühl in seinem kranken Magen längst vergessen und der Wind trocknet langsam die Tränen in seinen Augen. Nach und nach bekommt er eine bessere Sicht auf das vermaledeite Szenario. Mit einem vorsichtigen Blick nach unten kann er sehen, wie der Große bei der ganzen Sabberei noch dazu übergeht, ruckartig seinen Kopf nach oben und unten zu bewegen und mit jedem Ruck spürt Müller einen stechenden Schmerz, der sich von seinen Hoden bis in den Bauch fortsetzt. Müller denkt an Krieg und Tod, als er verschwommen eine weibliche Silhouette in einem blauen Etwas in der Tür wahrnimmt.

„Shanka, Jagdev …, aus! Lasst den armen Mann in Ruhe! Ihr seht doch, dass es ihm nicht gut geht! Entschuldigen Sie, aber wir hatten dem Handwerker, der gestern hier war, gesagt, dass wir erst ab elf Uhr Termine machen.“

„Dafür wirst du bluten, Hinrich“, denkt Müller wütend. Er hätte ihn vor den beiden Bestien warnen müssen und die falsche Terminabsprache lässt ihn buchstäblich sauer aufstoßen.

Der Mensch vor ihm kann froh sein, eine Frau zu sein. Einem Kerl hätte Müller nach diesem traumatischen Erlebnis Schläge angedroht und dazu einen Satz eitrige Furunkeln an den Arsch gewünscht. Er hatte sich eh schon entschieden, in diesem Haus keinen Handschlag zu tun.

Als Shanka und Jagdev keine Anstalten machen von Müller abzulassen, wird die Frau energischer:

„Shanka, Jagdev, aus, aber sofort!“

Bis dahin hat Müller noch kein Wort gesagt, aber als er merkt, dass der Anpfiff der Frau im blauen Bikini Wirkung zeigt und die verzogenen Viecher so schnell verschwinden wie sie gekommen waren, löst sich seine Zunge.

„Es ist sicher nicht Ihre Schuld, dass ich um diese Zeit hier stehe“, sagt Müller, „aber dass ich von ihren zwei geilen Dreckskötern vergewaltigt werde, dafür mache ich Sie verantwortlich und deshalb werde ich jetzt meine Werkzeugtasche und meinen Messkoffer nehmen, sie in meinen Wagen packen und zurück nach Osnabrück fahren.“

Müller hat endgültig die Schnauze voll von diesem idyllischen Ort und macht auf dem Absatz kehrt.

„Das können sie nicht machen“, fleht ihn die Lady an. Sie fasst Müller von hinten an den Oberarm und hindert ihn so am Weitergehen.

„Wir haben schon seit fast einer Woche kein Wasser mehr und alle Handwerker aus dieser Gegend haben keine Termine mehr frei. Bitte, bitte bleiben Sie! Ich werde dir auch ein leckeres Frühstück machen, versprochen!“

„Ach, jetzt sind wir schon beim Du“, denkt Müller und schaut in ein trauriges, dunkelbraunes Augenpaar. Sie hält ihm ihre rechte Hand entgegen, lächelt verlegen und sagt:

„Ich bin die Mira und wie darf ich dich nennen?“

„Scheiße“, denkt Müller. Die Frau ist auch noch hübsch und ihr Geruch hat was Asiatisches.“

Mira ist ungefähr in seinem Alter, etwas kleiner als er und trägt eine lachsfarbene Blume in ihren fast schwarzen, langen Haaren. Die Blume steckt hinter ihrem linken Ohr und ihre Figur lässt so manch Sechszehnjährige blass aussehen. So wie Müller das durch seine verschwommenen Augen beurteilen kann ist Miras Haut nahtlos braun, denn der Bikini, der die wichtigsten Stellen ihres Körpers bedecken soll hat weniger Stoff, als ein eingelaufenes Taschentuch. Ihre Brüste sind fest und rund und durch das schmale Bikini-Oberteil kann Müller einen Teil der Vorhöfe ihrer Brustwarzen sehen.

„Das winzige Ding trägt das Luder sicher nur wegen mir“, denkt Müller und merkt, wie sein Blut langsam aus dem Gehirn in die Lendengegend sickert. Seine Wut ist verflogen und sein Verstand beim Teufel.

„Okay, Mira. Ich bin Rainer und was mich jetzt daran hindert nicht zu fahren sind sicher nicht deine schönen Augen.“

„Nein …? Was ist es denn?“, sagt Mira und spielt die Ahnungslose.

„Vergiss es“, sagt Müller. „Sperr lieber Pat und Patachon ein, sonst überleg‘ ich’s mir nochmal.“

„Du bist ein Schatz“, freut sich Mira und legt richtig Sex in ihren Gang bis zur Tür. Ihr Rücken und ihr Arsch sind genauso braun wie der Rest ihres Körpers und von negativen Auswirkungen durch die Schwerkraft, keine Spur.

„Wie machen die das bloß immer“, denkt Müller. Mira bräuchte nur mit dem kleinen Finger zu schnippen und er würde mit ihr ins Bett steigen. Er würde Lena nichts davon sagen, aber wer sagt ihm denn, das Lena nicht das Gleiche machen würde, oder sogar macht. Er weiß immer noch viel zu wenig über sie.

Mira bleibt im Türrahmen stehen und ruft:

„Amod, bring bitte Shanka und Jagdev in die Waschküche und sperr ab, der Klempner ist da!“

Nach einer Weile wendet Mira sich wieder Müller zu.

„Du kannst jetzt ins Haus gehen, die beiden Wölfe sind eingesperrt. Komm, ich zeig dir wo alles ist.“

Mira wartet bis Müller die Tür erreicht hat und bedeutet ihm mit einem Augenzwinkern, ihr zu folgen. Im Eingangsbereich liegt ein alter ausgelatschter Teppich in dessen Fasern sich genug Mutterboden angesammelt hat, um darauf erfolgreich Kartoffeln pflanzen zu können. Auf der linken Seite, an der Wand, hängt ein großes, goldumrahmtes Portrait von Bhagwan. Es zeigt den spirituellen Meister mit einer weißen Strickmütze auf dem Kopf. Rechts gibt es eine Sitzgruppe mit einem Tisch und vier zerfledderten Korbstühlen davor und neben der Sitzgruppe ist der Eingang zum Badezimmer. Dem Geruch nach zu urteilen, wird hier, wenn überhaupt, nur noch sehr sparsam die Toilettenspülung benutzt.

Geradeaus, durch einen Wanddurchbruch, kann Müller einen Teil der Küche sehen und dieser kurze Einblick reicht ihm, um Miras Angebot mit dem leckeren Frühstück dankend abzulehnen.

„Ob ihr großer Meister ihnen das eingetrichtert hat“, überlegt Müller, „in Kotter und Scheiße zu leben? Nah am stinkenden Auswurf der Welt? Auch die gemeine Salmonelle hat ein Recht auf Leben. Heget und liebet den Floh und die Zecke, die sich am Blute eurer Ärsche laben. Heißet die Borrellie willkommen, denn sie wird euch durch Fieber und Schmerz den Weg ins Nirwana zeigen.“

„Hier lang, Rainer“, sagt Mira und verschwindet mit ihrem braun gebrannten Arsch in einem Gang, der sich zwischen Bad und Küchendurchbruch befindet. Nach zehn Schritten bleibt Mira vor einem Holzverschlag stehen.

„Dahinter ist die Pumpe und links den Gang runter rechte Seite findest du den Heizungsraum, Rainer.“

„Alles klar, Mira, ich denke, ich komme zurecht.“

„Gut, dann mache ich dir jetzt das versprochene Frühstück“, sagt sie und lächelt Müller an.

Müller stellt die Tasche und den Koffer auf die Erde, kramt seinen Tabak aus der Tasche und fängt an zu drehen.

„Nee, Mira …, lass mal. Ich krieg um diese Uhrzeit noch nichts Festes runter. Außerdem hatte ich gestern einen anstrengenden Tag.“

„Okay“, sagt Mira knapp und lässt Müller alleine.

Hinter dem Holzverschlag findet Müller einen feuchten dunklen, kleinen Raum. Der Muff, der ihm aus der Dunkelheit entgegen weht, ist eine Mischung aus altem Kot und verwesendem Tierkadaver. Müller hält sich die Nase zu und versucht, einen Lichtschalter zu finden. Nur die pure Neugier, was ihm noch alles in diesem zugeschissenen Haus begegnen könnte, hindert ihn daran, sich sein Werkzeug zu klemmen und das Weite zu suchen. Müller findet den Lichtschalter und eine kleine Fünfzehn-Watt-Glühbirne in einer Vorkriegsfassung, die an zwei blanken Drähten von der Decke baumelt, lässt in ihrem fahlen Licht schemenhaft diverse Umrisse von mehreren Utensilien erkennen. Die Umrisse der Oskar-Hauswasserpumpe findet Müller in der hinteren rechten Ecke. Die Pumpe scheint auf einem kleinen Sockel zu stehen. Um einen besseren Durchblick zu bekommen öffnet Müller seine Werkzeugtasche, kramt die Taschenlampe raus und leuchtet in den Raum. Der Raum misst circa zwei Meter im Quadrat und besitzt kein Fenster. Als er den Lichtstrahl auf die Pumpe hält wird ihm klar, dass Hinrich keinen Fuß in dieses Verlies gesetzt haben muss, um sich das Ding mal genauer anzusehen. Als Müller den Boden um die Pumpe herum beleuchtet versteht er auch, weshalb Hinrich so oberflächlich diagnostiziert hat. Er findet mehrere Haufen Katzenscheiße neben der Pumpe und einen halbverwesten Rattenkadaver unter einem Regal mit alten Farb- und Öldosen in den Fächern.

„Hier muss ein Kampf statt gefunden haben“, denkt Müller, „und der Gewinner sagt Miau.“

Er verstaut die Taschenlampe wieder in die Werkzeugtasche und geht zum Heizungsraum. Im Heizungsraum sieht die Sache nicht viel anders aus, nur dass ihm hier kein Scheißegeruch entgegenweht. Lediglich der Gestank von ausgelaufenem Heizöl macht in dem Raum die Runde und legt sich sofort auf seine Kleidung. Müller weiß, dass er den Geruch den ganzen Tag wie einen unsichtbaren Schleier um sich haben wird und findet sich damit ab. Er nimmt sich das passende Werkzeug aus der Tasche und öffnet die vordere Klappe des Kessels. Müller greift sich erneut die Taschenlampe und leuchtet in den Brennraum. Der Brennraum ist in einem erbärmlichen Zustand. Die Flammtonne ist höchstens noch mit einem Presslufthammer zu lösen und die Zugöffnungen für das Abgas lassen kaum noch einen Spalt offen. Müller vermutet, dass der Kessel in seiner fünfzehnjährigen Laufzeit nie eine Bürste gesehen hat.

„Nichts mehr zu machen“, denkt Müller. „Das Scheißding wird keine zwei Jahre mehr durchhalten.“

Müller stellt den Urzustand wieder her, legt Taschenlampe und Werkzeug zurück in die Tasche und verlässt den Raum.

„Hallooo, ich bin der Amoood.“

Vor ihm steht ein kleiner dicker Mann in einer lila Robe und Vollglatze. An den Füßen trägt er Sandalen und um den Hals baumelt eine Holzperlenkette mit Anhänger. Der runde Anhänger ist aus einem durchsichtigen Material und in der Mitte entdeckt Müller dasselbe Portrait von Bhagwan, was er schon aus dem Eingangsbereich kennt.

„Moin, ich bin Rainer.“

„Bekommst du das denn wieder hin, mit unserem Wasser?“

„Kann sein.“

„Bist du dir nicht sicher?“

„Es gibt da drin ein Riesenproblem.“

„Was denn für ein Problem?“

„Der Raum ist von oben bis unten zugeschissen. Keine zehn Pferde bringen mich dazu in dieser Brühe zu arbeiten.“

 

Es ist immer wieder erstaunlich, dass die meisten Menschen, mit denen Müller beruflich zu tun hat, erst dann in die Pötte kommen, wenn die für sie selbstverständlichsten Dinge, so wie sauberes Leitungswasser, oder wie in diesem Fall, Brunnenwasser, nicht mehr funktionieren.

Der Swami Amod vor ihm ist das beste Beispiel. Der Typ ist noch nie in seinem Leben in diesem Raum gewesen, um nur einfach mal zu schauen, ob die Hauswasserpumpe an irgendeiner Stelle leckt, oder ob sie ein komisches Geräusch von sich gibt. Erst wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, ist das Gejammer groß.

 

Swami Amod rennt, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, um die Ecke und ist verschwunden. Fünf Sekunden später steht Mira wieder im Gang und sagt:

„Ich werde mich sofort darum kümmern.“ Sie sieht jetzt nicht mehr so sexy aus. Sie trägt eine bunte Balihose und ein lila T-Shirt.

Müller geht derweil zum Auto um Chris zu sagen, dass sich die Sache in circa einer halben Stunde erledigt haben wird. Er vermutet, dass sich nach diesem trockenen Sommer kein Tropfen Wasser mehr im Brunnen befindet.

Als Christel ihren Bruder näherkommen sieht, steig sie aus dem Auto und sagt:

„Und, weißt du jetzt, wie es weitergeht?“

„Ja, wenn alles so ist wie ich denke, bin ich in einer halben Stunde fertig.“

„Na gut“, sagt Christel, „dann warte ich solange.“

Müller holt einen Eimer und einen Schlauch aus dem Wagen und geht zurück zum Haus. In dem kleinen Raum mit der Pumpe hat Mira inzwischen ganze Arbeit geleistet. Sie hat die Scheiße entfernt, den Boden gewischt und gegen den Gestank Räucherwerk verteilt. Ein Baustellenstrahler steht vor der Pumpe und gibt ausreichend Licht. Von der verwesten Ratte ist nur noch ein kleiner dunkler Fleck auf dem Boden zu sehen. Als Müller sich an die Arbeit macht und den Saugschlauch von der Pumpe entfernt, steht Mira in der Tür und fragt:

„Na, alles gut so?“

„Fast“, antwortet Müller.

„Was denn noch?“

„Wenn du mir den Eimer noch irgendwie mit Wasser füllen könntest.“

„Ein paar Flaschen sind noch in der Kiste. Reichen dir fünf Liter?“

„Müsste gehen.“

Mira nimmt sich den Eimer und verschwindet.

Müller koppelt den mitgebrachten Schlauch an die Pumpe und wartet. Nach etwa drei Minuten kommt Mira mit dem Eimer in den Raum und stellt ihn neben Müller auf den Boden.

„Wie wäre es denn jetzt mit einem Kaffee, Rainer?“, sagt sie und lächelt.

Müller hält das offene Ende vom Schlauch in den Eimer und schmeißt die Pumpe an. Problemlos saugt die Pumpe das Wasser aus dem Eimer. Wie Müller schon vermutet hat, kein Wasser mehr im Brunnen.

„Danke für das Angebot, Mira, aber Kaffee wäre in meinem momentanen Zustand nicht die richtige Medizin.“

„Du kannst auch einen Tee haben“, schlägt sie vor.

„Auch den nicht, Mira, danke.“

Müller schließt die Pumpe wieder brunnenseitig an und macht, dass er aus diesem engen Raum kommt.

„Was ist denn jetzt? Gibt es wieder Wasser?“, Mira schaut Müller hoffnungsvoll an.

„Leider nein.“

„Warum, die Pumpe hat doch eben das Wasser aus dem Eimer gesaugt?“

„Die Pumpe ist ja auch heile“, versucht Müller ihr zu erklären, „aber euer Brunnen ist trocken. Es gab in der letzten Zeit nur sehr wenig Regen.“

„Scheiße, und was sollen wir jetzt machen? Ich gehe schon alle drei Tage zum Duschen ins Freibad. Das geht ganz schön ins Geld.“

„Hier ist der Klempner machtlos“, sagt Müller. „Vielleicht kann dein Freund, Amod, es ja regnen lassen, wenn er seinen toten Meister, den er so liebevoll vor seiner Brust trägt, ganz nett bittet.“

Müller kann es nicht lassen. Er wollte dieses Thema eigentlich nicht anschneiden.

„Du solltest dich nicht über Osho lustig machen, Rainer, wenn du keine Ahnung hast. Shunyam Amod macht sich auch nicht über dich lustig.“

„Tut mir leid, Mira, aber ich bin Waage, Aszendent Skorpion und ich kann nichts dafür“, spinnt Müller. „Wenn bloß der verdammte Giftstachel nicht immer machen würde, was er will.“

„Du könntest lernen ihn durch Meditation zu kontrollieren“, schlägt Mira vor und kneift Müller in den Oberarm. Sie legt richtig Kraft mit rein und schaut ihm dabei direkt in die Augen.

„Aua, Scheiße, das tat weh, Mira! Du sollst deinen Klempner nicht verstümmeln. Das elfte Gebot.“

Aber bevor Müller sich weiter beschweren kann, drückt Mira ihm ihre Lippen auf den Mund und lässt ihre Zunge rotieren. Ihr Becken presst sie dabei gegen seinen pulsierenden Schwanz, der sich im Zeitraffertempo zur vollen Größe entwickelt.

„Das kann nicht wahr sein“, denkt Müller und greift sich ein Stück von Miras rechter Arschbacke. Der Stoff der Balihose ist dünn und fühlt sich an wie Seide. Müller steht auf Seide. Diesen Spleen hat er schon, seitdem er sich für Frauenunterwäsche interessiert. Er spürt, dass sie keinen Slip trägt und lässt seine Hand langsam über den Stoff nach oben und unten gleiten. Mit der linken Hand fährt Müller vorsichtig unter Miras T-Shirt und findet ihre rechte Brustwarze. Miras Kuss wird heftiger und Müller merkt, dass er sich bereits mit seiner rechten Hand unter dem Stoff der Hose befindet und Miras nackten Arsch streichelt.

Er überlegt, wie weit er gehen kann, oder wie weit er gehen soll, oder ob er überhaupt weiter machen sollte.

Aber sein steifer runzliger Freund schreit ihm von unten zu: „Los, Müller, reiß der Alten die Hose vom Arsch, stopf ihr einen Fetzen davon ins Maul und ramm mich solange in diesen triefend nassen Muff, bis die Lehren ihres Meisters ihr als unvollkommenes Gefasel am Arsch vorbeigehen und sie danach ein Portrait von dir an die Wand nagelt! Werde ihr neuer Guru mit der Ein-Zoll-Zange im Gepäck!“

Müller ist verwirrt, Er spürt wie Miras Hände unter seine Arbeitsjacke und unter sein T-Shirt wandern und in zarten Auf- und Ab- Bewegungen seine Wirbelsäule streicheln. In dieser Phase ist Müller nicht mehr Herr der Lage und merkt nicht, dass der Mittelfinger seiner rechten Hand sich längst selbstständig gemacht hat und dabei ist, die zarte Knospe ihrer fleischigen Muschi zu streicheln. Immer wieder streift er mit dem Finger Miras Perle und lässt ihren Atem schwerer werden.

„Komm mein süßer, geiler Klempner“, stöhnt Mira ihm ins Ohr, „komm mit mir ins Land der Ekstase und liebe mich in unendlicher Glückseligkeit und sei mein Bruder.“

Dieser Spruch von Mira lässt Müllers Libido abrupt K.O. gehen und bewirkt, dass sein Schwanz von einer Sekunde auf die andere, träge in den Seilen hängt und Rotz und Wasser heult. Müller kann sich einen Lacher kaum verkneifen und bekommt prompt die Quittung dafür.

Beleidigt gräbt Mira ihre scharfen Fingernägel in sein Fleisch und zieht genussvoll durch.

Erschrocken von dem heftig brennenden Schmerz, der sich schnell über seinen ganzen Rücken ausbreitet, stößt er Mira, an die Seite.

„Du verdammte Fotze!“, schreit Müller.

Der Schmerz ist unbeschreiblich und er spürt, wie ihm das warme Blut den Rücken runter bis in die Hose läuft. Ohne noch ein Wort zu sagen schnappt er sich seine Taschen und macht, dass er da raus kommt. Es bereitet ihm Angst, dass er drauf und dran war, Mira zu verprügeln. Es hat nicht viel gefehlt und er hätte ihr aus Reflex mit der Faust ins Gesicht geschlagen.

Müller beeilt sich schnell zum Wagen zu kommen. Er reißt die Heckklappe auf, fetzt Koffer, Schlauch und Tasche auf die Ladefläche und schmeißt sich schwer atmend auf den Beifahrersitz.

„Was ist denn jetzt auf einmal los?“, sagt Christel überrascht.

„Nichts“, lügt Müller. „Schmeiß den Motor an und fahr einfach los. Diese Hütte, samt seiner Insassen gehört gesprengt. Diese Typen da drin sind gemeingefährliche Irre.“

Ohne ihren Bruder mit weiteren Fragen zu löchern dreht Christel den Zündschlüssel nach rechts, legt den ersten Gang ein und lässt die Kupplung kommen. Der Wagen bringt die beiden Geschwister schnell zur nächsten Hauptstraße und in Richtung Autobahn.

„Was ist denn in dem Haus passiert, Rainer? Du sitzt hier, als hättest du einen Tausendmeterlauf hinter dir?“

„Später, Chris, fahr jetzt einfach“, sagt Müller, während er aufgeregt versucht, das alte Feuerzeug aus der Ablage in Gang zu bringen um sich Feuer zu geben. Nach etwa zwanzig Fehlversuchen schmeißt er das Feuerzeug wütend aus dem Fenster und drückt auf den Zigarettenanzünder.

„Du hast doch was, Rainer? Muss ich mir Sorgen machen? Wieso redest du nicht mit mir?“

„Chris, bitte, lass mich einfach in Ruhe und achte auf den Verkehr. Mich hat nur der Gestank und der permanente Schwachsinn in der Bude kirre gemacht. Außerdem glaube ich, dass ich einen neuen Job brauche.“

„Wieso, was ist denn mit deinem Job?“

„Chris, bitte! Ich muss mir den ganzen Scheiß erst selber durch den Kopf gehen lassen.“

„Was für einen Scheiß denn? Jetzt mache ich mir aber doch Sorgen.“

Ohne der bohrenden Fragerei seiner Schwester Beachtung zu schenken versucht Müller eine einigermaßen bequeme Sitzposition zu finden. Die tiefen Kratzwunden auf seinem Rücken und der heftig brennende Schmerz zwingen ihn zu einer unnatürlich geraden Sitzhaltung.

„Wieso sitzt du so komisch?“

„Ich hab‘ Blähungen.“

„Quatsch, Blähungen. Du lügst doch, Rainer.“

„Reg dich ab, Chris, und sieh zu, dass du die richtige Autobahnauffahrt erwischst.“

„Ich kann mich aber nicht abregen. Gib es doch zu, du hast schon wieder Mist gebaut!“

Müller überlegt, ob seine Schwester ihm glauben würde, wenn er ihr die Wahrheit sagt.

„Ich hab‘ grad‘ fast mit der Kundin gevögelt.“

„Du hast was?! … Das glaub‘ ich jetzt nicht!“

Christel übersieht fast einen Fußgänger und reißt das Lenkrad nach links.

„Glaub‘ was du willst, Chris, und guck mich nicht so blöd an. Schau lieber nach vorne, sonst landen wir noch im Graben.“

Müller weiß, dass er seine Schwester mit solchen Dingen völlig überfordert.

 

Sorglose Kindheit, Realschule ohne Probleme. Die Lehre als Reisekauffrau bestand sie mühelos mit der Bestnote. Nach der Lehre wurde sie sofort von einem der renommiertesten Reiseunternehmen Deutschlands unter Vertrag genommen und innerhalb von zwei Jahren hatte sich Christel soweit nach oben gearbeitet, dass man ihr die Leitung eines großen Ferienclubs in der Dominikanischen Republik anbot. Chris nahm an und war, mit ein paar kurzen Unterbrechungen, vier Jahre von der Bildfläche verschwunden. Als sie wieder zurück in Deutschland war kaufte sie sich eine Eigentumswohnung in der besten Wohngegend von Osnabrück und blieb eine Weile. Dann kamen Afrika, Asien, USA, Neuseeland, Mexiko und Spanien. Den Club in Spanien managte sie elf Jahre lang und an ihrem vierzigsten Geburtstag verkündete sie ihren Gästen stolz, dass sie von nun an in der Stadt bleiben würde und nur noch als Beraterin die Clubs des Unternehmens betreuen würde. Über ihre Beziehungen mit Männern hat Christel nie gesprochen. Jedenfalls nicht mit ihrem Bruder.

 

„Die blöde Kuh hat mir den ganzen Rücken zerkratzt.“

„Hör auf mich zu veräppeln, Rainer. Das ist nicht witzig.“

„Was glaubst du denn, weshalb ich hier so sitze, als hätte ich ‘n Stock im Arsch?“

Kurz vor der Autobahnauffahrt nach Osnabrück steuert Christel den Wagen auf einen kleinen Parkplatz und hält an.

„So, Bruderherz, jetzt will ich Beweise sehen und wehe, das stimmt nicht.“

„Was dann?“, sagt Müller.

„Dann schmeiß ich dich hier aus dem Auto und du kannst zu Fuß nach Osnabrück gehen.“

„Wie willst du das denn machen?“

„Das wirst du dann schon sehen.“

„Okay, du willst es ja nicht anders“, sagt Müller, stemmt sich aus dem Autositz und dreht seinen Rücken in ihre Richtung.

„Hilf mir mal, Chris, alleine schaff ich’s nicht. Aber bitte mit Gefühl, es brennt wie die Hölle.“

„Das musst du mir nicht sagen, du Blödian“, sagt Christel beleidigt, lehnt sich rüber und lüftet mit beiden Händen vorsichtig Müllers T-Shirt.

„Was ist?“, sagt Müller neugierig, „Wie sieht’s aus? Warum sagst du denn nichts?“

Dass seine Schwester den Mund nicht aufkriegt macht ihn nervös. Er hofft, dass er nur ein paar unbedeutende Kratzer abbekommen hat, die schnell wieder heilen.

„Ich werde dich jetzt sofort zum Krankenhaus nach Melle fahren“, hört Müller Christel hinter sich sagen und spürt, wie sie behutsam sein klebriges T-Shirt zurück über die Kratzwunden legt.

„Und …, glaubst du mir jetzt?“

Wortlos setzt Christel sich aufrecht in den Fahrersitz, startet den Motor und fährt los.

„Du bist so ein Chaot, Rainer. Warum gebrauchst du nicht mal dein Hirn und lässt dich nicht immer von deinen Gefühlen leiten?“

Müller spürt, dass seine Schwester jetzt nicht mehr zu Späßen aufgelegt ist. Die Lage scheint ernster zu sein als er gedacht hat.

„Was ist den nun mit meinem Rücken?“, drängelt Müller. Christels ernster Gesichtsausdruck bedeutet nichts Gutes und treibt ihm die Angst in den Bauch und als sie den Wagen in die entgegengesetzte Richtung nach Melle steuert, denkt er nicht mal daran, zu protestieren.

„Du musst Hinrich anrufen, und ihm sagen, was passiert ist“, sagt Christel. „Ich denke, du wirst eine Weile außer Gefecht gesetzt.“

„Chris, mach da jetzt bitte nicht so ‘n Drama draus. Sag mir endlich, was los ist.“

Müller verliert langsam die Geduld. Die Geheimniskrämerei seiner Schwester macht ihm schwer zu schaffen. Sie gibt ihm das Gefühl schuldig zu sein und trifft damit genau seinen psychischen Schwachpunkt.

 

Müller fühlte sich schon als kleiner Junge immer schuldig, wenn sein Vater ihn mit der Pferdepeitsche in der Mangel hatte. Das alte Trauma, das ihm in jeder Lebenslage begegnet und unverhofft den Knebel um den Hals legt. Müller hasst dieses Gefühl. Es macht ihn wütend und die Hilflosigkeit, die er dabei empfindet, lähmt sein Selbstwertgefühl.

 

„Du wirst den Arzt fragen müssen, Rainer, ich weiß nur, dass dein Rücken schrecklich aussieht. Ich habe keine Ahnung, was du der Frau angetan hast. Ich weiß nicht, was für einen Grund sie hatte, dich so zu verletzen.“ Chris schaut Müller einen kurzen Moment vorwurfsvoll in die Augen und richtet ihren Blick wieder auf die Fahrbahn.

„Hast du einem Kerl beim Ficken noch nie den Rücken zerkratzt? Hast du überhaupt schon mal gevögelt?“

„Werd mal nicht unverschämt, großer Bruder. Mein Sexleben geht niemandem etwas an und jedenfalls habe ich noch niemanden dabei so verletzt, dass er danach Ärztliche Hilfe benötigte. Außerdem solltest du dir mal respektvollere Ausdrücke als Ficken oder Vögeln für den zwischenmenschlichen Geschlechtsverkehr ausdenken.“

„Was denn …, miteinander schlafen? Liebe machen, oder so ’n Scheiß?“

Chris schaut Müller an, lächelt und sagt:

„Zum Beispiel.“

„Chris, ich weiß nicht, wie es bei dir läuft, aber ich habe nicht jede Frau, die morgens in meinem Bett aufgewacht ist, geliebt. Und wir haben auch erst dann miteinander geschlafen, wenn wir mit der geilen Blaserei, Lutscherei und Fickerei fertig waren. Ich würde auch niemals eine Frau fragen, ob sie gerne Geschlechtsverkehr mit mir hätte? Mann …, das ist doch abturnend.“

„Du bist und bleibst vulgär, Rainer, darum halten deine Beziehungen auch nicht länger als ein paar Jahre und dein unkontrollierter Umgang mit dem Alkohol schreckt jede vernünftige Frau ab.“

„Und du bist so eine vernünftige Frau?“

„Ich glaube ja“, sagt Chris und setzt den Blinker Ausfahrt Melle Ost.

„Dann sind alle Männer so wie ich“, stellt Müller fest.

„Warum?“

„Weil du bislang ziemlich leer ausgegangen bist.“

Christel verlässt die Autobahnausfahrt und schlägt den Weg Richtung Klinikum ein.

„In meinem Beruf ist es besser, keine Liebesbeziehungen einzugehen. Aber das kann so ein intuitiv handelnder Mensch wie du nicht verstehen.“

„Chris, du tust mir leid. Ich greif zwar manchmal ins Klo …“

„Ha!“ Chris fällt ihm lachend ins Wort. „Ins Klo, Bruderherz!? Du meinst wohl eher, Kläranlage.“

Müller hält ihr seine rechte Hand unter die Nase macht Stinkefinger und sagt:

„Schau mal, Schwesterchen, fällt dir was auf?“

„Ja, deine Hände sind dreckig und du riechst nach Heizöl.“

„Das meine ich nicht. Sieh mal genauer hin.“

Chris lenkt den Wagen auf den Parkplatz des Klinikums und stellt den Motor ab.

„Siehst du denn nicht, dass mein rechter Mittelfinger sauberer ist als die anderen Finger?“

Mit ekelverzerrter Miene schiebt Christel Müllers Hand aus ihrem Blickfeld.

Bah, Rainer, du bist sowas von degeneriert … und auch noch stolz drauf, was? Gibst an wie ein pubertierender, ungezogener kleiner Junge vor seinen Klassenkameraden. Lass mich bloß mit deinen widerwertigen Spielchen in Ruhe, sonst kannst du gleich wirklich den Bus nehmen.“

„Siehst du, Schwester, das ist genau dein Problem. Für dich ist der Sex nichts weiter als ein steriler, physischer Akt der Befruchtung. Wenn’s nach dir ginge müsste jedes Schlafzimmer vom Boden bis zur Decke gefliest sein und in der Mitte einen Abfluss haben, damit man die Sauerei nach dem Ficken mit dem Hochdruckreiniger bearbeiten kann. Mir ist es scheißegal, ob meine Hände dreckig sind und nach Öl stinken. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, dass ich ‘ner willigen Schnalle meinen Finger in die Möse stecken kann, dann tu ich das. Es käme mir nicht die Bohne in den Sinn, mir vorher die Hände zu desinfizieren.“

Christel schüttelt verständnislos den Kopf, zieht den Zündschlüssel aus dem Schloss und hat wieder diesen Mitleidsblick drauf.

„Du hast sie nicht mehr alle, Rainer und jetzt lass uns zur Ambulanz gehen, damit du dir wegen deiner schmutzigen Klamotten keine Blutvergiftung holst.“

Bis zum Haupteingang des Klinikums sagt keiner mehr ein Wort und am Empfang beschreibt ihnen eine in die Jahre gekommene Ordensschwester mit einer fetten Warze am Kinn den Weg zur Ambulanz.

„Da gehen sie geradeaus, durch die große Tür, den langen Flur bis ans Ende, dann links den Flur bis ans Ende und dann folgen sie einfach den Schildern.“

„Müller und Christel bedanken sich und folgen der Beschreibung. Sie finden die Ambulanz und setzen sich ins Wartezimmer. Außer den Beiden sitzen noch vier weitere Patienten im Raum und starren stumm auf die Erde. Einer davon hat einen blutigen Verband um die Stirn.

Nach einer Weile durchbricht Christel die Stille und fragt: „Hast du dein Handy dabei?“

„Ja, warum?“

„Denk dran, dass du noch Hinrich anrufen musst.“

Müller steht vom Stuhl auf, geht aus dem Wartezimmer in den Flur, wühlt sein Handy aus der Innentasche seiner Arbeitsjacke und wählt Hinrichs Nummer.

„Ah, Rainer, du bist das. Was gibt’s?“

„Hinrich, was ich dir jetzt sagen muss, wird dir nicht gefallen.“

Müller kann fast das Knistern durchs Telefon hören was bedeutet, dass sich auf der Stirn seines Chefs drei neue Sorgenfalten gebildet haben, die ihn von einer auf die andere Sekunde um fünf Jahre älter aussehen lassen werden.

„Steht das Haus noch?“, kommt es prompt von Hinrich.

„Dem Haus ist nichts passiert. Die Scheiße trieft nach wie vor aus allen Ritzen und der Gestank in der Bude hat durch meine Anwesenheit auch nicht gelitten.“

„Red‘ keinen Stuss, Müller. Sag mir endlich, was passiert ist. Wie weit bist du gekommen?“

„Der Kessel ist nicht mehr zu retten. Dem geb ich noch zwei Jahre, dann macht der den Klappmann. Die Pumpe ist heile, aber der Brunnen ist leer.“

„Dann ist doch alles gut, Müller. Mehr können wir nicht machen. Wo liegt das Problem?“

Müller zögert. Er versucht, die richtigen Worte zu finden um sich nicht zu verzetteln.

„Ich bin in Melle im Krankenhaus.“

Die Erfahrung hat Müller gezeigt, dass der gerade Weg meistens der bessere ist. Fall mit der Tür ins Haus, dann weiß dein Gegenüber gleich, wo der Hammer hängt.

„Was machst du denn im Krankenhaus? Was ist passiert …? Ist der Wagen schrott?“

„Nein, dem Wagen geht’s gut. Ich hab mich nur mit einer vergrätzten Möse angelegt, das ist passiert.“

„Red‘ kein Blech, Müller, sonst werde ich sauer. Du weißt, dass mir die Arbeit bis zum Hals steht und wenn du wieder ausfällst muss ich mir was überlegen.“

„Ich weiß noch nicht, ob ich ausfalle, Hinrich. Das wird gleich der Doc entscheiden.“

Ohne Umschweife erzählt Müller Hinrich die ganze Geschichte mit Mira. Das mit den Hunden lässt er aus.

Verdammt, Rainer, du kannst doch nicht einfach deine Finger in die Muschis meiner Kundinnen stecken. Was ist das für eine Scheiß Werbung?“

Müller spürt die Wut in sich aufsteigen. Schließlich wusste Hinrich, was er ihm zumutet.

„Eigentlich müsste ich sauer auf dich sein, Hinrich. Du warst vor mir da und wusstest, in was für ein Drecksloch du mich schickst.“

„Das hat doch damit nichts zu tun …, und gibt dir noch lange nicht das Recht, über meine Kundin herzufallen. Das war ein ganz normaler Auftrag, den jeder normale Installateur ohne mit der Wimper zu zucken erledigt.“

„Dann bin ich nicht normal, Chef und bevor wir uns gleich richtig in die Haare kriegen, beende ich das Gespräch lieber. Sobald ich weiß, was mir die Schlampe angetan hat und ob ich mit der Wunde arbeiten kann, rufe ich dich an.“

Müller nimmt das Handy vom Ohr und drückt auf die Taste mit dem kleinen roten Telefon.

Er geht zurück ins Wartezimmer und setzt sich wieder neben Christel auf den Stuhl. Der Stuhl, auf dem vorher der Mann mit der Kopfverletzung saß, ist leer. Christel hat ein Clipboard mit einem Fragebogen drauf in der Hand und reicht es ihm rüber.

„Du musst noch deine Krankenkasse eintragen“, sagt sie, „den Rest hab ich schon ausgefüllt.“

Müller holt sein Portmonee aus der Tasche, zieht die Plastikkarte seiner Krankenkasse raus und überträgt die Daten auf den Fragebogen.

„Vergiss nicht zu unterschreiben.“

Müller unterschreibt.

„Hast du Hinrich erreicht?“

„Ja.“

„Und?“

„ Er hat’s geschluckt.“

„Sei nicht so einsilbig. Was hat er gesagt?“

„Er glaubt, ich sei schuld.“

„Bist du ja auch.“

„Lass mich in Ruhe, sonst fahr ich gleich freiwillig mit dem Bus.“

„Das ist typisch für dich, Rainer. Du weißt, dass du Mist gebaut hast, gibst es aber nicht zu.“

„Ich bin nur meinen Instinkten gefolgt.“

„Tiere folgen ihren Instinkten. Menschen dagegen können abwägen und sich für mehrere Wege entscheiden und einer davon ist immer der richtige.“

„Dann bin ich eben ein Tier. Und hör jetzt endlich damit auf, mir deine Weisheiten in den Arsch zu stopfen. Ich hab Kopfschmerzen und mein Rücken brennt, als hätte mich die scheiß heilige katholische Inquisition bei den Eiern.“

Eine junge Krankenschwester kommt in den Raum und unterbricht das Gespräch. Sie geht auf Müller zu, lächelt und fragt:

„Sind sie Herr Müller?“

„Ja.“

„Haben Sie das Formular ausgefüllt?“

„Ich glaube schon“, sagt Müller und hält ihr das Clipboard entgegen.

Die Krankenschwester überschlägt schnell die Daten und wendet sich wieder Müller zu.

„Sie haben die Art des Unfalls vergessen einzutragen.“

Müller überlegt kurz und sagt:

„Arbeitsunfall.“

„So kann man das auch nennen“, kommt es schnippisch von der Seite.

Die Schwester trägt Arbeitsunfall ein und verlässt den Raum wieder.

Über der Tür, durch die eben noch die Krankenschwester verschwunden ist, hängt eine große, runde, weiße Uhr mit fetten, schwarzen Zahlen auf dem Zifferblatt. Die Zeiger stehen auf zehn Uhr achtundfünfzig.

„Du wirst es nicht bis zwölf ins Büro schaffen, Chris“, gibt Müller zu bedenken.

„Längst geregelt. Hab mir den ganzen Tag frei genommen.“

Christel sitzt kerzengerade auf ihrem Stuhl und hält sich einen Schminkspiegel vors Gesicht. Sie kramt einen roten Lippenstift aus ihrer kleinen Umhängetasche und macht sich an die Arbeit. Einmal Oberlippe und einmal Unterlippe. Danach presst sie ihre Lippen fest aufeinander, macht: „Papap“, und schmeißt das Schminkzeug wieder in die Umhängetasche.

 

Müller hat nie verstanden, wie sich die Frauen in ihren Handtaschen überhaupt zurecht finden können. Er hatte spaßeshalber mal in so ein Ding rein geschaut. Wenn es das Wort „Chaos“ noch nicht gegeben hätte, hätte Müller es in dem Moment neu erfunden und als er versuchte, eine Damenhandtasche mit seiner Werkzeugkiste zu vergleichen, gab er auf. Müller betrank sich an dem Abend maßlos, bekam Streit mit der Taschenbesitzerin und war von einem auf den anderen Tag die Taschenbesitzerin, samt ihrem Chaos, los.

 

 

 

 

 

 

45. Kapitel: Der Arbeitsunfall

 

„Herr Müller?“

„Ja.“

„Kommen Sie bitte mit!“ In der Tür, unter der großen Uhr, steht jetzt eine ältere Krankenschwester.

Müller stemmt sich langsam vom Stuhl in die Senkrechte und geht zu ihr rüber. Auf ihrer linken Brustseite klemmt ein Namensschild. „Schwester Engelhard“ steht drauf.

„Immer mir nach, Herr Müller“, sagt Schwester Engelhard und legt ein flottes Tempo vor.

Müller kann ihr kaum folgen. Mit jedem Schritt scheuert sein blutverkrustetes T-Shirt und die Arbeitsjacke über die Wunden und bereiten ihm starke Schmerzen. Der Flur ist schmal und lang und nimmt kein Ende. Schwester Engelhard rast weiter ohne sich umzuschauen.

„Schwester Engelhard!“, ruft Müller ihr nach, „bitte warten Sie …! Ich bin verletzt und kann nicht so schnell!“

Und in derselben Sekunde, in der sein jämmerlicher Hilferuf durch den langen Flur hallt, bereut es Müller auch schon.

„Ach herrje, Sie ärmster! Soll ich Ihnen einen Rollstuhl bringen?!“, ruft Schwester Engelhard ihm aus der Ferne zu.

„Verarschen kann ich mich alleine“, denkt Müller und bleibt ihr die Antwort schuldig.

„Nur noch ein Paar Meter, Herr Müller, Sie haben’s gleich geschafft!“

Müller quält sich langsam weiter den Flur entlang. Noch knapp zehn Schritte trennen ihn von Schwester Engelhard.

„Entschuldigen Sie, Herr Müller, ich hatte eben ganz vergessen sie zu fragen, was Ihnen fehlt. Auf dem Formular haben Sie „Arbeitsunfall“ angegeben. Was ist Ihnen denn passiert?“

Müller überlegt, ob er ihr die Wahrheit sagen soll.

„Ich hab‘ mich mit einer geisteskranken Raubkatze angelegt und den Kampf verloren.“

„Arbeiten Sie im Zoo, Herr Müller? Das ist aber ein schöner Beruf.“

„Herr Gott, ist die dämlich“, denkt Müller.

„Der Abfluss im Elefantenhaus war verstopft, Schwester Engelhard. Sie müssen wissen, dass ein einziger erwachsener Elefant, wenn er Stuhl hat, eine komplette Schiebkarre vollscheißt. Da muss so ein Abfluss einiges schlucken.“

„Ach herrje“, staunt Schwester Engelhard und schnalzt mit der Zunge.

Müller hat den Eindruck, dass Schwester Engelhard unter Drogeneinfluss steht. Sie wirkt irgendwie konfus und abwesend.

Schwester Engelhard führt Müller in ein kleines Behandlungszimmer. In dem Zimmer gibt es eine Liege und diverse medizinische Geräte, von denen Müller nur das Ultraschallgerät kennt. An der linken Wand steht ein weißer Schreibtisch mit einem Computer unten drunter und einem alten, vergilbten Bildschirm oben drauf. An der rechten Wand hängt ein kleines Waschbecken und rechts neben der Tür steht ein metallener Kleiderständer. Schwester Engelhard setzt sich vor den PC, öffnet eine Datei und wendet sich wieder Müller zu.

„So, Herr Müller. Ihre Jacke hängen sie bitte an den Kleiderständer und Ihre Hände können Sie dort waschen“, sagt Schwester Engelhard und zeigt mit dem Finger auf das kleine Waschbecken.

„Doktor Schimanski wird gleich Zeit für Sie haben.“

„Ich wusste gar nicht, dass Schimmi umgeschult hat, Schwester?“

„Kennen Sie den Doktor, Herr Müller?“

„Klar, wer kennt den denn nicht. Der war doch vorher Kommissar bei der Kripo Duisburg und sein Kollege hieß Tanner und sagen Sie jetzt nicht, dass es hier auch einen Doktor Tanner gibt?“ Müller grinst und hängt seine Arbeitsjacke an den Kleiderständer.

„Ach, herrje, Herr Müller, Sie sind mir ja einer. Fast hätte ich Ihnen den Quatsch geglaubt.“ Schwester Engelhard schüttelt ihren Kopf und schnalzt wieder mit der Zunge.

Müller geht zum Waschbecken, drückt sich eine Ladung Seife aus dem Seifenspender und wäscht sich die Hände.

„Nicht zu fassen, diese Frau“, denkt Müller, und während Schwester Engelhard das Behandlungszimmer verlässt und die Tür hinter sich ins Schloss zieht, trocknet Müller sich ab und setzt sich auf die Liege. Es bleibt ihm noch genug Zeit, sich die Geschichte mit Mira zum zweiten Mal durch den Kopf gehen zu lassen. Was soll er gleich dem Arzt sagen? Er hätte sich die Schrammen bei einer Kesselwartung zugezogen, oder bei einer Pumpenreparatur? Er könnte ihm höchstens weismachen, dass er unter einem Bund Rohre herkriechen musste und sich an den überstehenden Rohrschellen verletzt hätte. Aber alle möglichen Storys, die er sich in seinem Kopf zusammenspinnt, klingen nicht sehr plausibel und jeder einigermaßen normal denkende Mensch, würde sie schnell als billige Lügen entlarven. Müller kann das Blatt wenden wie er will, es wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als die Wahrheit zu sagen.

Müller lässt gelangweilt seinen Blick durch den Raum schweifen und entdeckt ein kleines Fläschchen neben dem PC-Bildschirm. Auf dem Etikett liest er „Lenasolvan“ und bekommt gleich die Faust in den Magen. Was soll er Lena sagen? Sie wird merken, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Müller hofft, dass sie mindesten zwei Wochen verschollen bleibt, oder eine Zeit lang keinen Bock auf Sex hat. Vertieft in seinen abstrusen Ängsten merkt er nicht, dass Doktor Schimanski in der Tür steht und zu ihm rüber schaut.

„Guten Morgen Herr Müller …, äh. Störe ich Sie gerade bei irgendetwas?“

Müller fällt auf, dass der Doktor ein großes Muttermal auf der Stirn hat und höchstens ein Meter sechzig groß ist. Am rechten kleinen Finger steckt ein fetter Goldring und auf der Nase trägt er eine Brille mit runden Gläsern. Von seinem grauen Haar ist kaum noch etwas übrig und was davon noch übrig ist konzentriert sich hauptsächlich zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden in seinem Nacken.

„Nein, nein, Herr Doktor“, antwortet Müller erschrocken. „Ich war nur gerade in Gedanken und hab‘ darüber nachgedacht, ob ich heute Morgen meine Blumen gegossen habe.“

„Na, dann hoffe ich mal, dass sie das getan haben, Herr Müller“, sagt Doktor Schimanski, geht zum Schreibtisch, setzt sich vor den Bildschirm und studiert Müllers Daten.

„Hier steht, dass Sie einen Arbeitsunfall hatten?“

„Kann man so sagen.“

„Was meinen Sie damit, Herr Müller? War es nun ein Arbeitsunfall, oder nicht?“

„Ich bin mir nicht sicher, Doktor. Die Sache ist mir etwas peinlich. Ich könnte Ihnen jetzt sagen, dass ich im Zoo gearbeitet habe und mich eine psychotische Löwin am Wickel hatte, was auch fast hinkommen würde. Aber die Wahrheit ist, dass die Löwin auf zwei hübschen, langen, braungebrannten Beinen steht und eine Blume in der Mähne stecken hat und ein würzig duftendes, asiatisches Parfum benutzt.“

„Herr Müller, wenn ich Sie richtig verstanden habe“, sagt Doktor Schimanski und schaut ihn dabei lächelnd an, „handelt es sich hier um ein humanoides Wesen in weiblicher Form …, stimmt’s?“

„Ganz genau“, sagt Müller und freut sich, dass der Doktor sein ironisches Wortspiel mit der gleichen Leidenschaft erwidert. Es gibt ihm ein Stück seines angeschlagenen Selbstvertrauens zurück und lockert seine Zunge.

Müller erzählt dem Doktor die ganze Geschichte, lässt aber die Episode mit den Hunden aus.

„Das mit dem Weibsstück reicht“, denkt Müller. „Warum sich zum kompletten Volldeppen machen.“

„Dann lassen Sie mich mal schauen, was die Krallen der Löwin bei Ihnen angerichtet haben, Herr Müller. Ziehen Sie bitte Ihr T-Shirt aus und legen Sie sich auf die Liege.“

„Sie werden mir helfen müssen, Herr Doktor“, sagt Müller, „ich schaffe es nicht alleine. Es klebt fest.“

„Es klebt fest? Dann zeigen sie mal her.“

Müller steigt vorsichtig von der Liege und dreht sich um neunzig Grad.

„Donnerwetter!“

„Wie schlimm ist es den …? Wie lange hab ich noch, Doc?“

„Entschuldigen sie bitte meine spontane Überreaktion, Herr Müller, ich wollte Sie nicht verunsichern. Sie werden bestimmt steinalt, aber sowas sehe ich hauptsächlich nach schweren Verkehrsunfällen in der Notaufnahme. Wir werden ihr Shirt zerschneiden müssen.“

„Nur zu, schneiden sie“, erklärt sich Müller einverstanden. „Aber könnten sie mir vorher nicht so eine Scheißegalspritze verpassen?“

„Sie meinen Propofol?“

„Keine Ahnung, wie das Zeug heißt, Sie sind der Fachmann.“

„Wir haben es hier nicht mit einem Magengeschwür zu tun, Herr Müller. Was ich Ihnen geben kann ist ein leichtes Schmerzmittel.“

„Ich glaub nicht, dass das reichen wird.“

„Vertrauen sie mir, Herr Müller.“

Doktor Schimanski öffnet die unterste Schublade des Schreibtischs und zaubert ein kleines, braunes Fläschchen und einen Plastiklöffel aus dem mittleren Fach. Er öffnet das Fläschchen, hält es über den Löffel und zählt die Tropfen. Nach fünfzehn Tropfen stellt er das Flächen auf den Schreibtisch, gibt Müller den Löffel und sagt:

„Schmeckt etwas bitter.“

Müller schluckt die Medizin und verzieht das Gesicht.

„Uh …, bitter ist gut. Das Zeug schmeckt wie abgestandene Mäusepisse.“

Doktor Schimanski verstaut das Fläschchen wieder und sagt:

„Das Mittel braucht etwas Zeit bis die Wirkung eintritt.“

„Wie lange?“

„Ungefähr fünf Minuten. Danach sollten wir Sie verarzten können, Herr Müller.“

Der Doktor zieht ein weißes Taschentuch aus der Kitteltasche, nimmt die Brille von der Nase und kümmert sich um die Gläser.

„Ein klarer Durchblick ist immer von Vorteil“, sagt er, schaut Müller an, grinst, hält die Brille vor den Mund, haucht auf die Gläser und reibt sie mit dem Taschentuch trocken.

„So, Herr Müller, jetzt kann ich jede Pore ihrer wunderschönen Haut erkennen.“

Müller liegt wieder bäuchlings auf der Liege und merkt, wie der brennende Schmerz langsam nachlässt.

„Ich glaube, Sie können anfangen, Doktor und geben Sie mir bitte ‘ne Kiste von ihrem Schmerzmittel mit nach Hause. Das Zeug wirkt besser als jede Pille.“

„Tja, was soll ich sagen, Herr Müller, diese Medizin lindert nicht nur den Schmerz. Sie wird auch in der Neurologie angewendet und beruhigt das Gemüt.“

„Ich schätze, Ihre Schwester Engelhard nascht jeden Tag davon“, sagt Müller und merkt, wie sein Körper immer schwerer wird und ihm ein müder Schauer über den Rücken läuft.

„Auch wenn dem so wäre, Herr Müller“, sagt Doktor Schimanski belustigt, „würde hier kein Hahn danach krähen. Das ganze Krankenhauspersonal nimmt vor Dienstbeginn einen kräftigen Schluck aus der Pulle.“

„Das ist nicht ihr Ernst, Doc?“, brabbelt Müller schlaftrunken ins Leder der Liege.

„Ich sehe, Herr Müller, Sie glauben mir den Unsinn, dann können wir jetzt anfangen.“

Doktor Schimanski nimmt eine Schere, zerschneidet behutsam das T-Shirt und löst es langsam von der Haut. An einigen Stellen ist der blutige Stoff schon mit der frischen Kruste verwachsen und lässt sich nur mit derselben entfernen. Was zur Folge hat, dass die Wunden stellenweise wieder anfangen zu bluten. Doktor Schimanski säubert die Wunden mit Wasser und benutzt ein Desinfektionsmittel.

„Herr Müller, wann hatten Sie die letzte Tetanusimpfung?“

Die Stimme des Doktors hallt laut durch den kleinen Raum und quält sich in Müllers Hirnwindungen. Er war fast schon eingeschlafen.

„Ich erinnere mich nicht …, keine Ahnung.“

„Dann muss ich Sie bitten, ihren Gürtel zu öffnen, damit ich Ihre Hose etwas nach unten ziehen kann um die Spritze zu setzen.“

Müller fühlt sich viel zu träge und sagt:

„Jubel man durche Hose, Doc.“

„Herr Müller, das wäre unprofessionell und unhygienisch. Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter. Seien Sie bitte so gut.“

Müller schiebt missmutig seine Hand unter den Bauch bis er die Gürtelschnalle zu fassen kriegt und öffnet sie.

„Alles klar, Doc, Sie können mich anfixen.“

„Brav, Herr Müller“, lobt ihn Doktor Schimanski und zerrt an Müllers Jeans, bis er die Hälfte der rechten Arschbacke vor sich liegen hat.

„Es wird jetzt etwas pieken, Herr Müller.“

„Man zu. Immer man rein mit dem guten Cocktail, Herr Doktor.“

Von dem Stich merkt Müller nichts, und dass im selben Moment Schwester Engelhard den Raum betritt und wieder ihr: „Ach herrje“, vom Stapel lässt, lässt Müller kalt.

„So, Schwester Engelhard“, sagt der Doktor, „ich wäre dann soweit. Einmal bitte gelen und Verband anlegen.“

„Ja, Herr Doktor“, sagt Schwester Engelhard und macht sich beflissen daran, die dafür benötigten Materialien zusammenzusuchen.

„So, Herr Müller“, sagt Doktor Schimanski. Sie werden jetzt einen, so genannten nassen Verband bekommen, den Sie bitte alle zwei Tage, eine Woche lang, ambulant wechseln lassen und Sie werden erstmal eine Woche von mir auf Eis gelegt. Das heißt: Vorsichtige Bewegungen. Versuchen, nicht auf dem Rücken zu schlafen und damit sich die Wunden nicht entzünden, bekommen Sie von mir noch ein Rezept für ein Antibiotikum. Bitte nehmen Sie davon dreimal täglich, vor den Mahlzeiten, jeweils eine Tablette. Schwester Engelhard wird Sie jetzt weiter versorgen und ich kümmere mich um das Attest.“

Müller begibt sich benommen in die Sitzposition und lässt die Beine baumeln. Das T-Shirt wabbelt wie eine tote, blutige Tierhaut vor seiner Brust. Der Doktor hatte das Rückenteil nur bis rauf zum Nacken zerschnitten und den Rest heile gelassen und als Müller versucht, sich den blutigen Lappen vom Hals zu schaffen mischt sich Schwester Engelhard ein.

„Warten Sie, Herr Müller …, Ich helfe ihnen.“

„Ach herrje“, äfft Müller die Schwester nach und streckt ihr lächelnd beide Arme entgegen.

„Ihr Rücken sieht ja schlimm aus, Herr Müller“, sagt sie mitleidig, streift ihm kopfschüttelnd das T-Shirt von den Armen und schmeißt es, laut schnalzend, in den blanken Edelstahlmülleimer, der rechts neben der Liege auf dem grauen Linoleum-Fussboden steht.

„Ihre geisteskranke Raubkatze hat Sie aber sehr übel zugerichtet, Herr Müller. Haben Sie dem Tier denn nicht genug zu fressen gegeben?“

Müller muss lachen und denkt kurz darüber nach, ob er Schwester Engelhard weiter in dem Glauben lassen soll, dass er ein Tierpfleger im Zoo sei. Auf seiner Arbeitsjacke, über der linken Brusttasche, steht in großen Buchstaben auf einem Stoffschild: „Hinrich Brüggemeier, Heizung und Sanitär“. Die Schwester hätte schon längst im Flur stutzig werden müssen. Oder sie ist an Oberflächlichkeit nicht mehr zu überbieten. Oder einfach nur, wie Müller vermutet, dumm und Dummheit muss bestraft werden.

„Dazu bin ich erst gar nicht gekommen, Schwester Engelhard. Das Tier hat mich einfach so angefallen, ohne Vorwarnung.“

Schwester Engelhard zieht wieder ihre Ach-herrje-Kopfschüttel-Schnalz-Nummer durch und schmiert Müller ein kühles Heilgel auf die Wunde. Sie nimmt eine Mullbinde und wickelt sie von oben bis unten um Müllers Oberkörper.

„Ach, Sie kannten das Tier noch nicht?“, sagt Schwester Engelhard ernst.

„Nein, ich habe es erst heute kennengelernt.“

Schwester Engelhard pult ein Paar Zwickel aus einem kleinen Pappkarton und befestigt damit den Verband.

„Sie hätten die Raubkatze bestimmt erst lieb streicheln müssen, Herr Müller.“

„Das habe ich getan“, sagt Müller mit einem Blick auf seinen rechten Mittelfinger.

Am Schreibtisch sitzt Doktor Schimanski und hält sich an seinem Stofftaschentuch fest. Seine Brille liegt vor ihm auf der Platte. Müller merkt, dass es dem Doktor schwer fällt, nicht laut loszulachen.

„Dann haben Sie sie bestimmt an der falschen Stelle gestreichelt“, vermutet Schwester Engelhard. „Ich habe auch eine Katze zuhause und wenn ich beim Knuddeln aus Versehen an ihren Bauch komme kratzt sie mich und verschwindet unters Kanapee.“

„Meine würde nicht unter Ihr Kanapee passen“, sagt Müller.

„Um Gottes willen“, staunt Schwester Engelhard, „wie groß ist die Katze denn, Herr Müller?“

„Ungefähr so groß wie Sie.“

„Dann haben Sie aber Glück, dass Sie noch leben.“ Schwester Engelhart beendet ihre Arbeit und stellt das Verbandsmaterial wieder an seinen Platz.

Mit einem Blick zum Doktor sagt sie:

„So, Herr Doktor, der Patient wäre dann soweit.“

„Ist gut“, sagt Doktor Schimanski und reibt sich mit dem Taschentuch über die Augen.

Die Schwester verabschiedet sich von Müller und verlässt den Raum.

„Mussten Sie meiner Kollegin so einen Bären aufbinden, Herr Müller?“ Der Doktor schiebt die runde Brille wieder auf seine Nase und schaut Müller grinsend an. Er hält ihm das Attest entgegen. Müller rutscht von der Liege und nimmt es ihm ab.

„Ich konnte Ihrer Kollegin doch nicht die Wahrheit sagen. Es hat mich schon eine Menge Überwindung gekostet, Ihnen die Geschichte zu erzählen.“

Doktor Schimanski steht auf und gibt ihm die Hand.

„Herr Müller, wenn Sie wüssten, wie oft wir hier schon Verletzungen behandeln mussten, die durch abnormale Sexspielereien oder unsachgemäßen Gebrauch von diversen Sexspielzeugen hervorgerufen wurden, würden Sie mit den Ohren schlackern. Ihre Story ist dagegen, entschuldigen Sie, wenn ich das so sagen darf, pillepalle.“

„Danke, dass Sie mir Mut machen, Doktor“, sagt Müller. Er geht zum Kleiderständer, nimmt seine Arbeitsjacke vom Haken und zieht sie vorsichtig an. Das Attest steckt er in die Innentasche. Die Jacke lässt er offen.

„Auf Wiedersehen, Herr Müller.“

„Tschüss Doc, und danke für alles.“

„Keine Ursache, Herr Müller, und gute Besserung.“

Müller geht den weiten Flur entlang und findet auf Anhieb die Tür zum Wartezimmer. Das Betäubungsmittel lässt langsam nach und Müller spürt wieder ein leichtes Brennen auf dem Rücken. Christel sitzt jetzt auf einem anderen Stuhl und unterhält sich mit einem Mann in einem blauweißen Trainingsanzug. Der Mann hat einen kurzen dunklen Igelschnitt und einen leichten Silberblick.

„Hallo Rainer, ich bin hier!“, sagt Christel und winkt. „Das ist Roland, wir sind zusammen zur Schule gegangen.“

Roland hält Müller zum Gruß seine rechte Hand entgegen, oder, was davon noch übrig ist. An der Hand fehlen ihm der Daumen und der Zeigefinger. Die Stellen sind verknorpelt und rotviolett. Müller nimmt die drei Finger und muss prompt würgen.

„Entschuldige“, lügt Müller, „es liegt nicht an dir, ich hatte gestern einen schweren Tag und der heutige schlägt den von gestern noch um Längen.“

„Oh“, sagt Roland, „das tut mir leid. Ich dachte schon, du ekelst dich vor mir. Christel hat mir gerade erzählt, dass du einen Arbeitsunfall hattest.“

Müller schaut zu Christel und legt ein breites höhnisches Grinsen auf.

„Wenn man zu einer Vasektomie Arbeitsunfall sagt, dann ja.“

 

Müller kennt seine Schwester. So eine pikante Geschichte wie die seine würde sie niemals an die große Glocke hängen. Ihre Sicht von einer heilen perfekten Welt würde einen Knacks bekommen und sie völlig aus der Bahn werfen. Sie hätte eine Heidenangst davor, ihre Freunde zu verlieren. Christel spielt immer die Gutgelaunte und Hilfsbereite, die unerschütterlich ihr Ding durchzieht, ohne Wenn und Aber. So etwas wie Müllers blutiges Sexabenteuer zwischen Katzenscheiße und Rattenkadavern darf in ihrem Leben einfach nicht vorkommen. Müller weiß, dass Christel seine Art zu leben ablehnt und dass sie sich schon oft vor anderen Leuten wegen ihm schämte, und genau das ist es, was Müller zur Weißglut bringt und ihn antreibt, ihr bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor den Kopf zu stoßen. Ein winziger Racheakt für seine heftigen Hassgefühle und schmerzenden Eifersuchtsattacken, die ihm als kleiner Junge regelmäßig den Hals zu schnürten, wenn er mit ansehen musste, wie Christel verwöhnt wurde und er wegen jeder Kleinigkeit von seinem Alten Dresche bekam.

 

„Oh“, sagt Roland und wenn Christels Blicke töten könnten, würde Müller augenblicklich das Zeitliche segnen. „Ein Bekannter von mir hat sich auch die Samenleiter kappen lassen. Er sagt, dass hätte seine Ehe gerettet.“

„Bei mir ist das anders“, sagt Müller. „Ich bin Bigamist und will‘s unbedingt meinen acht Weibern ohne diese lästigen Lümmeltüten besorgen. Ich hatte immer schon Schwierigkeiten, welche in meiner Größe zu kriegen. Ich musste mir ständig welche übers Internet bestellen und da weiß man nie, wie lange die Post braucht bis man endlich wieder zwischen die sechzehn saftigen Schenkel seiner heißblütigen jungen Hühner kommt.“

Roland schaut Christel an und sagt:

„Reines Wunschdenken, oder?“

„Mit meinem Bruder gehen manchmal die Pferde durch. Das darfst du nicht so ernst nehmen.“

„Aber eine Vasektomie kann es auch nicht sein“, bemerkt Roland mit einem Nicken zu Müllers offen stehender Arbeitsjacke. „Bei einer Vasektomie bekommt man, glaube ich, nur zwei kleine Pflaster auf die Wunden geklebt und nicht den ganzen Oberkörper mit Mullbinden eingewickelt.“

„Okay, sagt Müller, „hast mich erwischt. Die Wahrheit ist, dass ich eben, während der Arbeit, Petting mit einer Kundin hatte und sie mir dabei mit ihren scharfen Fingernägeln den Rücken ramponiert hat.“

„So, so“, sagt Roland, Christel zugewannt, „und die Sonne geht im Westen auf?“

„Roland ist übrigens Tischler“, lenkt Christel ab.

„Ah …, da ist sie ja wieder“, denkt Müller. Und setzt sich neben Roland auf einen Stuhl.

„Roland ist selbstständig und baut Kletterburgen für Kinderspielplätze.“

„Donnerwetter“, sagt Müller.

Roland kratzt sich mit seinen drei Fingern am Oberschenkel. Die Tür unter der großen Uhr geht auf und der Mann, der eben noch einen blutigen Kopfverband hatte, betritt das Wartezimmer. Er wirft einen kurzen Blick in die Runde als würde er jemanden suchen, sagt leise:

„Fuck“, geht schnell an den Dreien vorbei und ist verschwunden. Links neben dem Eingang sitzt ein kleines Mädchen mit ihrer Mutter. Das Mädchen spielt mit einer Puppe und trällert dabei ein lustiges Kinderlied. Die Mutter liest Illustrierte.

 

Nach einer halben Stunde Smalltalk mit Roland sitzen Müller und Christel wieder im Auto und fahren Richtung Osnabrück.

„Sag mal, wieso machst du das immer?“ Christel setzt den Blinker und fährt auf die Autobahn. Sie streift dabei fast einen Sattelzug und bleibt hinter ihm. Müller dreht sich eine Bulls- Houle und drückt den Zigarettenanzünder rein.

„Was meinst du, Chris?“ Er öffnet die Seitenscheibe einen Spalt und bläst den Rauch durch den Schlitz.

„Du weißt genau was ich meine.“

Müller zieht den Aschenbecher raus, schnippt Asche rein und sagt:

„Überhol lieber mal den LKW, sonst sind wir morgen noch unterwegs.“

„Hat dich der Arzt krankgeschrieben?“

„Eine Woche.“

„Herrje, Hinrich wird dich noch rausschmeißen.“

„Jetzt fang du auch noch damit an.“

„Womit?“

„Mit diesem …, herrje, verdammt.“ Müller drückt die angerauchte Kippe in den Aschenbecher und schiebt ihn wieder ins Armaturenbrett.

„Was hast du denn gegen …, Herrje?“

„Vergiss es“, sagt Müller, flippt die CD von Bob Marley ins Radio, lehnt sich vorsichtig in den Sitz, macht die Augen zu und schläft ein.

 

„Rainer, wach auf, wir sind da!“ Christel hat einen Parkplatz direkt vor dem Haus gefunden. Dunkle Wolken schieben sich vor die Sonne und es fängt an zu regnen. Müller öffnet die Augen und hustet. Sein Mund füllt sich mit Schleim. Er öffnet die Beifahrertür und rotzt die Sauce auf den Bürgersteig.

„Du benimmst dich wie so ’n alter Penner“, sagt Christel. „Das ist richtig ekelig.“

„Mach dir nicht ins Hemd, Schwesterlein. Der Regen wird sich darum kümmern.“

Christel gibt Müller die Autoschlüssel und steigt aus dem Wagen.

„Dir ist nicht mehr zu helfen“, sagt sie. „Kommst du jetzt alleine klar?“

„Ja, kein Problem. Kannst jetzt die Fliege machen … und danke für alles.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

46. Kapitel: Gewitterwolken ziehen auf

 

In seiner Wohnung ist Müller wieder alleine. Der Regen platscht leise vor die Fenster und beschert ihm so ein warmes Gefühl von Geborgenheit. In der Hand hält er den zerknüllten Zettel mit der Nachricht für Lena. Sie muss zwischenzeitlich da gewesen sein. In krakeliger Schrift hat sie:

Ich hab ‘ne halbe Stunde auf dich gewartet, drunter geschrieben und einen bösen Smiley daneben gemalt. Müller kann’s nur recht sein. Er hofft, dass sie deswegen so sauer ist, dass sie sich mindestens einen Monat lang nicht mehr blicken lässt.

Er schmeißt den Zettel in den Mülleimer, nimmt sich ein Bier aus dem Kühlschrank, schnickt den Korken vom Hals und geht ins Wohnzimmer. Er stellt sich ans Fenster, schaut in den Regen und trinkt einen Schluck. Neben Auto-Mannes Schrottplatz, an einem Laternenpfahl, hängt ein Plakat vom AMG Osnabrück. Sie werben für das alljährliche Grasbahnrennen auf der Nahner Waldbahn.

 

Das letzte Mal war Müller da, als Wilhelm Duden und Egon Müller noch aktiv waren. Die Beiden schenkten sich nichts und meistens landete Wilhelm dabei im Lattenzaun und musste aufgeben. Sein Spitzname war: Lattenwilli. Müller mochte Willi. Willi war zäh und riskierte einiges. Er ließ nichts anbrennen und man konnte immer davon ausgehen, wenn Willi an der Startleine stand, flogen die Fetzen.

Egon und Willi waren wie Hund und Katze und das gefiel den Zuschauern und wenn Willi es mal schaffte, nicht in die Latten zu brettern, fuhr er meistens als erster durchs Ziel. Egon wurde irgendwann Speedway Weltmeister und war der erste Deutsche in dieser Sportart mit einem Weltmeistertitel in der Tasche. Müller mochte Egon nicht. Er war ihm zu eitel und zu arrogant; aber sein Handwerk auf der Rennstrecke verstand er wie kein anderer. Daran gab‘s nichts zu rütteln.

 

Müller setzt sich aufs Sofa und greift zum Telefon. Er wählt Hinrichs Nummer und wartet.

„Brüggemeier.“

„Hallo, Hinrich. Der Doc hat mir ‘ne Woche frei gegeben.“

„Scheiße“, sagt Hinrich. „Am liebsten möchte ich dich jetzt feuern.“

Müller nimmt noch einen Schluck Bier und sagt:

„Ich könnt’s dir nicht verübeln.“

„Weißt du, Müller, das liegt daran, dass ich dir nicht mehr vertrauen kann. Irgendwann hab ich hier ‘nen eifersüchtigen Typen vor der Tür stehen, weil du anstatt am Kessel an seiner Ehefrau rumgeschraubt hast.“

„Hinrich, wenn du meinst, du musst mich feuern, dann feuer mich.“

Langes Schweigen. Eine Spinne krabbelt über den Couchtisch bis zur Kante und seilt sich ab. Im Raum wird es dunkler. Im Westen zieht ein Unwetter auf und nimmt Kurs auf Osnabrück. Der Regen hat zugenommen und der Wind heult durch die Straße. Ein Blechmülleimer reißt aus der Verankerung und rollt scheppernd über die Fahrbahn. Ein Auto macht eine Vollbremsung und provoziert ein Hupkonzert.

Nach einer Weile meldet sich Hinrich wieder.

„Es liegt mir nichts daran, dir jetzt eine Moralpredigt zu halten, Rainer, du bist alt genug und musst wissen was du tust. Bring erstmal den Firmenwagen zurück, wenn du kannst. Schmeiß den Schlüssel in den Briefkasten und sieh zu, dass du gesund wirst. Ich werde dir noch eine Woche Urlaub oben drauf packen, falls der Arzt dir keine Verlängerung gibt.“

Müller wird stutzig.

„Was hast du vor, Hinrich?“

„Du zwingst mich dazu, ein Tabu zu brechen.“

„Was für ein Tabu?“

„Ich werde auf die Schnelle keinen Ersatz für dich finden und muss sehen, was der Sklavenmarkt her gibt. Ich wollte diese Scheiß Zeitarbeitsfirmen eigentlich nicht unterstützen, aber ich weiß nicht, wie ich sonst die ganze Arbeit schaffen soll.“

„Hinrich, ich wollte gar nicht, dass der Doc mir einen Gelben Schein verpasst und kleinere Sachen kann ich sicher erledigen.“

„Nee, Müller, du bleibst wo du bist. Ich schick dich doch nicht ohne Versicherung auf den Bau. Wenn du erwischt wirst oder was passiert kann ich den Laden dicht machen. Außerdem will ich, dass du darüber nachdenkst, ob du so weitermachen willst, oder nicht.“

„Hinrich, ich weiß, dass ich Scheiße gebaut habe. Aber die Schnalle ist mir ohne Vorwarnung an die Wäsche gegangen. Ich war praktisch machtlos.“

„Jetzt mach hier keinen auf Vergewaltigungsopfer, Müller. Du hattest deinen Schwanz nicht im Griff, das ist alles. Kannst froh sein, wenn die Alte es dabei belässt und nicht den Spieß umdreht und dir einen reinwürgt. Ich hoffe nur, dass sie nicht überall herumerzählt, dass die Leute von Firma Brüggemeier nichts anderes zu tun haben als ihre weibliche Kundschaft sexuell zu belästigen.“

„Jetzt mach aber mal ‘nen Punkt, Hinrich! Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine Frau belästigt, wenn die das nicht wollte! Ich lass mich hier nicht zum Sittenfiffi machen!“

„Ich mache dich auch nicht dazu, aber wie die Gesellschaft tickt, muss ich dir ja nicht sagen. George Michael haben sie vor ein paar Jahren mit offenem Hosenlatz im Park erwischt. Diese Schmach klebt noch bis heute an seinem Arsch.“

„Du hast mir vorgeworfen, dass ich meinen Schwanz nicht im Griff hätte.“

„Hast du ja auch nicht.“

„Jetzt will ich bloß noch eins wissen, Hinrich. Gibst du mir noch eine Chance, oder nicht?“

„Das hängt davon ab wie du dich entscheidest.“

„Wie?“

„Ob du so weitermachen willst, oder nicht.“

„Okay, Hinrich, ich hab verstanden“, sagt Müller. Hinrichs Misstrauen geht ihm schwer an die Nieren. Er hat ihm nie einen wirklichen Grund dazu geliefert. Dass sein alter Freund ihm eiskalt die Pistole auf die Brust setzt, macht ihn traurig und wütend zugleich. Müller ist drauf und dran der Sache ein Ende zu setzen. Aber eine innere Stimme sagt ihm: Erstmal alles sacken lassen, abwägen, und dann eine Entscheidung treffen.

„Alles klar, Müller?“

„Alles klar, Brüggemeier, und den Wagen stelle ich dir gleich auf den Hof.“

„Gut“, sagt Hinrich.

Müller legt auf und verschafft sich vorsichtig eine einigermaßen bequeme Sitzposition. Die Wunde schmerzt und der Verband lässt nur langsame Bewegungen zu. Müller dreht sich eine und gibt sich Feuer. Der Regen hat noch einen Zahn zugelegt und der Wind peitscht um die Dächer und rüttelt an den Fenstern. Unten krakelt eine Feuerwehr durch die Straße und taucht Müllers Wohnzimmer für einen kurzen Moment in ein blaues Licht. Neugierig geworden quält Müller sich vom Sofa und geht ans Fenster. Er schaut auf die Straße. Aus der Straße ist ein Flussbett geworden. Wassermassen schwappen über die Rinnsteine und verteilen sich auf die Gehwege. Die Gullis sind von Ästen und Blättern verstopft und haben längst kapituliert. Keller laufen voll. Verzweifelte Menschen rennen durch die Straßen, versuchen irgendwo Schutz zu finden. Vom Donner begleitete Blitze zucken aus den schwarzen Wolken auf die Erde. Hunde bellen. Eine Dachpfanne segelt am Fenster vorbei und zersplittert krachend auf dem Bürgersteig. Sirenengeheul und Blaulicht durchfluten die Stadt.

Müller überlegt, ob er sein altes Schlauchboot beim letzten Umzug mitgenommen hat.

„Wenn das der Weltuntergang ist“, brabbelt Müller leise vor sich hin, „ist das der richtige Zeitpunkt.“

Er kippt den letzten Rest Bier in sich rein und lässt die Flasche auf dem Fensterbrett stehen. Es ist viertel nach drei, als Müller sich auf sein altes Dreiersofa fletzt und einschläft.

Um achtzehn Uhr öffnet er die Augen. Das Telefon klingelt. Das Wetter hat sich beruhigt. Müller geht ran. Es ist Hannes.

„Moin, Rainer, hast du gepennt?“

„Moin, Hannes. Hatte noch ‘ne Mütze Schlaf nötig. Was gibt’s Neues?“

„Draußen ist Amageddon und du pennst …? Aus dir soll einer schlau werden.“

„Hannes, ich hab Druck auf dem Arsch. Ich muss Scheißen. Mach‘s kurz, oder ruf in einer halben Stunde nochmal an.“

„Du brauchst doch keine halbe Stunde zum Scheißen?“

„Doch. Manchmal schon. Ich muss jeden Fitzel los werden, sonst fühle ich mich nicht wohl.“

„Okay, dann geh Scheißen. Ich ruf dich gleich wieder an.“

„Bist’n Engel, Bliki. Bis denne.“

Müller legt auf. Er geht ins Bad, klappt den Lokusdeckel auf, zieht die Jeans runter und setzt sich. Als er fertig ist, drückt er den Knopf von der Spülung, wäscht sich die Hände und geht zurück ins Wohnzimmer.

Das Telefon klingelt abermals.

„Müller, wo bleibst du?“

Diesmal ist es Hinrich.

„Hatte kein Bock, durch die Hölle zu fahren.“ Müller klemmt sich das Telefon zwischen Schulter und Ohr, und dreht sich eine.

„Verstehe“, sagt Hinrich. „Wird das denn heute noch was?“

„Mach dir kein Kopp. Ich bring dir die Karre gleich noch vorbei“, sagt Müller und gibt sich Feuer.

„Alles klar“, sagt Hinrich und verabschiedet sich.

Hinrich klang schon etwas versöhnlicher am Telefon. Die Last auf Müllers Schultern wiegt nicht mehr ganz so schwer. Er geht in die Küche und holt sich das letzte Bier. Müller köpft die Flasche und setzt an. Die Schmerzen haben nachgelassen. Er merkt sie kaum noch. Draußen auf der Straße schrillt wieder eine Feuerwehr vorbei und löst bei einigen Menschen tot geglaubte Ängste aus. Schließlich hat der Engländer und seine Verbündeten Osnabrück im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche gelegt und so ein Unwetter weckt Erinnerungen.

Müller nimmt den Hörer vom Telefon und wählt Hannes‘ Nummer.

„Na, Rainer, ausgeschissen?“, Hannes lacht.

„Zehn Pfund ohne Knochen“, sagt Müller.

„Herzlichen Glückwunsch“, sagt Hannes.

„Ich hoffe du hast erfreuliche Nachrichten, Bliki.“

„Kann man wohl sagen. Mein Freund, Bodo hat es geschafft, an die Aussage dieses kleinen Spinners, Daniel Tiess, zu kommen.“

„Und, was hat er Harms für ‘ne Geschichte aufgetischt?“

„Er hat ausgesagt, dass sein Chef die Corvette beim Pokern von einem Luden gewonnen hätte. Das Auto gehörte dem Luden aber gar nicht, sondern eines seiner Pferdchen, und die wollte ihre Karre natürlich zurückhaben und ist zum Autohändler …“

Müller unterbricht Hannes an dieser Stelle.

„Das weiß ich alles schon, Hannes. Dante hat es mir gestern auf dem Weg zurück vom Supermarkt erzählt.“

„Ach und was hat er dir noch erzählt?“

„Das Manne ihr die Corvette nicht zurückgeben wollte und der Nutte den Vorschlag gemacht hat, stattdessen den alten Fiat Panda zu kaufen … Ach ja, dann hat er sie noch gefragt, ob sie ihm einen bläst und dann ist sie durchgedreht.“

„So, so“, sagt Hannes, „das hat er zwar nicht zu Protokoll gegeben, aber das sieht dem widerlichen Drecksack Linnert ähnlich. Kannst du mir noch mehr sagen, Rainer?“

„Nein. Das ist alles, was mir Dante erzählt hat.“

„Na gut“, sagt Hannes, „ich kann dir noch ein paar Dinge mehr sagen. Anscheinend hat Harms sich Linnert schon vorgeknöpft und ihm den Namen des Zuhälters aus den Rippen geleiert. Er heißt Richard Schmidt und ihm gehört der Puff am Bahnhof. Seine Freunde nennen ihn auch „Löwenherz“ weil er zwar seine Pferdchen gut im Griff hat, aber in menschlich sozialen Angelegenheiten für einen Luden ein viel zu weiches Herz besitzt.“

„Ich hab mich auch schon gewundert“, sagt Müller. „So ein Loddel aus dem Osten hätte dem fetten Schmierpans sicher nicht die Corvette gegeben. Verloren oder nicht. Linnert würde jetzt höchstens mit einem Strick um den Hals an seiner Werkstattdecke hängen und vor sich hin stinken.“

„Ah“, macht Hannes, „die aus dem Osten sind auch schon vorsichtiger geworden. Stetige Polizeipräsenz macht mürbe.“

„Hör auf zu labern, Hannes. Die schicken ihre Killer aus Moskau und waschen sich die Hände in Unschuld.“

„Das bestreite ich ja gar nicht. Aber Tatsache ist, dass das deutsche Klima träge und fett macht. Manche Ostluden sind schon lange hier und haben sich angepasst. Aber bevor wir abschweifen …, in dem Protokoll stehen auch ein paar Sachen über dich.“

„Und, was steht da?“, sagt Müller

„Dieser Dante hat ausgesagt, er hätte dich zwar am Fenster stehen sehen und dass er dich kennt, aber dass du mit der Sache nichts zu tun hast.“

„Also hab ich Harms jetzt von den Hacken?“

„Keine Ahnung was in diesem Arschloch vorgeht, Rainer, aber ich schätze schon. Sein nächstes Opfer wird sicher die rothaarige Prostituierte sein. Ich könnte mir vorstellen, dass du für ihn uninteressant geworden bist. Keine Angst, mein Freund, Bodo bleibt am Ball.“

„Ich würde deinem Spion gerne mal einen ausgeben.“

„Das lässt sich machen“, sagt Hannes. „Ein paar Kollegen, Bodo und ich, sind Samstag in der Altstadt unterwegs. Wir können uns da treffen.“

„Nee, lass mal, Hannes, ein Bulle reicht mir als Freund. Ich würde meinen schlechten Ruf aufs Spiel setzen, wenn ich mich mit einer Meute Sheriffs im Gepäck durch die Altstadtkneipen süffeln würde.“

„Wir sind doch auch nur Menschen“, sagt Hannes und lacht.

„Menschen …? Ihr seid kleinkarierte Unterdrücker. Spießer in Uniform mit der Lizenz, kleinen Jungs das Motorrollerfrisieren zu verleiden. Ihr seid die Menschen, die nach den verklemmten Pädagogen in der Schule dafür sorgen, dass bei den Kids jeglicher Sinn für Kreativität verloren geht. Ihr helft den Scheiß Politikern, ihr verlogenes Ding durchzuziehen. Ihr seid die Marionetten der Bonzen und Imperialisten. Die rechte Hand des Diktators. Menschen, die zur Polizei gehen, haben von Haus aus einen Nagel im Kopf.“

„Die alte Müllerleier“, sagt Hannes. „Langweilig. Wenn es uns nicht gäbe, würde hier jeder mit ‘ner scharfen Knarre rumlaufen und du Schisser müsstest dich den ganzen Tag im Keller verstecken und dich von Ratten und Mäusen ernähren.“

„Schisser …? Du Arschgeige. Ich hab dir damals in der Schule deinen kleinen Kneifarsch gerettet, als Heidenberger dich in der Mangel hatte und du Rotz und Wasser geheult und nach Mami geschrien hast.“

„Dafür werde ich dich auch irgendwann für das Bundesverdienstkreuz vorschlagen.“

„Du willst es nicht einsehen, Hannes, was? Mit eurem ganzen Scheiß autoritären Auftreten löst ihr nichts als Hassgefühle in der jungen Generation aus. Die einzigen, die euch die Stange halten, sind die Alten ab fünfundsiebzig. Als Kinder leicht am Krieg vorbeigeschrappt, Wirtschaftswunder, sichere Jobs, gute Bezahlung, Haus mit Garten, Auto, drei Kinder und die letzten, von euch Beamtenmaden mal abgesehen, die noch ihre volle Rente kriegen. Die alten Säcke glauben alles richtig gemacht zu haben und schimpfen auf die Jungen. Sie wollen nicht sehen, dass ihre Generation mit der Verschwendung angefangen hat. Sie hat den Kapitalismus in Deutschland eingeführt und einen Scheiß drum gegeben, was sie in Zukunft damit anrichtet. Ihnen geht es prächtig. Sie haben jeden Frühling das Geld dafür, ihre dämlichen Balkonkästen mit neuen Stiefmütterchen und Geranien zu bepflanzen. Sie können sich noch das Benzin für ihren Fuhrpark von Gartengeräten leisten, mit denen sie jeden Samstagmorgen durch ihre toten Gärten randalieren und den Malochern, die nur am Wochenende mal auspennen können, den letzten Nerv rauben. Genau diese Generation ist es, die euch braucht, Hannes. Ihr müsst ihre kleine heile Welt vor dem bösen schwarzen Mann beschützen, den sie selbst geschaffen hat. Die Reichen sind längst dabei ihre eigenen Armeen zu gründen und nabeln sich ab. Mit Security lässt sich heute ein Haufen Geld verdienen.“

„Mein Gott, Müller“, sagt Hannes, „wenn es die DDR noch gäbe, wärst du da bestens aufgehoben. Du hättest da mit deinem Geschwafel richtig Karriere machen können. Du wärst der Held der sozialistischen deutschen Arbeiterklasse geworden.“

„Da kann man mal wieder sehen“, sagt Müller, „dass du wieder nichts verstanden hast. Ich habe von kreativer Freiheit und Gerechtigkeit gesprochen und von der allgemein- beschissenen Kindererziehung, die sich wie ein roter Faden durch unzählige Generationen zieht. Zu Hause, in der Schule, in der Lehre. Immer wieder trichtern sie dir ihren Psychoschrott von wegen: Gehorche deinen Eltern, gehorche deinen Lehrern, gehorche deinem Meister, gehorche deinem Feldwebel, und so weiter ein. Du bist kaum aus Muttis Möse geflutscht, legen sie dir schon ihre Schraubzwingen an und pressen dich in ihre kranke Vorstellung von einer perfekten Gesellschaft. Ich glaube nicht, dass ich mit meiner Einstellung in der DDR ein Held geworden wäre. Mich hätte die Stasi in Berlin-Hohenschönhausen eingelocht und den Schlüssel weggeworfen. Ich wäre genau das Gegenteil von dem gewesen, was du mir vorwirfst … Übrigens …, ist die Scheiß-Kirche der schlimmste Haufen von allen.“

„Ich finde“, meint Hannes, „dass die Leute in der DDR sehr kreativ waren. Allein schon deshalb, weil es nichts gab. Die Ostmark war nichts wert. Die Leute haben das Meiste über den Tauschhandel organisiert. Die haben sich viele Sachen, die du hier an jeder Ecke kaufen kannst, selbst zusammengezimmert.“

„Das stimmt. Aber diese Art von Kreativität meine ich nicht. Ich meine die Kreativität, die sich frei entwickeln kann. Ohne den dicken Zeigefinger des ZK im Arsch. Frei seine Meinung sagen dürfen, ohne dass sie dir gleich mit dem Knast drohen oder heimlich deine Bude verwanzen.“

„Wanzen sind doch kalter Kaffee von gestern“, sagt Hannes. „Smartphone und Handys sind viel interessanter. Verwanzt wird nur noch ganz selten.“

„Siehst du, Hannes, die ganze Scheiße ist hier nicht viel anders gewesen. Wir konnten die halbe Welt bereisen, haben alles gierig gefressen, was der Ami uns vorgesetzt hat. Alle waren glücklich, hatten Jobs und Geld. Jungs fuhren mit ihren Bonanza-Fahrädern durch die Gegend und die Mädchen hatten ihre Barbypuppen. Im Fernsehen gab es für die Eltern Oma und Opa, den Blauen Bock und Peter Frankenfeld. „Einer wird gewinnen“ und nebenbei wurden wichtige Staatsämter an alte Nazigrößen verteilt. Der braune Gestank war immer noch da, aber keine Sau hat’s interessiert.“

„Was willst du mir eigentlich sagen, Müller?“

„Lass mich ausreden, du blauweißes Pferd mit Scheuklappen und Blaulicht als Hirn. Ich will dir sagen, dass wir in Westdeutschland auch unsere Spitzel hatten und dass sich das bis heute nicht geändert hat. Ganz im Gegenteil. Seit Kommune Eins und RAF geht in Deutschland die Angst um. Terroristen wo man geht und steht. Wer ist der Nächste? Die Glotze ist voll davon. Bin Laden haben die Amis dran gekriegt … Haben sie? Terrorismus wird immer als Vorwand genommen, um auf legale Weise auf den Datenschutz zu scheißen. Das deutsche Grundgesetz ist nichts mehr wert. Ist nur noch lästig. In der Stadt kannst du hingehen wo du willst. Überall glotzen dich diese beschissenen Kameras an.“

„Das ist zu deinem eigenen Schutz, du dämlicher Anarchist. Es hilft der Polizei bei der Verbrechensbekämpfung. Die Quote der Festnahmen nach einem Verbrechen ist dadurch erheblich gestiegen.“

„Quatsch keine Opern, Hannes. Ich glaube eher, dass die Dinger installiert wurden um zu sehen, welches Logo auf den Plastiktüten der vorbeigehenden Konsumenten gedruckt ist. Solche Daten sind viel wichtiger, als eure Quote. Falls es dir noch nicht aufgegangen ist, wir leben in einer vom Kapitalismus beherrschten Diktatur. Lies mal „MOMO“ das Buch von Michael Ende. Könnte sein, dass dir dann mal ein Licht aufgeht und du deinen Job an den Nagel hängst, Hannes! Frag dich mal, für wen du wirklich jeden Tag deinen weißen, pickeligen Arsch riskierst.“

„Du siehst das alles fiel zu schwarz, Rainer. Mit deiner Einstellung wirst du immer mehr zu einem verbitterten alten Stinksack der alleine in seiner verqualmten Bude hockt und die Schuld an seiner Misere der Gesellschaft ankreidet. Sogar wenn du vergisst, dir nach dem Scheißen den Arsch zu wischen, wirst du nicht in der Lage sein, die Schuld bei dir selbst zu suchen; und wenn du tot bist werden sie dich verbrennen und keine Sau wird sich mehr an dich erinnern.“

„Schön, dass du wenigstens das begriffen hast, mein uniformierter Freund“, sagt Müller. „ Genau von diesen Säuen habe ich gerade gesprochen. Nämlich, die die nichts sehen wollen und Angst davor haben, mal einen Blick über den Tellerrand zu werfen. Die die in einem Riesenbogen jeder Konfrontation aus dem Weg gehen. Ich frage mich, was sie tun würden, wenn ihnen der Staat nicht mal mehr das Nötigste zum Leben lässt?“

„Mein Gott“, Müller, „hör jetzt auf damit. Du kannst einem ja den ganzen Tag vermiesen. Dann bleib Samstag halt in deiner Bude hocken und halte Maulaffen feil.“

„Wo kriegt man die?“

„Wo kriegt man was?“

„Maulaffen!“

„Ach, leck‘ mich, Müller. Ich ruf‘ dich an, wenn‘s was Neues gibt.“

„Alles klar, Hannes, und danke für alles.“

„Keine Problem, du Spinner.“

Müller legt auf.

Draußen fängt es wieder an zu regnen. Unten, an den Bürgersteigen, gehen flackernd die Straßenlaternen an. Ein Mann ruft seinen Hund. Müller wechselt seine Garderobe, tritt das Arbeitszeug unters Sofa, schnappt sich die Autoschlüssel und geht runter zum Wagen. Er klemmt sich vorsichtig hinters Steuer und startet den Motor. Bob Marley singt was über einen Buffalo Soldier. Müller dreht lauter und fährt los. Die Straßen sind voll von Müll, Ästen, Blättern und Zweigen. Der Sturm hat zahlreiche Mülltonnen umgeworfen und den Inhalt in der ganzen Gegend verteilt.

„Die Stadtreinigung wird morgen alle Hände voll zu tun haben“, denkt Müller.

Müller biegt nach rechts in die Rehmstraße ab und fährt in Richtung Parkstraße. Er kreuzt die Parkstraße, fährt dreihundert Meter, setzt den Blinker links, und fährt auf den Schlosswall. Kurz vor der Kreuzung an der Stadthalle gerät Müller in einen Stau. Einige Autofahrer vor ihm haben ihre Fahrzeuge bereits verlassen. Sie stehen auf der Straße und bilden Gruppen. Blaues und gelbes Licht erhellt abwechselnd, in kurzen Intervallen, die dicken Stämme und Blätter der alten Eichen, die in der Mitte auf einem Grünstreifen stehen und beide Fahrbahnen voneinander trennen. Müller schiebt den Rückwärtsgang rein, wirft einen Blick in den Spiegel und muss feststellen, dass sein Plan nicht funktioniert. Hinter ihm reiht sich Auto an Auto. Neben ihm geht ein LKW in die Eisen und lässt mit einem lauten Furz die Luft aus den Bremsen. Nichts geht mehr. Müller sitzt fest. Er schaltet von CD auf Radio und stellt die Frequenz von OS-Radio ein.

Sie spielen gerade etwas von Rehana. Müller mag Rehana. Sie hatte, genau wie er, eine Scheiß Kindheit. Sowas verbindet. Der Unterschied ist nur, dass Rehana mit ihrer Musik Millionen scheffelt und im teuersten Champagner baden kann und Müller nur die Aussicht auf Altersarmut bleibt.

Immer mehr Menschen steigen aus ihren Autos. Einige spannen ihre Regenschirme auf und andere nehmen es in Kauf, nass zu werden. Sie zwängen sich durch die engen Gassen der Autoschlange nach vorne. Der Regen wird stärker. Zwei Polizisten in schwarzen, langen Regenmänteln versuchen, die neugierigen Gaffer dazu zu bewegen, zurück zu ihren Autos zu gehen. Kettensägen werden angerissen und es erübrigt sich die Frage, weshalb der Verkehr zum Erliegen gekommen ist. Ein Nachrichtensprecher von OS-Radio spricht von einer Jahrhundertflut. Die Hase sei an vielen Stellen über die Ufer getreten und hätte mehrere Straßenzüge unpassierbar gemacht. Ganze Stadtteile und stadtnahe Ortschaften wären überschwemmt und nur noch schwer zu erreichen. Der Sturm habe an vielen Stellen der Stadt Bäume entwurzelt und umgeschmissen. Im Stadtteil Fledder hätte es einige Fabriken und Lagerhallen erwischt und bei dreien hätte der Sturm, nur noch die Grundmauern stehen lassen. Über Verletzte oder Tote gäbe es noch keine Meldungen, sagt der Nachrichtensprecher.

Müller steckt sich eine Selbstgedrehte zwischen die Lippen, nimmt das Handy aus der Mittelkonsole und sucht Hinrichs Nummer aus dem Telefonbuch.

„Hi, ich bin’s“, sagt Müller.

„Was gibt’s?“, sagt Hinrich.

„Ich stecke fest.“

„Wo“, sagt Hinrich.

„Im Stau“, sagt Müller.

„Scheiße“, sagt Hinrich.

„Ich kann dir erst morgen früh die Karre bringen. Ich stehe auf dem Wall und ich vermute, vor mir räumen sie gerade eine umgestürzte Eiche von der Straße. Das kann dauern. Der Futzi von OS-Radio sagt, dass die Hase Probleme macht und dabei ist, die Stadt unter Wasser zu setzen. Wenn die Jungs da vorne fertig sind, werde ich umdrehen und wieder nach Hause fahren.“

„Alles klar, Rainer. Meinst du, du schaffst es bis sieben?“

„Ich werde mir Mühe geben.“

„Mit dieser Antwort kann ich nichts anfangen, Müller.“

„Mach dir nicht ins Hemd, Brüggemeier. Ich verspreche dir, dass ich morgen in aller Herrgottsfrühe auf deiner Matte stehen werde.“

„Übrigens habe ich eben noch mit dieser Mira telefoniert“, sagt Hinrich.

„Und?“

„Sie wollte deine Telefonnummer.“

„Meine Telefonnummer?! Du hast doch der Schlampe nicht etwa …?!“

„Nein, keine Panik.“

„Dann ist‘s ja gut. Hat sie sonst noch was gesagt?“

„Nichts über dich persönlich. Sie wollte wissen, weshalb du den Kessel nicht gereinigt hast. Ich habe versucht ihr zu erklären, das ihr Kessel die besten Zeiten gesehen hätte und er durch jahrelange Vernachlässigung bald den Löffel abgibt.“

„Und, hat sie’s gefressen?“

„Keine Ahnung. Ich soll ihr Prospekte schicken.“

„Alles klar, Hinrich, bis morgen.“

„Bis morgen.“

Müller legt das Handy zurück in die Mittelkonsole. Draußen donnert und blitzt es wieder. OS-Radio sagt, dass noch eine Gewitterfront im Anmarsch ist. Die Leute sollen im Haus bleiben und die Fenster schließen. Bis jetzt gibt es einen Schwer- und einen Leichtverletzten. Beide erlitten Kopfverletzungen durch herabfallende Dachziegel.

Müller hat genug gehört und wechselt wieder zu Bob Marley. Eigentlich war er noch nie ein großer Fan von Reggae-Musik. Und seitdem er mal einen Bericht über Jamaika im Fernsehen gesehen hat, noch weniger. Sie zeigten eine Reihe alter Männer, die den ganzen Tag vor ihren Hütten sitzen, Pot rauchen, vierzehnjährige Mädchen schwängern und sich dann einen Dreck darum scheren, was aus dem produzierten Nachwuchs in wird.

Müller schätzt Bob Marley anders ein und besitzt deshalb auch nur, von ihm eine CD. Ein Vorurteil, mit dem er gut leben kann.

Draußen blitzt und kracht es in einer Tour. Das Gewitter scheint nun direkt über der Stadt zu sein. Die Menschen, die eben noch ihre Fahrzeuge verlassen haben und neugierig zur Kreuzung marschiert sind rennen laut fluchend zurück. Der Lärm von Hagelkörnern auf kaltem Blech mischt sich zwischen ihr Geschrei. Heftige Windböen killen ihre Regenschirme. Drehen sie auf links, reißen sie aus ihren Händen. Neben Müllers Wagen gerät eine Frau ins Straucheln und schafft es, sich gerade noch so auf den Beinen zu halten. Die Kettensägen sind längst verstummt. Wasserfontänen klatschen gegen die Autoscheiben und machen eine klare Sicht unmöglich. Neben der Stadthalle reist ein Bauzaun aus der Verankerung und kracht schäppernd aufs Pflaster. Müller stellt den Scheibenwischer auf die höchste Stufe und muss feststellen, dass der Wischer für solche Wassermassen nicht konstruiert wurde. Der Sturm bläst den Werbeprospekt einer Supermarktkette gegen die nasse Windschutzscheibe. Er drängt sich Müller für einen kurzen Augenblick mit seinen Billigangeboten auf, bevor die windige Hand ihn wieder mit sich reißt, um sich ein neues Opfer zu suchen.

„Nicht mal, wenn die Welt am Abkacken ist, lassen sie dich mit ihrem Scheiß in Ruhe“, denkt Müller.

 

Als zehnjähriger Junge hatte Müller mal während eines Sturms Milch holen müssen. Seine Mutter drückte ihm die Milchkanne und das Geld in die Hand und schickte ihn vor die Tür.

Der Wind war so stark, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Müller schaffte es bis zum Laden, ließ die Kanne füllen, bezahlte, nahm das Wechselgeld und machte sich wieder auf den Rückweg. Er war kaum hundert Meter gegangen, als eine Windböe von hinten gegen seine Beine drückte und ihn zu Boden riss. Die Milchkanne flog im hohen Bogen durch die Luft und knallte auf die Straße. Der Deckel löste sich und die Milch floss durch den Rinnstein in den nächsten Gulli. Müller fing an zu weinen, denn er wusste, was ihm blüht, wenn er ohne Milch nach Hause kommen würde. Er rappelte sich wieder hoch, schnappte sich die leere Milchkanne, suchte sich schnell ein ruhigeres Plätzchen in einem Hauseingang und überlegte, wie er es seiner Mutter beibringen soll, dass der Wind, und nicht er, schuld an der vergossenen Milch war. Aber wie der kleine Müller es auch drehte, es lief immer aufs Gleiche raus. Seine Mutter würde es abends dem Alten erzählen und der Alte hätte wieder einen Grund, die Pferdepeitsche aus der Ecke zu holen.

In seinen Taschen fand er noch, außer dem Wechselgeld, zehn Pfennig. Zu wenig für eine neue Füllung. Das Wechselgeld durfte er auf keinen Fall anrühren. Das würde auffallen. Nach langem hin und her und aus purer Not, faste er den Entschluss, zurück zum Laden zu gehen, um den Ladenbesitzer zu fragen, ob er ihm die Milchkanne ausnahmsweise mal umsonst füllen würde.

Müller schluchzte und weinte, als er dem Kaufmann seine Geschichte erzählte. Der nette Kaufmann fackelte nicht lange als er von ihm hörte, dass sein Vater ihn verprügeln würde wenn er ohne Milch nach Hause käme. Er nahm Müller die Kanne aus der Hand, füllte sie gratis und gab ihm noch einen leckeren Schokoriegel dazu. Der kleine Müller bedankte sich herzlich bei dem netten Kaufmann und schaffte es beim zweiten Anlauf ohne Unterbrechung bis vor die Haustür.

Müllers Mutter entdeckte an dem Abend, als sie dabei war, seine Jacke über einen Kleiderbügel zu hängen, das zerfledderte Schokoriegelpapier. Sie warf ihm vor, den Riegel geklaut zu haben und erzählte es beim Abendbrot dem Alten. Der Alte verpasste dem kleinen Müller an diesem Abend die doppelte Ladung. Die erste gab es wegen der angeblichen Klauerei, die zweite, weil er sich hat von seiner Mutter erwischen lassen.

Seine Schwester Christel war nicht da. Sie durfte über Nacht bei ihrer besten Freundin bleiben.

 

Nach circa zwanzig Minuten beruhigt sich das Wetter wieder. Der Regen und der Wind ebben langsam ab. Die Wolken brechen auf. Bringen es sogar fertig, dass Müller einen kurzen Blick auf den hellen Mond werfen kann. Vereinzeltes Donnergrollen ist nur noch aus der Ferne zu hören. Die Kettensägen werden wieder in Gang gesetzt und quälen sich durch das tote Gehölz. Es ist zwanzig Uhr zwanzig und es ist längst noch nicht in Sicht, wann die Polizei die Straße wieder frei geben wird. Müller bekommt Hunger. Er hat, seit er am Morgen den Rinnstein mit Ottos ranzigem Sahnehering gefüttert hat, nichts Vernünftiges mehr gegessen. Müller drückt auf die Taste für den automatischen Fensterheber und versenkt die Seitenscheibe in die Fahrertür. Ein Schwall frischer, kühler Luft durchflutet den Wagen und bringt den Duft von nassem Gras und frisch geschnittenem Holz mit. Müller dreht sich eine und hält den Zigarettenanzünder an die Spitze. Rauchen war schon immer das beste Mittel gegen Hunger. Als er den Zigarettenanzünder von der Spitze nimmt, bleibt ein Teil der Glut im Anzünder hängen. Ein anderer macht sich auf den Weg nach unten, landet zwischen seinen Beinen und brennt sich durch die Jeans.

Scheiße!“, schreit Müller, stemmt sich aus dem Sitz und wischt die Glut hektisch vom Polster in den Fußraum, wo sie langsam zwischen Gaspedal und Bremse ihre Energie verliert und erlischt.

„Na …, was haben wir den hier für ein Problem?“

Müller hat den Polizisten in der Hektik nicht kommen sehen. Er trägt wie die anderen Cops, einen langen, schwarzen Regenmantel mit einer phosphoriszierenden Weste drüber. Auf der Weste steht in großen weißen Buchstaben „POLIZEI“.

„Na wenn das kein Zufall ist“, sagt der Polyp, „kennen wir uns nicht?“

Müller schaut genauer hin.

„Nicht dass ich wüsste.“

Der Polyp geht ein wenig in die Hocke, um besser sehen zu können. Er knipst seine Taschenlampe an und fuchtelt damit in Müllers Gesicht rum.

„Sie sind doch der Typ, den Kollege Harms vorletzten Samstag wegen der Geschichte mit dem Autohändler am Kanthaken hatte?“

„Würden sie bitte Ihre Taschenlampe aus meinem Gesicht nehmen.“

Müller spürt wieder die Gallensäfte in sich aufsteigen. Dieser Tag hat schon beschissen angefangen und als wenn das noch nicht reichen würde, kommt ihm jetzt auch noch dieser arrogante Bulle in die Quere und kotzt ihm seine verkackte Bullenart aufs Gemüt. Müller hat ihn längst an seinem Gesicht erkannt. Es ist Kerber. Einer von den zwei Gesetzeshütern in Uniform, mit denen Harms vorletztes Wochenende ungebeten in seine Wohnung eingedrungen war und gegen Artikel eins des deutschen Grundgesetzes verstoßen hat. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Müller fühlt sich mal wieder bestätigt in seiner Gewissheit, dass es in den deutschen Polizeischulen von schizophrenen Psychopaten, die dort ihr krankes Selbstbewusstsein mit einer Prise autoritärer Arroganz würzen, nur so wimmelt.

Kerber nimmt die Taschenlampe aus Müllers Gesicht, holt eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und bietet Müller eine an. „Hier“, sagt Kerber, „als kleine Wiedergutmachung.“

„Für was?“, fragt Müller erstaunt.

„Sagen wir’s mal so“, sagt Kerber. „Ich bin nicht gerade ein großer Fan von Harms und seinen Methoden.“

Müller bedankt sich, steckt sich Kerbers Geschenk zwischen die Lippen und lässt sich Feuer geben. Sein Misstrauen bleibt. „Wann geht’s denn weiter?“, sagt Müller.

„Wenn das Wetter so bleibt, ungefähr in einer Stunde“, meint Kerber.

„Das ist mal ein Wort“, sagt Müller. „Was ist denn los da vorne?“

Kerber drückt seine ausgebrannte Kippe mit dem Schuh auf den nassen Asphalt.

„Der Sturm hat zwei alte Eichen auf die Kreuzung geworfen. Die Feuerwehr und das THW sind grade dabei, die Sauerei zu beseitigen.“

Kerber rückt sich seinen Regenmantel zurecht.

„So“, sagt er, „ich muss mal wieder an die Arbeit … Gaffer scheuchen.“

„Yup“, sagt Müller und hält zum Gruß die Hand an die Stirn.

Kerber lächelt und verschwindet in der Dunkelheit.

Müller schließt das Seitenfenster wieder und lümmelt sich in den Sitz. Kerber hatte recht, nach nicht ganz einer Stunde löst sich der Stau auf und Müller kann sich wieder auf den Weg machen. Er wendet das Auto an der Kreuzung und fährt Richtung Heimat. Er steuert die nächste Tankstelle an und ersteht eine Tüte Kartoffelchips, einen Sixpack und einen Beutel Bulls Houle. Müller findet einen Parkplatz und ist schnell wieder in seinen vier Wänden. Er reißt den Sixpack auf, nimmt sich eine Flasche raus und verstaut den Rest im Kühlschrank. Er setzt sich aufs Sofa, schmeißt die Glotze an, dreht sich eine und fletzt sich in die Kissen. Das Erste bringt eine Wahlwerbesendung von der FDP. Am kommenden Sonntag ist die Bundestagswahl. Müller ist der typische Nichtwähler. Frei nach dem Motto: Egal welche von den großen Volksparteien das Rennen macht, es ändert sich eh nichts. Müller würde sich freuen, wenn die FDP unter die Fünf Prozent bleiben und aus dem Bundestag fliegen würde. Seit Genscher Kanzler Schmidt verraten hat und zur CDU wechselte, hat die FDP bei ihm verschissen. Am Anfang mochte Müller die Grünen ganz gerne. Aber, als sie es in Ordnung fanden, die Bundeswehr in irgendwelche Kriegsgebiete zu schicken, hatte sich auch das für ihn erledigt. Jetzt gibt es für Müller keine Alterbnative mehr. Die Piraten hängen ihm zu viel am Laptop rum und wechseln zu oft ihre Spitzenleute. Was auf ihren Wahlplakaten steht kann Müller unterschreiben, hat aber irgendwie keinen Dampf. So als würden sie sagen:

„Wir haben zwar keinen Bock, aber irgendwas müssen wir ja machen. Es gibt ja immer noch Leute, die uns mögen. So ‘n Scheiß auch.“

Gesetzt dem Fall, Müller würde am Wahlsonntag den Arsch hochkriegen und den Weg ins Wahllokal finden. Dann würde er aus reiner Verzweiflung die Linke wählen und sich am Ende schlecht fühlen. Also lässt er das Ganze lieber bleiben und kümmert sich nicht weiter drum.

Im Zweiten läuft eine Talkshow. Es geht mal wieder um die neue Armut und soziale Ungerechtigkeit in Deutschland. Satt und feist, sitzen sie mit ihren Maßanzügen aus Seide und teuren Designerklamotten hinter einem langen Tisch und urteilen über Menschen, die nachts nicht schlafen können. Die jeden Tag darüber nachdenken müssen, wie sie einigermaßen glimpflich über den Monat kommen oder über den Tag. Menschen, die wissen wie es ist, vom Flaschenpfand zu leben. Menschen, die der unverschämten Willkür der Sachbearbeiter im Jobcenter ausgeliefert sind. Menschen, die sinnlose Maßnahmen wie „Gemüseschneiden, aber richtig“ über sich ergehen lassen müssen. Die schon zum sechsten Mal den zwei Wochen dauernden Kurs: Bewerbung schreiben und bewerben, hinter sich haben. Menschen, die jeden Tag den vollgefressenen Stiefel vom Staat im Arschloch stecken haben, systematisch in die Enge getrieben werden und längst ihr Selbstwertgefühl im Dschungel der gesellschaftlichen Vorurteile verloren haben. Vom Staat geschaffene Psychowracks, denen die freie Wirtschaft nur noch ihren fetten Stinkefinger zeigt. Chancenlose Opfer des asozialen Kapitalismus.

„Wie können Menschen über die neue Armut in Deutschland diskutieren“, fragt sich Müller, „die immer satt zu essen hatten? Die neuesten Klamotten am Arsch haben? Nie frieren mussten, weil sie die überteuerte Stromrechnung nicht bezahlen konnten und ihnen deswegen der skrupellose Energiekonzern im tiefsten Winter den Strom abgestellt hat? Die das Glück einer halbwegs intakten Familie hatten? Für die der Weg durch die Schulen bis zum Studium keine Frage war? Menschen, die mehr über Korruption wissen, als jeder andere? Menschen, die jeden Monat, so nebenbei, mal eben auf halbwegs legale Weise zwölftausend Euro einstreichen oder mehr?“

Müller kriegt das Kotzen und zappt weiter. Die privaten Sender übergeht er nach wie vor. Auf Drei-Sat zerlegt gerade ein Literaturkritiker den Roman eines jungen neuen Schriftstellers. Er nimmt sich dabei sehr wichtig und benutzt in jedem Satz mindestens drei Fremdwörter. Wie ein Fluss aus fauligem Gold blubbern ihm die Bosheiten aus seinem toten Maul. Widerlich. Müller fragt sich, ob das arrogante Arschloch im Stande ist, selbst ein Buch zu schreiben? Eins, dass nicht schon nach dem ersten Satz nur noch als Brandbeschleuniger für den Ofen taugt. Er versucht ARTE und wird prompt in eine Schießerei verwickelt. Wallander hockt hinter einer rostigen Stanzmaschine in einer alten ausgedienten Fabrikhalle und feuert was das Zeug hält. Ihm gegenüber, in etwa zehn Metern Entfernung, hinter einer dicken Betonsäule, steht sein Gegner und wechselt gerade das Magazin. Im Gegensatz zu dem Gangster hat der stets depressive und von Selbstmordgedanken geplagte Kommissar aus Schweden nur noch drei Patronen in der Knarre.

Müller stellt die Glotze aus. Er weiß, dass Wallanders letzte Kugel, das Aus für den Arsch seines Gegenübers bedeutet. Er reißt die Tüte mit den Kartoffelchips auf, steckt sich eine Hand voll in den Mund und trinkt den Rest Bier aus der Flasche dazu. Draußen ist es ruhig geworden. Das Unwetter ist weitergezogen und randaliert woanders. Müller ist müde. Er zieht sich bis auf die Unterhose aus, stellt den Wecker auf sechs und legt sich ins Bett. Der Verband von Schwester Engelhard spannt etwas. Er wird ihn morgen abnehmen und in die Mülltonne schmeißen.

 

Um halb sieben steigt Müller ins Auto und fährt los. Er hatte sich vorweg zwei Tassen Kaffee genehmigt, den Verband entsorgt und geduscht. Die tiefen Kratzer auf seinem Rücken fangen wieder leicht an zu brennen und erinnern ihn an Doktor Schimanskis Therapieanweisungen. Müller hat damit gerechnet und in weiser Voraussicht ein schwarzes T-Shirt angezogen, damit es keine sichtbaren Blutflecken gibt. Er fährt dieselbe Strecke wie am Abend zuvor. Es ist kühl geworden. Die Kreuzung an der Stadthalle ist in Richtung Hasetor-Bahnhof immer noch gesperrt. Er ist gezwungen, nach rechts über den Neumarkt zu fahren und in Richtung Berliner Platz. Hier und da fährt er an kleineren Ansammlungen von in orangefarbenen Arbeitsanzügen gepressten Malochern der Stadtreinigung vorbei. Selbst nach einer solchen Katastrophe lassen sie an ihrer Arbeitsmoral keine Zweifel aufkommen. Fünf stehen rum und einer hält den Besen fest. Müller hatte schon mal ernsthaft darüber nachgedacht, sich dort zu bewerben. Aber den ganzen Tag nur Eier schaukeln ist nicht sein Ding. Nichts tun kann manchmal anstrengender sein, als wochenlang mit dem Presslufthammer die alte Schlacke aus einem vierzig Grad heißen Hochofen zu stemmen.

Auf Höhe Berliner Platz rappelt das Handy durch die Mittelkonsole. Müller geht, ohne einen Blick aufs Display zu werfen, dran. Es gibt nur den einen, der um diese Zeit schon Flöhe im Arsch hat.

„Moin Hinrich.“

„Moin Rainer. Wie sieht’s aus, kann ich gleich mit dir rechnen?“

„Hab grad den Berliner Platz gekreuzt. Wenn nichts dazwischen kommt, bin ich in zehn Minuten da. Und häng dein Scheiß Misstrauen mal an den Haken.“

„So war das nicht gemeint“, sagt Hinrich beleidigt. „Hätte ja sein können, dass die Straßen immer noch dicht sind.“

„Ja, ja“, sagt Müller und beendet das Telefonat. Hinrich geht ihm in der letzten Zeit immer häufiger auf die Nerven. Aus seinem alten Freund Hinrich aus der Lehrzeit wird langsam sein Chef Herr Brüggemeier. Wenn er sich ihm gegenüber weiter so großspurig benehmen sollte wird er ihn am Ende noch siezen müssen. Eine Entwicklung, die er auf die Dauer nicht akzeptieren kann. Müller erwischt sich immer häufiger bei dem Gedanken zu kündigen. Um sechs Uhr fünfundvierzig erreicht er die Firma und stellt den Wagen auf den Hof. Er wirft den Schlüssel und die Krankmeldung in den Briefkasten und macht, dass er da weg kommt. Für die nächsten zwei Wochen wird Müller Firma Brüggemeier aus seinen Gedanken und aus seinem Leben streichen. Er geht zur nächsten Bushaltestelle, erwischt die Einunddreißig Atterfeld und ist schnell wieder zu Hause.

Das Telefon klingelt. Müller zieht den Stecker aus der Buchse und legt sich aufs Sofa.

„Ich sollte das Scheißding aus dem Fenster werfen“, denkt er und schläft ein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

47. Kapitel: Der Brief

 

Gegen acht klopft es an der Tür. Müller öffnet die Augen und ruft:

„Wer’s auch ist, ich bin nicht da!“

„Herr Müller, ich bin‘s, Herta, ihre Nachbarin.“

Müller rappelt sich wiederwillig auf die Füße, geht zur Tür und öffnet sie.

„Was gibt es denn, Frau Gruber?“

Herta hält ihm einen weißen Briefumschlag entgegen und sagt: „Entschuldigen Sie, wenn ich störe, aber hier war eben so ein komischer Mann. Der hat mir diesen Brief für Sie gegeben.“

„Was für ein komischer Mann?“, fragt Müller verdutzt. Der Schlaf steckt ihm noch in den Knochen.

„Mir war der sehr unsympathisch“, sagt Herta und verzieht das Gesicht.

„Wie sah der Mann denn aus, Frau Gruber?“

„Der hatte eine Glatze und so eine Militärhose an. Ach ja – das hätte ich fast vergessen. Er sagte noch, ich soll Ihnen sagen, mit freundlichem Gruß vom Professor. Sie wüssten dann schon Bescheid.“ Herta schaut Müller an, als würden ihr tausend Fragen auf der Seele brennen.

Ah …, der Professor“, sagt Müller mit einer gespielten Gewissheit. „Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt, Frau Gruber.“

Er nimmt ihr den Brief aus der Hand, bedankt sich und schließt die Tür. Durch die Tür hört Müller noch wie Herta sagt:

„Sie kennen aber komische Leute, Herr Müller. Da bekommt man ja Angst.“

Müller kann Herta gut verstehen und legt den Brief erstmal auf den Couchtisch. Ihm ist auch nicht wohl bei der Sache. Er geht in die Küche, reißt eine Dose Eierravioli auf, kippt den Inhalt in einen Topf und stellt ihn auf die heiße Herdplatte. Während er mit einem Holzlöffel die Ravioli rührt, überlegt er sich den nächsten Schritt in Sachen Fierer. Zweifellos hat Fierer eine Horde Skins um sich geschart und benutzt sie für seine Drecksarbeit. Hertas Beschreibung von dem mysteriösen Briefboten lässt da keine Fragen offen. Die Ravioli fangen an zu blubbern. Müller schiebt den Topf vom Herd, dreht den Schalter auf Null, nimmt sich einen Löffel, steckt ihn in die rote Pampe und geht damit ins Wohnzimmer. Er setzt sich aufs Sofa, legt sich ein Kissen auf die Beine, stellt den Topf drauf und schaufelt sich eine Ladung in den Mund und während er sich die Geschmacksnerven mit dem italienischen Nationalgericht „Made in Germany“ ramponiert, lässt er den Brief nicht aus den Augen. Ein Plan reift in seinem Kopf. Er wird den Brief nicht sofort öffnen. Er wird Hannes anrufen und ihn bitten, noch heute zu kommen. Er wird ihm die ganze Geschichte erzählen und mit ihm zusammen den Brief öffnen. Hannes wird wissen, was zu tun ist. Müller steckt sich den Löffel mit den letzten zwei Raviolis in den Mund, bringt den leeren Topf in die Küche und nimmt gleichzeitig eine kalte Flasche Bier mit zurück. Er setzt sich wieder, reißt das neue Päckchen Bulls-Houle auf, dreht sich eine, gibt sich Feuer und inhaliert sehr tief. Er hebelt mit dem Feuerzeug den Kronkorken von der Bierflasche und genehmigt sich einen Schluck. Dann schiebt er den Stecker vom Telefon wieder in die Buchse, nimmt den Hörer ab, hält ihn sich ans Ohr, wartet, bis er ein Freizeichen hat und wählt Hannes‘ Nummer. Am anderen Ende meldet sich Hannes‘ Anrufbeantworter. Müller wartet den Piepton ab und legt los.

„Moin, Hannes. Wenn du meine Nachricht hörst, ruf mich bitte sofort an. Wir müssen uns heute noch treffen. Ich muss dir was zeigen. Es ist wirklich wichtig und kann nicht warten.“

Müller legt den Hörer wieder auf die Gabel, steht auf und geht im Zimmer auf und ab. Der Brief lässt ihm keine Ruhe. Er stellt sich die Frage, was der alte Drecksack von ihm will? Eins ist sicher. Fierer scheint der Arsch auf Grundeis zu gehen. Sonst würde er nicht seine kahlköpfigen Schergen aktivieren und damit das Risiko eingehen, mit ihnen in Verbindung gebracht zu werden. Der eiskalte Mord an dem kleinen Judenjungen wird das einzige Beweismittel sein, um den runzligen Arsch des gewissenlosen alten Nazis auf Lebenszeit außer Gefecht zu setzen. Auch wenn ihm krankheits- oder altersbedingt der Knast erspart bleiben würde, so stände doch sein Name fett in allen Zeitungen und sein bequem eingerichtetes Leben inkognito, wäre beim Teufel.

„Scheiße“, denkt Müller, „in was hab ich mich da wieder reingeritten?“

In den letzten eineinhalb Wochen ging es bei ihm zu, wie auf einer Achterbahn kurz vor dem Kollaps: Die Sache mit Harms, Lena, das alte Rückenleiden, Dante, die peinliche Latte beim Doc, der widerliche Busfahrer, die pissblonde Schnalle, die ihn am Sonntag auf dem Weg zum Imbiss fast über den Haufen gefahren hätte, der völlig überarbeitete Hinrich, der stinkende Wolle, die Scheiße mit der durchgeknallten Bhagwanhexe. Es nimmt kein Ende. Und jetzt noch diesen skrupellosen fünfundneunzigjährigen Altnazi an der Backe, der ohne mit der Wimper zu zucken kleine Kinder erschießt. Bei Erwachsenen wird seine Hemmschwelle noch geringer sein. Wenn überhaupt eine existiert.

Müller holt sich ein weiteres Bier, köpft es und setzt sich wieder aufs Sofa. Es ist halb neun am Morgen. Er denkt an Flucht. Ab in den Flieger und zwei Wochen weg. Sonne, Strand und coole Drinks und bloß keine Weiber. Einfach nur alles für eine Weile hinter sich lassen und entspannen. An nichts denken. Durch Christel würde die Reise sogar günstiger werden. Sie hatte ihm schon öfters ihre Privilegien angeboten und in dieser Richtung Vorschläge gemacht.

Müller greift zum Telefon und wählt Christels Nummer.

„Hier Christel. Wer da?“

„Ich bin’s nur und erschreck nicht gleich, es geht mir gut und ich bin nicht besoffen.“

„Ob du’s glaubst oder nicht. Ich habe grade an dich gedacht, Bruderherz. Was ist es denn diesmal?“

„Ich hab die Scheiße hier satt und hab mir überlegt, für ein paar Tage die Stadt zu verlassen.“

„Und deine Wunde?“, sagt Christel. „Du musst dich doch sicher schonen?“

„Würdest du mir etwas Günstiges suchen, wenn du gleich im Reisebüro bist?“

„Und deine Wunde?“

Und deine Wunde und deine Wunde … Mach mich nicht wahnsinnig … Dann such mir halt etwas mit einem Doc in der Nähe!“

„Du könntest ruhig mal bitte sagen“, beschwert sich Christel.

Bitte!“

„War das denn so schwer, Brüderchen? An was dachtest du denn?“

„Mir fehlt im Moment der Weitblick. Ich muss meinen Kopf frei kriegen. Ich glaube eine Insel mit allem Kitsch, wie romantische Sonnenuntergänge und so, wäre gut.“

„Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung“, sagt Christel.

„Was soll der blöde Spruch denn jetzt?“

„Weil du eingesehen hast, dass dir der Weitblick fehlt.“

„Kack mir jetzt bloß nicht vor den Kopp, Chris. Meine Nerven liegen eh schon blank. Ich kann mir auch selbst was suchen.“

Müller nimmt seinen Tabak und fängt an zu kurbeln.

„Ist ja schon gut. Dreh mal nicht gleich durch“, sagt Christel beleidigt.

Müller gibt sich Feuer.

„Also …, machst du es, oder nicht?“

„Ich rufe dich in einer Stunde zurück … Okay?“

„Danke“, sagt Müller und legt auf.

Er wird sich bei der nächsten Katastrophe sehr genau überlegen, ob er seine Schwester um Hilfe bitten wird. Ihre spießigen Ansichten über Anstand und Moral und ihre angelesenen Lebensweisheiten verpackt in einem Redeschwall aus Vorhaltungen kann auf die Dauer kein Mensch ertragen.

Müller wirft die halb angerauchte Zigarette in den Ascher, macht sich’s bequem und versucht wieder einzuschlafen. Die zwei Biere, die er in knapp einer halben Stunde gekillt hat, zeigen Wirkung. Müller fängt an zu schnarchen.

Um zehn wird er vom Telefon geweckt. Es ist Christel.

„Und?“, sagt Müller.

Christel kommt sofort zur Sache.

„Hör zu, Rainer. Ich habe mir alle Angebote angesehen, die für dich in Frage kämen. Im Moment sieht es schlecht aus.“

„Wieso … hast du nichts?“

„Lass mich ausreden, Brüderchen. Ich habe meine Beziehungen spielen lassen und könnte dir eine Ferienwohnung auf Amrum anbieten. Allerdings nur bis kommenden Sonntag.“

„Das reicht“, sagt Müller. „Ab wann und wie teuer?“

„Ab Morgen und weil ich es bin … Null Euro!“

„Wie …?“, staunt Müller, „Alles umsonst?“

„Ich kenne die Besitzerin sehr gut. Sie hat mehrere Objekte auf der ganzen Insel verteilt und arbeitet schon seit zwanzig Jahren mit unserem Reisebüro zusammen. Sie ist übrigens Allgemeinmedizinerin und besitzt eine Praxis auf der Insel, in Wittdün. Da müsstest du dir auch den Schlüssel abholen.“

„Das hast du ja mal wieder gefickt eingeschädelt, Schwesterlein. Der Doc gleich nebenan. Warum nicht gleich ein beschissenes Kurhotel?“

„Du wirst es nicht glauben, aber daran habe ich auch gedacht. Gab aber leider nichts in deiner Preisklasse“, sagt Christel. Müller hört sie am anderen Ende kichern.

„Haha. Bevor dir gleich einer abgeht, sag mir lieber, wie ich auf die Insel komme und in welchen der Käffer die Ferienwohnung ist.“

„Sei doch nicht gleich beleidigt, Bruderherz. Es ist ganz einfach. Du fährst mit dem Zug nach Hamburg. In Hamburg steigst du um und nimmst den Zug nach Niebüll. Von da aus fährt eine kleine Bimmelbahn zum Fähranleger nach Dagebüll. Die Ferienwohnung liegt an der oberen Wandelbahn in Wittdün und die Praxis von Frau Doktor Jansen ist ein Stockwerk tiefer, an der Mittelgasse. Es ist das rote Backsteinhaus ganz am Ende.“

„Alles klar.“ Müller schreibt Christels Informationen auf einen Zettel.

„Wirst du die Frau anrufen um ihr zu sagen, dass ich morgen komme, oder soll ich anrufen?“

„Nee, das lass mich mal lieber machen“, sagt Christel. „Mich kennt sie. Ich geb dir aber ihre Nummer … für alle Fälle.“

Müller schreibt die Nummer mit auf den Zettel.

„Ich leite jetzt alles in die Wege und rufe dich dann zurück, Rainer.“

„Gut, bis gleich“, sagt Müller, „und danke.“ Er legt auf.

Nach einer Zigarettenlänge ist Christel wieder am Telefon. „Alles paletti mein Großer. Frau Jansen erwartet dich. Sie ist morgen bis neunzehn Uhr in der Praxis. Sieh zu, dass du die Fähre um sechzehnfünfzig kriegst und vergiss bitte nicht, deinen Personalausweis mitzunehmen.“

„Alles klar, Chris, und danke nochmal.“

„Schon gut … Ich würde am liebsten mitkommen“, sagt Christel. „Ich finde die Insel total schön. Ich war schon drei oder viermal da. Übrigens, Mutti hat nach dir gefragt. Du könntest sie ja mal wieder besuchen.“

„Fang jetzt bloß nicht davon an, Chris. Das letzte Mal als ich bei ihr war, nannte sie mich die ganze Zeit „Günni“.“

„Das darfst du nicht so eng sehen, Rainer. Mich nennt sie manchmal „Angela“. Sie ist halt dement.“

„Die Strafe für ihre dumme Ignoranz und ihr verkorkstes Leben“, denkt Müller. Er hat es versucht, aber er kann für sie kein Mitleid empfinden.

 

Der Umzug aus ihrer kleinen Wohnung in eine Einrichtung für betreutes Wohnen ist fast drei Jahre her. Müller hatte sie am Anfang zweimal besucht und nichts als Wut empfunden. Das Letzte, das er ihr bei seinem letzten Besuch sagen konnte, bevor er ging, hatte nichts liebevolles. Müller warf ihr vor, es sich in ihrer Altersdemenz gemütlich zu machen, um sich geschmeidig aus der Verantwortung zu ziehen. Aber er hätte genau so gut mit einem Sack Zement reden können. Sie fragte ihn, ob er der Friseur wäre den sie bestellt hätte und er solle doch bitte nachschauen, ob die Heizung im Wohnzimmer auf Zwei stehen würde, weil Günni käme, um mit ihr Maumau zu spielen. Dann lachte sie und ließ ungeniert einen lauten Furz.

 

„Chris, du weißt, das ich es in diesem Scheiß Altersheim nicht lange aushalte und außerdem, was soll ich da, wenn die Alte mich nicht erkennt. Könnte sein, dass sie mich auf kurz oder lang Adolf nennt und mir den Hitlergruß entgegenpeitscht.“

„Sag nicht immer „Alte“ zu Mutti. Das kann ich nicht haben“, beschwert sich Christel.

„Besser wir lassen das Thema, Chris.“

„Ja, sonst wird mein Chef sich gleich fragen, weshalb ich vor dem Computer sitze und am Heulen bin.“

„Bis dann, Chris.“

„Bis dann, Rainer.“

Müller legt den Hörer auf und überlegt, wo er die kleine Reisetasche das letzte Mal gesehen hat. Das Telefon klingelt.

„Moin Rainer. Ich bin’s, Hannes. Was ist denn so dringend?“

„Moin Bliki. Gut, dass du dich meldest.“

„Ja, mach’s kurz. Ich hab grad die ganze Nacht vor einem beschissenen Haus in Haste gestanden und observiert. Ich bin hundemüde.“

„Hannes, wir müssen uns unbedingt sehen. Ich muss dir was zeigen. Es ist wichtig.“

„Was denn? Harms kann warten.“

Müller merkt, dass Hannes müde und genervt ist.

„Es geht nicht um Harms. Es geht um einen alten Nazi, der im Krieg einen kleinen Jungen erschossen hat und deswegen nie verurteilt wurde, weil die Beweise dafür fehlten“, sagt Müller mit Nachdruck.

Es dauert eine Weile, bis Hannes den Mund aufkriegt.

„Müller, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Aber manchmal zweifel ich an deinem Verstand.“

„Hannes, ich habe hier einen Brief auf dem Tisch liegen, der mir nicht von der Post zugestellt worden ist.“

„Sondern?“

„Von einem Typen mit Glatze und Springerstiefel. Ich war nicht zu Hause. Frau Gruber, meine Nachbarin, hat den Brief angenommen.“

„Wieso bist du nicht am Malochen?“, sagt Hannes.

„Das ist wieder eine andere Geschichte“, sagt Müller.

„Was steht in dem Brief?“

„Keine Ahnung, Hannes, ich hab ihn noch nicht geöffnet. Ich will, dass du dabei bist, wenn ich das tue.“

„Na gut, Rainer. Ich kann mit deinem ganzen verquirlten Mist im Moment nichts anfangen. Ich brauche erst ‘ne Mütze Schlaf. Aber ich kenne dich so gut, dass ich weiß, dass du mir hier keine Witze erzählst. Den Brief nicht anfassen und auf keinen Fall öffnen, bis ich da bin.“

„Hatte ich sowieso nicht vor … mein strammer Bulle. Penn erstmal und komm dann einfach vorbei. Ich bin den ganzen Abend zu Hause.“

„Alles klar“, sagt Hannes.

Müller geht zum Bett und wirft einen Blick drunter. Lenas Flipflop kommt ihm in den Sinn. Von der Reisetasche keine Spur. Er geht in die Küche und schaut in den kleinen Vorratsraum. Außer ein paar alte Plastiktüten, die zerknüllt am Boden liegen, und diversem Krimskrams in den Regalen ist nichts zu holen. Im Bad, im Schrank mit den Putzutensilien, ist die Tasche auch nicht. Müller geht zurück zum Vorratsraum und fleddert die alten Tüten auseinander. Er findet eine Weiße ohne Werbung drauf und geht zurück ins Wohnzimmer. Er sucht sich eine frische Garnitur Klamotten zusammen und stopft sie in den Plastikbeutel. Zahnbürste, Zahnpasta und Duschgel wird er sich auf der Insel besorgen.

Abermals rappelt das Telefon. Müller nimmt ab.

„Hallo Rainer, ich bin sauer auf dich.“ Es ist Lena.

„Moin erstmal“, sagt Müller.

„Ich war am Montag bei dir und hab ‘ne halbe Stunde vor deiner Tür gestanden und auf dich gewartet. Ich wollte für uns was Leckeres kochen.“

„Tut mir leid Süße. Ich bin bei Otto versackt.“

„Du versackst wohl ständig bei Otto?!“

Müller weiß nicht, was er ihr noch sagen soll. Es ist am Ende immer der Alkohol, der triumphiert, und in seinen Beziehungen zum Streitpunkt Nummer Eins wird.

„Hör mal, Lena … Wir kennen uns erst eine Woche und du hörst dich schon an wie meine Mutter. Das mit dem Zettel tut mir leid. Ich habe einen Fehler gemacht, okay.“

„Ich bin nicht deine Mutter du Arsch!“, schreit Lena ins Telefon und lässt Müller da sitzen, auf seinem Sofa, alleine, mit seinem Hörer in der Hand. Müller legt auf.

„Das war’s dann wohl“, denkt er. „Auch das hab ich mal wieder fein hingekriegt.“

Müller lässt den Plastikbeutel auf seinem Bett liegen und verlässt die Wohnung. Er geht zur Bank und zieht sich Bargeld aus dem Automaten. Danach geht er zu Otto, bezahlt seine Schulden, genehmigt sich bei Charly am Kiosk zwei Dosen Bier, spielt Lotto und geht wieder nach Hause. Er öffnet den Briefkasten. Der Briefkasten ist vollgepappt mit Werbeprospekten. Müller rupft das Scheißzeug aus dem Kasten, geht um die Ecke in den Hinterhof und schmeißt es in die Mülltonne.

„Hallo Herr Müller, wie geht’s?“ Kowi kommt mit einer fetten Salatgurke in der Hand auf ihn zu.

„Moin, Herr Kowalski. Ich kann nicht klagen“, lügt Müller.

„Der Sturm hat uns zwei Dachpfannen vom Dach gefegt und es ist kaum möglich einen Dachdecker zu bekommen. Zum Glück hat der Hagel die Scheiben von meinem Gewächshaus verschont.“

„Das freut mich für Sie“, Herr Kowalski.“

„Dieses Jahr gibt es so viele Gurken“, sagt Kowi. „Hier, für Sie!“ Der Hausmeister lächelt freundlich und hält Müller die Salatgurke hin.

Müller lehnt ab.

„Das ist nett von ihnen, Herr Kowalski, aber ich bekomme von Salatgurken immer Sodbrennen.“

„Das ist aber schade, Herr Müller. Die sind so lecker und so gesund.“

Kowi legt nun noch etwas Mitgefühl in seinen Blick und sieht aus wie ein beleidigter Dackel.

„Tja“, sagt Müller, „so hat eben jeder sein Päcksken zu tragen.“

„Schade“, sagt Kowi und trollt sich wieder. In seinem kleinen Gewächshaus ist jetzt Hochsaison. Es ist Mitte August und der Herbst ist im Anmarsch. Alle sprechen von der globalen Erwärmung. Aus kleinen Windhosen werden in Zukunft Tornados. Die Polkappen schmelzen und der Meeresspiegel steigt an. Al Gore hat sich auf der ganzen Welt das Maul fusselig gelabert, um die Menschen dazu zu bewegen ihre maßlose Verschwendung von natürlichen Ressourcen kritischer zu sehen.

Müller hat sich Al Gore angehört und war skeptisch. Macht sich Al Gore nur wichtig, weil er die Präsidentschaftswahl gegen George W. Bush verloren hat, oder liegt ihm wirklich etwas an unserem Planeten? Müller ist nie dahinter gekommen. Nur auf eins in dieser Angelegenheit kann man jederzeit getrost sein sauer Erspartes setzen …, auf die selbstzerstörerische, egoistische Habgier, die den Menschen vor nichts zurückschrecken lässt. Selbst die größten Katastrophen haben am Ende nichts, oder nur sehr wenig in den Köpfen bewirkt. Der Mensch vergisst schnell und geht wieder zur Tagesordnung über. Vorausgesetzt, er ist persönlich nicht betroffen und hat mindestens einen Kontinent zwischen sich und dem Elend. Und daran wird auch ein Al Gore nichts ändern.

Müller geht ohne Gurke zum Haupteingang zurück. Die Klappe von seinem Briefkasten steht noch offen. Müller steckt den Schlüssel rein und schließt ab. Er schaut zur Seite und wirft einen Blick über die Straße. Bei Auto-Manne ist alles ruhig. Ungewöhnlich für diese Uhrzeit an einem Mittwoch. Kein Dante, der die rollenden Müllhaufen schrubbt und kein Linnert, der ihm dabei in den Arsch tritt.

„Ob, Harms Linnert schon eingebuchtet hat?“, fragt Müller sich.

Ihm kann’s nur recht sein. Er geht die Treppe hoch in seine Wohnung und schmeißt den PC und den Drucker an. Müller will sich die Zugverbindungen nach Dagebüll ausdrucken. Er geht in die Küche und holt sich ein Bier. Während der Computer hochfährt, raucht und trinkt Müller. Es klingelt an der Tür. Müller stellt die Bierflasche auf den Tisch und geht in den Flur.

„Wer ist da?“

 

 

 

 

 

48. Kapitel: Der Moment der Wahrheit

 

„Ich bin’s, Lena … Deine Mutter … mach auf!“

„Scheiße“, denkt Müller. „Jetzt gibt es eine Katastrophe, für die nicht mal Al Gore eine Lösung parat hätte.“

Er öffnet die Tür. Lena trägt einen kurzen, schwarzen Lederminirock, schwarze Nylons mit Schnörkel, die aussehen wie eingerollte Weinblätter und dazu hochhackige schwarze Lackstiefel, die ihr bis über die Knie gehen. Weiter oben ein weißes Top mit einer schwarzen engen Lederjacke drüber. Ihr Gesicht ist stark geschminkt. Knallroter Lippenstift und dunkler Lidschatten um die Augen. Sie hat ihr rotblondes Haar toupiert und trägt es offen. Um ihren Hals glitzert eine fette Goldkette und an ihren Handgelenken massenweise Armreifen aus demselben Edelmetall.

„Na“, sagt sie mit ernster Mine, „sieht so deine Mutter aus?“

Müller weiß nicht was er sagen soll. Lena sieht aus wie eine Edelnutte die ihre Möse nicht unter fünftausend Euro die Nacht verhökert.

„Wenn meine Mutter jemals so ausgesehen hätte“, rutscht es Müller raus, „hätte ich meinen Alten erschlagen und sie nach Strich und Faden vergewaltigt.“

Lena legt ein Ihr-Männer-seid-doch-alle-gleich-Grinsen auf, geht an Müller vorbei in die Küche und macht den Kühlschrank auf. Sie nimmt sich ein Bier, öffnet es mit einem Löffelstiel und kippt die Hälfte runter. Müller schließt die Eingangstür und schaut ihr wortlos weiter zu.

„Und?“, fragt sie schnippisch, „willst du mir nicht das Höschen vom Arsch reißen und mich ficken, wie das letzte Mal?“

„War’s denn so schlecht?“

Müller wird sauer und lässt Lena da stehen. Er geht ins Wohnzimmer und setzt sich aufs Sofa. Aus der Küche kommt ein heftiges Schluchzen. Dann das Geräusch von zersplitterndem Glas. Lena weint. Müller geht zurück in die Küche und nimmt sie in den Arm. Der Fußboden ist übersät von braunen Glasscherben und es riecht nach verschüttetem Bier. Lena zittert am ganzen Körper. Sie drückt ihren Kopf an Müllers Schulter und legt die Hände auf seinen Rücken. Ihr Duft ist unglaublich. Schwer und süß, lässt er Müller an einen chinesischen Opiumtempel denken, in dem ölige nackte Körper zügellose Orgien feiern. Lenas Umarmung wird enger. Müller spürt seine Wunde. Der Schmerz kommt zurück, wird heftiger. Sein Schwanz wächst und pulsiert. Lena schaut ihn an. Ihr Lidschatten hat sich mit ihren Tränen vermischt und läuft dunkel über ihre Wangen.

„Ich kann nichts dafür“, sagt Müller leise. „Er tut eben nie was ich will.“

„Dann steck mir das verdammte Ding doch endlich rein“, sagt Lena und drückt ihre Lippen auf seinen Mund. Müller wird fast wahnsinnig vor Geilheit. Er drückt Lena mit dem Rücken gegen die Arbeitsplatte, nestelt seinen Schwanz aus der Hose, greift ihr unter den Minirock, reißt ihr mit einem Ruck den Slip vom Arsch und steckt ihn rein. Für einen kurzen Moment hält er inne. Es ist ein unglaubliches Gefühl in dieser Frau zu stecken. Mit all diesen nuttigen, schwarzen Sachen an ihrem zarten Körper. Die Stiefel mit den Nylons haben es ihm besonders angetan, während er jeden fordernden Schlenker ihres heißen Beckens genießt.

„Wehe du hörst jetzt auf“, jammert sie, „loß …, mach schon.“

Müller legt los. Lenas Hände wandern unter sein T-Shirt und krallen sich in seine verwundete Haut. Müller brüllt vor Schmerzen. Er bäumt sich auf. Purer Schmerz und Sex. Eine Mischung die er noch nicht kennt. Müller vögelt wie ein verwundeter Berserker nach einer gewonnenen blutigen Schlacht. Er ist völlig außer sich und röhrt was das Zeug hält. Lena stöhnt und krallt ihre Nägel noch tiefer ins Fleisch. Müller brüllt noch lauter und sackt ein wenig in die Knie.

„Hör nicht auf, hör nicht auf, ich bin gleich soweit“, winselt Lena, holt tief Luft, schmeißt den Kopf in den Nacken, hält den Atem an und befreit sich mit einem langen lauten lustvollen Schrei. Im gleichen Moment explodiert Müller und öffnet die Schleusentore. Er hat das Gefühl, Lenas heißen Körper mit seinem Saft zu überfluten und ist völlig außer Atem. Sein Schwanz bleibt steif. Er merkt, wie ihm der Saft warm am Schaft runter läuft und über den Sack runter auf den Fußboden tropft.

„Ich liebe dich, Lena. Ich bin verrückt nach dir.“ Müller presst seine Lippen auf Lenas roten Mund und lässt seine Zunge rotieren. Automatisch fängt er wieder an sich zu bewegen.

„Ich liebe dich auch“, flüstert Lena ihm ins Ohr und lässt es zu. Sie wischt ihm mit der Hand den Schweiß von der Stirn und schenkt ihm wieder ihr süßes Grübchenlächeln. Müller hält sich mit beiden Händen an der Arbeitsplatte fest und legt los. Er versucht, so viel Abstand zwischen sich und Lena zu lassen, das er einen guten Blick auf ihre nylonumspannten Schenkel und die Stiefel hat. Es dauert nicht lange und er kommt ein zweites Mal. Er kann kaum noch auf seinen Beinen stehen und geht ein wenig in die Hocke und legt seinen Kopf in Lenas Schoß.

„Sieh mal, Rainer, du blutest ja“, sagt Lena auf einmal. „Dein ganzes T-Shirt ist voll davon.“

Lenas Entdeckung holt Müller schnell in die Realität zurück. Auf einen Schlag ist er wieder voll da. Was soll er ihr sagen? Die Geschichte mit dem Zoo wird sie nicht schlucken und die Wahrheit geht auf keinen Fall; und bevor Müller reagieren kann, hat Lena sich das T-Shirt schon gepackt und nach oben gezogen.

„Scheiße“, sagt sie, „das kann doch nicht alles ich gewesen sein. Rainer, was ist mit deinem Rücken passiert? Du musst sofort zum Arzt damit.“

„Hör zu, Lena … Ich weiß nicht wie ich dir das sagen soll … Aber ich war schon beim Arzt damit.“

Eine längere Pause entsteht. Müller kneift die Augen zusammen. So als würde er das blanke, kalte Messer einer Guillotine an seinem Hals erwarten. Er kann sich vorstellen, was in diesem Augenblick in Lenas Kopf vorgeht. Die Spuren der Verletzung sind eindeutig.

„Du hast mit einer andren gevögelt“, sagt sie leise und windet sich aus Müllers Umarmung.

Wie in Trance geht sie aus der Küche ins Bad und schließt die Tür hinter sich ab.

„Ich hab mit keiner anderen gevögelt!“, ruft er ihr hinterher, aber bekommt keine Antwort.

Er hört die Klospülung und kurz darauf das Plätschern der Dusche. Müller packt seinen schlaffen Pimmel in die Hose und geht ins Wohnzimmer. Er setzt sich aufs Sofa, dreht sich eine Bulls-Houle und macht ein Streichholz an. Der brennende Schmerz auf seinem Rücken ist kaum zu ertragen. Müller bläst eine fette Qualmwolke in den Raum. Unterm Schreibtisch rattert der Computer und erinnert ihn an seine Flucht. Auf dem Couchtisch steht die halbvolle Flasche Bier. Müller kippt das Malzgesöff in einem Zug nach unten. Er ist nervös. Das plätschernde Geräusch der Dusche verstummt. Nach einer Weile geht die Tür auf und Lena steht im Flur. Ihre Füße stecken in Müllers alten Badelatschen. Sie hat ihre Haare in ein Handtuch gewickelt und ist nackt. Sie schaut mit einem ernsten Blick zu Müller und sagt:

„Reicht dir das was du hier siehst denn nicht?“

Müller drückt die ausgebrannte Kippe in den Aschenbecher. „Ich hab mit keiner anderen Frau gevögelt.“

„Dein Rücken sieht aber nicht so aus, als hättest du nicht.“

„Ich weiß“, sagt Müller, „alles spricht gegen mich. Aber ich sag dir die Wahrheit.“

„Dann sag mir wie das passiert ist.“ Lena kommt ins Wohnzimmer und setzt sich ans andere Ende des Sofas, so dass sie genügend Abstand zwischen sich und Müller lässt.

„Um deine erste Frage zu beantworten“, sagt Müller. „Du bist eine bildschöne Frau und du würdest wohl mindestens achtzig Prozent der männlichen Bevölkerung auf diesem Planeten gefallen. Der Rest wäre entweder schwul oder krank in der Birne.“

„Und du bist krank in der Birne“, sagt Lena, „weil, schwul kannst du ja nicht sein? Oder warst du mit einem Kerl im Bett?“

„Verarsch mich nicht, Lena. Ich versuche dir grad klarzumachen, dass nichts Ernstes war.“

Lena nimmt den Tabak vom Tisch und dreht sich eine.

„Ich verarsch dich nicht. Ich muss mir nur Klarheit verschaffen. Ich hatte schon mal eine Beziehung mit einem Mann, der sich nebenbei von den kleinen Jungs vom Straßenstrich die Rosette versilbern lassen hat. Ich kam dahinter, als ich mal einen Schraubenzieher brauchte und seinen Werkzeugschrank in der Garage durchstöbert habe.“

Lena nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und schnippt die Asche in den Aschenbecher.

„Der Schrank hatte unten eine Schublade. Als ich sie öffnen wollte, war sie abgeschlossen. Ich hab schon sowas geahnt. Ich hab das Schloss aufgebrochen und drinnen einen Stapel Pornohefte gefunden mit nackten Männern drin. Als er abends nach Hause kam, habe ich ihm die Hefte zum Abendbrot serviert. Ich habe sie ihm fein säuberlich mit einem Bund Petersilie und Balsamico Creme auf den Teller garniert, vor die Nase gestellt.“

Lena legt ihre Zigarette in den Ascher und schaut Müller an.

„Was war dann?“, sagt Müller und hofft damit ein bisschen Zeit zu schinden.

„Nichts“, sagt Lena. „Ich hab ihm einen Arschtritt verpasst, was sonst. Er war Geschäftsführer in einer Firma, die mit Autoteilen handelte. Bei seinen Scheiß Geschäftsessen konnte er da schlecht mit einem Kerl im Schlepptau aufkreuzen. Also nahm das Arschloch mich als Alibi mit.“

„Da kann ich dich beruhigen“, sagt Müller und steckt sich eine an. „In meiner Bude findest du weder Männerpornos noch Heteropornos. Ich schleuder mir bei Gelegenheit unter der Dusche einen … und damit hat sich‘s.“

„Und, an was denkst du dabei?“, sagt Lena, klemmt ihre Beine in den Schneidersitz und legt ein Kissen drauf damit Müller ihr nicht auf die Muschi glotzen kann. Die Vorhöfe ihrer Brustwarzen heben sich in einem zarten Rosa von ihrer leicht gebräunten Haut ab. Müller spürt schon wieder das Blut nach unten sickern und versucht sich zu konzentrieren.

„An dies und das“, wiegelt er ab.

„An die Frau, die dir den Rücken zerkratzt hat?“ Lena liegt in Lauerstellung und Müller weiß das.

„Nein.“

„An mich?“

„Ja, aber es war nicht unter der Dusche.“

„Wo denn?“

„Im Bett.“

„Oh … ich bekomme also eine Sonderbehandlung wenn du dir einen runterholst. Da bin ich aber stolz.“

„Es hat sich so ergeben“, sagt Müller.

„Ach … das ergibt sich bei dir alles so. Soll ich mich vor dich hinstellen und tanzen? Damit du dir einen abwichsen kannst?“

Lena greift zum Tabak und fängt an zu drehen. Ihre Hände zittern. Auf ihre halb angerauchte Kippe im Aschenbecher achtet sie nicht. Müller merkt, dass Lena durch ihre Fragerei dabei ist, sich in Rage zu bringen. Er muss was unternehmen, damit das Gespräch nicht in die falsche Richtung läuft.

„Ihr Männer seid alle schwanzgesteuerte Neandertaler“, sagt Lena. „Hast du noch ein Bier?“

„Ich glaube schon“, sagt Müller. Lena steht auf und geht in die Küche. Ihr Gang hat dieses Mal nichts Aufreizendes. Müller hört die Kühlschranktür klappern und ein kurzes Zischen. Sie kommt mit der offenen Flasche wieder rein und schmeißt sich auf ihren Platz. Von einem Lächeln keine Spur. „Du hast eben gesagt, du liebst mich.“ Sie schaut nach unten und knibbelt am Etikett der Flasche rum.

„Das hab ich vom ersten Moment an“, sagt Müller.

„Und warum betrügst du mich dann?“ Lenas Stimme bekommt etwas Weinerliches.

„Ich hab dich nicht betrogen“, sagt Müller. „Wie könnte ich dich betrügen? Ich weiß ja noch nicht mal deinen Nachnamen“, Müller kommt in Fahrt, „oder wo du wohnst, oder was du sonst so treibst. Du tauchst auf und bist wieder weg, oder liegst mit einer fetten Schramme am Kinn besoffen im Treppenhaus und kotzt mir vor die Füße. Ich weiß praktisch nichts von dir. Ich kann mir nie sicher sein, ob du überhaupt nochmal auftauchst, wenn du gehst. Und als ich dich nach dem Grund der Schramme an deinem Kinn gefragt habe, bist du fast sauer geworden. Dann im Merlin, dieser komische Anruf. Du hast geheult und dich ohne ein Wort zu sagen verpisst. Und ich Arsch sitze da und mach mir Sorgen und lass meine schlechte Laune an so einem dämlichen Esoterikwichser aus, der einsam in der Ecke hockt und mit seiner jämmerlichen Sozialhilfe den bescheuerten Spielautomaten füttert. Du sagtest eben auch, dass du mich liebst. Aber Liebe bedeutet auch, dass man am Leben des anderen teilhaben möchte. Seine Geschichte kennt.“ Müller muss fast lachen. Pastor Braun hätte es nicht besser von seiner Kanzel predigen können. „Immer, wenn du gehst, sitze ich hier und rauf mir die Haare, die ich nicht habe und bin gespannt, was als nächstes kommt. Oder, ob überhaupt noch was kommt.“

Lena fängt an zu weinen.

„Ich weiß, ich bin schrecklich. Das tut mir auch leid“, sagt sie.

Müller steht auf und geht los. Er will sich eine Flasche Bier holen. Auf halber Strecke dreht er sich nochmal um und schaut Lena in die Augen. Er breitet die Arme aus und sagt:

„Sieh mich an Lena. Ich bin ein abgefuckter Einzelgänger der die Menschen hasst. Ich bin zehn Jahre älter als du. Ich ersäufe meine Angst im Alkohol und mir wachsen Haare an Stellen, wo ich sie nicht gebrauchen kann. Mein Körper hortet Fett an Stellen, wo Jungs in deinem Alter Muskeln haben. Womit kann ein Mensch wie ich so ein Sahnestück wie dich verdient haben?“

„Weil du der erste Mensch bist, der mich so lässt, wie ich bin“, sagt Lena und wischt sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen.

„Scheiße“, denkt Müller, dreht sich um und geht weiter in die Küche.

Die Glasscherben auf dem Fußboden knirschen unter seinen Cowboystiefeln. Müller ist verliebt. Er öffnet den Kühlschrank und nimmt die letzte Flasche Bier raus. Er köpft sie mit den Zähnen und genehmigt sich einen großen Schluck. Das T-Shirt klebt wie eine zweite Haut an seinem Rücken fest. Müller stellt die Bierflasche auf den Platz wo vorher Lenas nackter Arsch war und zieht es aus. Lena weiß Bescheid. Also was soll das Theater. Er stemmt beide Hände auf die Arbeitsplatte und streckt seinen Rücken. Vor ihm steht die angebrochene Bierflasche und unten auf dem Fußboden, schimmert ein feuchter Fleck aus Sperma, Bier und Blut. Als er sich wieder gerade macht, steht Lena in der Tür. Sie hat das Handtuch abgelegt. Ihre Haare sind noch feucht und fallen in langen Strähnen auf ihre Schultern. Sie schaut ihm in die Augen und lächelt. Sie sagt:

„Komm mit ins Bad, ich wasch dir das Blut ab.“ Müller gehorcht und geht mit.

„Am besten ziehst du deine Stiefel und deine Hose aus und stellst dich unter die Dusche“, schlägt sie vor.

„Ist gut“, sagt Müller und zieht sich aus. Lena öffnet die Duschkabine und stellt die richtige Temperatur ein.

„Du kannst jetzt rein gehen“, sagt sie. Müller kommt sich vor wie ein alter Sack, der gepflegt werden muss. Links, auf einem Haufen neben der Dusche, liegt Lenas Nuttenoutfit. Müller geht in die Dusche. Lena hat die Brause in der Hand und hält den Wasserstrahl auf die Wunde. Das warme Wasser tut ihm gut. Lindert etwas den Schmerz. In hellroten Schlieren läuft das blutige Wasser über seinen Hintern, an den Beinen runter und findet den Weg über die Füße, in den Abfluss. Müller lehnt sich mit beiden Händen an die Wand und macht die Augen zu. Lena steht hinter ihm. Er spürt ihre Hand auf seiner Haut. Sie geht sehr behutsam mit ihm um.

„Sag mal?“, fragt sie, „wie machst du das, wenn du dir in der Dusche einen wichst? Hältst du dann die Brause drauf?“ Lena hält die Brause drauf und schwenkt sie hin und her.

„So ungefähr?“

„Wäre mal ‘ne Abwechslung“, sagt Müller.

„Ich schraub vorher immer den Duschkopf ab“, sagt Lena.

„So, so“, sagt Müller, „ich bin also nicht der Einzige, der die Dusche zweckentfremdet.“

„Ich dreh dann immer voll auf“, sagt Lena und hat auf einmal Müllers Schwanz in der anderen Hand. Sie fängt an zu reiben und es dauert nicht lange bis zur vollen Größe.

„An was denkst du jetzt?“, sagt sie. Müller spürt ihre glitschige, nasse Haut an seinem Hintern.

„An Robby Williams“, sagt Müller und lacht.

„Nee …, sag mal ... Im Ernst … An wen denkst du jetzt?“ Lena lässt nicht locker und rubbelt schneller. Ihr Griff wird fester.

„Los, sag schon.“

„An wen denkst du denn dabei?“, sagt Müller. Sein Atem wird schwerer.

„An Robby Williams“, sagt Lena. Sie hält einen Moment inne und macht langsamer.

„Ist es gut so, wie ich es mache?“

„Ich könnte es nicht besser“, sagt Müller.

„Ich bin verheiratet“, sagt Lena. Müller ist fast am Höhepunkt und traut seinen Ohren nicht. Er weiß nicht, was er in dieser Sekunde denken soll und verpasst fast seinen Orgasmus.

„Mein, noch-Ehemann, hat’s nie dreimal hintereinander geschafft“, lobt sie Müller.

Müller steht nach wie vor in der gleichen Position an der Wand. Das süße Gefühl in seinen Lenden klingt langsam ab und sein Schwanz schrumpft in Lenas Hand. Sie hält die Brause wieder auf seinen Rücken.

„Warum überrascht mich das nicht“, denkt Müller. Ihn wundert es, dass ihm Lenas Beichte nicht viel Emotionalität abverlangt.

„Warum sagst du nichts?“, sagt Lena und drückt die Brause direkt auf Müllers Arschloch.

„Dein Sack hängt ganz schön runter, weißt du das? Komisches Ding.“

Sie hält jetzt da die Brause drauf. Müllers Sack fängt im Wasserstrahl an, nach vorne und hinten zu flattern. Lena lacht: „Hihi … Witziges Ding. Ich stell mir grade vor“, sagt sie, „ich hätte auch so ‘n Schlabberding zwischen meinen Beinen hängen. Direkt hinter dem Muschiloch. Quasi zwischen Arsch und Muschi.“

Müller hört ihr weiter zu. Er versucht nicht zu lachen. Er will Lena auf keinen Fall in ihren Wissenschaftlichen Studien über das männliche Skrotum stören.

„Sag mal Rainer? Wie kommt es, dass das Ding in der Hose nicht ständig irgendwo klemmt? Ich kann mir nicht vorstellen, wie so ‘n Ding in die Hose passt. Ihr Männer müsstet eigentlich den ganzen Tag Schmerzen haben.“

„Es passt einfach“, sagt Müller und beendet sein Schweigen. Er dreht sich um, nimmt Lena den Duschkopf aus der Hand, hängt ihn in den Haken und nimmt sie in den Arm. Es ist ein gutes Gefühl mit ihr eng umschlungen unter dem warmen Wasserstrahl zu stehen. Müller streichelt zart ihre Wange und umkreist mit dem Zeigefinger die Stelle mit dem Grübchen. Wenn Müller in diesem Moment tot umfallen würde, wäre es ihm egal. Es ist dieser kurze Moment, den man in Zeit nicht messen kann, der einem Menschen im Leben nicht oft begegnet. Man könnte es fast „Die absolute Harmonie“ nennen. Alles scheint zu passen und man bekommt das Gefühl, dass alles, was danach kommen wird, nicht mehr wichtig ist. Lena schaut Müller in die Augen und lächelt.

„Hast du eben nicht gehört, was ich dir gesagt habe?“

„Doch“, sagt Müller, „du bist verheiratet.

„Und … macht dir das nichts aus?“

„Jetzt bist du ja bei mir“, sagt Müller.

„Ich hab auch noch eine Tochter. Sie heißt Lotta … Lotta ist fünf.“

Müller dreht das Wasser ab und sagt:

„Komm …, lass uns im Wohnzimmer weiter reden.

Sie verlassen die Duschkabine und trocknen sich ab. Müller steigt in seine Jeans und Lena kramt ihre schwarzen Klamotten aus der Ecke. Sie zaubert einen neuen Slip aus der Lederjacke und zieht ihn an. Müllers Oberkörper bleibt nackt.

„Hast du Bock auf Sekt?“, sagt Müller.

„Klar“, sagt Lena.

Müller öffnet den Schrank mit den Putzutensilien, nimmt den Besen raus und geht damit in die Küche. Er fegt die Scherben in eine Ecke und stellt den Besen daneben. Dann geht er zur Spüle, nimmt zwei dreckige Wassergläser aus dem Becken und wäscht sie ab. In der Kühlschranktür steht die Sektflasche. Er nimmt sie und die Gläser und geht damit ins Wohnzimmer. Müller stellt alles auf den Tisch und setzt sich. Fierers Brief sticht ihm ins Auge. Er klemmt eine Ecke zwischen Daumen und Zeigefinger und geht damit zum Schreibtisch. Dem Brief darf auf keinen Fall etwas passieren, bevor er ihn nicht zusammen mit Hannes geöffnet hat. Er lehnt ihn hochkant an den PC-Bildschirm und geht wieder zurück zur Sektflasche. Aus dem Bad kommt das Gesumme eines Föhns. Müller staunt über das Geräusch. Ihm ist nicht bewusst, einen Föhn zu besitzen. Er hat seit zig Jahren keinen mehr nötig.

„Wo hat sie den denn bloß ausgegraben“, denkt Müller und setzt sich.

Es dauert eine Weile, bis Lena aus dem Bad kommt. Diesmal hat sie ihr Haar nicht toupiert. Es fällt glatt nach unten. Sie trägt nur das weiße Top, Müllers Badelatschen und den Minirock.

„Ich gehe mal eben meine Tasche aus dem Auto holen“, sagt sie und ist verschwunden.

Nach zwei Minuten ist sie wieder da. Sie stellt die Tasche auf Müllers Bett, wühlt drin rum, holt eine Jeanshose raus und ein grünes T-Shirt mit Stinkefingeraufdruck. Die Tasche, die Lena angeschleppt hat, ist gigantisch. Sie nimmt fast ein Drittel vom Bett ein.

„Ich wusste gar nicht, dass du ein Auto hast“, sagt Müller.

„Ich hab’s mir von meiner Mutter geliehen“, sagt Lena. Sie tauscht den Minirock gegen die Jeans. Dann das weiße Top gegen das grüne T-Shirt. Müller lässt den Sektkorken knallen und füllt die beiden Gläser, während Lena sich ein Paar Sneakers über die Füße streift.

„Wo ist deine Tochter jetzt?“

„Bei meiner Mutter.“

Lena schmeißt den Kopf nach vorne, schüttelt ihr Haar, schmeißt den Kopf nach hinten, streicht das Haar mit beiden Händen glatt und bindet es zu einem Pferdeschwanz zusammen.

„Und dein Vater?“, sagt Müller.

„Meine Eltern sind geschieden. Mein Vater lebt in Vlotho, bei Minden. Er hat dort eine Firma und macht irgendwas mit Software.“

Lena setzt sich neben Müller aufs Sofa, nimmt ihr Glas in die Hand und prostet ihm zu.

„Ich war zwölf, als sie geschieden wurden. Mein Vater hat danach wieder geheiratet … Ich hasse diese Frau.“

Lena setzt das Glas an ihre Lippen und hat den Sekt in einem Zug unten. Sie lässt einen lauten Rülpser fliegen. Müller schenkt ihr nach.

„Ich bin bei meiner Mutter aufgewachsen und die hat in Sachen Männer nichts anbrennen lassen. Sie war ständig besoffen und hat irgendwelche Kerle angeschleppt. Einer war dabei, der sie mindestens viermal in der Woche verprügelt hat. Danach kam er zu mir ins Zimmer und hat sich auf meiner Bettkante ausgeheult. Er war auch ein Säufer und spitz auf mich. Er gab mir immer Geld dafür, dass er meine Füße massieren durfte. Er hatte dabei ‘ne Beule in der Hose … die Sau.“

„Hast du das nie deiner Mutter erzählt?“

„Nee, mir war die Kohle wichtiger.“

„Säuft deine Mutter immer noch?“

„Um Gottes Willen“, sagt Lena, „dann würde ich ganz bestimmt nicht, Lotta, bei ihr lassen. Sie hat vor drei Jahren einen Entzug gemacht und ist seitdem trocken.“

„Was macht denn, wie du sagst …, dein Noch-Ehemann?“

„Wir haben uns vor einem halben Jahr getrennt. Er hat ständig an mir rummanipuliert. Er wollte aus mir die perfekte Hausfrau machen. Am Anfang war er noch cool und witzig, aber der Sex mit ihm war beschissen. Ich hatte bei ihm nie einen Orgasmus. Er stieg bei mir auf, rammelte los und war in null Komma nichts fertig. Und dann hat er mich immer gefragt, ob’s für mich auch so toll war wie für ihn.“

„Und, was hast du ihm dann gesagt?“, sagt Müller.

Er nimmt die Sektflasche und füllt beide Gläser nach.

„Ich hab ihm gesagt, dass es darauf nicht ankommt.“ Lena schmunzelt.

„Hat er’s geschluckt?“

„Der Idiot war so von sich überzeugt, ich hätte ihm auch die Wahrheit sagen können, er hätte es nicht geglaubt. Mit ihm war ich übrigens auf dieser blöden Motorradausstellung.“

„Verstehe ich nicht“, sagt Müller, dreht zwei Zigaretten und gibt Lena eine ab. Draußen regnet es wieder.

„Das ist kompliziert. Es ist wegen, Lotta. Er ist Rechtsanwalt und versucht alles, um sie mir weg zu nehmen. Manchmal schleim‘ ich mich ein bisschen bei ihm ein, damit er Ruhe gibt. Ich gebe ihm das Gefühl, das alles wieder gut wird. Die Schramme am Kinn habe ich übrigens ihm zu verdanken.“

„Hat er dich geschlagen?“

„Nein, er hat mich geschubst. Wir waren Pizza essen und ich hatte vom Wein ziemliche Schlagseite. Ich fing an ihn zu beschimpfen, was er doch für ein jämmerlicher Versager wäre, und dass er einen kleinen Schniepel hätte und im Bett die absolute Niete sei. Der Laden war gerammelt voll. Alle Tische waren besetzt. Ich hab ihn ausgelacht. Er bezahlte, wir gingen raus und da ging der Streit weiter. Er sagte, er würde Lotta, auf keinen Fall einer Schlampe wie mir überlassen. Er würde alle Hebel in Bewegung setzen, um sie mir wegzunehmen. Da hab ich ihm eine gescheuert und er hat mich geschubst. Ich bin hingefallen und so ist es eben passiert.“

Lena nimmt einen Schluck aus ihrem Glas und zieht an ihrer Zigarette.

„Und im Merlin?“, sagt Müller. „War das auch wegen ihm?“

„Ja. Meine Mutter hat mich angerufen und mir gesagt, dass Hartmut, so heißt der Arsch, da gewesen wäre und, Lotta mitgenommen hätte. Deshalb bin ich so schnell abgehauen.“

Müller trinkt sein Glas leer und drückt die Kippe in den Aschenbecher.

„Ich bin zu ihm nach Hause und hab geklingelt. Er hat nicht aufgemacht. Oben brannte Licht und ich hab ihn kurz durch die Gardine glotzen sehen. Ich hab dann so lange vor seiner Tür rumgeschrien, bis er runter an die Tür gekommen ist. Lotta stand hinter ihm und war am Weinen. Ich konnte sehen, dass sie Angst hatte. Ich sagte ihr, das ich sie abholen wollte und dass alles gut werden würde, aber sie blieb hinter Hartmut stehen und sagte, dass, Papa, ihr gesagt hätte, sie solle nicht mit mir reden, weil ich besoffen sei. Ich konnte es nicht fassen.“

Eine Träne rollt Lena über die Wange, tropft auf ihr Bein und hinterlässt einen dunkelblauen Fleck auf der Jeans.

„Ich sagte ihm, dass ich die Polizei anrufen würde, wenn er nicht sofort, Lotta, rausrücken würde. Er sagte nur trocken …, mach doch. Ich hab mein Handy aus der Tasche geholt und hatte gerade zwei Nummern eingegeben, da schlug das feige Arschloch mir das Handy aus der Hand. Rings rum waren schon die Nachbarn am Gaffen. Mit einigen von denen war ich mal ganz gut befreundet. Aber seitdem ich mich von Hartmut getrennt habe, grüßen sie mich nicht mehr. Hartmut war stinksauer und sagte, Lotta, dass sie mit Mama mitgehen soll und das sie nicht traurig sein soll. Er würde dafür sorgen, dass sie in Zukunft nie mehr wegen Mama weinen müsse und bald ganz bei Papa, bleiben kann.“

Lena macht eine kurze Pause, steht auf und geht ins Bad. Müller hört die Klospülung. Er fühlt sich nicht wohl bei dem Gedanken, was aus ihm und Lena werden soll. Sein gemütlich eingerichtetes Leben, das er noch vor eineinhalb Wochen hatte, liegt gefühlte zehn Jahre zurück. Von einem Tag auf den anderen, hat er nichts als Probleme am Hals und es scheint kein Ende zu nehmen. Hätte er an dem Samstagmorgen nicht am Fenster gestanden und zu Auto-Manne rübergeschaut oder eine Stunde länger gepennt, wäre sein Leben sicher anders verlaufen. Jetzt müssen einige Müllberge an die Seite geschaufelt werden, um wieder einen klaren Durchblick zu bekommen. Lena kommt aus dem Bad und setzt sich wieder neben ihn. An ihren roten Augen sieht er, dass sie wieder geweint hat. Er nimmt sie in den Arm und gibt ihr einen Kuss. Sie lehnt ihren Kopf an seine Schulter und sagt:

„Kannst du jetzt verstehen, weshalb ich dir nicht gleich alles erzählt habe?“

„Das kann ich“, sagt Müller knapp. Mit einem unguten Gefühl im Bauch, dass Lena sicher noch einiges mehr in petto hat, verteilt Müller den Rest aus der Sektflasche gleichmäßig in die Gläser. Er hatte vor einiger Zeit für sich entschieden, immer beide Seiten zu hören. Dann alles durch zwei zu teilen, um sich dann ein ungefähres Urteil bilden zu können. Er fragt sich, was ihm Hartmut zu all dem sagen würde. Wenn es um ihr Kind geht wird eine Frau zur Löwin.

„Was bist du für ein Sternzeichen?“, sagt Müller.

„Löwe“, sagt Lena.

Müller muss lachen. Dass sie seiner Vermutung auf so profane Weise nahe kommt, kann kein Zufall sein.

„Warum lachsten jetzt?“

„Weil ich mir zu neunzig Prozent sicher war, dass du ein Löwe bist.“

„Wenn schon, Löwin“, berichtigt ihn Lena.

„Auch das“, sagt Müller.

„Jetzt musst du mir auch deins sagen“, sagt Lena.

„Waage“, sagt Müller, „Aszendent Skorpion.“

„Meinen weiß ich nicht“, sagt Lena. Sie hat die Augen zu und ist kurz davor, einzuschlafen, als dass laute Geklingel vom Telefon ihr einen Strich durch die Rechnung macht.

„Scheiße, was issen jetzt?!“, erschrickt sie.

„Bleib ruhig …, nur das Telefon“, sagt Müller. Er nimmt ab.

„ Müller.“

„Ich weiß, du Kommunist.“

Es ist Hannes.

„Ich wollte dir nur sagen, ich bin in einer Stunde bei dir. Also geh vorweg nochmal scheißen damit wir, wenn ich gleich bei dir bin, nicht unnötig von einem braunen D-Zug gestört werden.“

„Braun ist gut“, sagt Müller.

„Wieso?“, sagt Hannes.

„Bis gleich mein Freund.“ Müller legt auf.

„Wer ist Hannes?“, sagt Lena.

„Mit dem hast du schon mal telefoniert. Du hattest anstatt, Blik, Fick verstanden … Weißt du noch?“

„Ach ja, stimmt. Du warst grad auf der Toilette und ich hab abgenommen, als es klingelte.“

„Du wirst ihn in einer Stunde kennen lernen“, sagt Müller. „Er ist ein Bulle und wir kennen uns schon aus dem Sandkasten. Ich habe ihm mal das Leben gerettet.“

„Schön“, sagt Lena. „Jetzt bist du grade dabei, meins zu retten.“

Sie trinkt ihr Glas leer, stellt es auf den Tisch und greift Müller in den Schritt.

„Ich bin tierisch geil, Rainer. Meinst du, du schaffst noch ‘ne Runde?“

„Wie fühlt sich‘s denn da unten an?“

„Hart“, sagt Lena.

„Wir haben eine Stunde“, sagt Müller.

Sein Rekord liegt bei siebenmal hintereinander. Da war er achtzehn.

Hannes ist pünktlich. Es Klingelt.

„Hannes, bist du‘s?!“

Müller und Lena liegen eng umschlungen auf dem Sofa. Sie waren nach dem Sex eingeschlafen. Ihre Hosen liegen auf dem Fußboden und im Aschenbecher liegt eine angerauchte Zigarette. Draußen regnet es immer noch. Das Surren der Computerlüftung füllt den Raum und auf dem Bildschirm tanzt eine Kugel von einer Ecke in die andere und wechselt die Farben.

„Zeugen Jehovas! Wie wäre es mit dem Wachtturm?“, ruft Hannes. „Mach auf du Anarchist!“

Lena springt ohne ein Wort zu sagen vom Sofa, schnappt sich ihren Slip und die Jeans und verschwindet im Badezimmer. Müller zieht sich an und öffnet die Tür.

„Moin, Hannes. Du müsstest dich mal zwischen Kommunist und Anarchist entscheiden. Eins geht wahrscheinlich nur.“

Hannes steht in voller Uniform vor Müller und tut so, als würde er jeden Moment seine Knarre ziehen.

„Na, geht dir gleich einer ab, Sledge?“

(Amerikanische Ulk-Serie aus den Achtzigern. Titel: Sledge Hammer).

Müller lacht.

„Lass Susi im Halfter und komm rein.“ Sie gehen ins Wohnzimmer.

„Hast du Damenbesuch, oder muss ich mir Sorgen um dich machen?“, sagt Hannes und deutet mit einem Kopfnicken auf Müllers Bett. Auf dem Bett, neben der großen Tasche, liegt Lenas Lederminirock und das weiße Top.

„Nicht was du denkst, Hannes“, sagt Müller. „Ich hab Fotzengerry getroffen und der hat mir ‘nen Job in Stephans neuer Aliendisco hinterm Tresen besorgt. Ich geh als Transe und komme vom Planeten Androgynia.“

Hannes schaut Müller komisch an und sagt:

„Jetzt mach ich mir aber doch Sorgen. Eine kommunistisch-anarchistische Transe im schwarzen Ledermini? Wenn ich dich nicht so gut kennen würde, Müller, dann würde ich jetzt den Jungs mit den weißen Turnschuhen Bescheid geben und dich einweisen lassen.“

Hannes lacht und zieht sich den Schreibtischstuhl ran.

„Also, was gibt es so dringendes, Rainer? Mach’s kurz, ich hab nicht viel Zeit. Mein Chef bekommt heute seine Scheiß Belobigung mit Auszeichnung. Ich hab zwar kein Bock auf dieses Affentheater, aber wenn ich da fehle, wird er mir das übelnehmen und ich kann wieder mit Schnatterkirsten auf Streife gehen. Zeitung, TV, alle werden da sein.“

Müller dreht sich eine. Im Bad fällt irgendwas klappernd ins Waschbecken. Hannes schaut Müller fragend an und legt ein breites Grinsen auf.

„Lena“, sagt Müller.

Hannes sagt nichts und grinst weiter.

Lena kommt aus dem Bad.

„Scheiße, mein schöner Lippenstift ist im Arsch … Rainer, hast du mal Kleber?“ Sie sieht Hannes.

„Hallo, ich bin Lena.“ Sie geht auf Hannes zu und gibt ihm die Hand.

Oh … die Sonne geht auf“, sagt Hannes mit einem anerkennenden Blick zu Müller. „Ich bin Hannes. Er stemmt sich aus dem Stuhl und erwidert Lenas Händedruck. „Sehr erfreut schöne Frau.“

„Ich hab ‘ne Flasche Wodka und ‘ne Tüte O-Saft in der Tasche“, sagt Lena, „Wie wär’s mit ‘ner kleinen Mischung?“ Sie geht keinen Deut auf Hannes‘ Schmeichelei ein. Das mag Müller. Er mag es, wenn Frauen zu ihren Männern stehen und es offen zeigen. Keine falsche Hoffnung aufkommen lassen. Lenas Ignoranz war eine glasklare Ansage.

Der Regen hat nachgelassen und die Abendsonne quält sich langsam durch die dunklen Wolkenberge und versucht ein wenig Licht in Müllers Bude zu bringen. Unten, auf der Straße, schiebt eine orangefarbene Kehrmaschine der Osnabrücker Stadtreinigung ihre Bürsten durch den Rinnstein. Der Sturm ist vorbei. Osnabrück wird sich noch eine Weile die Wunden lecken müssen, bis die letzten Spuren der Verwüstung beseitigt sind.

„Für mich pur“, sagt Müller.

„Danke, für mich nur O-Saft“, sagt Hannes. Er setzt sich wieder auf den Stuhl.

Lena trabt in die Küche und kommt mit zwei Wassergläsern und einem Kaffeepott zurück.

„Leider nur zwei Gläser da“, sagt sie und drückt Hannes den Pott in die Hand. Sie kramt die Getränke aus der Tasche, füllt die Behälter und setzt sich neben Müller aufs Sofa. Müller fällt auf, dass Hannes Lena von oben bis unten mustert.

„Prost Jungs“, sagt Lena und kippt ein Drittel ihrer Mischung in sich rein. Müller lässt es ruhiger angehen.

„Also, Rainer, dann zeig‘ mir mal das ominöse Schreiben?“

Müller steht auf, holt den Brief, legt ihn auf den Tisch und setzt sich wieder. Hannes zieht ein paar Gummihandschuhe aus der Tasche und streift sie sich über die Hände. Er nimmt den Brief, hält ihn vors Licht und betrachtet ihn von allen Seiten.

„Kannst du mir ungefähr sagen, wer alles den Brief angefasst hat?“, sagt Hannes. Er legt den Brief zurück auf den Tisch.

„Ich denke mal“, sagt Müller nachdenklich, „außer mir – der alte, Fierer – der Skin und Herta.“ Müller schaut Hannes an und nippt an seinem Glas.

„Wer is ‘n Fierer?“ Lena sitzt in ihrer Ecke und hört gespannt zu. In ihren hübschen Augen, liegen tausend Fragen.

„Pass auf, Hannes“, sagt Müller, „bevor wir hier blöd rumpuzzeln, erzähl ich dir erstmal die ganze Story.“

„Das wäre wohl das Beste“, sagt Hannes und schaut auf seine Armbanduhr. Er trinkt einen Schluck O-Saft aus dem Kaffeepott und stellt ihn vor sich auf den Tisch.

Müller dreht sich eine Bulls-Houle und gibt sich Feuer. Er fängt bei A an und versucht nichts auszulassen; und mit dem letzten Schluck Wodka aus seinem Glas beendet er die Geschichte.

Draußen wird es dunkel. Lena hat bereits ihr zweites Glas Wodka-O in der Mache.

„Ich kann’s nicht glauben“, sagt sie, „und so ein Schwein läuft frei rum.“

„Es gibt sicher noch einige mehr von der Sorte, die frei rumlaufen“, sagt Hannes. „Die sich nie für ihre Verbrechen vor Gericht verantworten mussten. Sie wohnen gleich nebenan und kaufen beim selben Bäcker ihre Brötchen, wie du!“

„Boh … Wenn ich daran denke wird mir ganz schlecht“, sagt Lena und schüttelt sich.

„Und“, stellt Müller die Frage in den Raum, „was soll ich jetzt machen, Hannes?“

Hannes nimmt den Briefumschlag, holt ein Taschenmesser aus der Jackentasche und öffnet ihn vorsichtig. Er schaut unsicher in die Runde und zieht eine Karte raus.

„Glück gehabt“, sagt er, „keine Bombe“, und lacht.

„Was steht drauf?“

Hannes liest:

„Sehr geehrter Herr Müller! Wie ich durch ihren Arbeitgeber, Herrn Brüggemeier, erfahren habe, sind Sie in den nächsten zwei Wochen durch Krankheit verhindert. Schade, dass es Ihnen durch besagten Umstand nicht möglich ist, der Haustechnik in meinem Anwesen einer umfassenden Kontrolle zu unterziehen. Sie sind mir als ein außergewöhnlich kompetenter Installateur aufgefallen und ich wüsste meinen Besitz unter ihren scharfen Augen in den besten Händen.

Wie Sie wissen, warf ihr letzter Einsatz bei mir einige unverhoffte Fragen auf, um dessen schnellstmögliche Klärung mir sehr gelegen ist. Ihnen, wie auch mir, lieber Herr Müller, sollte es ein Leichtes sein, diesen Umstand aus der Welt zu schaffen. Zumal ich mir sicher bin, dass Sie, wie Ihr werter Onkel, über einen gesunden Menschenverstand verfügen. Hochachtungsvoll, bla, bla, bla“, sagt Hannes.

Müller leert sein Glas. Die schleimige Doppelzüngigkeit des widerlichen Kriegsverbrechers macht ihn wütend.

„Der Wichser droht mir!“

„Das sehe ich auch so“, sagt Hannes und steckt den Brief in einen Plastikbeutel.

„Ich werde den Scheiß bei uns ins Labor geben und untersuchen lassen. Mit etwas Glück bekommen wir heraus, wer der Typ war, der deiner Nachbarin den Brief gegeben hat.“ Hannes steckt das Beweismittel in die Innentasche seiner Jacke.

„Würde dein Onkel Hermann denn jetzt gegen ihn aussagen?“

„Ich müsste ihn anrufen und fragen“, sagt Müller.

„Mach das“, sagt Hannes. „Ich muss mich beeilen, sonst komme ich zu spät zur Belobigung und falle in Ungnade.“ Hannes steht auf, hebt zum Abschied die Hand und geht zu Tür. Kurz bevor er raus geht, dreht er sich nochmal um.

„Ach, Rainer, mir ist grad was eingefallen.“

„Was denn? … Dass ich Polizeischutz kriege und du ab morgen jeden Tag hier rumlungerst?“

„Red kein Stuss, Müller. Ich hab eine Idee.“

„Lass hören, Hannes.“

„Damit du relativ uninteressant für den Bastard wirst, könnte ich ihn anrufen und …“

Aufgeregt fällt Müller Hannes ins Wort:

„Bist du noch ganz dicht, Hannes?! Du kannst dem Drecksack doch nicht sagen, dass ich ausgepackt hätte und ihn damit ans Messer geliefert habe! Der alte Wichser hätte nichts mehr zu verlieren und du weißt, wozu der fähig ist!“

„Hannes hat recht“, sagt Lena. Sie hat schon leicht Schlagseite. Der Sekt, das Bier und der Wodka machen sich bemerkbar.

„Ich glaub, Hannes, will damit sagen, wenn der alte Wichser weiß, dass seine Geschichte längst die Runde gemacht hat, wird er ‘nen Scheiß tun um sich noch tiefer reinzureiten. Wenn dir was passieren würde, mein süßer Rammler, würde man sofort ihn in Verdacht haben.“

Lena schmeißt sich in Müllers Arme und steckt ihm ihre Zunge in den Hals.

Hannes muss sich einen lauten Lacher verkneifen. Er wartet bis sie fertig sind.

„Lena hat’s auf den Punkt gebracht“, sagt er. „Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.“

„Siehste“, sagt Lena und boxt Müller spielerisch auf den Oberarm, „ich wär ‘ne super Bullette geworden … wenn ich gewollt hätte.“

„Kein Zweifel“, sagt Hannes, hebt nochmal die Hand und zieht die Eingangstür hinter sich ins Schloss.

In Müllers Wohnung wird es kurz ruhig. Neben der Deckenleuchte sitzen zwei Fliegen und poppen. Eine andere legt sich mit der Glühbirne an und verbrennt sich den Arsch. Sie lässt nicht locker. Sie verbrennt sich den Arsch, fliegt eine kurze Runde um die Birne, setzt sich drauf und verbrennt sich wieder den Arsch.

„Irgendwann wird ihr kleiner Arsch ihr das übel nehmen“, denkt Müller.

Lena lehnt sich an seine Schulter und macht die Augen zu.

„An was denkst du gerade?“

„Nichts. Ich sehe mir die Fliegen an der Decke an. Ich hab gar nicht gewusst, dass die, während sie ficken, fliegen können.“

„Wär schön, wenn wir das auch könnten“, nuschelt Lena.

„Noch einen Drink?“, sagt Müller.

„Nee, ich bin schon besoffen. Ich muss auch gleich wieder los.“

„Mit dem Auto?“

„Wenn ich stramm bin kann ich am besten Auto fahren. Da hätte nicht mal Vettel ‘ne Chance, mein süßer Stinker.“

„Du musst es ja wissen“, sagt Müller und schaut den drei Fliegen weiter zu.

 

Er hat schon vor längerer Zeit aufgegeben, Besoffene vom Fahren abzuhalten. Es ist der reinste Stress und sinnlos. Vertane Energie. Manchmal kommt es soweit, dass man sich am Ende in einer wüsten Rangelei am Boden wiederfindet. Also wozu das Ganze.

 

„Ich werd bis Sonntag weg sein“, sagt Müller.

„Warum?“ Lena ist augenblicklich hellwach. Sie löst sich von Müller und schaut ihn ernst an. Ihre Augen sind vom Alkohol leicht gerötet.

„Du wirst dich mit dieser Schlampe treffen, die dir den Rücken zerkratzt hat …, stimmt‘s?“

„Nein.“

„Du mieser alter Knochen. Du wirst dich mit ihr treffen, ich weiß es. Mir machst du nichts vor!“

Lena steht auf und rennt wütend im Zimmer umher.

„Dann sag mir endlich, wie das passiert ist, oder ich gehe gleich durch diese Tür da und du siehst mich nie wieder!“ Lena bleibt stehen und zeigt auf die Eingangstür.

Müller nimmt den Tabak und fängt an zu drehen.

„Wenn man so will, war es fast eine Vergewaltigung“, sagt er.

Lena steht breitbeinig und mit verschränkten Armen vor der Brust in zwei Metern Entfernung vor Müller und wippt nervös mit dem rechten Fuß.

„Wie …, du wolltest die Frau vergewaltigen?!“ Lenas Stimme wird lauter.

„Nein …, sie mich“, sagt Müller, „und steh da nicht so blöd rum. Setz dich lieber. Es geht mir auf den Sack, wie du da stehst.“

„Ich will dir ja auch auf den Sack gehen“, sagt Lena, „und sitzen will ich auch nicht!“

„Wenn du dich nicht auf denen Arsch setzt, rede ich keinen Ton mehr“, droht Müller.

Er nimmt sich die Wodkaflasche, füllt das Glas bis zur Hälfte und kippt es in einem Zug runter. Lena kocht. Sie glüht. Sie ist voll drauf. Ihre Augen sind starr auf ihn gerichtet und funkeln ihn böse an.

„Du kannst hier keine Forderungen stellen, du Arsch! Du hast mich beschissen und sitzt da und säufst Wodka als wenn nichts gewesen wär!“

Lena geht zu ihrer Monstertasche und fetzt wütend ihren Minirock und das weiße Top rein.

„Hör zu, Lena“, sagt Müller ruhig. „Ich hab dir schon ein paarmal gesagt, dass ich nichts mit der Frau hatte. Ich kenn sie ja nicht mal.“

„Hör auf mich zu verarschen! Dein Rücken sieht aus, als hättest du mächtig Spaß gehabt! Du stehst wohl auf Schmerzen beim Ficken, was?! Dann kannst du dich ja jetzt freuen! Ich verpiss mich nämlich! Kannst dir von ihr in Ruhe den Arsch versohlen lassen bis dir Scheiße raus kommt! Mich siehst du jedenfalls nie wieder!“

Lena steigt in ihre Sneakers und stampft ins Bad. Als sie wieder rauskommt, hat sie ihre Fickmichstiefel in der Hand. Sie geht einen Schritt in den Flur, nimmt Müller ins Visier und feuert. Beide Stiefel nehmen Kurs auf ihn. Einer landet krachend vor dem Couchtisch auf den Fußboden und der andere erwischt ihn mit dem Absatz über dem linken Auge. Müller hat ihn kommen sehen und es war ihm egal. Das Bier-Sekt-Wodka-Gemisch in seinem Magen hat ihn träge werden lassen. Er weiß, jeder normale Mensch würde jetzt aufspringen und ausrasten. Aber in ihm breitet sich in solchen Situationen eher sowas wie eine lethargische Ruhe aus und das macht sein Gegenüber in der Regel noch wütender.

Müller spürt, wie ihm das warme Blut über die Augenbraue läuft und auf den Fußboden tropft und er fragt sich, wie viel von dem roten Zeug noch durch seine Adern fließt und wie viele Leben er damit hätte retten können, wenn er, anstatt sich mit Frauen einzulassen, lieber zum Blutspenden gegangen wäre. Auf jeden Fall wäre er um ein paar Euros reicher gewesen und hätte sich von dem Geld in Ruhe einen ansaufen können, ohne diese ganze sinnlose und nervtötende Folklore über sich ergehen lassen zu müssen.

„Die Knifte is gegessen“, denkt Müller und setzt die Wodkaflasche an. Die Flasche ist noch halbvoll. Müller nimmt zwei große Schluck und stellt sie wieder auf den Tisch. Die Fliegen an der Zimmerdecke haben aufgehört zu poppen und sind verschwunden.

Lena hat ihre beiden Geschosse bereits eingesammelt und zu den anderen Sachen in die Tasche geworfen. Sie schultert das Monster, schaut Müller an und zischt böse:

„Wenn du glaubst, dass mir das leid tut, hast du dich geschnitten.“

Müller greift erneut zur Wodkaflasche und prostet ihr zu.

„Das ist mir scheißegal“, sagt er. „Du bist genauso gehässig wie alle Weiber. Das liegt in eurer Natur. Warum solltest du auch anders sein. Ihr blöden Schnepfen dreht wegen jedem Piss immer gleich durch!“ Müller setzt die Flasche an und trinkt.

„Okay“, sagt Lena, „du Jammerlappen. Besauf dich ruhig und ertränk dein Selbstmitleid im Alkohol. Aber gib nicht den Frauen die Schuld an deinem Bockmist. Mich bist du auf jeden Fall los.“

Lena trabt aus Müllers Bude, knallt die Tür hinter sich zu und lässt ihn da sitzen. Müller schaut zur Zimmerdecke. Die Fliegen sind wieder da. Diesmal ist die Fliege mit dem verbrannten Arsch am Pimpern und die andere schwirrt im Zickzack um die beiden rum und versucht gelegentlich, dazwischen zu kommen. Aber die mit dem verbrannten Arsch lässt sich von nichts abbringen und pimpert ungeniert weiter.

Unten auf der Straße heult ein Motor auf. Dann das Geräusch von durchdrehenden Rädern auf Asphalt. Müller geht ins Bad, reißt sich eine Hand voll Toilettenpapier von der Rolle und drückt es auf die Platzwunde. Er schaut in den Spiegel und zwinkert sich zu. Sarkasmus war schon immer eine seiner größten Stärken. Er half ihm in der Vergangenheit über vieles hinweg und ist der perfekte Tresor für unverarbeitete Probleme. Eine unsichtbare Tarnkappe aus bitterem Spott und Hohn. Lena wird ihm schwer abgehen, das weiß er. Mit dem Lokuspapier in der Hand geht er zurück ins Wohnzimmer und setzt sich an den PC. Er findet die Daten von der Zugverbindung und den Fährzeiten und druckt sie aus. Müller trinkt den Rest Wodka, raucht dazu, stellt den Wecker auf sechs Uhr und legt sich aufs Bett. Er denkt darüber nach, ob Fliegen sowas wie Eifersucht, oder Verlust empfinden können und schläft dabei ein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

49. Kapitel: Die Flucht Teil 1

 

Müller erwischt den IC um sieben Uhr achtundvierzig. Die billigere Regionalbahn verkneift er sich. Striktes Alkoholverbot. Er hatte sich vorweg am Bahnhofskiosk vier Dosen Bier gekauft und sich einen Platz in Fahrtrichtung am Fenster geangelt. Der Wagon ist fast leer. Neben ihm sind noch zwei Sitzplätze frei und Müller hofft, dass es bis Hamburg auch so bleibt. Müller knackt die erste Dose und schaut aus dem Fenster. Wenn ihm jetzt der Scheiß Schaffner noch das Rauchen erlauben würde wäre alles geritzt. Aber diesen Luxus haben schon vor etlichen Jahren irgendwelche fundamentalistischen Nichtrauer abgeschafft. Müller muss sich fügen; und wenn Müller von den vielen Dingen, die ihm nicht behagen, eine Sache ganz besonders auf die Nieren schlägt, ist es, sich fügen zu müssen. Eine typisch deutsche Eigenschaft, mit der Müller sich niemals abfinden wird.

Müller ist verkatert. Das frühe Aufstehen nach einem Besäufnis bekommt ihm nicht. Sein verkorkster Magen protestiert gegen den ersten Schluck Bier mit einem leichten Würgereiz. Müller stößt sauer auf und schluckt das eklige Zeug wieder runter. Beim zweiten Anlauf fühlt es sich schon etwas besser an. Die Toilette ist ganz in der Nähe, nur für den Fall.

Als der Zug Osnabrück hinter sich gelassen hat, legt er noch einen Zahn zu und presst Müller in den Sitz. Er spürt seinen Rücken wieder. Die Haut spannt und lässt keine abrupten Bewegungen zu. Für die Wunde über seinem linken Auge reicht ein Pflaster. Lena hat ihm mit ihrem Stiefel nur einen Streifschuss verpasst.

 

 

50. Kapitel: Müller beim Bund

 

Es ist lange her, dass Müller mit dem Zug unterwegs war und das auch nur zwangsläufig. Er war gerade Zwanzig geworden und hatte den Einberufungsbefehl in der Tasche. Der Staat wollte aus ihm einen Soldaten machen.

Sein Kumpel Ludwig brachte ihn damals zum Bahnhof. Müller hatte das Ticket eine Woche vorher mit der Post bekommen. Die Fahrt war gratis. Deutschland sorgte schließlich für sein Kanonenfutter. Ludwig begleitete Müller auf den Bahnsteig. Sie hatten am letzten Abend seinen Abschied gefeiert und die Nacht durchgezecht. Es war kalt an diesem Morgen im Februar. Auf dem Bahnsteig wimmelte es von jungen Rekruten. Viele waren mit ihren Eltern gekommen und einige Mütter hatten Papiertaschentücher in den Händen und weinten. Es war ein Bild wie aus dem Zweiten Weltkrieg, nur dass es keine Dampfloks mehr waren, die die armen Schweine an die Front karrten. Müller und Ludwig hatten sich ein geschütztes Plätzchen in einem Wartehäuschen ergattert. Der Wind pfiff eisig um die Ecken und brachte Neuschnee mit. In dem Häuschen gab es einen Ausschank und Müller und Ludwig hielten sich am Glühwein. Sie hatten beide den Punkt längst überschritten und konnten trinken was sie wollten, der Alkohol setzte ihnen nicht mehr zu. Ihr Zustand blieb der gleiche, egal, wie viel sie noch in sich reinkippten. Neben dem Ausschank bollerte ein alter Ölofen und sorgte für eine halbwegs angenehme Temperatur. Das Volk war gemischt. Vom zerlumpten Penner bis zum geleckten Anzugträger war alles vertreten und jeder versuchte in die Nähe des Ofens zu kommen, um sich die Wartezeit ein wenig erträglicher zu machen. Es war die Zeit, als man noch auf dem Bahnsteig rauchen durfte und fast jeder in dem kleinen Raum machte ausgiebig Gebrauch davon. Die Aschenbecher auf den wenigen Tischen quollen über und es stank nach kalter Asche, saurer Milch, Furz und abgestandenem Bier. Hier und da unterhielten sich die Leute, meist übers Wetter, oder über Sport. Einige waren erkältet, oder der Zigarettenqualm machte ihnen zu schaffen. Sie husteten und rotzten in einer Tour. Müller und Ludwig ging das alles am Arsch vorbei. Sie waren viel zu bedröhnt, um noch klar denken zu können. Der Alkohol hatte sie unverwundbar gemacht. Sie hätten jeden, der ihnen dumm gekommen wäre, ohne mit der Wimper zu zucken auf die Bretter geschickt. Sie fühlten sich wie Outlaws, Gesetzlose, mit einer reichlich lockeren Knarre am Gürtel.

Müllers Zug kam pünktlich. Es sollte nach Goslar gehen. Die Mütter umarmten ihre kleinen Helden und einige Väter blickten stolz aus der Wäsche. Es gab doch immer noch genug Plattköppe in der BRD, die ihren Politikern blind vertrauten. Die einen höheren Sinn in der ganzen Angelegenheit sahen und mit feuchtem Schlüpfer am Arsch ihre Kinder fürs Vaterland opferten. Müllers Vater war auch einer von der Sorte gewesen. Er traute zwar den Politikern nicht über den Weg, aber in der Bundeswehr sah er immer eine Chance, die alten Werte wieder aufblühen zu lassen.

Müller verabschiedete sich von Ludwig und stieg in den Zug. Er hatte außer eine Tüte mit Bierdosen und Tabak kein Gepäck dabei. Sie würden ihn eh in eine ihrer Scheiß Uniformen stecken, also was soll‘s. Müller fand noch einen Platz in einem Raucherabteil für acht Personen. Das Abteil war mit einer Glasschiebetür vom Personengang getrennt. Der Sitz an der Schiebetür war noch frei, alle anderen Plätze waren schon mit aufgeregten und nervös dreinschauenden Frischlingen besetzt. In ihren Augen spiegelte sich die Angst. Sie waren brutal von der warmen Zitze ihrer Mutter gerissen worden und mussten nun sehen, wie sie alleine klar kommen würden. Sie hatten gerade ihre Lehre hinter sich gebracht, oder ein Jahr als Geselle gearbeitet und wohnten noch Zuhause. Der läppische Sold, den ihnen der Staat für ihre Dienste an der Waffe zahlte, war nicht den Dünnschiss wert für das, was ihnen in den nächsten fünfzehn Monaten bevor stehen sollte. Sie sollten Kameraden werden. Eine Truppe gehirnloser Marionetten, die auf Befehl im Gleichschritt alles niederwalzt, was sich ihr in den Weg stellt.

Die Jungs im Abteil fingen an zu schnattern. Jeder wollte cool sein und einer davon prahlte damit, sich für fünfzehn Jahre zu verpflichten. Müller saß in seiner Ecke und ihm war es egal, was die anderen plapperten. Er leerte die Bierdosen bis Hannover, musste umsteigen und fand im Zug nach Goslar einen Fensterplatz. Ihm gegenüber saß ein alter Mann im braunen Anzug. Er fing damit an, ihm seinen Bockmist aus dem Krieg vor die Füße zu kotzen. Einmal Soldat, immer Soldat. Müller machte die Augen zu und ignorierte den alten Furz.

Als der Zug in Goslar in die Eisen ging, war es bereits dunkel. Am Bahnhof, standen schon die grünen Armeebusse bereit, als Müller mit seiner leeren Tüte durch den Hauptausgang auf den Vorplatz eierte. Der Cocktail aus Weinbrand-Cola, Glühwein und Bier in seinem Magen sabotierte seine Motorik. Er war nicht mehr in der Lage geradeaus zu gehen und setzte sich für einen Moment auf eine Mauer neben einem Fahrradständer. In Goslar lag mehr Schnee, als in Osnabrück. Zwanzig Meter vor ihm, versuchte ein fickeriger Unteroffizier, einen Hühnerhaufen von fünfzig Neulingen, in eine geordnete Formation zu bringen. Der UFZ wurde immer lauter und hektischer. Vor seinem großen Maul bildeten sich weiße Kondenswasser-Wolken. Einigen Neulingen wurde die Schreierei zu viel und sie fingen an zu weinen. Müller erkannte den Typen, der sich verpflichten wollte. Er gehörte auch dazu. Wäre Müller an diesem Abend nicht pleite gewesen, hätte er auf dem Absatz kehrt gemacht und sich in den nächsten Zug nach Osnabrück gesetzt. So war er froh, dass er den ganzen Scheiß nicht nüchtern ertragen musste.

Sie beluden die Busse und Müller ließ sich einfach mitziehen. Die Kaserne war etwas außerhalb von Goslar. Die Fahrt ging über verschneite Straßen und im Bus ging das Geschnatter wieder los. Ganz vorne, rechts neben dem Fahrer, saßen ein Hauptgefreiter und ein Feldwebel. Der Feldwebel zog ein Mikro aus dem Armaturenbrett und befahl der aufgebrachten Meute, die Schnauze zu halten. Ansonsten würde er der gesamten Busbesatzung, außer ihm, dem Busfahrer und dem Hauptgefreiten, zwei Wochenenden Dienst in der Kaserne aufbrummen. Schlagartig wurde es still im Bus. Hier und da flüsterten noch ein paar, aber eher, um sich gegenseitig zurechtzuweisen. Das war das erste Mal, dass Müller und seinen Kameraden mit einer Kollektivstrafe gedroht wurde. Sie sollten schnell merken, dass das die Lieblingsmasche der Ausbilder war. Keiner wollte der Auslöser dafür sein das die Kameraden am Wochenende Strafdienst schieben mussten ohne Mist gebaut zu haben. So funktionierte der Laden. Den Unbelehrbaren drohten sie mit Kaffee-Viereck, dem Kasernengefängnis.

Der Bus stoppte vor einer Schranke am Haupttor. Die Wache und der Feldwebel wechselten ein paar Worte und es ging weiter. Die Schranke ging nach oben und der Bus fuhr aufs Kasernengelände. Es gab zahlreiche, in einem hellen Ockerbraun getünchte, große, mehrstöckige Gebäude. Der Bus hielt vor jedem Gebäude und der Hauptgefreite zückte jedesmal ein Clipboard und verlas die Namen der Jungs, die ihr Ziel erreicht hatten und aussteigen mussten. Müller musste bei Nummer sieben den warmen Bus verlassen. Vor jedem Gebäude gab’s einen großen Hof, auf dem sich alle neuen Rekruten versammeln mussten, die für dieses Gebäude eingeteilt waren. Und damit den Neulingen im eisigen Wind von Goslar nicht langweilig wurde gab es wieder ein Mordsgeschrei um die richtige Marschordnung. Drei Reihen hintereinander und eine Armlänge auseinander und das Ganze nach Größe. Die Meute bewegte sich und lief kopflos durcheinander und bei einigen brach die pure Panik aus. Es dauerte eine Weile, bis der Schreihals vorne einigermaßen zufrieden war und das Maul hielt. Müller hatte sich die ganze Zeit nicht von der Stelle gerührt und suchte sich am Schluss einen Platz in der letzten Reihe. Es gab eine Belehrung über die Pflichten des deutschen Soldaten. Rechte gab es keine. Ein deutscher Soldat hat zu gehorchen und selbstlos seine Befehle auszuführen, mehr nicht.

„Das deutsche Grundgesetz taugt hier nur noch zum Arschabwischen oder zum Feuermachen damit einem die verdammten Eier im Feld nicht abfrieren!“,belehrte sie der Oberfeldwebel und fand sich dabei richtig komisch.

Einige aus den vorderen Reihen lachten. Müller konnte nichts Witziges an dem dämlichen Spruch finden und erwischte sich bei dem Gedanken, was wohl passieren würde, wenn er dem Arschloch eins in die Fresse hauen würde.

Die Belehrung dauerte circa eine halbe Stunde und dann durften Fragen gestellt werden. Bei der Saukälte hatte kaum einer Lust Fragen zu stellen und somit war der Teil schnell erledigt.

Im Kompaniegebäude ging die Brüllerei weiter. Alles sollte im Laufschritt passieren und gleichzeitig geordnet. Müller wurde schlecht bei dem Gerenne und sein erster Weg führte ihn direkt auf die Mannschaftstoilette. Er kotzte die halbe Pissrinne voll und hängte sich danach unter einem der vielen Wasserhähne. Das Wasser tat ihm gut und er spritzte sich noch eine Hand voll ins Gesicht, bevor er sich wieder auf den Weg machte, um sein Bett zu finden. Schlaf war immer noch das beste Mittel gegen Kater. Neben den Türen der einzelnen Stuben an der Wand, hingen Schilder mit den Namen und dem Dienstgrad der Rekruten drauf. Müller fand seinen Namen inmitten von fünf anderen Namen im zweiten OG. Flieger Rainer Müller stand drauf. Müller wusste, dass er bei der Luftwaffe gelandet war, aber gleich als Flieger?

Müller ging rein. In der Stube gab es drei Etagenbetten aus Metall und für jeden Bewohner einen Spind. Seine fünf Stubenkameraden hatten sich schon ihre Betten reserviert und verstauten emsig ihre paar Habseligkeiten in die freien Fächer ihrer Spinde. Der für ihre Stube zuständige Ausbilder hieß Motzig. Er war Unteroffizier. Als er zur Luftwaffe kam, wollte er Jetpilot werden, aber er fiel durch die Gesundheitsprüfung. Schließlich wurde er Ausbilder in Goslar und hatte sich um das neue Bodenpersonal zu kümmern.

Müller legte sich auf das freie Bett und machte die Augen zu. Das Bett stand gleich links neben der Tür. Sie hatten ihm das obere Bett gelassen. Die graue Matratze hatte schon einiges durchgemacht und war von hunderten von schwitzenden Soldatenärschen zerschlissen und durchgelegen. Sie stank nach Muff, Pisse und Tod. Dass Müller die ganze Sache nicht ernst nahm und sich gleich zum Pennen aufs Bett legte, war der Grund für seinen ersten Anschiss. Motzig, der eigentlich Jetpilot werden wollte, schrie sich ungefähr zwei Minuten lang die Seele aus dem Leib und ließ Müller dabei stramm stehen. Müller lernte dabei das Jawoll-Wort kennen. Bei den höheren Dienstgraden war dieses Wort sehr beliebt und löste damit das einfache „Ja“ ab. Das einfache „Ja“ machte sie sauer.

Müller war im Delirium und hatte dicht gemacht. Motzig ließ ihn kalt. Er fand es nur erstaunlich, dass der Typ den ganzen Scheiß, von wegen, Gehorsamkeit und Ehre eines deutschen Soldaten, den er da von sich gab, selber glaubte.

Als alle Rekruten wussten, wo sie in den nächsten drei Monaten zu pennen hatten, ging‘s wieder im Laufschritt nach draußen auf den Hof. Diesmal klappte es schon etwas besser mit der Marschordnung und in Müllers Kopf entstanden die ersten Fluchtpläne, während sie von zwei besoffenen Ausbildern wie eine Horde Schafe zur Kleiderkammer getrieben wurden. Es gab für jeden Soldaten fünf Monturen weiße Feinrippunterwäsche, schwarze, gebrauchte, ausgelatschte Turnschuhe und einen blauen Trainingsanzug mit Bundesadler vorne auf der Jacke. Die Trainingsanzüge waren ebenfalls gebraucht und vom vielen Waschen lapprig und stumpf. Danach ging’s wieder zurück in die Stuben. Sie gaben Müller und seinen Kameraden fünf Minuten, um sich umzuziehen und sich dann wieder auf dem Hof zu versammeln. In den gebrauchten Trainingsanzügen sahen sie schlimmer aus als ein Haufen Penner auf dem Weg zur Suppenküche. Aber bei der deutschen Bundeswehr ging es eben nicht darum, gut auszusehen. Vielmehr ging es um die Einheit. Einheit war das Zauberwort. Einheit war das Alpha und das Omega des deutschen Soldaten und da hätten es im Ernstfall auch alte Kartoffelsäcke getan. Einheitlich in die Eier treten lassen, einheitlich das Gehirn am Kasernentor abgeben, einheitlich den Arsch fürs Vaterland hinhalten, einheitlich scheißen gehen, einheitlich onanieren … Einheitlich, einheitlich, einheitlich, … Müller fror in dem zerschlissenen Scheißding und ein dünner Junge vor ihm klapperte unüberhörbar mit den Zähnen, als sie da so standen, an einem Abend, im Februar, bei minus elf Grad Celsius. Die beiden besoffenen Ausbilder steckten in dicken Mänteln und hatten Fellmützen auf dem Kopf. Sie erzählten sich versaute Witze, als es, wieder im Laufschritt, zur Kantine ging. Die Kantine war ein öder großer Saal mit vielen Tischen und Stühlen drin. An den Wänden hingen Bilder von Flugabwehrgeschützen und Raketen und dazwischen ein Portrait vom Bundesverteidigungsminister. Der Typ hing überall rum. Im Kompaniegebäude hing er direkt am Haupteingang rum. Er war nicht zu übersehen, wenn man das Gebäude betrat. Müller wusste nicht mal seinen Namen. Aber damit stand er nicht alleine da. Über die Hälfte der Neuen wussten nicht, wie ihr neuer Chef hieß.

Es gab Graubrot, Käse und Wurst und dazu lauwarmen, verwässerten Kaffee. Man musste sich das Zeug an der Essensausgabe holen. Müller hatte keinen Hunger und saß nur rum. Es wurde nicht viel geredet. Es schien so, dass jeder mit dem Gedanken beschäftigt war, auf was für einen Scheiß er sich da eingelassen hatte. Ihre Laune war auf dem Tiefpunkt. Sie waren die Neuen, die Rotärsche, der Bodensatz, der unterste Dienstgrad der deutschen Luftwaffe, Schütze Arsch mit schlaffem Glied und jeder, außer sie selbst, konnte ihnen Befehle erteilen, konnte sie auf der Stelle hundert Liegestütze machen lassen, oder sie nachts aus den Betten holen und um die Kaserne scheuchen. Bei Befehlsverweigerung gab’s ein Disziplinarverfahren und einige Wochenenden Sonderdienst. Die meisten kamen aus behüteten Verhältnissen, hatten nie frieren müssen oder hungern. Sie waren es gewöhnt über Mutters Essen zu meckern, mit ihrer Clique einen drauf zu machen und ihre Girlys zehnmal die Woche zu pimpern. Jetzt meckerten sie auch übers Essen, aber sehr verhalten. Sie fingen an zu begreifen, dass Individualität hier nicht gefragt war und Denken schon gar nicht. In den nächsten fünfzehn Monaten waren sie ausgeliefert und konnten nur hoffen, dass ihre Ausbilder ein ausgeglichenes Sexualleben hatten und Eins und Eins zusammenzählen konnten.

Nach dem Abendbrot ging es wieder in Marschordnung vor die Kantine. Die beiden besoffenen Ausbilder zeigten ihnen, wie man als Soldat anständig grüßt. Rechter Daumen an die flache Hand und mit den Fingerspitzen ab an die Schläfe und alles zackig. So hatten sie jeden Vorgesetzten zu grüßen. Stramm stehen, Hand an die Stirn und immer laut und deutlich: „Jawoll!“ schreien.

Danach war Dienstschluss und sie ließen Müller und die anderen ohne Leine zurück ins Kompaniegebäude gehen. Müller war verkatert und hundemüde. Er legte sich ins Bett und ihm war klar, dass er diese Psychoscheiße keine drei Monate durchhalten würde. Er brauchte einen guten Plan.

Unteroffizier Motzig hatte so seine eigene perverse Art, seine Untergebenen zu wecken. Er nahm seinen Gummiknüppel vom Gürtel und drosch damit auf dem nächstgelegen Bettgestell herum. Ein Glück für Müller, dass Motzig Rechtshänder war und sich mit Vorliebe das Bett seiner Kameraden vornahm. Müllers Bett stand links neben der Tür, das seiner Kameraden rechts. Es war fünf Uhr dreißig am Morgen und draußen noch dunkel, als sich zum ersten Mal ernsthafte Mordgedanken gegen seinen Ausbilder in Müllers Kopf breit machten. Nach der Knüppelattacke ging die Brüllerei wieder los und augenblicklich standen alle wie ein Haufen verschreckter Hühner in Habachtstellung neben ihren Betten. Manfred Bunter hatte das Bett unter Müller. Er war es gewohnt, nackt zu schlafen. Manni machte kein Geheimnis aus seinem ausgeprägten Sexualtrieb und hatte sich während der Nacht mindestens viermal einen runtergeholt. Wenn Manni am ackern war, brachte er das ganze Bett zum wackeln und befahl irgendeiner seiner imaginären Wichsvorlagen, ihn von oben bis unten vollzupissen. Manni war ein großer Fan von Natursektspielchen und hatte seiner Neigung entsprechend auch einige Pornos dabei. Manni nannte das:

„Ansicken.“

Außer Manni hatten alle anderen irgendwelchen Stoff am Körper. Unterhose mit T-Shirt, nur Unterhose, oder Schlafanzug. Nur Manni stand nackt in Habachtstellung vor Motzig und Motzig machte sich einen Spaß daraus. Er ließ ihn die Stubenmeldung machen. Aber Manni ließ Motzigs Versuch, ihn vor seinen Kameraden lächerlich zu machen, kalt. Er grinste Motzig in die dumme Fresse und zog fehlerlos mit halbsteifem Pimmel und der flachen Hand an der Stirn, die Meldung durch. Motzig verstaute seinen Gummiknüppel, befahl ihnen die Betten zu bauen und verschwand. Diese Schlacht hatte ohne Frage Manni gewonnen. Müller fing an, Manni zu mögen.

Nach dem Frühstück ging es wieder in die Kleiderkammer. Es gab für jeden einen Kampfanzug und einen kleinen und einen großen Dienstanzug. Zurück in der Stube zeigte Motzig ihnen, wie man ein Hemd auf DIN A-4 faltet und wie ein anständig sortierter Spind auszusehen hat. Zuhause hatte Mutti alles für sie gefaltet und einsortiert. Die Ergebnisse sahen dementsprechend aus. Motzig ließ sie so lange falten, bis es klappte und seinem Bild von Einheitlichkeit einigermaßen entsprach. Müller verstand nicht, wie sich ein erwachsener Mann, der einmal Jetpilot werden wollte, mit so einem Scheiß abgeben konnte. Kleinen Jungs beibringen, wie man mit dem Lineal Wäsche faltet und im rechten Winkel in die einzelnen Fächer eines Spinds verstaut.

Nach der Zickerei mit den Klamotten gab’s bis zum Mittag Formalausbildung. Das Marschieren in Dreierreihen wurde geübt. Es wurde wieder gebrüllt und geschrien was das Zeug hielt. Einige verloren dabei die Kontrolle. Sie wurden unsicher und kamen aus dem Tritt. Es gab ein heilloses Durcheinander in der Marschordnung und es wurde mehr gestolpert als marschiert. Ein schlechter Tag für Zehen und Achillesfersen. Müller bekam einen Tritt in die rechte Wade. Die Stiefel, die sie in der Kleiderkammer bekommen hatten, waren schwer und hart. Der Schmerz fuhr Müller augenblicklich durchs Bein und ließ ihn auf der Stelle stehen bleiben. Er ging in die Hocke und presste seine Hand auf die Wunde, um sich Linderung zu verschaffen. Seine ahnungslosen Kameraden schoben von hinten weiter nach und die Beiden direkt hinter ihm kamen nicht auf die Idee, nach links auszuweichen. Sie gerieten ins Straucheln und begruben Müller unter sich. Müller bekam seinen zweiten Anschiss und wurde ins Lazarett geschickt. Oberfeldwebel Wubbel wollte sicher gehen, dass Müller nicht simulierte. Danach hatte er sich wieder umgehend bei ihm zu melden. Der Stabsarzt erkannte ein kleines Hämatom und schmierte Salbe drauf. Müller bekam einen Zettel und die angebrochene Tube mit auf den Weg. Er sollte die Prozedur mit der Salbe mehrmals am Tag wiederholen. Dann humpelte er in Wubbels Büro, vergaß nach deutscher Soldatenmanier zu grüßen und war reif für den dritten Anschiss. Als Wubbel sich wieder beruhigt hatte, gab Müller ihm den Zettel. Wubbel überflog ihn kurz, drohte Müller, dass er nochmal Glück gehabt hätte und schickte ihn zu den Anderen in die Kantine, zum Mittagessen fassen. Es gab Natokitt (Kartoffelpulver mit Wasser angerührt) mit brauner Sauce oben drüber, Erbsen und panierte Leber. Zum Nachtisch grünen Wackelpudding. Was da auf dem Teller lag sah aus wie ein Haufen Dünnschiss. Als hätte jemand seine Innereien ausgeschissen und noch dreimal drüber gekotzt. Es war ein Trauerspiel. Formalausbildung machte hungrig und einige überwanden ihren Ekel und fingen an zu essen. Andere ließen ihrer Kreativität freien Lauf und formten Titten, Mösen und kleine Tiere aus der zähen Pampe. Dann gab es noch welche, die wütend mit der Gabel drin rumstocherten und leise vor sich hinfluchten. Ein Rekrut aus einer anderen Kompanie, regelte die staatlich verordnete Unverschämtheit auf seine Weise. Er stand langsam von seinem Stuhl auf, nahm Maß und pfefferte die ungenießbare Kacke samt Teller hinter die Essensausgabe. Er bekam wilden Applaus von der Meute und Dresche von den beiden Essensausteilern. Keiner von seinen Kameraden half ihm, als die wütende Küchencrew ihn in der Mangel hatte. Müller sah keinen Sinn für sich darin, ihm zu helfen. Schließlich wurde man in diesem Laden zur Gewalt erzogen. Wer so ein Ding abzog, musste mit Konsequenzen rechnen. Die Feldjäger ließen nicht lange auf sich warten und nahmen den verbeulten Helden mit. Die Jungs von der Küchencrew waren Angestellte und hatten mit der Soldatenscheiße nichts am Hut. Sie blieben von den BW-Cops unbehelligt.

Nach dem Mittag ging’s zum Kasernenfotografen. Sie brauchten von jedem ein Passbild für die Waffenkarte. Müller kam als letzter dran. Er setzte sich auf den kleinen Hocker vor die Kamera, grinste angestrengt ins Objektiv und war reif für den vierten Anschiss. Der Fotograf, ein Stabsunteroffizier, ermahnte ihn, auf der Stelle das dämliche Grinsen zu lassen. Schließlich sei er jetzt ein deutscher Soldat und ein deutscher Soldat hätte nicht zu grinsen. Müller legte darauf seine bösartigste Miene auf und sorgte dafür, dass dem Fotografen einer abging, während er auf den Auslöser drückte.

Das nächste Ziel war die Waffenkammer. Müller stand vor einem Holztresen mit Draht-verschlag von der Holzplatte bis zur Decke. In dem Drahtverschlag war eine kleine, viereckige Öffnung. Ein Gefreiter reichte Müller sein Gewehr durch die Luke und plapperte was von …, die Braut des Soldaten. Müller fragte ihn, wo die Wumme denn ihre Titten hätte und bekam den fünften Einlauf verpasst.

Müller fühlte sich immer mehr fehl am Platz und er sah für sich keine andere Möglichkeit mehr, als diesen Sauhaufen so schnell wie möglich zu verlassen. Er wusste, dass er früher oder später ausrasten würde. An der Zellentür von Kaffee Viereck, konnte er schon im Geiste seinen Namen lesen.

Es wurde Abend, die Ausbilder nahmen die Stuben ab und schließlich war Dienstschluss. Müller legte sich in die Koje und Manni zitterte sich unter ihm einen ab. Müller wartete bis Manni sein Ding gebracht hatte und machte die Augen zu.

Die Nächte waren viel zu kurz und Motzigs perverse Weckmethode mit dem Gummiknüppel änderte auch nichts daran, dass Müller permanent müde war und jede Gelegenheit für sich nutzte ein kleines Nickerchen zu machen. Er musste feststellen, dass es tatsächlich klappte, im Stehen zu pennen. Den meisten von seinen Kameraden ging es nicht anders. Sie waren mit der Zeit ein Haufen müder Soldaten geworden, die sich widerstandslos in den Arsch treten ließen.

 

„Und wenn der ganze Himmel voller Fotzen hängt ..., hier rührt sich kein Sackhaar!“

 

Den Spruch brachte Oberfeldwebel Wubbel jeden Morgen, bevor die elende Schinderei wieder losging. Er ließ die halbe Kompanie vor sich strammstehen und fand sich dabei wieder sehr originell. Und wenn er jemanden entdeckte, der sich am Sack kratzte, brüllte er:

 

„Sind Sie Pilot …? (Nein) Dann nehmen Sie gefälligst die Hände vom Knüppel!“

 

Noch einige beliebte Sprüche von Wubbel:

 

„Ich mache Sie so lang, dass Sie aus der Dachrinne saufen können!“

 

„Ich glaub, mir platzt gleich der Arsch ...! Dann fliegt aber die Scheiße!“

 

„Sie werden mich während Ihrer ganzen Bundeswehrzeit nur einmal lachen hören! ... Ha!

 

Wubbel war durch, Wubbel war kein Mensch mehr. Die Bundeswehr hatte ihn geschafft. Wubbel besaß seine eigene Fahne. Er trug sie unsichtbar vor sich her. Keiner konnte sie sehen, aber jeder konnte sie riechen. Der Dienst fürs Vaterland hatte ihn zum Alkoholiker werden lassen und sein Gehirn vernebelt. Müller versuchte sich vorzustellen, was aus Wubbel geworden wäre, wenn er kein Soldat geworden wäre. Aber Müller kam auf keinen grünen Zweig. Er konnte sich Wubbel einfach nicht als braven Ehemann und Vater, der einem geregelten Bürojob nachging, vorstellen. Manche Menschen waren eben genau für das geschaffen, was sie taten. Und so wurde Wubbel für ihn das personifizierte Abbild eines deutschen Soldaten. Wubbel erinnerte ihn an seinen Vater. Müller hasste Wubbel. Der Gefreite in der Waffenkammer hatte nicht ohne Grund den Befehl, die Knarren nur ungeladen an die Neuen zu verteilen. Nicht zuletzt zu seinem eigenen Schutz, sondern vor allem zum Schutz der Ausbilder.

Die meisten Rekruten setzten ihren Sold in Alkohol um. Nach Dienstschluss soffen sie sich den Frust von der Seele und es gab öfters Schlägereien zwischen den einzelnen Kompanien. Ein Sturmgewehr mit scharfer Munition wäre da fatal gewesen.

Unterm Dach des Kompaniegebäudes gab es einen Schulungsraum mit Tafel und allem Drum und Dran. Zweimal die Woche stand Theorie auf dem Dienstplan. Damals gab es noch ein klares Feindbild … Die Russen. Den Russen war nicht über den Weg zu trauen und Müller und seine Kameraden hatten dafür zu sorgen, dass sie ihre verstunkenen Bolschewistenschwänze aus den Mösen ihrer Mütter und Schwestern ließen. Aber Müller war sich gar nicht sicher, ob es ihm etwas ausgemacht hätte, wenn sich ein Russe mal seine Mutter vorgeknöpft hätte. Es hätte sein können, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben glücklich gewesen wäre. Sie wäre sicher der Überzeugung gewesen, dass es der Russe nur gut mit ihr meinen würde. So wie es Müllers Vater, auch immer nur gut gemeint hatte, wenn er die Pferdepeitsche aus der Ecke holte.

Nachdem sie Müller und den anderen eine Stunde lang ihr Feindbild eingetrichtert hatten, ging es im Dreivierteltakt weiter.

„Die blauen Dragoner“ hieß der Marsch. Sie reiten mit klingendem Spiel durch das Tor. Fanfaren sie begleiten. Der Weg zurück ins Heimatland so weit … so weit.

Den Marsch gab’s schon zu Kaiser Wilhelms Zeiten und wurde bereits im ersten Weltkrieg benutzt. Eins-zwei-drei … Eins-zwei-drei … Eins-zwei-drei … Sie saßen auf ihren Stühlen und Wubbel schwang den unsichtbaren Taktstock. Es waren ungefähr achtzig Rekruten in dem Raum und Wubbel befahl ihnen, im Takt mit den Füßen auf dem Boden zu stampfen. Eins-zwei-drei … Der Lärm war kaum auszuhalten. Achtzig Soldaten grölten und stampften und Wubbel hatte vorne einen stehen.

Als Müller die dritte Woche Irrenhaus hinter sich hatte, kamen zwei Männer vom MAD, Militärischer Abschirmdienst, in die Kompanie und lösten einiges an Aufregung unter den Rekruten aus. Es sollten Verhöre stattfinden. Motzig und die anderen Ausbilder beschwichtigten und erklärten, dass es nur reine Rutine sei und mit zur Ausbildung gehörte. Sie würden sich lediglich einige aus dem ganzen Haufen rauspicken und befragen. Müller war nicht wohl bei der Sache. Er hatte seine eigene Meinung und glaubte Motzig kein Wort. Und so wunderte er sich nicht, dass sein Name auch auf dem Zettel stand, den Motzig auf seinem Clipboart stecken hatte.

Die Typen vom MAD unterhielten sich leise, als Müller den Raum betrat. In der Mitte stand ein einsamer Tisch mit Akten drauf und drei Stühlen drum herum. Zwei Stühle waren bereits besetzt und der dritte war für Müller. Als Müller sich die beiden genauer anschaute, hatte er nicht den Eindruck, dass die viel los hätten. Sie sahen eher aus wie zwei verklemmte Erdkröten auf dem Weg zur Bibelstunde. Auf jeden Fall hatten sie nichts gemeinsam mit den Helden aus den amerikanischen Spionagestreifen. Die Kröten ließen Müller zwei Minuten lang im Raum stehen, bevor sie ihm den Stuhl anboten. Sie redeten nicht mehr und glotzten nur. Die eine Kröte nahm eine Akte vom Stapel, und schlug sie auf. Sie fragte Müller, ob er Müller sei und Müller sagte, ja. Dann fing sie an zu lesen. In der Akte waren alle Vergehen verzeichnet, die Müller bis dato auf dem Kerbholz hatte. Vom einfachen Ladendiebstahl, die Geschichte, als er mit Simone Bergmann auf der Autobahn unterwegs war und Ludwigs Golf zerlegt hatte, einmal Vandalismus und dreimal Körperverletzung. Für Müller kam das nicht überraschend, er hatte so etwas schon geahnt. Niemand wurde hier von den zwei Kröten per Los gezogen und in die Mangel genommen. Sie nahmen sich die Labilen vor. Die, die es mit den Gesetzen nicht so genau genommen hatten und sich bereits vor dem Richter hatten verantworten müssen oder sonstwie negativ aufgefallen waren. Rekruten mit einem schwachen Nervenkostüm. Leute, die einen oder mehrere Suizidversuche hinter sich hatten.

Als die Kröte fertiggelesen hatte, schloss sie die Akte wieder und legte sie auf einen anderen Stapel. Die andere Kröte saß weiter einfach nur da, schwitzte und glotzte. Sie war wahrscheinlich der Beobachter, oder Profiler, der Psychoanalytiker.

Die Kröte, die nicht einfach bloß so da saß wollte wissen, weshalb Müller all diese Straftaten begangen hätte und ob er die dafür verhängten Strafen als gerecht empfunden hätte. Müller war, wie fast an jedem Tag, übermüdet und verkatert und alles andere als gesprächig. Da saßen zwei Arschgeigen vom MAD vor ihm und stocherten in seiner Vergangenheit rum. Müller hatte den Eindruck, dass die beiden auch vor Gewalt nicht zurückschrecken würden um an ihr Ziel zu kommen. Aber darauf hätte er es jederzeit ankommen lassen. Was das betraf war er von seinem Alten schon sehr früh geeicht worden. Müller kannte sich mit Schmerzen aus. Aber soweit kam es nicht. Müller sagte den Beiden, dass sie ihm und sich viel Zeit sparen würden, wenn sie sich einfach seine Strafakte vom zuständigen Gericht besorgen würden und sie durchlesen würden, anstatt hier zu sitzen und ihm auf den Sack zu gehen.

Für einen Wichser, der glaubte, vom Bundeskanzler persönlich die Erlaubnis erhalten zu haben, jedem verdächtigen Bundesbürger aus Staatsschutzgründen seinen dreckigen Zeigefinger ins Arschloch zu stecken, war Müllers Antwort Grund genug, geschlagene drei Minuten auszurasten. Er ließ dabei einen ganzen Haufen von Bestimmungen und Paragraphen vom Stapel, die einen deutschen Soldaten dazu verpflichten, jede Frage, die ihm vom MAD gestellt würde, wahrheitsgemäß zu beantworten. Ansonsten wäre er befugt, eine Beugehaft anzuordnen. Müller beeindruckten die Belehrungen und Drohungen der Kröte nicht sonderlich. Er fragte sich eher, ob so eine Beugehaft für eine unehrenhafte Entlassung reichen würde. Müller spürte auf einmal so etwas wie, Hoffnung. Ein kleines Licht am Horizont. Was wären schon ein paar Tage Knast, gegen fünfzehn Monate Schwachsinn?

Die Kröte unterbrach Müller in seinen Gedanken und brachte die Russen wieder mit ins Spiel. Er fragte ihn, was er tun würde, wenn ein Russe ihm spezielle Fragen über die Kaserne stellen würde oder ihm sogar Geld dafür anbieten würde. Müller sagte der Kröte, dass er davon überzeugt wäre, dass der Russe es sicher nicht nötig hätte, ihn als untersten Dienstgrad der deutschen Luftwaffe zu fragen, was es in der Kaserne für Geheimnisse gäbe. Er würde vielmehr davon ausgehen, dass der Russe schon mehr über den Laden wüsste als so manch einem lieb sei.

Diese Antwort von Müller war gut genug für einen Fünf-Minuten-Ausraster. Die Kröte kriegte sich kaum noch ein. Sogar dem Stillen fiel die Kinnlade runter und eröffnete Müller einen Blick auf zwei verfaulte Schneidezähne. Müller fragte sich, ob der Typ heimlich kifft, während der andere ihm maßlose Dreistigkeit und Rebellion bis hin zu kriminellem Anarchismus, vorwarf. Er wäre ein sehr schlechtes Beispiel für seine Kameraden. Müllers Hoffnung auf unehrenhafte Entlassung wuchs.

Es dauerte fast eine Stunde, bis die zwei Kröten genug von Müller hatten und ihn nicht einlochten, sondern gehen ließen. Müller war fast die Enttäuschung anzusehen als Ausbilder Motzig ihn fragte, ob es schlimm gewesen wäre. Müller sagte ihm, dass er mit den beiden Jungs vom MAD Brüderschaft getrunken hätte und nach der Bundeswehrzeit eine Karriere als Agent anstreben würde. Motzig grinste nur und ließ Müller da stehen. Anscheinend wusste er mehr, als er sagte.

Die Wochen vergingen und Manni Bunter wichste. Manni kannte keine Scham. Er machte es sogar vor versammelter Mannschaft. Manni hatte dabei nur seine Bundeswehrstiefel und ein weißes Feinrippunterhemd mit Bundesadler vorne drauf an. Manchmal nahm er auch noch den Stahlhelm dazu. Manni gab ein skurriles Bild von einem deutschen Soldaten ab, wenn er mit seinem Ding in der Hand am Stubentisch saß und vor sich eines seiner Natursekt-Pornos liegen hatte. Sein Lieblingsporno hieß: Willige Pissfotzen mögen’s nass und warm.

Müller kam erst viel später darauf, dass Exhibitionismus zu Mannis Plan gehörte, frühzeitig aus der Bundeswehr gefeuert zu werden. Sie sollten ihn für einen unberechenbaren Idioten halten, der die Moral der Truppe untergräbt. Manni nahm dabei auch Drogen zur Hilfe und irgendwann, nach einer Alarmübung, schafften sie ihn ins Lazarett. Er hatte sich irgendwas eingeklinkt und war nicht mehr ansprechbar gewesen. Der Stabsarzt schickte Manni zu weiteren Untersuchungen ins Bundeswehrkrankenhaus nach Osnabrück und dort entließen sie ihn schließlich aus der Bundeswehr. Mannis Plan war aufgegangen. Er hatte die Scheiße hinter sich gelassen und konnte sich wieder wichtigeren Dingen widmen. Das Letzte, was Müller von ihm hörte, war, dass er sich in New York in den USA herumtrieb und als Boxer im Halbschwergewicht Karriere machte.

Müller war damals neidisch auf Manni. Aber in aller Öffentlichkeit pellewemsen, um sein Ziel zu erreichen, kam für ihn nicht in Frage. Es musste etwas anderes geben, um der deutschen Bundeswehr einen Grund zu liefern, ihn zu feuern.

Müller hatte bereits zwei Monate AGA (Allgemeine Grundausbildung) hinter sich. In der Kompanie schräg gegenüber hatten zwei Rekruten das Problem auf ihre Weise gelöst und sich auf dem Dachboden des Kompaniegebäudes an einen Balken gehängt. Der Chef der Kompanie war allgemein als harter Knochen bekannt und jeder, der unter ihm diente, hatte nichts zu lachen. Wenn Müller und die anderen am Freitag, nach Dienstschluss, längst auf dem Weg zum Bahnhof waren, um den nächsten Zug nach Hause zu erwischen, hatten die Jungs vom harten Knochen noch einiges an Arbeit vor sich. Er ließ sie sogar den großen Hof vor dem Kompaniegebäude mit Schrubber und Seife bearbeiten. Der Mann war eindeutig krank. Es war auch kein Geheimnis, dass er, wie so viele vom Stammpersonal, zu oft zur Flasche griff. Aber anscheinend war man als Säufer bei der Bundeswehr gut aufgehoben. Ein sicherer Job für Alkoholiker, Geisteskranke und Menschen, die in der freien Wirtschaft keinen Fuß auf den Boden kriegen würden. Ein Haufen Verlierer mit Befehlsgewalt in grünen Tarnanzügen. Eine gefährliche Mischung. Aber was soll‘s, der Krieg war vorbei und die größte Heldentat, die man in dem Haufen gefrusteter Versager vollbringen konnte, war, ohne mit der Wimper zu zucken eine Kiste Bier und eine Flasche billigen Weinbrandverschnitt in sich rein zu schütten. Selbstmord galt nicht als Heldentat. Selbstmörder waren Weicheier, mit denen kein Krieg zu gewinnen war. Nicht zu gebrauchen. Man sprach nicht darüber. Nur ein kleiner Kollateralschaden im Kalten Krieg.

Aber der Selbstmord der beiden Kameraden sollte nicht ganz umsonst gewesen sein. Sie brachten Müller auf eine Idee.

Er war damals mit Gitta zusammen. Gitta hatte eine eigene Wohnung und produzierte nebenbei Likör aus Waldbeeren. Am liebsten mochte sie Schlehen. Sie hatte das Zeug in Zwanzigliter-Glasballons angesetzt und davon standen einige in ihrer Küche rum. Wenn Müller am Wochenende bei ihr war, gab’s nach dem ersten Fick immer ein Gläschen davon zur Stärkung. Sie schrie beim Vögeln immer:

„Platz, Platz, Platz!“, wenn’s ihr kam. Müller sollte offenbar explodieren, wenn ihr einer abging. Gitta hatte eine klitschnasse, weite Pussy und Müller musste sich schwer konzentrieren um auf seine Kosten zu kommen. Und Gittas Wunsch, dass er dabei exolodieren sollte, machte die ganze Sache nicht leichter für ihn. Sie hatte naturrotes, langes Haar und über diesen Frauentypus sagte „Mann“ im Allgemeinen, dass sie ein rostiges Dach und einen nassen Keller hätten. Es mag ein Matchospruch sein, aber auf Gitta traf er hundertprozentig zu. Es gab kaum Reibungswiderstand wenn Müller in ihr steckte. Aber das war allemal besser, als sich mit vollem Sturmgepäck durch den Matsch treten zu lassen. Außer Likör, besaß Gitta ein gut sortiertes Medizinschränkchen. Es gab Schlaftabletten und Antidepressiva und darauf hatte Müller es abgesehen. Müller plante einen Selbstmord vorzutäuschen. Nur musste er Gitta noch davon überzeugen, ihm dabei zu helfen. Alleine wäre die Sache zu riskant gewesen.

Gitta nahm Müllers Projekt gelassener auf als er dachte. Sie war Mitglied bei den Grünen und sofort damit einverstanden und drückte Müller ohne zu zögern ihre Pillen in die Hand. Müller mixte sich daraus einen Cocktail und kippte ihn auf ex. Als die Medizin zu wirken anfing, rief Gitta den Rettungswagen. Im Krankenhaus pumpten sie ihm den Magen aus und schickten ihn ein paar Tage später zum Bundeswehrpsychologen nach Osnabrück. Er sagte dem Psychologen, dass er lieber tot wäre als Soldat zu sein und wurde noch im selben Monat aus der Bundeswehr entlassen. Müllers Plan hatte funktioniert. Er hatte den Krieg gegen die Bundesrepublik Deutschland gewonnen und sein altes Leben wieder.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

51. Kapitel: Die Flucht Teil 2

 

Kurz vor Oldenburg ist die zweite Dose Bier leer. Ein Schaffner betritt den Wagon und schaut in die Runde. Müller reißt die dritte Dose auf und zieht den Fahrschein aus der Innentasche seiner gammeligen, braunen Lederjacke. Er legt ihn gut sichtbar auf den Nebensitz und wartet. Der Schaffner braucht nicht lange bis Müller. Er nimmt den Fahrschein und mustert Müller dabei, als würde er steckbrieflich gesucht. „Alter DDR-Grenzer aus Helmstedt“, vermutet Müller. Der Schaffner steckt Müllers Fahrschein in seine verchromte Zange, drückt zu und legt ihn wieder auf den Sitz. Müller lässt einen Rülpser und der Schaffner verschwindet, um dem nächsten, drei Reihen weiter, seine Scheiß Art unter die Nase zu reiben.

In Bremen hält der Zug. Müller schaut aus dem Fenster und beobachtet einen Obdachlosen, der einen rostigen Einkaufswagen vor sich herschiebt und nebenbei in den Mülleimern nach etwas Brauchbarem sucht. Ein piekfeiner Fatzke im schicken, blauen Zweireiher, der einen Metallkoffer mit Rädern unten dran hinter sich herzieht, rempelt ihn an und hält es nicht für nötig, sich zu entschuldigen. Der Obdachlose unterbricht kurz seinen Job und zeigt ihm den Stinkefinger. Aber der Fatzke ist längst schon mit seinem Koffer an ihm vorbei. Nutzlos. Der Wagon füllt sich. Eine junge Frau mit einem kleinen Jungen an der Hand quetscht sich mit ihrem Gepäck durch den Mittelgang und nimmt Kurs auf die beiden freien Plätze neben Müller. Ihr dunkelbraunes Haar liegt zu einem dicken langen Zopf geflochten seitlich über ihrer rechten Schulter. Sie trägt schwarze Leggins und schwarze Schuhe mit hohen Absätzen. Oben ein trägerloses, enges Stretchshirt mit einem lilaschwarzen Zebramuster, das ihr knapp bis über den Arsch reicht und wenn man von ihrem leichten Bauchansatz mal absieht, hat sie eine ganz passable Figur. Sie mustert Müller kurz und wuchtet ihre schwere Reisetasche auf die Gepäckablage über dem Fenster. Ihr Zebrashirt rutscht ihr dabei etwas nach oben und lässt Müller neugierig in eine Richtung schauen, die für einen wahren Gentleman tabu sein sollte.

 

Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger waren es die schillernden, hautengen Satinhosen, die kein Geheimnis daraus machten, was sich zwischen den Beinen der Ladys befand. Heute sind es die Leggins, die wie eine zweite Haut an ihren Ärschen kleben und den Jungs auf der Straße einen Steifen hinzaubern und das Leben schwer machen.

 

Die Frau stopft und wühlt an der Reisetasche rum, bis sie von alleine im Gepäckfach liegen bleibt. Dann setzt sie sich auf den freien Platz neben Müller. Müller meint, sogar den Abdruck eines Intimpiercings unter dem dünnen, elastischen Stoff erkannt zu haben und diese Vorstellung lässt prompt seine Hose enger werden.

„Warum machen die das bloß immer?“, denkt Müller und versucht sich mit einem Schluck aus der Dose abzulenken.

„Ich hab auch Durst“, sagt der kleine Junge und hat Müllers Bierdose dabei im Blick.

Die Frau steht auf und schaut Müller an.

„Entschuldigen Sie. Aber ich müsste nochmal an meine Tasche.“

„Nur zu“, sagt Müller.

Die Frau zerrt die Tasche aus dem Gepäckfach, stellt sie auf ihren Sitz, bückt sich, hält Müller ihren Arsch vor die Nase und fängt an zu wühlen.

„Mami“, quengelt der Kleine, „ich will mein‘ Transformer haben.“

Aus den Lautsprechern am Bahnsteig rattert ein Ansager irgendwelche Abfahrts- und Ankunftszeiten runter. Im Wagon haben alle ihre Plätze gefunden. Es gibt einen schrillen Pfiff. Die automatischen Türen schließen sich, der Zug setzt sich in Bewegung.

Die junge Mutter gibt ihrem Bengel ein gelbes Plastikauto und drückt einen Strohhalm in eine Orangensafttüte. Sie stellt die Tüte auf den Sitz und macht sich wieder daran, die Reisetasche in die Gepäckablage zu stopfen. Diesmal gönnt sich Müller einen tieferen Einblick und ist sich hundertprozentig sicher, dass die Lady auf Eisen steht.

„Verdammt“, denkt Müller, „was ist bloß los mit mir?“

Die Frau schafft zum zweiten Mal, dass die Tasche an ihrem Platz bleibt und setzt sich wieder. Der Junge faltet das gelbe Auto auseinander und hat auf einmal so etwas wie einen Roboter in der Hand.

„Mami, wann sind wir endlich da?“, sagt er und bastelt aus dem Roboter wieder das gelbe Auto.

„Gleich, mein Schatz“, lügt die Mutter und schlägt die Beine übereinander. Müllers Schwanz baut langsam ab. Sex mit einer Frau, die ihre Schamlippen gepierct hat, ist ihm noch nicht untergekommen. Eine Sitzreihe vor ihm, fängt ein Mann an zu telefonieren. Er gibt irgendwem am anderen Ende seine Position und die Uhrzeit und wann er ankommen wird durch. Dann beendet er das Gespräch.

„Mami, ich muss AA.“

„Du warst doch grade erst bei, Oma, Dennis.“

„Ich muss aber schon wieder.“

Die Frau steht auf, nimmt ihren Dennis an die Hand und verschwindet. Müller knackt die letzte Dose Bier und schmeißt die leere zu den anderen in den Plastikbeutel. Es sind noch einige Kilometer bis Hamburg. Müller macht die Augen zu und versucht zu schlafen. Die gepiercte Möse kommt ihm in die Quere und hält sich hartnäckig. Mami und Dennis kommen zurück. Dennis nimmt seinen O-Saft und saugt am Strohhalm. Er schmatzt dabei. An Schlaf ist nicht zu denken. Der Mann eine Reihe vor ihm gibt erneut seine Position durch und sagt zum Schluss:

„Bussi, Bussi, mein Hamsterbeinchen.“ Jetzt weiß Müller wenigstens, dass der Typ einen Dachschaden hat und wahrscheinlich nichts dafür kann.

„Setz dich jetzt hin, Dennis.“

„Ich will aber nicht sitzen!“

„Hier, nimm deinen Transformer und sei leise. Du siehst doch, dass der Mann schlafen will.“

„Mir doch egal!“

„Schon gut“, sagt Müller, „ich kann sowieso nicht schlafen. Ich ruh mich nur etwas aus.“

„Fahren sie auch nach Hamburg?“, sagt die Lady und lächelt.

„Nee“, sagt Müller, „ich will nach Amrum. Ich muss aber in Hamburg umsteigen.

„Der Mann ist doof“, mischt sich Dennis ein und Müller beschleicht der Gedanke, dass der Junge recht haben könnte.

„Sowas sagt man aber nicht“, tadelt die Mutter, Dennis.

„Lassen sie nur“, sagt Müller und nuckelt an der Bierdose. „Vielleicht hat Dennis ja recht.“

Dennis grinst und murkst weiter an seinem Transformer rum. „Wann sind wir da?“

„Gleich mein Schatz“, lügt die Mutter wieder.

In Hamburg steigt Müller aus dem Zug. Auf seinem Ticket steht, dass der Zug nach Niebüll am Bahnsteig elf abfährt. Er hat noch eine Stunde Zeit, besorgt sich an einem Kiosk zwei Dosen Bier und geht damit nach draußen auf den Bahnhofsvorplatz. Im Bahnhof ist Rauchverbot und Müllers Nikotinspiegel ist nach der langen Fahrt im roten Bereich. Er dreht sich eine, gibt sich Feuer und saugt den Qualm tief und genüsslich in die Lunge.

„Ey, Kumpel, haschte ma bischen Kleingeld für misch?“ Der Typ ist höchstens Mitte Zwanzig und sieht aus, als würde er jeden Moment den Löffel abgeben. Dünn wie ‘n Bleistift, blasses Gesicht, lange, fettige, verfilzte Haare, zerrissene Klamotten und vergammelte Zähne. Müller hat ihn nicht kommen sehen und verschluckt sich fast an seinem Bier.

„Mir ham se moi Tasch geklaut. Da war moi ganse Geld drin und moi Fahrschin och. Jetzt weisischnisch, wiesch nach Haus kümme soll.“

Der Typ macht einen Schritt auf Müller zu und hält die Hand auf. Seine zittrigen Finger bestehen nur noch aus Haut und Knochen und an seinem Handgelenk macht sich gelblicher Schorf breit.

„Bleib mir bloß weg, du Pestbeule!“, sagt Müller und sieht zu, das er genügend Abstand zwischen sich und dem Zombie lässt. Er greift in seine Hosentasche und erwischt eine Zwanzig- und eine Fünfzig-Cent-Münze und schmeißt sie dem Zombie vor die Füße.

„Und jetzt verpiss dich!“

Der Zombie sammelt das Geld ein und macht sich vom Acker. Müller wird schlecht bei dem Gedanke, so einen Typen näher als drei Meter an sich ran zu lassen, oder die Hand zu geben. Er ist schließlich nicht Jesus von Nazareth, der sich auf solchen Abschaum spezialisiert hatte. Er schmeißt die Kippe aufs Pflaster, süppelt den Rest Bier aus der Dose und geht wieder in den Bahnhof. Er hat noch eine halbe Stunde Zeit und sucht sich ein ruhiges Plätzchen in einem Selbstbedienungsrestaurant oberhalb der Gleise. Für eine Tasse Kaffee und ein läppisches Käsebrötchen wollen sie acht Euro haben. Müller bezahlt und kann bei den Wucherpreisen in dem Laden getrost davon ausgehen, vor dem menschlichen Ausschuss der Gesellschaft sicher zu sein. Hier rein würde sich kein Schnorrer verirren um ihm irgendein Scheiß Märchen aufzutischen. Die Tasse Kaffee und das Brötchen sind gut für zwanzig Minuten. Müller beeilt sich. Der Zug steht schon am Bahnsteig und wartet. Er steigt ein und findet einen leeren Platz am Fenster. Er denkt an die Zeit mit Lena. Er kennt sie noch keine zwei Wochen, aber das traurige Gefühl in seinem Herzen kennt keine Sekunden, Minuten, Wochen oder Jahre. Der letzte Abend mit ihr ist beschissen gelaufen und er fragt sich, ob es noch eine Möglichkeit gibt, die Sache zu kitten, oder ob er sich lieber wieder auf ein unkompliziertes Singelleben einrichten sollte. Mit Frauen hat er noch nie Glück gehabt. Also, warum hoffen und sich quälen, wenn eh immer alles in der gleichen Spur läuft und am Ende den Bach runtergeht.

Die Diesellok gibt Gas und bringt Müller auf einen neuen Weg. Strommasten, Bäume, Häuser und bunte Felder ziehen am Fenster vorbei. Müller freut sich über jeden Kilometer, den er zwischen sich und Osnabrück lässt. Kein Hinrich, kein Fierer, kein Harms und keine Mösen, die ihm zu viel abverlangen, in sich reinsaugen, durch die Mangel drehen und schneidlos, ohne Rückgrat, wieder ausspucken. Ein matschiger Batzen totes Fleisch, das nur noch für einen letzten Arschtritt taugt. Und der nächste Kandidat steht schon in der Tür und weiß nicht, auf was er sich da einlässt. Er ist jung. Er ist Stark. Er ist gesund. Er hat Geld. Er ist besser als du und er schaut dich von oben herab an und du siehst das Wort „Looser“ in seinen Augen blitzen. Augen die nichts als Hohn und Spott für dich übrig haben … und du schreist:

„Du behämmerter Idiot! Siehst du denn nicht was sie aus mir gemacht haben?! Sie werden dasselbe mit dir machen! Buchsier deinen blöden Arsch hier raus, nimm die Beine in die Hand und renn so schnell du kannst?!“

Aber er wird nicht rennen. Die Mösen werden ihm das Hirn vernebeln und der Glanz in seinen Augen wird mit der Zeit verblassen. Er wird seine Jugend einbüßen. Seine Muskeln werden verkümmern und er wird Fett ansetzen. Er wird immer öfters zur Flasche greifen und sein Hausarzt wird ihm ein Mittel gegen Depressionen und zu hohen Blutdruck verschreiben. Er wird bei seiner Hausbank in den roten Zahlen hängen und in der Firma haben die Geier bereits Blut geleckt und prügeln sich um seinen Posten.

„Hallo Sie, den Fahrschein bitte“, drängelt sich eine raue Stimme zwischen Müllers dunkle Gedanken.

„Oh, Verzeihung“, sagt Müller und reicht dem Schaffner sein Ticket rüber. Der Schaffner nimmt das Ticket, entwertet es, gibt es ihm lächelnd zurück und wünscht eine gute Reise.

Müller verstaut das Ticket wieder in seine Jackentasche und freut sich, dass es auch noch Schaffner gibt, die ihm nicht ihren Bockmist unter die Nase reiben.

Aus dem Lautsprecher über der Tür kommt eine Ansage. „Klingklong- Nächster Halt- Husum.“

In Husum steigt eine Horde Schulkinder ein. Müller vermutet, dass es bereits Mittag ist und die Kids auf dem Weg nach Hause sind. Sie rempeln und wühlen sich rücksichtslos mit ihren Tornistern durch den Mittelgang und schreien sich gegenseitig den Zippel aus der Kehle und wie immer ist einer dabei, der den Ton angibt. Dunkle Haare, moderner Justin-Bieber-Haarschnitt, einen halben Kopf größer als die anderen, hübsche, stupide Fresse und einen Satz Klamotten am Arsch, für die Müller einen Kredit aufnehmen müsste. Hier trennt sich schon im zarten Alter von zehn Jahren die Spreu vom Weizen. Müller hat diese Typen schon als Kind nicht leiden können und die kleinen Arschkriecher, die sich mit ihnen abgeben, noch weniger.

Der Justin-Bieber-Verschnitt geht an die Arbeit und verteilt die Sitzplätze. Seine Arschkriecher dürfen direkt neben ihm sitzen. Den Rest aus seiner Klasse verteilt er offensichtlich nach Beliebtheitsgrad. Die Erst- und Zweitklässler gehen dabei leer aus. Ein kleines Mädchen mit blonden, langen Zöpfen steht im Gang und fängt an zu weinen. Der Tornister auf ihrem Rücken wirkt riesig und bedeckt fast ihren ganzen Körper. Sie steht zwei Meter von Müller entfernt. Er sieht nur ihren Kopf und ihre Beine.

„Heulboje, Heulboje!“, lästert Bieber und grinst der Kleinen frech ins Gesicht. Seine Arschkriecher lachen und feuern ihn an.

„Heulboje, Heulboje, Heulboje!“

Es sitzen mindestens zehn Erwachsene im Wagon und niemandem scheint es einen Furz zu interessieren, was die kleinen Ratten da abziehen. Müller stellt seine Bierdose auf die Ablage unter dem Fenster, steht auf und macht sich auf den Weg zu Bieber.

„Hör zu, du kleiner Kotzbrocken“, sagt Müller, „was du hier gerade veranstaltest, mag den anderen im Zug scheißegal sein, aber ich rate dir jetzt, deine verschissene Bande von Schmeißfliegen zu nehmen und Platz für die Kleine hier zu machen.“

Augenbicklich wird es still im Wagon. Die Kids, die eben bei Biebers Sitzverteilung leer ausgingen, drücken sich wie eine Kolonie Pinguine am hinteren Ausgang rum und fangen an zu tuscheln. In Biebers Kopf fängt es an zu rattern. Müller weiß, was in ihm vorgeht. Einfach so, ohne Widerstand den Platz räumen, würde ihm womöglich den Thron kosten. Bieber muss handeln, schnell handeln. Die Schmeißfliegen um ihn herum liegen längst auf der Lauer. Ihre Erwartungen sind hoch und so, wie es aussieht, spürt Bieber zum ersten Mal in seinem kurzen Leben, was es heißt, der Anführer einer Gang zu sein. Jetzt muss er beweisen, dass er seinen Posten verdient hat.

„Was willst du denn, du Opfer?“, sagt Bieber, legt eine Ekelfresse auf und macht einen auf Homie. Er schaut dabei in die Runde und erntet stilles Lob von seinen Schergen.

„Ich geb dir fünf Sekunden“, sagt Müller.

„Was dann?“, sagt Bieber.

„Dann gehe ich mit dir dahin, wo ein großes „W“ und ein großes „C“ drauf steht … steck‘ deine kleine Pomadenrübe in den Kackpott und drück so lange die Spülung bis du Blasen blubberst.“

Biebers Arschkriecher fangen an zu lachen. Sie finden offensichtlich komisch, was Müller da grade vom Stapel gelassen hat.

„Okay“, sagt Bieber, „chill mal ab, Alter“, und macht einen auf gelangweilt. Er nimmt seinen Tornister und schnippt cool mit den Fingern.

„Los Jungs, lasst uns hier abhauen, der Typ hat ‘ne Macke.“

Die Arschkriecher suchen ihren Kram zusammen und dackeln hinter ihm her, in den nächsten Wagon.

„So“, sagt Müller zu dem kleinen Mädchen, „jetzt hast du drei Sitze für dich ganz alleine.“

Die Kleine schaut Müller ängstlich an und rührt sich nicht vom Fleck.

„Was ist?“, sagt Müller, aber aus dem Mädchen kommt kein Ton raus. Sie steht einfach nur da und knetet verlegen mit ihren Händen an so etwas wie einer Gummifigur rum, die sie an einem Lederbändchen um ihren Hals trägt. Wieder ertönt ein schriller Pfiff. Der Zug setzt sich in Bewegung.

„Bist du stumm?“… Keine Antwort.

„Dann kann ich dir auch nicht helfen“, sagt Müller und geht zurück zu seiner Bierdose. Das kleine Mädchen ist irgendwann verschwunden und die drei Sitze bleiben bis Niebüll unbesetzt.

Es sieht so aus, dass Müller sich in etwas eingemischt hat, das keiner Änderung bedarf. Die meisten Leute im Zug kennen sich auf die eine oder andere Weise und fahren fast jeden Tag dieselbe Strecke. Zu ihren Jobs, zur Schule, oder sonstwo hin. Es ist überall so, Müller hätte es wissen müssen. Biebers Trouble interessiert hier keine Sau. Sie haben selbst genug davon und für die Kids sind diese drei Sitzplätze tabu. Keiner legt es darauf an, Biebers nächstes Opfer zu werden. Sie wissen, dass Müller nur eine Eintagsfliege ist und nicht jeden Tag im Zug sitzt, um Bieber mit dem Kackpott zu drohen.

In Niebüll steigt Müller in die Bimmelbahn, die ihn nach Dagebüll zur Mole bringt. Er löst ein Ticket für die Fähre am Kassenhäuschen und geht über den großen Platz an den wartenden Autos, Motorrädern und LKWs vorbei, zum Anleger. Am Himmel ist keine Wolke zu sehen und die Sonne scheint warm auf die ruhige See. Die Fähre heißt MS Rungholt und wird bereits beladen. Müller zeigt dem Platzanweiser sein Ticket und geht die Laderampe aufs Schiffsdeck runter. Ein Motorradfahrer mit einer Frau auf dem Sozius kommt auf der Rampe ins Straucheln und legt sein Motorrad auf die Seite. Es passiert sehr langsam. Der Biker strengt sich an, das Ding wieder in die Senkrechte zu stemmen, aber am Ende gewinnt die Schwerkraft. Müller fackelt nicht lange und eilt den beiden zur Hilfe.

„Alles in Ordnung?“, sagt er und greift sich, ohne die Antwort abzuwarten ein Stück Motorrad, um es wieder auf die Räder zu stellen.

„Nein …, mein Bein steckt fest“, jammert eine Frauenstimme.

„Los …, bei Drei“, presst der Biker angestrengt durch seine schmalen Lippen und mit vereinten Kräften wuchten sie die schwere Maschine nach oben und befreien die Frau aus ihrer schmerzlichen Lage. Die Lady steht auf und macht ein paar unbeholfene Schritte übers Deck. Sie humpelt ein wenig und fummelt am Verschluss ihres Helms rum.

„Verdammt“, sagt der Biker, „den Blinker hat’s gerissen.

„Tja“, sagt Müller, „wenn’s mehr nicht ist“, und schaut der Lady zu, wie sie ihren Helm absetzt. Langes, dunkelbraunes Haar fällt aus ihrem Helm und legt sich über ihre Augen. Sie schüttelt sich, streicht die Haare nach hinten und lässt sie auf den Rücken fallen.

„Danke“, sagt sie und gibt Müller die Hand.

„Keine Ursache“, sagt Müller. „Was macht das Bein?“

„Wird besser“, sagt sie, geht in die Hocke und massiert ihre Wade.

Der Biker schnappt sich sein Motorrad und verpisst sich, ohne einen Dank, oder sich erstmal um seine Begleiterin zu kümmern, zu den Motorradstellplätzen.

„Schönes Geburtstagsgeschenk“, sagt sie und lächelt Müller an.

Sie trägt eine blaurote Lederkombi und die passenden Stiefel dazu.

„Geburtstagsgeschenk?“, sagt Müller.

„Ja“, sagt sie, „ich bin heute dreißig geworden und, Henning, sie zeigt auf den Biker, hat auf Amrum eine Party für mich organisiert. Wir treffen uns in Wittdün am Campingplatz, um Zwanzig Uhr am Strand. Wenn du Lust hast …? Du bist herzlich eingeladen.“

„Glückwunsch erstmal“, sagt Müller und gibt ihr nochmal die Hand.

Die Lady ist ziemlich klein, sie geht Müller nur bis zur Brust und scheint nicht viel auf den Rippen zu haben. Ihre Lederhose hängt etwas am Arsch. Sie hat ein freundliches, ehrliches Lächeln und in der rechten, oberen Gebisshälfte, einen schiefen Eckzahn, der etwas nach vorne steht. Der perfekte Makel, um Müllers Interesse zu wecken.

„Danke für die Einladung“, sagt Müller, „ich werd‘ mir’s überlegen.“

„Ich heiße übrigens Katja“, sagt Katja.

„Rainer“, sagt Müller.

„Bis heute Abend, Rainer“, sagt Katja und schenkt ihm zum Abschied ein Lächeln mit Augenzwinkern.

„Verdammt“, denkt Müller und geht eine Etage höher aufs Mitteldeck. Er findet einen kleinen Verkaufsstand im Salon, ersteht zwei teure Dosen Bier und folgt den Wegweisern aufs offene Oberdeck. Auf dem Oberdeck gibt es mehrere Reihen weiße Bänke, die fast alle schon besetzt sind. Müller stellt sich an die Reling, reißt eine Dose Bier auf, dreht sich eine und gibt sich Feuer.

„Hallo Sie!“, hört Müller hinter sich eine piepsige Männerstimme. „Hier ist Rauchverbot!“

Müller dreht sich um und schaut in ein verwässertes, blassblaues Augenpaar, das zu einem fetten Mittsiebziger mit Prinz-Heinrich-Mütze auf der Pläte gehört. An seiner fleischigen, rechten Hand hält sich ein kleines Mädchen mit roten Löckchen fest und schaut Müller böse an. Sie trägt ein Kleidchen in marineblau und weiße Kniestrümpfe und schwarze Lackschuhe mit Riemchen.

„Mach hier kein‘ Wind“, sagt Müller ruhig, „mir gehört der Kahn.“

Die Kleine schaut noch etwas böser, legt dabei ihre Stirn in Falten und presst die Lippen aufeinander. Müller nimmt einen tiefen Zug und bläst den Qualm Richtung Backbord.

„So sehen Sie aus“, piepst der Alte.

„Na los“, sagt Müller, „geh mich schon verpfeifen, ist mir egal, nur geh mir endlich aus der Sonne und schiff einem anderen auf die Pantoffel.“

„Komm, Julchen“, sagt der Alte, „wir suchen jetzt den Schiffssteward und melden den unhöflichen Mann.“

Julchen und der Alte gehen die Treppe zum Salon runter und sind verschwunden.

„Wann sterben diese dämlichen Arschficker endlich aus“, denkt Müller. „Die sind wie Zecken an einem verstunkenen Hundearsch.“

Er trinkt einen Schluck Bier und schmeißt die abgebrannte Kippe in die Nordsee. Hinter einem gelben, zwei Meter hohen und drei Meter breiten Decksaufbau, entdeckt Müller eine leere Bank. Er setzt sich, streckt die Beine aus und genießt die warme Sonne in seinem Gesicht, während vor ihm an Steuer- und Backbord die beiden Abgasrohre der fetten Schiffsdieselmotoren schwarze Rauchwolken aus verbranntem Schweröl in den klaren Spätsommerhimmel blasen.

„Was die an einem Tag wegpaffen“, denkt Müller, „schaff ich im ganzen Leben nicht.“

Das satte Brummen der Dieselmotoren wird lauter. Die Fähre legt sich etwas auf die Seite und sucht sich langsam ihren Weg aus dem Hafenbecken. Möwen kreischen über dem Deck und lauern auf fette Beute. Die meisten haben es auf die kackbraune Pampe abgesehen, die die Schiffsschrauben vom Boden der Nordsee wühlen. Müller hofft, dass ihm von den Biestern keine auf den Kopf scheißt und genehmigt sich den letzten Rest aus der Dose. Ein junges Mädchen in einem engen kurzen Jeansrock kommt um die Ecke, lehnt sich mit dem Rücken an den Decksaufbau und steckt sich eine Zigarette an. Sie beachtet ihn nicht. Müller schaut sich ihre langen, braunen Beine an und bekommt einen Steifen, während der Captain ein paar Knoten zulegt und Kurs auf die Insel Föhr nimmt. Im Hafen von Wyk auf Föhr verlassen einige die Fähre und dann geht’s weiter nach Amrum. Müller hat von den vielen Bieren, die er über den Tag verteilt getrunken hat, bereits leichte Schlagseite, als die Fähre in Wittdün anlegt und entladen wird. Der alte Sack mit der Prinz-Heinrich-Mütze, entpuppt sich als Windei. Müller bekommt den Schiffssteward nicht zu sehen. Falls es an Bord einer kleinen Nordseefähre überhaupt einen von der Sorte gibt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

52. Kapitel: Amrum

 

Auf dem großen Vorplatz des Hafens steht ein Infokasten, mit einem Plan von Wittdün und einem von der ganzen Insel drin. Müller findet die Mittelgasse und prägt sich den Weg ein. Geradeaus, der Inselstraße folgen, dann links und danach rechts. Das dürfte auch in seinem Zustand kein Problem sein. Die Frau Doktor wohnt am Ende der Mittelgasse in einem Haus aus rotem Backstein, hatte Christel ihm gesagt. Die Straßen in dem kleinen Ort sind vollgestopft mit Touristen. Meistens Rentner und junge Familien mit Kindern. Die Mittelgasse verläuft parallel zur Inselstraße, unterhalb der oberen Wandelbahn. Die obere Wandelbahn ist nur ein schmaler Fuß- und Radweg, der oberhalb der Dünen verläuft und den Blick nach Süden auf den weiten Strand und das Meer freigibt. Die Inselstraße steigt leicht an und bringt Müller in den Ortskern von Wittdün. Es gibt auf beiden Seiten der Straße reichlich Cafés, Restaurants und Nippesläden. Nichts Neues, damit hat Müller gerechnet. Sein Interesse galt eher, dem kleinen Supermarkt und der kleinen Fischräucherei auf der rechten Seite und wenn alle Formalitäten mit der Ferienwohnung geregelt sind, wird er einkaufen gehen.

Von der Inselstraße geht’s links in die Tidenstraße und die Tidenstraße führt direkt auf die Mittelgasse und nach circa hundert Metern steht Müller vor Doktor Jansens Haustür. „Praxis für Allgemeinmedizin“ steht auf einem Messingschild. Die Tür ist offen und Müller bekommt ein komisches Gefühl dabei, wenn er darüber nachdenkt, wie oft er es in letzter Zeit mit irgendwelchen Doktoren zutun hatte. Er fragt sich, ob das ein Zeichen dafür ist, sich lieber mal profilaktisch um einen Satz Windeln zu kümmern, bevor ihn die Inkontinenz am Wickel hat.

Er geht durch einen schmalen, kurzen Flur zur Rezeption. An den Wänden hängen Bilder mit Leuchttürmen und alten Segelschiffen. Hinter der Rezeption sitzt ein junges Mädchen, das nicht älter als sechzehn sein dürfte und Müller anlächelt. „Moin“, sagt sie, „was kann ich für Sie tun?“

„Rainer Müller, mein Name“, sagt Müller. „Ich komme wegen der Ferienwohnung.“

Das Mädchen schlägt einen schwarzen Ordner auf und geht mit dem Zeigefinger eine Liste mit Namen durch.

Ach“, sagt sie, so als wenn sie ein leckeres Osterei gefunden hätte, „hier haben wir Sie ja. Sie sind der Bruder von Christel …, nicht?“

„Youp“, sagt Müller.

„Frau Dr. Jansen macht gerade Hausbesuche und kann Sie leider nicht persönlich begrüßen. Sie hat mir aber aufgetragen, ihnen den Schlüssel für die Wohnung zu geben und den Weg zu erklären.“

Das Haus liegt nicht weit von Dr. Jansens Praxis entfernt, an der oberen Wandelbahn. Um es zu erreichen führt Müller ein schmaler Weg von der Mittelgasse durch einen von inseltypischen Wildpflanzen durchwucherten Garten. Das Grundstück steigt zum Haus hin leicht an und vereinzelt stehen ein paar verkrüppelte Kiefern herum und sorgen für etwas Schatten. Müller kennt außer den Kiefern keine einzige davon. Der Weg schlängelt sich im oberen Teil ein wenig und endet auf einer Terrasse, die zu einer Kellerwohnung gehört. In dem Haus gibt es insgesamt vier Ferienwohnungen. Der Schlüssel, den Müller von der jungen Arzthelferin bekommen hat, passt in das Schloss der Kellerwohnung. Es ist ein großer Raum mit einer ebenerdigen Fensterfront zum Garten raus. In einer Nische steht ein Doppelbett und Küche und Bad sind vom Rest getrennt. Es gibt eine Sitzgruppe mit Fernseher, einige Schränke an den Wänden und einen Esstisch mit vier Stühlen. Die Wohnung ist hell und macht auf Müller einen gemütlichen Eindruck. Die Erfahrung sagt ihm, dass es in solchen Wohnungen vom Vormieter noch einiges zu holen gibt. Er geht in die Küche, öffnet die Schränke und findet ein volles Glas Honig, Kaffee, Filtertüten, Zucker und ein großes Sortiment an Gewürzen. Sogar ein kleines Fläschchen Rum steht in einer Ecke. Der Kühlschrank ist leer. Müller verstaut seine sieben Sachen in einem der Schränke und macht sich auf den Weg zum Supermarkt. Der Supermarkt ist nicht viel größer, als die Tante-Emma-Läden, von denen es in den Sechzigern und Siebzigern noch etliche gab, bevor sie von den großen Ketten eingemacht wurden. In dem Laden sind kaum Menschen und dieser angenehme Umstand beschert Müller einen entspannten Einkauf. Die Insel fängt an ihm zu gefallen. Es scheint hier alles etwas langsamer und ruhiger abzulaufen. Sogar die Touristen nörgeln weniger und gehen respektvoller miteinander um. Es gibt auch nicht so viel dekadente und aalglatte Geldsäcke wie auf der Nachbarinsel Sylt, die mit ihren Protzkarren den ganzen Tag die Hauptstraßen hoch und runter juckeln und ihren kleinen, zittrigen Handtaschenkötern diamantbesetzte Halsbänder und Puschen mit rosa Schleifchen kaufen. Müller lässt den Supermarkt hinter sich und geht ein Haus weiter in die kleine Fischräucherei. Der winzige Verkaufsraum ist gleichzeitig ein Imbiss. Über dem Tresen hängt ein altes Fischernetz mit Plastikfischen, Plastikseesternen und Plastikmuscheln drin. Die wenige Luft in dem Raum riecht schwer nach geräuchertem Fisch und Friteuse und auf einem kleinen Brett, das etwas schief an der rechten Wand pappt, steht ein altes Kofferradio, das leise einen Evergreen von Hans Albers dudelt.

Der Verkäufer hinter dem Tresen misst mindestens zwei Meter und sein kleiner Kopf passt irgendwie nicht zu dem Rest. Er hat kaum Hals, wulstige, dicke Lippen, Hände wie Klodeckel und gibt sich wie ein alter Seebär, der bei seiner allerersten Kap-Horn-Umsegelung dem Klabautermann persönlich begegnet war und nochmal mit einem blauen Auge davon gekommen ist. Sein Kopf steckt in einer speckigen, schwarzen Lederschirmmütze, die ihm an beiden Seiten auf den Ohren runterhängt und vorne dran einen kleinen Anker hat. Er trägt das typisch weiß-blau gestreifte Friesenhemd, ein rotes Halstuch, eine schwarze Hose und gelbe Gummistiefel.

„Yep“, denkt Müller belustigt, „der Mann hat was erlebt. Der weiß, dass man auf hoher See nicht gegen den Wind pisst und ordentlich Apfelsinen gegen Skorbut fressen muss. Er hat den Bogen raus und kann dir sagen, wie man dreißig Monate lang auf hoher See ohne eine saftige Möse und einem Satz praller Titten auskommt.“

Die Auslage hinter dem Tresen ist gut sortiert. Es gibt eine große Auswahl von Meeresfrüchten und Fisch. Müller bestellt sich eine Portion Krabbensalat, zwei Schillerlocken und eine geräucherte Makrele. Der Seebär packt alles in eine Plastiktüte und lässt es sich teuer bezahlen. Als Müller sich verabschiedet und die Tür hinter sich lässt meint er, so etwas wie einen leichten sächsischen Akzent in der Stimme des harten Seemanns erkannt zu haben. Wahrscheinlich kann er einen Wattwurm nicht von einem Regenwurm unterscheiden. Aber was soll’s.

Zurück in der Ferienwohnung, verstaut Müller seinen Einkauf, reißt den Deckel vom Pott mit dem Krabbensalat, holt sich eine Gabel und fängt an zu essen. Es ist lange her, dass Müller sich diesen Luxus geleistet hat. Meistens verkneift er sich die Fischtheke in den Supermärkten, und konzentriert sich mehr auf Flüssignahrung und Billigprodukte. Zumal Charly in seinem Kiosk mit Fisch nichts am Hut hat, hat Müller kaum eine Chance, öfters in diesen Genuss zu kommen.

Draußen fängt es an zu dämmern, als Müller den leeren Pott entsorgt und den ersten Bierkarton aufreißt. Er nimmt sich eine Flasche, geht damit auf die Terrasse, setzt sich in einen Gartenstuhl, dreht sich eine Bulls-Houle, hält sein Feuerzeug drunter und beobachtet wie der warme Wind den Rauch durch die Zweige der alten Kiefern in den klaren Amrum-Himmel trägt. Müller fühlt sich wohl. Osnabrück ist weit genug weg und die Gewissheit, auf einer Insel mit viel Wasser drum herum zu sein und einige Seemeilen vom Festland entfernt, treibt ihm eine wohlige Gänsehaut über den verletzten Rücken. Drei Möwen kreisen über seinem Kopf, sehen, dass nichts zu holen ist und fliegen weiter.

„Sogar die Vögel sind hier freundlicher“, denkt Müller und schaut in den Himmel. „In Osnabrück hätte wenigstens einer von den dreien versucht, mir auf den Kopf zu kacken.“ Auch die Geschichte mit Lena verliert auf diesem kleinen Fleckchen Erde an Dramatik. Müller denkt schon ans Bleiben, als ihm das erste Bier ausgeht und er gezwungen ist, seinen müden Arsch zu bewegen, um sich ein weiteres aus der Küche zu holen. Der Krabbensalat in seinem schwachen Magen entpuppt sich als Sodbrenner, aber Müller lässt sich durch dieses kleine Handicap nicht die gute Laune verderben und köpft die nächste Flasche. Er geht zurück auf die Terrasse, steckt den Tabak in die Tasche und macht sich auf den Weg zur oberen Wandelbahn. Er braucht nicht weit zu gehen. Die obere Wandelbahn verläuft direkt vor dem Ferienhaus.

Der Krabbensalat lässt nicht locker. Neben einer Bank an einem Holzpfahl hängt ein blauer Papierkorb. Müller vermutet, dass sein Magen die fettige Mayonnaise nicht verträgt. Mit Ottos Sahnehering war es ihm am Dienstag nicht anders ergangen. Der schmale Weg ist voller Menschen als Müller dem Papierkorb eine Ladung Krabben verpasst und sich zwei Jungs auf ihren Mountainbikes nähern und sich Gedanken darüber machen, ob es sich um einen Virus oder zu viel Alkohol handelt.

„Kuck mal, Tim, der Alte da kotzt in den Papierkorb.“

„Wahrscheinlich Magen-Darm“, sagt Tim.

„Von wegen“, sagt der andere, „Kuck mal, wie der sich an seiner Bierflasche festhält.“

„Mein Alter kotzt auch immer, wenn er besoffen ist“, sagt Tim.

„Meiner säuft den ganzen Tag nur Tee“, sagt der andere.

Dann sind sie verschwunden; und nachdem Müller die letzte Krabbe im Papierkorb versenkt hat, setzt er sich auf die Bank und versucht mit einem kräftigen Schluck Bier den ekeligen Geschmack aus seinem Mund zu spülen. „Alter“ hatte ihn bis jetzt noch keiner genannt. Das war das erste Mal. Sein Blickt geht über den weiten Strand aufs Meer hinaus, und er fragt sich, ob Christel recht hat mit dem, was sie ihm über seinen maßlosen Alkoholkonsum vorwirft. Würde er es wenigstens eine Woche ohne Bier aushalten?

Eine alte Lady mit ihrem Rollator kommt langsam näher, hält an und schaut ihm mitleidig in die Augen.

„Sie sehen ja schrecklich aus, junger Mann. Ist Ihnen nicht gut?“, sagt sie. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Nett, das Sie fragen“, sagt Müller, „aber ob Sie’s glauben oder nicht, Sie haben mir schon geholfen.“

„Wie das?“, sagt die Lady und wundert sich.

„Indem Sie mich gerade „junger Mann“ genannt haben“, sagt Müller und nickt ihr freundlich zu.

„Och, wenn’s mehr nicht ist“, sagt sie lächelnd, setzt ihre Gehhilfe wieder in Gang und schiebt ab.

Müller trinkt den Rest aus der Flasche, wirft sie zu den Krabben in den Papierkorb und steckt sich eine Zigarette an. Das Sodbrennen lässt langsam nach und bestätigt Müllers erste Vermutung, dass ihm der Krabbensalat und nicht das Bier den Magen verkorkst hat, und somit landen auch Christels Vorwürfe schnell in die stinkende Brühe aus Mayo, Bier und Krabben. Kein Gedanke mehr daran, ob er es eine Woche ohne Bier aushalten könnte, kein Gedanke mehr daran, ob die beiden Jungs mit ihren Mountainbikes recht hatten. Müller verlässt die Bank und geht die breite Treppe zum Strand runter. Auf halber Strecke gibt es ein längliches Gebäude mit Flachdach. Im rechten Teil gibt es mehrere Umkleidekabinen und Herren- und Damentoiletten, im linken Teil einen kleinen Imbiss mit Kiosk. Müller kauft zwei Dosen Bier, leert kurz seine Blase und bringt die letzten paar Stufen, bis zum Strand runter, hinter sich. Die Luft schmeckt nach Salz und ein leichter Wind aus Südwest weht ihm ins Gesicht. Er setzt ein Fuß vor dem anderen und kommt nur langsam voran. Das Gehen ist mühsamer im weichen Sand als auf der geteerten Promenade. Bis zur Wasserkante sind es ungefähr eineinhalb Kilometer, wobei Ebbe und Flut noch einiges an Strecke ausmachen, aber das lässt sich aus Müllers Sicht schwer abschätzen. Feiner Sand legt sich auf seine Zunge und knirscht zwischen den Zähnen. Müller spült ihn mit einem Schluck Bier runter, während im Westen die blutrote Sonne über den Dünen steht. Einige Jogger und Spaziergänger sind unterwegs, aber Müller hat trotzdem das Gefühl, alleine zu sein. An diesem riesigen Strand verläuft sich alles. Die Menschen haben es hier leicht, sich aus dem Weg zu gehen.

Müller glaubt, schon eine ganze Weile unterwegs zu sein. Die erste Dose ist längst leer und die Zweite offen, als er einen kurzen Blick zum Meer wirft und das Gefühl hat, keinen Schritt vorangekommen zu sein. Müller ist vom Bier bereits hinüber und in ihm nagt der Zweifel, ob er es in diesem Zustand jemals bis zum Wasser schaffen wird. Der Weg zurück scheint näher zu sein. Müller fängt an zu schwitzen. Er trinkt das restliche Bier, vergräbt die leeren Dosen im Sand, dreht sich eine Bulls-Houle und setzt sich daneben. Ihm fällt das Denken schwer. Bilder von skelettierten Abenteurern mit Stofffetzen um die bleichen Knochen, die auf der Suche nach Wasser von einer Fata Morgana reingelegt wurden und dabei elendig verdurstet sind, breiten sich in seinem Suffkopp aus. Müller ist nach Schreien und gleichzeitig nach Lachen zumute. Die Ereignisse der letzten zwei Wochen lasten schwer auf seinen Schultern und geben ihm das Gefühl, mit dem Arsch voran im Sand zu versinken.

„Vielleicht wäre es das Beste“, denkt Müller.

Er drückt die abgebrannte Kippe in den Sand, legt sich lang auf den Rücken, breitet die Arme aus und schließt die Augen. Die lange Zugfahrt und das Bier lassen ihn schnell einschlafen, in diesem Meer aus Sand und toten Muscheln.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

53. Kapitel: Filmriss

 

Es ist dunkel und der Mond hängt groß und voll über dem Meer, als Müller sich an einer Ladung Sand verschluckt und erschrocken die Augen öffnet. Er hustet, hat Durst und versucht, mit der Zunge etwas Speichel zu ergattern, um damit seine trockene Kehle zu bearbeiten. Wie lange er im Sand gelegen hat weiß er nicht, aber da er sich einigermaßen nüchtern fühlt, muss es schon einige Zeit gewesen sein.

Mit einer Selbstgedrehten zwischen den Lippen macht Müller sich wieder auf den Rückweg. Die Dünen liegen im hellen Mondlicht und machen es ihm leicht, den richtigen Weg zu finden. Außerdem hat er sich einen Lichtpunkt ausgesucht, den er sich als Markierung nimmt, und um sich die Strecke bis zur Zivilisation erträglicher zu machen, fängt Müller an zu singen.

 

„Fuffzehn Mann auf des toten Manns Kiste,

ho ho ho und ‘ne Buddel mit Rum!

Fuffzehn Mann schrieb der Teufel auf die Liste,

Schnaps und Teufel brachten alle um! Ja!

Fuffzehn Mann auf des toten Manns Kiste,

ho ho ho …!“

 

Als Müller den Dünen näherkommt, entpuppt sich sein Markierungslicht als Lagerfeuer. Einige Menschen stehen rum, sitzen, oder tanzen. Aus einer Musikbox dröhnt House Music über den Strand. Müller erinnert sich an Katja und ihre Einladung und legt eine Schüppe Kohlen nach. Noch zweihundert Meter, dann wird er wissen, ob es sich um eine Oase, oder um eine Fata Morgana handelt. Der Durst treibt ihn an und als er fast angekommen ist, hört er eine bekannte Frauenstimme rufen:

„Ah … seht mal, mein schillender Retter naht!“

Katja löst sich aus der Menge, läuft auf Müller zu und als sie bei ihm ankommt, schmeißt sie sich in seine Arme.

„Hey, hey, mal sachte“, sagt Müller und setzt sich zusammen mit Katja platt auf den Arsch. Ihre zierliche Erscheinung lässt kaum vermuten, dass sie zu so einem Aufprall fähig ist, und so wie es aussieht, hat sie schon reichlich gebechert.

„Schön, dass du noch kommst“, sagt sie und kriegt sich kaum ein vor Lachen.

„Hast du für mich auch so ‘ne Pille?“, sagt Müller, steht auf und hilft ihr auf die Beine.

„Klar“, sagt Katja, „komm mit.“

Sie nimmt ihn an die Hand und führt ihn direkt ans Feuer. Katjas Gesicht sieht hübsch aus, im roten Schein der Flammen. Sie holt eine kleine Dose aus ihrer Hosentasche, öffnet den Deckel und drückt ihm ein winziges, schwarzes Blättchen mit Totenkopf drauf in die Hand. Müller fragt nicht lange und schiebt sich das Blättchen unter die Zunge. Dann gehen bei ihm die Lichter aus.

 

Der penetrante Gestank von kalter Scheiße steigt Müller in die Nase, als er die Augen öffnet. Er sitzt mit heruntergelassenen Hosen auf einer Kloschüssel und vor sich auf der Matte, liegt die Zahnbürste, die er sich tags zuvor im Supermarkt gekauft hatte. Er hat das Gefühl, dass ihm der Schädel platzt, wenn er nur einen leichten Schlenker macht; und als er versucht, sich an etwas zu erinnern, gelingt es ihm nicht. Müller hat einen glatten Filmriss. Das Letzte, an das er sich noch erinnern kann, ist ein kleines, schwarzes, sechseckiges Blättchen mit einem Totenkopf drauf. Katja hatte es ihm gegeben und ihm viel Spaß damit gewünscht.

Müller versucht im Sitzen und ohne große Bewegungen zu machen den Knopf für die Spülung zu erreichen. Er hat keine Ahnung, auf welcher Seite von dem Ding der Knopf sitzt und tastet sich langsam ran. Er erwischt das verchromte Absperrventil und als alter Installateur weiß Müller, dass dieser Umstand ihn seinem Ziel erheblich nähergebracht hat. Er findet den Knopf und ist einen Schritt weiter. Er spürt, wie ihm das kalte Wasser an die Arschbacken spritzt und weiß augenblicklich, dass dies ein sicheres Zeichen dafür ist, dass sich, außer die neun Liter Wasser aus dem Spülkasten, nichts bewegt hat. Ein kurzer, vorsichtiger Blick durch die Beine bestätigt seine Ahnung. Der Brocken liegt unverändert am selben Platz und stinkt vor sich hin. Keine Chance. Der Bierschiss zeigt sich zäher als erwartet. Müller wird sich, wohl oder übel, aufraffen müssen, um das Problem mit der Klobürste zu regeln. Als er zum Toilettenpapier greift, um sich den Hintern zu wischen, klopft es an der Tür.

„Ey, Prince Kajuku, mach auf, ich muss mal!“

„Wer issen da?“, sagt Müller und wundert sich.

„Ich bin’s, Swantje, die Cousine von Katja. Vergisst du immer die Frauen, mit denen du ins Bett steigst?“

„Ich kann jetzt nicht“, sagt Müller, „du musst draußen pinkeln.“

„Scheiße, wer issen, Swantje?“, denkt er und reißt sich einen Streifen Toilettenpapier ab. Er wischt sich ab und schmeißt das Papier in die Kloschüssel.

„Geht nicht“, sagt Swantje, „draußen laufen überall Leute rum.“

„Einen Moment noch“, sagt Müller, „ich bin gleich soweit.“

Er buchsiert seinen Hintern von der Klobrille und schafft es, nicht zu kotzen. Er nimmt die Klobürste aus der Wandhalterung, drückt die Spülung und gibt dem Scheißhaufen einen kleinen Stups. Danach hebt er die Zahnbürste auf und legt sie auf die Ablage unter dem Spiegel. Er wäscht sich die Hände und ist gespannt, was und wer ihm hinter der Tür begegnen wird.

Mit einem komischen Gefühl im Bauch dreht er den Schlüssel um und öffnet die Tür. Müller versucht, sich nichts anmerken zu lassen. So ein Komplettausfall ist für ihn nichts Neues, stellt aber jedesmal diese verdammten Fragen in den Raum, auf deren Antworten man lieber verzichten möchte. Denn meistens wird es peinlich für ihn und ob er will oder nicht, schämt er sich dafür. Sein labiles Selbstwertgefühl bekommt eine neue Kerbe, für die es am Holzknauf der Müllerschen Idiotie kaum noch einen Platz gibt.

„Das wurde aber auch Zeit!“

Ein nacktes Mädchen rennt mit den Händen zwischen ihren Beinen gepresst an Müller vorbei und verschwindet hinter der Lokustür. Auch ohne sie länger gesehen zu haben, weiß Müller wer sie ist. Nur dass er keine Ahnung hat, wie sie in seinem Bett gelandet ist. Auf dem Fußboden liegen ihre Klamotten verteilt. Kurzer Jeansrock, roter Tanga und ein schwarzes T-Shirt mit einem gelben Nirvana-Schriftzug und darunter ein zugekiffter Smiley in derselben Farbe. Swantje ist das Mädchen mit den langen, braunen Beinen. Sie stand auf der Fähre neben ihm und hat eine Zigarette geraucht. Zufall oder nicht, Müllers Plan, auf der kleinen Insel eine Weile ohne Trouble auszukommen, ist dahin.

Er geht in die Küche, nimmt ein Glas aus dem Schrank und hält es unter den Wasserhahn. Nach dem, was Müller von Swantje gesehen hat, scheint sie ziemlich gängig zu sein. Groß, schmale Taille, nahtlos braun, langes, blondes Haar, volle Lippen und ein hübsches Gesicht. Nur oben rum hätte Gott sich etwas mehr Mühe geben können. Außer ein paar große, rosa Brustwarzen, die spitz nach vorne stehen, gibt es nicht viel zu sehen.

Müller trinkt das Glas leer und wiederholt die Prozedur. In dem kleinen Bad geht die Toilettenspülung. Normalerweise ist Müller am Tag nach einem harten Besäufnis geil wie tausend Matrosen auf Landgang, aber dieses sechseckige kleine Paper mit Totenkopf drauf, scheint eher das Gegenteil zu bewirken. Außerdem stellt sich ihm die Frage, weshalb Swantje nackt durch die Bude rennt, während er noch in voller Montur ist.

„Moin, Prince Kajuku. Haste Bock ‘n Kaffee zu machen?“ Swantje steht in der Kuchentür und schaut ihn lächelnd an. Ihre schwarzen Muschihaare hat sie zu einem kleinen Pfeil getrimmt, der mit der Spitze auf den Anfang ihrer Spalte zeigt.

„Sicher“, sagt Müller, „aber ich brauch ‘n bisschen dafür. Ich hab das Gefühl, mir fliegt gleich der Schädel auseinander.“

„Du hättest dir nicht gleich zwei von den Sugarskullis einklinken dürfen“, sagt Swantje, kommt in die Küche und schwingt sich mit ihrem nackten Arsch auf die Arbeitsplatte. Irgendwie erinnert sie Müller ein bisschen an Lena, nur dass Lena mindestens fünfzehn Jahre älter sein dürfte. Es ist wie verhext, Müller hatte noch vor zwei Wochen den Gedanken an Frauen völlig verdrängt. Den letzten Sex, bevor er Lena kennen lernte, liegt ein Jahr zurück. Müller hat sich nie bewusst seine Frauen ausgesucht. Entweder es ergibt sich was, oder nicht. Er ist nie auf die Idee gekommen, Annoncen zu starten, oder per Internet zu suchen, aber was ihm das Schicksal in den letzten Paar Tagen auf seltsamen Wegen vor die Flinte stellt, geht über seinen Horizont. Die Frage ist nur, wer in dem ganzen Spiel am Ende die Zeche zahlt.

„Was ist das eigentlich für ein Zeug …, diese Sugarskullis?“, sagt Müller, während er die Kaffeemaschine in Gang setzt.

„Die bringen ein‘ gut drauf, Mann, wenn man nicht zu viel davon nimmt, Mann … du Kajuku, du“, sagt Swantje. Sie wackelt mit ihrem Kopf, als hätte sie den Rhythmus eines Songs im Ohr und macht dabei: „Bada … Bada … Bangbang … Uh, uh!“

„Verdammt“, denkt Müller, „ich hab doch geahnt, dass mit der Schnalle was nicht stimmt.“

„Wieso nennst du mich immer, Prince Kajuku?“

Swantje singt jetzt ihre Sätze und wedelt dabei mit den Armen. „Weil duhuuu, mir gesssstern, gesaaaagt hast, dahahahas duhu mit deinem Ufohoho hier gelandet bist und Prince Kajukuuuuuu vom Planeten Phaluzius bihihist, um die pervehehersen Erdlinge zu studihihihieren.“

„Scheiße …, hör mal auf mit diesem Gezappel“, sagt Müller, „das nervt“, und hält Swantje einen dampfenden Pott Kaffee vor die Nase.

„Okay“, sagt sie, hört auf zu wedeln und nimmt ihm den Pott ab.

„Haben wir eigentlich gevögelt?“ sagt Müller.

„Nee“, sagt Swantje, „wir wollten. Du hast mich ausgezogen, mir deinen Finger rein gesteckt und mich gefragt, ob ich E.T. kennen würde … und ich sollte meinen Mund ganz weit aufmachen weil du sehen wolltest, ob ich von innen leuchte … Wegen E.T. und so. Dann musstest du plötzlich kacken und bist verschwunden. Ich hab mich ins Bett gelegt und auf dich gewartet und bin dabei eingeschlafen.“

Müller trinkt einen Schluck Kaffee, fängt an zu würgen und findet schnell genug das Spülbecken.

„Ouh, Gott!“, schreit Swantje erschrocken und hüpft von der Arbeitsplatte um ihm mehr Platz zu machen.

Müller hat das Gefühl, dass die elende Würgerei nie mehr enden wird. Seine Augen tränen, ihm wird schwindelig und er steht kurz vor einer Ohnmacht. Aus dem Augenwinkel sieht er verschwommen, wie Swantje neben ihm steht und ihn beobachtet.

„Coole Sau“, denkt Müller, „verzieht keine Miene, das Luder.“

Der zähe Speichel hängt ihm wie Gummifäden aus dem Mund. Er hustet, würgt, spuckt und bekommt kaum noch Luft.

„So kommt der Tod“, denkt Müller und die Minuten kommen ihm vor wie Stunden, bis sich sein Magen endlich beruhigt. Und Swantje steht unverändert da, mit ihrem haarigen Pfeil und ihren kleinen Titten und glotzt blöd aus der Wäsche. Müller lässt Wasser ins Becken laufen, hält seinen Kopf unter den Strahl und spült sich nebenbei den Mund aus. Nie wieder, schwört er sich, wird er sich gedankenlos irgendwelches Zeug einwerfen.

„Na“, sagt sie, „geht’s wieder?“, und wackelt mit ihrem kleinen Arsch.

Müller kippt den Rest Kaffee aus der Tasse ins Spülbecken und geht, ohne ihr zu antworten, ins Nebenzimmer. Er zieht die Cowboystiefel aus, entledigt sich seiner Hose und schmeißt sich aufs Bett. Er denkt an Lena, sie fehlt ihm und in seinem Kopf pulsiert schmerzhaft das Blut durch die verkorksten Synapsen. Er merkt nicht mehr, dass Swantje sich neben ihn legt und dabei eine seiner geräucherten Schillerlocken verdrückt.

 

Der laute Fernseher und Swantjes Gezappel wecken Müller. Sie sitzt im Schneidersitz am Kopfende mit dem Rücken an der Wand, hat die Augen zu und bewegt sich rhythmisch zu einer Melodie, die offenbar aus ihrem Smartphone kommt, das sie wedelnd in ihrer rechten Hand hält. Aus ihren Ohren hängen zwei weiße Strippen raus. Sie enden im Smartphone. Swantje ist immer noch nackt. Auf dem kleinen Nachttisch, neben dem Bett, steht eine leere Bierflasche und ein weißer Teller mit Gräten drauf. Wie es aussieht, musste nach der geräucherten Schillerlocke auch noch die geräucherte Makrele dran glauben. Draußen ist es fast dunkel und aus dem Fernseher dröhnt die quäkige Stimme von Dieter Bohlen durchs Zimmer. Er verpasst gerade einem sechzehnjährigen, dicken Mädchen mit einem Haufen Pickel im Gesicht den Einlauf ihres Lebens und Müller kriegt die Motten. Neben Swantjes Bein findet er die Fernbedienung und dreht Bohlen und Co den Saft ab. Ihm kommt der Gedanke, wieder mal in Sachen Frauen, den richtigen Griff getan zu haben. Ein Teenager, der ihm den Kühlschrank leer frisst und ungefragt sein Bier säuft, fehlt noch in seiner Sammlung.

„Ey, wieso machsten die Glotze leise?“

Swantje zieht sich die Proppen aus den Ohren und legt ihr Smartphone vor sich auf die Bettdecke.

„Wie alt bist du eigentlich?“, sagt Müller.

„Neunzehn, ist doch egal.“

„Was tust du dann noch hier? Ich bin sechsundzwanzig Jahre älter als du.“

„Ich fand dich gestern ganz süß“, sagt Swantje und lächelt.

„Ich weiß nichts von gestern“, sagt Müller.

Er steigt aus dem Bett, hebt seine Hose vom Boden auf und sucht in den Taschen nach seinem Tabak.

„Dein Tabak liegt drüben auf dem Tisch“, unterbricht Swantje ihn. Sie zeigt mit dem Finger in die Richtung. Müller geht hin, dreht sich eine, gibt sich Feuer, nimmt den Aschenbecher und geht damit zum Bett. Er setzt sich auf die Bettkante und stellt den Aschenbecher neben sich.

„Was macht dein Kopf?“, sagt Swantje.

„Sitzt noch drauf“, sagt Müller.

„Du hast eben ganz schön gekotzt … Kotzt du immer wenn du auf ‘ner Party warst?“

„Nur wenn ich‘s übertreibe.“

„Ich hab dir gestern in den Dünen einen geblasen“, sagt Swantje.

Yep?“, macht Müller.

Ihn kann nichts mehr schocken, solange ihn die Bullen nicht abholen und wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen einlochen. Ihm ist längst bewusst, dass er gestern die Sau abgegeben haben muss. Er gibt immer die Sau ab, wenn er die Kontrolle verliert.

Swantje grinst und lässt Müller einen kurzen Blick auf ihren Pfeil werfen.

„Du hattest ‘nen ziemlichen Ständer. Total hart und steil nach oben“, sagt Swantje. „Ich find‘, du hast ‘n schönen Schwanz … Ein bisschen wie ’ne Banane.“

„Muss wohl an diesem Scheißzeug gelegen haben“, sagt Müller und fühlt sich ein bisschen geschmeichelt.

„Ich werd‘ da auch immer scharf von“, sagt Swantje.

Sie krabbelt rüber zu Müller und umarmt ihn von hinten. Ihre rechte Hand wandert dabei an seinem Bauch runter und findet den Weg in seine Unterhose.

„Ouh“, sagt sie, „da isser ja wieder.“

Swantje arbeitet nach dem Dreifingersystem und konzentriert sich ausschließlich auf den oberen Teil. Müller ist überrascht, dass sie automatisch den richtigen Dreh gefunden hat und kommt sich dabei vor wie ein alter geiler Sack, der sich, bevor ihm die Würmer an den toten Eiern nagen, nochmal ’ne junge Hure gönnt. Swantje nestelt ihm die Unterhose runter, schwingt sich auf seinen Schoß und steckt ihn bei sich rein. Sie ist leicht und lässt sich gut händeln. All dieses blonde Haar und dieser junge Körper. Müller lässt sich nach hinten aufs Bett fallen. Lässt die Beine auf den Boden baumeln, greift sich ihre schmale Taille und lässt sie ackern. Er gibt ihr die volle Länge. Swantje ist nicht zu bremsen. Sie rammelt, was das Zeug hält und schreit dabei die ganze Bude zusammen. Sie ist eng und sie macht es gut und Müller starrt wie hypnotisiert auf diesen kleinen pelzigen Pfeil zwischen ihren Beinen, während das silberne Mondlicht durchs Fenster scheint und der Poptitan der nächsten armen Sau das Selbstvertrauen ruiniert. Swantje legt noch einen drauf und lässt die Hüfte kreisen. In ihr lustvolles Geschrei, mischt sich ein Hauch von Jammer, als sie zum Höhepunkt kommt und langsam ihre Anspannung verliert und zitternd auf Müllers Brust sinkt. Er hatte ihr längst seine Ladung verpasst und auf sie gewartet. Nach ein Paar Minuten löst sich Swantje von ihm und verschwindet ins Bad. Sie trällert irgendein Lied in Englisch und macht dabei wieder: Bada … Bada … Uh, uh.

„Fuck, wie werd ich die bloß wieder los“, denkt Müller und zieht sich seine Unterhose nach oben.

In dem kleinen Bad plätschert die Klospülung und danach der Wasserhahn. Swantje lässt sich Zeit. Müller setzt sich aufs Bett, ans Kopfende und stellt den Fernseher wieder lauter. Er zappt aufs Erste und erwischt die Zweiundzwanzig-Uhr-Nachrichten. Ihm geht auf, dass er noch nicht mal Swantjes Augenfarbe kennt.

„Scheiß die Wand an, Müller“, beschimpft er sich selbst, „jetzt werd mal nicht piefig auf deine alten Tage. Morgen, noch heute Abend, oder spätestens Sonntag, wirst du diese Augen nie wieder sehen.“

Swantje kommt durch die Toilettentür, schlüpft in ihren Slip, streift sich ihr T-Shirt über und setzt sich neben Müller aufs Bett. Sie lächelt, knufft Müller in die Seite und sagt:

„Macht Spaß mit dir, Kajuku.“

„Ich hab’s mit einem, Küken getrieben“, sagt Müller und die Nachrichten bringen grade etwas über den Bürgerkrieg in Syrien.

Er muss an Charly denken. Charly hat Verwandte dort.

„Soll ich uns ‘n Bier holen, Kajuku?“

„Nichts dagegen“, sagt Müller und steckt sich eine Bulls-Houle an.

Er hört die Kühlschranktür, Flaschengeklüngel und einige Sekunden später, schmatzende Kaugeräusche.

„Das war’s dann wohl mit Fisch für heute“, denkt Müller und sieht Swantje zu, wie sie mit zwei Flaschen Bier und seiner letzten Schillerlocke im Mundwinkel durch die Tür kommt. Sie schmeißt sich neben ihn in die Kissen, reicht ihm die Flasche rüber und sagt:

„Henning wollte dir gestern eine reinhauen.“

„Warum“, sagt Müller, „weil er glaubt, ich hätte ihm den Blinker an seinem Joghurtbecher verbogen? Oder weil ich ihm geholfen habe, das Scheißding wieder auf die Räder zu stellen?“

Swantje bietet ihm einen Rest Schillerlocke an.

„Du weißt wirklich nichts mehr, oder?“

„Nicht die Bohne.“ Müller lehnt ab.

„Du hast ’n Alien-Tanz aufgeführt. Bist wie ‘n Irrer ums Feuer gehüpft und hast rumgeschrien, dass du Prince Kajuku wärst … und nur das Erdlingsweibchen mit den längsten Antennen eine Chance hätte, mit dir eine Runde in deinem UFO zu drehen.“

Müller drückt die Kippe aus und kann sich einen kurzen Lacher nicht verkneifen.

„So wie es aussieht, hattest dann ja wohl du die längsten Antennen.“

„Von wegen“, sagt Swantje, „Katja ist sofort aufgesprungen, hat wild mit den Armen gewedelt und gemeint, sie hätte die längsten Antennen. Dann seid ihr zusammen ums Feuer gehüpft.“

„Und deswegen wollte Henning mir eine reinhauen?“

Swantje trinkt einen Schluck aus der Flasche und sagt:

„Du hättest euch mal sehen sollen. Lambada oder Salsa ist da gar nichts gegen.“

Sie schaut Müller an und grinst.

„Du hattest deine Hände überall und Katja war wie irre am Kichern. Die anderen standen rum und haben gejohlt und geklatscht. Henning hat selbst nichts mehr gepeilt, war ziemlich zu von Sugarskullis und Wodka-E und wenn Christin ihn nicht aufgehetzt hätte, wäre gar nichts passiert.“

„Wer ist, Christin?“

Swantje nuckelt weiter an ihrer Bierflasche rum und lässt einen seichten Rülpser fliegen.

„Das war die mit dem Igelschnitt.“

„Keine Ahnung“, sagt Müller und greift zum Tabak.

„Ich kann sie nicht leiden“, sagt Swantje. „Die ist schon lange scharf auf Henning und hängt ständig an ihm rum. Mich würd’s nicht wundern, wenn sie’s miteinander treiben.“

„Na gut …, wie ging’s dann weiter?“

Müller nimmt einen tiefen Zug von der Zigarette und lässt einige Rauchkringel durch die Luft wabbeln.

„Henning hat Katja voll angeschrien …, dass sie ‘ne Schlampe wäre und so, und dass sie ihn blamieren würde und dass sie ihre Scheiß Fotze nicht im Griff hätte. Danach ist er auf dich los. Du standst da nur und hast gegeiert und das hat Henning erst richtig auf die Palme gebracht. Eigentlich ist Henning kein Typ, der sich prügelt, aber du standst da, hast gelacht und ihm gesagt, dass du ihn jeder Zeit pulverisieren könntest, bräuchtest nur mit den Fingern zu schnippen.“

„Das hab‘ ich gesagt?“

Müller schaut auf seine Hand, schnippt mit den Fingern, schüttelt den Kopf und trinkt den Rest aus der Flasche.

„Das hast du gesagt und dann sind zum Glück Axel und Tobi dazwischen gegangen.“

„Meinst du, Henning hätte mich geschafft?“

„Schätze schon“, sagt Swantje. „Er hat ‘ne Zeit lang Judo gemacht. Glaub‘ er hat den schwarzen Gürtel, oder so.“

„Hmm – “, macht Müller. Er steht auf, geht in die Küche und bringt zwei neue Flaschen Bier mit.

„Für mich keins mehr“, sagt Swantje.

„Wie bin ich denn an dich geraten?“

Müller knackt den Kronkorken mit dem Feuerzeug.

„Tobi und Axel haben Henning von dir weggezogen und Katja, war voll am Heulen. Du hast dann nur, Scheiß Kindergarten gesagt, und bist einfach gegangen. Ich fand die Party von Anfang an blöd und bin auch abgehauen. Ich wollte zum Zelt. Auf dieses Scheiß Theater hatte ich kein Bock. Unterwegs hab‘ ich dann dich getroffen. Du hast im Sand gesessen und so ’n komisches Lied gesungen, von wegen, Fuffzehn Mann auf irgendwelche toten Kisten, glaub‘ ich. Ich fand‘ das total lustig, wie du da gesessen hast. Als du mich gesehen hast, hast du mich gefragt, ob ich schon mal mit einem echten Prinzen aus dem Weltall gevögelt hätte.“

Swantje schaut ihn an und lächelt.

„Ich hab, nein gesagt, und da hast du gesagt …, komm mit. Ich dachte, dass du spinnst und mich nur verarschen willst. Ich kann dir auch gleich hier einen blasen, hab ich dann aus Spaß gesagt und wie aus dem Nichts, hast du deinen Schwanz rausgeholt und gesagt …, schnapp an.“

„Und da hast du angeschnappt“, sagt Müller.

„Nicht gleich“, sagt Swantje. „Ich hab mir dein Ding erstmal genau angesehen. Na …, ist das nix, hast du gefragt, und damit hin und her gewedelt. Nüchtern hätte ich das nicht gemacht, aber ich hatte ziemlich ein‘ sitzen und außerdem steh ich auf Blasen.“

„Schluckst du auch?“, sagt Müller.

„Kommt drauf an, wie’s schmeckt“, sagt Swantje.

„Und, hat meins geschmeckt?“

„Ging so. Am besten schmeckt‘s, wenn Männer vorher Obst essen.“

„Also hast du meins in den Sand gerotzt.“

„Nee, hab‘ ich nicht, ich hab’s geschluckt.“

„Da bin ich ja beruhigt“, sagt Müller und lacht und im TV zieht gerade Maybrit Illner ihre Talkshow ab. Diesmal geht es um die Mütterrente. Müller hätte nichts dagegen und der größte Teil der deutschen Nation sicher auch nicht. Was daraus wird, wird die Wahl am Sonntag zeigen.

„Gehst du Sonntag wählen?“, sagt Müller.

„Nee“, sagt Swantje, „kommt doch eh immer dieselbe Scheiße bei raus. Und du, gehst du wählen?“

Um Gottes Willen.“

„Alles easy“, sagt Swantje, „Ich muss mal wieder los. Ist schon fast Mitternacht und wir müssen morgen schon um sieben auf der Fähre sein.“

Sie schnappt sich ihr Smartphone, steigt aus dem Bett und zieht sich ihre restlichen Klamotten an.

„Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder, Prince Kajuku.“

„Wer weiß“, sagt Müller.

„Dann also Tschüs“, verabschiedet sich Swantje mit einem Lächeln, geht zur Tür und fragt nebenbei:

„Wie kommst du eigentlich auf diesen bescheuerten Namen?“

„Welchen Namen meinst du?“

„Prince Kajuku!“

„Ach …, das ist der Titel von einem Song aus den Siebzigern“, sagt Müller. „Die Band hieß UFO.“

„Mhm“, macht Swantje, schließt leise die Tür und ist verschwunden.

Müller stellt den Fernseher aus, holt sich das letzte Bier aus dem Kühlschrank und geht damit auf die Terrasse. Er schiebt sich eine Selbstgedrehte zwischen die Lippen und genießt die laue Sommerluft.

„Das war wirklich eine Begegnung der besonderen Art“, geht es ihm durch den Kopf und ein leichtes Brennen zieht sich über seinen Rücken, als er an Swantjes Alter denkt und eine Gänsehaut bekommt. Er vermutet bei ihr einen fetten Vaterkomplex, oder sie weiß etwas, das weit über seinen Horizont hinausgeht. Etwas, das sein kleiner Intellekt nicht begreifen kann, schlichtweg zu blöd dazu ist. Die einfachste Lösung aber wäre, dass sie es lediglich auf ein warmes Bett und einen vollen Kühlschrank abgesehen hatte. Gegen die Bezahlung für Sex in Naturalien würde wohl kaum ein Mann Einspruch erheben, jedenfalls nicht, wenn in seinem Kopf noch alle Lampen brennen.

 

 

 

 

 

 

54. Kapitel: Der Kettenraucher

 

Es ist Samstagmittag. Müller hat neun Stunden fest geschlafen. Auf dem kleinen Nachtschrank neben dem Bett steht noch der Teller mit den zerfledderten Überresten der toten Makrele. Swantje hat ganze Arbeit an dem Tier geleistet und sogar die Haut mit verdrückt. Nur den augenlosen Kopf, den Grätenstrang und die hintere Flosse hat sie übrig gelassen. Dass sie nicht viel auf den Rippen hat und kaum Titten vorne dran kann nicht an ihrem Essverhalten liegen, da ist sich Müller sicher. Er wälzt sich aus dem Bett, nimmt den Teller, geht in die Küche und entsorgt die Reste im Mülleimer. Draußen scheint die Sonne und einige Möwen lassen sich vom Wind über die alten Kiefern tragen. Er öffnet das Küchenfenster und schaut in den wolkenlosen, blauen Himmel. Die Luft ist frisch und schmeckt nach Salz. Müller streckt die Arme zur Decke und atmet ein paarmal tief ein und aus. Seine Lunge und sein Rachen, geplagt von jahrelangem Nikotinmissbrauch, sind soviel gesunde Luft auf einmal nicht gewöhnt und reagieren in gegenseitigem Einvernehmen, mit einem heftigen Hustenreiz. Müller hat vergessen, dass er dringend auf die Toilette muss und pisst sich fast in die Unterhose. Er schafft es nur knapp bis ins Bad und überlegt ernsthaft, ob er mal kürzer treten sollte. Und während er auf der Kloschüssel sitzt, klopft jemand von draußen an die Terrassentür.

„Swantje“, denkt Müller, putzt sich ab, betätigt die Spülung, hält kurz seine Hände unter den Wasserhahn und geht zur Tür. Als er einen Blick durch die Scheibe wirft, kann von Swantje keine Rede sein. Ein Polizist hat es sich in einem der Gartenstühle bequem gemacht und nuckelt entspannt an einer Zigarette. Er sitzt mit dem Rücken zu Müller. Er hat graues kurzes Haar etwas zu viel auf den Rippen und spielt mit seiner Mütze. Außer Unsicherheit und Angst gehen Müller in diesem Moment viele Fragen durch den Kopf. Die Ereignisse der letzten zwei Wochen haben ihn misstrauisch gegen jede Art von Störung werden lassen und vor allem die von karrieregeilen Bullen. Hat Swantje ihn belogen? War sie noch keine neunzehn? Aber in diesem Fall, wäre sicher nicht nur ein Polyp gekommen. Für ihn gibt es nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Er öffnet die Tür.

„Moin, was kann ich für Sie tun?“, sagt Müller und kann eine leichte Unsicherheit in seiner Stimme nicht verbergen. Der Polizist bleibt sitzen und schaut Müller von der Seite an.

„Sind sie Rainer Müller?“

„Ja“, sagt Müller.

„Aus Osnabrück?“

„Ja.“

„Ich bin Polizeihauptmeister Westermann, von der hiesigen Inselpolizei“, stellt sich Westermann vor.

Er drückt seine Kippe in den Aschenbecher.

„Ja …, und?“, sagt Müller, „wieso sind sie hier?“

Westermann lächelt und steckt sich die nächste Zigarette an. „Ein Kollege aus Osnabrück hat vor einer Stunde bei uns angerufen und uns eine Geschichte erzählt, in der sie die Hauptrolle spielen.“

„Harms!“, rutscht es Müller raus.

„Harms hieß der nicht“, sagt Westermann, kramt einen kleinen Block aus seiner Jackentasche und blättert drin rum. „Hannes Schik, oder, Blik“, sagt Westermann, „glaube ich, hieß der. Er sagte, Sie und er wären gute Freunde.“ Westermann schaut Müller fragend an.

„Das stimmt“, sagt Müller. „Wir kennen uns aus dem Kindergarten. Ich hab ihm mal das Leben gerettet.“

„Schön für Sie, Herr Müller, aber bitte setzen Sie sich doch endlich auf den Hintern und stehen da nicht so Cognac neben mir rum, sonst verrenk‘ ich mir noch den Hals.“ Westermann bietet Müller den Stuhl gegenüber an.

„Kein Problem“, sagt Müller und setzt sich. Seine Skepsis bleibt.

„Möchten Sie rauchen, Herr Müller, Sie starren so auf meine Zigarette?“

„Ich könnte jetzt wohl eine vertragen“, bejaht Müller Westermanns Angebot.

Ihm ist längst klar, dass es sich nur um den alten Fierer handeln kann, als er Hannes‘ Namen gehört hat. Westermann pult eine Zigarette aus der Packung und gibt sie Müller und während er ein Streichholz anzündet und Müller Feuer gibt, sagt er:

„Ist ihnen der Name Professor Doktor August Fierer ein Begriff?“

„Ja“, sagt Müller, „ich hatte beruflich mit ihm zutun.“

Er hat nicht vor, Westermann, gleich die ganze Geschichte unter die Nase zu reiben. Es könnte ja sein, dass Hannes ihm aus gutem Grund einiges verschwiegen hat.

Westermann schaut Müller ernst an, so als wolle er sagen: Komm mir jetzt bloß nicht auf die Tour.

„Wir sollten ehrlich miteinander umgehen, Herr Müller. Ich weiß, dass Sie nicht nur beruflich mit Fierer zutun hatten.“

„Dann sagen Sie mir, was Sie wissen und hören Sie endlich damit auf, hier einen auf Inspektor Columbo (Amerikanische Detektivserie aus den Siebzigern) zu machen“, sagt Müller. „Ich weiß, dass da ein fettes Ding im Gange ist und einige Leute, mich eingeschlossen, in Gefahr gebracht hat.“

„Gut“, sagt Westermann. „ich sehe, wir haben uns verstanden.“

„Wie wär’s mit Kaffe?“, sagt Müller.

„Gerne“, sagt Westermann.

Müller geht in die Küche und bestückt die Kaffeemaschine. Er ist gespannt, was Westermann ihm zu sagen hat. In Osnabrück muss einiges passiert sein seitdem er auf Amrum ist. Zum ersten Mal ärgert es ihn, kein Handy zu besitzen. Ein kurzes Telefonat mit Hannes würde jetzt einiges leichter für ihn machen, denn die Situation musste schon wirklich sehr ernst sein, bevor Hannes ihm einen seiner Kollegen schicken würde. Er nimmt zwei saubere Tassen aus dem Schrank, die Kaffeekanne und geht damit zurück auf die Terrasse. Er stellt alles auf den runden Gartentisch, macht die Tassen voll und setzt sich wieder. Westermann reißt eine neue Packung Zigaretten auf und trinkt einen Schluck Kaffee.

„Ich sollte es lassen“, sagt er und zeigt mit dem Finger auf die Zigaretten.

„Tja …“, sagt Müller, „ich rauche ja schon viel, aber ich schätze, die Hälfte Ihrer Kohle, die sie im Monat verdienen, geht für Kippen drauf.“

„So ungefähr“, sagt Westermann, hustet und steckt sich mit der alten eine neue an.

„Kommen wir doch lieber wieder zu Ihnen, Herr Müller. Und weil Sie es so gewünscht haben, ganz von vorne.“

„Das wäre am besten“, sagt Müller mit leicht ironischem Unterton.

Die lahmarschige Art des kettenrauchenden Inselbullen geht ihm langsam auf die Nerven.

„Lassen sie uns zur Sache kommen, Herr Westermann.“

„Gut“, sagt Westermann. „Es fing damit an, dass eine gewisse Herta Gruber“, Westermann blättert wieder in seinem kleinen Block herum, „am Donnerstag um zweiundzwanzig Uhr fünfunddreißig einen Einbruch bei der Osnabrücker Polizei meldete. Und zwar …, wie sich herausstellte …“ Müller unterbricht Westermann und sagt:

„Handelt es sich um meine Wohnung …, stimmt ‘s?“

„Bitte lassen Sie mich ausreden, Herr Müller. Ich bemühe mich hier, die Dinge richtig beieinander zu kriegen und dass ist in ihrem Fall nicht so einfach“, tadelt Westermann. Müller übergeht den Tadel und schenkt Kaffee nach.

„Wie Sie schon richtig vermutet haben, handelt es sich tatsächlich um Ihre Wohnung. Frau Gruber gab an, von seltsam, lauten Geräuschen aus ihrer Wohnung geweckt worden zu sein. Sie dachte zu dem Zeitpunkt noch nicht an Einbrecher und ging los, um nachzusehen. Weiter gab sie an, dass Ihre Wohnungstür offen stand und sie gehört habe, wie sich zwei Männer laut unterhielten. Frau Gruber hatte sich immer noch nichts Schlimmes dabei gedacht und an die Tür geklopft. Danach, wie sie zu Protokoll gab, wurde es wohl sehr still und im nächsten Augenblick seien zwei Unbekannte an ihr vorbeigerannt, die Treppe runter und durch die Haustür verschwunden.“

„Kowi, der Arsch“, sagt Müller.

„Wer ist Kowi?“, sagt Westermann.

„Ach“, sagt Müller, „das ist unser Hausmeister und er lässt ständig unten die Haustür offen. Ich hab‘ mir schon tausendmal vorgenommen, ihm zu sagen, dass ich das Scheiße finde, bin aber nie dazu gekommen.“

„Verdächtigen Sie ihn, etwas mit dem Einbruch etwas zutun zu haben, Herr Müller?“

„Um Gottes Willen, nein. Er ist ein netter Kerl. Ich wette, er hat nicht mal als Kind gewusst, wie man mit ‘nem Strohhalm ‘nen Frosch zum Platzen bringt. Er schenkt mir manchmal Gemüse aus seinem Gewächshaus.“

Westermann gibt seiner Lunge den nächsten Hit.

„Gut, dann weiter“, sagt er. „Da gab’s noch diesen ominösen Brief, den der Herr Fierer ihnen durch einen Boten zukommen lassen hat.“ Westermann greift in die Innentasche seiner Jacke und zieht ein zusammengefaltetes Blatt Papier raus. Er faltet es auseinander und schiebt es rüber, zu Müller. „Erkennen Sie das?“

„Ja, das ist der Brief“, sagt Müller.

„Ihr Kumpel war so freundlich, ihn mir durchzufaxen“, sagt Westermann.

„Herta hat ihn angenommen, ich war nicht Zuhause“, sagt Müller.

„Ich weiß“, sagt Westermann. „Ich weiß auch“, sagt er, „dass Ihre Nachbarin, Frau Gruber, ausgesagt hat, dass einer von den Einbrechern besagter Bote war. Sie hätte ihn an seiner Stimme erkannt. Und Ihr Freund, Hannes Blik, war so schlau, den Brief von der Spusi. (Spurensicherung) prüfen zu lassen, und im Vergleich mit den Fingerabdrücken aus Ihrer Wohnung kam heraus, dass sie identisch mit den Fingerabdrücken eines gewissen „David Lose“ alias, Doggy, sind.“ Westermann schaut Müller in die Augen, als würde er erwarten, dass Müller diesen Namen kennt.

„Nie gehört“, sagt Müller und schüttelt mit dem Kopf.

Westermann weiter:

„Besagter David Lose ist bei der Osnabrücker Polizei und bei den Osnabrücker Behörden kein ungeschriebenes Blatt. Er hat bereits drei Jahre Jugendknast wegen schwerer Körperverletzung, Nötigung und Erpressung hinter sich, und er ist einer der Mitbegründer der Gruppe „Brüder saubere Heimat“ kurz, BSH. Die Polizei, das BKA und der Verfassungsschutz vermuten, dass die Gruppe dick und fett über Grenzen hinweg mit Drogen und Waffen handelt, konnten ihnen aber bis jetzt nichts beweisen.“

„Was heißt hier …, bis jetzt?“, will Müller wissen. Er merkt, dass Westermann rumdruckst und nervös wird.

„Herr Müller“, sagt er, „Hermann Müller, ist das der Name Ihres Onkel, wohnhaft in Bad Waldsee bei Ulm?“

„Ja, was ist mit ihm?“ Müller wird unruhig. „Was ist mit Hermann?“

„Auf ihn wurde Mittwochmorgen ein feiges Attentat verübt“, sagt Westermann.

Müller hält jetzt nichts mehr in seinem Stuhl. Er springt auf und läuft planlos über die Terrasse. Ihm wird langsam bewusst, auf was für ein gefährliches Spiel er sich mit seiner unbedachten Äußerung über seinen Onkel beim alten Fierer eingelassen hat. Nicht auszudenken, wenn er Fierers Angebot, die alte Haustechnik in der Villa zu checken, angenommen hätte.

„Beruhigen Sie sich bitte, Herr Müller“, sagt Westermann. „Ihrem Onkel geht es gut. Er bekam nur einen leichten Streifschuss ab, am rechten Oberarm … nichts Ernstes.“

„Ich soll mich beruhigen?!“, schreit Müller. „Der Drecksack Fierer, ist dabei meine Familie auszurotten und ich soll mich beruhigen?!“

„Bitte setzen sie sich wieder hin!“, sagt Westermann. „Ihrem Onkel wurde eine Schutzhaft angeboten, bis sich der Fall geklärt hat und er hat zugestimmt.“

Müller setzt sich und versucht sich wieder in den Griff zu bekommen.

„Was ist mit meiner Schwester?“

„Um die kümmert sich Ihr Freund“, sagt Westermann und pafft die nächste.

„Scheiße!“, schreit Müller und verscheucht dabei ein kleines Eichhörnchen, das gerade dabei war, eine Haselnuss unter einem Brombeerstrauch zu verbuddeln. „Ich muss sofort zurück nach Osnabrück!“

„Und, was wollen Sie da machen, Herr Müller?“

„Weiß nicht“, überlegt Müller, „einfach nur da sein.“

„Sie können da jetzt gar nichts ausrichten“, gibt Westermann zu bedenken.

„Ihre Wohnung ist versiegelt und es wird noch eine Weile dauern, bis sie wieder freigegeben wird.“

„Okay“, sagt Müller, „was haben Sie mir noch anzubieten, bevor ich mir ‘ne Knarre besorge und dem alten Fierer die Eier wegblase?“

„Selbstjustiz ist keine Lösung, Herr Müller. Hören Sie mir erstmal zu.“

Müller dreht sich eine Bulls-Houle, gibt sich Feuer und ist ganz Ohr.

„Ihr Onkel hat, nachdem man ihn notärztlich versorgt hat, eine Aussage bei der Ulmer Kriminalpolizei gemacht und den „alten Fierer“ wie Sie ihn nennen, schwer belastet. Es ging um einen Mord an einem kleinen Judenjungen in der Nazizeit.“

Müller unterbricht Westermann und sagt:

„Lassen Sie mal, ich kenne die Scheiß Story, ich muss die nicht nochmal hören.“

„Seit wann kennen Sie die Geschichte, Herr Müller?“

„Seit letzter Woche. Onkel Reinhold hat …“ Müller gerät ins Stocken und versucht, die aufkommende Übelkeit in seinem Magen zu unterdrücken.

„Was ist mit Ihrem …, Onkel Reinhold? Hat er Ihnen die Geschichte erzählt?“

„Hinter dem wird das Arschloch auch her sein“, sagt Müller, mehr zu sich selbst.

„Herr Müller, hören Sie mir zu“, Westermann fuchtelt mit seinen Händen vor Müllers Augen rum, „Ihr Onkel Reinhold befindet sich seit Montag dieser Woche, nebst Gattin, auf einer zweiwöchigen Kreuzfahrt durchs Mittelmeer. Haben Sie das nicht gewusst?“

„Nein“, gibt Müller erleichtert zu.

„Ihr Freund, Hannes Blik, hat mir gesagt, dass Ihr Onkel über alles Bescheid weiß und sich nach der Kreuzfahrt bei der Ulmer Kriminalpolizei melden wird. Er wird also erst wieder nach Hause kommen wenn die Luft rein ist.“

Müller fällt ein Stein vom Herzen als er das hört. Hannes hat wirklich an alles gedacht. Er würde sich niemals verzeihen können, wenn Reinhold, oder Margot, nur weil er sein blödes Maul nicht halten konnte, etwas passieren würde. Andrerseits, konnte er auch nicht ahnen, in was für ein Hornissennest er da herumstochern würde, als er dem alten Fierer den Namen seines Onkels nannte.

„Ein‘ auf Hannes“, sagt Müller und hebt die Kaffeetasse in die Höhe.

„Ein‘ auf meinen Kollegen“, sagt Westermann und hebt ebenfalls die Tasse.

Müller erzählt Westermann von dem Telefonat, das er mit Reinhold vor einer Woche geführt hat.

„Also weiß ihr Onkel Reinhold erst seit letzter Woche von dem Vorfall?“ sagt Westermann.

„Da bin ich mir ganz sicher“, sagt Müller.

„Gut, dann will Ich ihnen jetzt mal sagen, wie es weitergeht.“

Müller schaut zu, wie Westermann ein Streichholz anzündet, sich die nächste Fluppe in den Mund steckt und eine monströse Rauchwolke über den Tisch bläst.

„Im Moment“, sagt er, „ist die Osnabrücker Kripo zusammen mit dem BKA und dem Verfassungsschutz dabei, Beweise zu sammeln. Die Staatsanwaltschaft hat Haftbefehle gegen Fierer und Lose, erlassen. Soweit ich informiert bin, sitzt Fierer bereits in U-Haft und gegen Lose, läuft eine bundesweite Großfahndung. Man nimmt an, dass er der Schütze war, der auf ihren Onkel geschossen hat. Außerdem, werden gerade Fierers Villa und die Wohnungen, so wie die Osnabrücker Hauptzentrale der „Brüder saubere Heimat“ auf links gedreht. Wie Sie sehen, Herr Müller, sind die Ermittlungen in vollem Gange.“

„Das hört sich ja alles gut an“, sagt Müller, „aber ich fühl mich erst wieder sicher, wenn der alte Naziwichser rechtskräftig verurteilt ist und für den mageren Rest seines beschissenen Lebens gesiebte Luft atmet.“

„Aaah …“, beschwichtigt Westermann, „nach der Aussage Ihres Onkel Hermann hat der alte Fierer keine Chance mehr, frei zu kommen. Außerdem werden die Medien ganz schnell dafür sorgen, dass der Fall durch alle Länder und Kontinente geht und dabei die richtigen Augen und Ohren findet.“

„Jaja“, sagt Müller, „und die deutsche Politik wird wie immer ein schlechtes Gewissen vorgaukeln und mit aufgesetzter Bestürzung reagieren, wie so ein Verbrecher so lange unerkannt unter uns leben konnte ohne entdeckt zu werden, und die Scheiß Politiker werden wieder ihre verlogenen Fratzen in die Kameras halten und sich gegenseitig die Schuld zuschieben, bis keine Sau mehr so richtig begreift, worum es eigentlich am Anfang ging. Sonder- und Expertenkommissionen, die dem Steuerzahler sechsstellige Summen kosten, werden beauftragt, nach Gründen und Fehlern zu suchen, die in der Vergangenheit passiert sind … Und der gewünschte Nebeneffekt, dass die Gegenwart sauber bleibt, bringt den nötigen Abstand, um das Problem als normale Sache zu behandeln. Die deutschen Nachkriegsgenerationen haben eh genug von dem ganzen Nazi-Scheiß und nehmen sich da nichts mehr von an. Was aber auch daran liegt, dass sie die ständigen Anfeindungen von außerhalb satt haben. Man fährt ins Ausland und hat ständig dieses schlechte Gewissen. Man schämt sich für etwas, das Opa und Oma gemacht haben und wer wird schon gerne für ein Verbrechen verurteilt, das er nicht begangen hat … So wird’s laufen!“

„Sie machen sich da viel zu sehr ‘n Kopf, Herr Müller. „Wir hier im Norden gehen die Dinge gelassener an“, sagt Westermann. „Ich für meinen Teil glaube, dass die Politiker sich so gut wie es geht raushalten werden und die Drecksarbeit anderen überlassen. Und was Ihre Sicherheit angeht, Herr Müller, da machen Sie sich mal keine Sorgen. Hier auf der Insel wird Ihnen schon nichts passieren.“

„Sie könnten mir ja ihre Knarre dalassen“, schlägt Müller vor.

„Sehen Sie, Herr Müller“, sagt Westermann und lächelt, „das ist das Gute an unserem Land. Hier haben nur ganz wenige das Recht, eine Waffe zu besitzen. Wäre ich Police Officer in den Staaten, müsste ich jeden Tag damit rechnen, eine Kugel zwischen die Augen zu kriegen.“

„Ist schon gut“, sagt Müller, „hab‘ verstanden ... War auch nur Spaß.“

„Anders habe ich es auch nicht aufgefasst“, sagt Westermann und stemmt sich angestrengt aus dem Gartenstuhl.

„Ach …, übrigens, Herr Müller“, sagt er noch, während er seine Kippe in den Aschenbecher drückt, „Frau Dr. Jansen ist im Bilde. Sie können so lange bleiben, bis Sie wieder sicher nach Hause können.“

„Das ist nett von ihr“, sagt Müller.

„Jau, jau“, sagt Westerman, „die olle Jansen is schon ‘n fein‘ Kerl“, winkt und macht sich auf den Weg durch die alten Kiefern in Richtung Mittelgasse.

„Angenehmer Bulle“, denkt Müller, geht ins Bad, zieht die Unterhose und das T-Shirt aus und stellt sich unter die Dusche. Das warme Wasser hilft ihm, sich zu entspannen und wieder einigermaßen klar zu denken. Er fragt sich, ob Westermann ihm alles erzählt hat und ob die Insel im Ernstfall, wirklich genug Schutz bietet. Er öffnet die Flasche mit dem Duschgel, seift sich ein und überlegt den nächsten Schritt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

55. Kapitel: Einmal Bratkartoffeln

 

Die Seife brennt etwas in den Augen und erinnert ihn an Mira mit den scharfen Fingernägeln. Die Kratzwunden auf seinem Rücken scheinen gut zu verheilen, er spürt sie kaum noch. Müller nimmt den Brausekopf vom Haken und spült sich den Schaum vom Körper. Er stellt das Wasser ab, steigt aus der Dusche und wickelt sich in ein Handtuch. Was er jetzt braucht, ist ein Telefon, um Hannes anzurufen. Er wird ihm mehr sagen können als Westermann. Müller schrubbt sich den Plack von den Zähnen, schmeißt das nasse Handtuch zum trocknen über die Duschkabine und geht ins Wohnzimmer. Er steigt in seine Klamotten und verlässt die Wohnung. Er nimmt denselben Weg, den er zuvor am Donnerstag gekommen ist und erreicht schnell die Inselstraße mit den Souvenirgeschäften, Restaurants und Cafés auf beiden Seiten. Die Bürgersteige sind voll mit hungrigen Touristen. Auf der Uhr, die über dem schmalen Schaufenster eines kleinen Juweliergeschäfts hängt, stehen die Zeiger auf dreizehn Uhr fünfundvierzig. In den Restaurants und den Cafés, gibt es keinen freien Platz mehr. Die Leute essen, trinken, schnattern und sind genervt vom Geschrei und Gequengel ihrer Kinder. Müller geht weiter, bis er den großen Platz mit den Fähranlegern erreicht. In der Mitte gibt es ein größeres Gebäude. „WDR“ steht in dicken Buchstaben über dem Eingang und darunter, etwas kleiner „Wyker Dampfschiff-Reederei“. Müller vermutet, dort ein Telefon zu finden. Er steigt ein paar Stufen hoch, drückt die Tür auf und schaut in einen langen, breiten Flur, mit Bänken auf der rechten Seite und einigen Fahrkartenschaltern auf der linken Seite. Zwischen zweien, von den Fahrkartenschaltern, hängt ein Schild mit den Abfahrts- und den Ankunftszeiten der einzelnen Fähren. Am anderen Ende des Flurs gibt es noch eine Tür. Sie führt direkt auf den großen Sammelplatz, auf dem die Fahrzeuge für die Fähren sortiert werden. Die Schalter sind nicht besetzt und außer einem vollen Mülleimer und das panische Gesumme einer Wespe, die vergeblich einen Weg in die Freiheit sucht und sich ihre Fühler an einem Fenster ramponiert, gibt es nichts in dem Raum. Müller drückt die Tür zurück ins Schloss und geht die Stufen wieder runter. Er vermisst die Zeiten, in denen es noch an jeder Ecke eine Telefonzelle gab, die man mit Bargeld füttern konnte und man nicht drei Kilometer laufen musste, um einen Briefkasten zu finden.

Er dreht sich eine, geht denselben Weg ein Stück zurück, findet eine leere Bank und setzt sich. Sein Magen knurrt und fordert Nahrung. Das letzte, das er gegessen hat, war der Krabbensalat vor zwei Tagen und um den hatten sich jetzt die armen Schweine von der Stadtreinigung zu kümmern. Von Westen ziehen ein Paar Wolken auf und der frische Wind trocknet den Schweiß auf Müllers Stirn. Vollgepackte Autos, Motorräder und Fahrräder fahren an ihm vorbei zum Anleger runter. Eine Möwe kreischt, als hätte sie Verstopfung. Kinder schlabbern an ihrem Softeis rum und ein junger Dackel hat es auf die süßen Tropfen abgesehen, die dabei auf dem Pflaster landen. Müller meint, auf einem der Motorräder Swantje erkannt zu haben, ist sich aber nicht sicher. Er schmeißt die abgebrannte Kippe vor sich auf die Erde und gibt ihr mit dem Hacken seines Stiefels den Rest. Auf der anderen Straßenseite, zwischen Postkartenständern, Sonnenbrillen, Mützen und anderem Krempel, entdeckt er ein gelbes Schild. „Deutsche Post Service“ steht drauf. Ein kleiner Lichtblick, nach all den dunklen Nachrichten aus der Heimat. Müller verlässt die Bank, geht über die Straße und ins Geschäft. Der Laden ist vollgestopft mit Souvenirs. Überall gibt es irgendwelchen Kram mit Bildern von der Insel drauf und ganz hinten, in einer dunklen Ecke, hängt ein Papppfeil an der Decke, auf dem in schwarzen Lettern, Post steht. Die Spitze zeigt auf einen gelben Tresen runter, hinter dem ein Mann sitzt, der Briefmarken auf einen Stapel Briefe klebt, und während Müller sich einen Platz vor dem gelben Tresen sucht, bestellt sich eine ältere Touristin im Hintergrund, das Menü mit Bratkartoffeln, Gurke und Spiegelei und bringt damit einige Verwirrung in den Laden. Eine junge Angestellte versucht ihr zu erklären, dass sie sich in der Tür geirrt hätte und lieber nebenan ihr Glück versuchen sollte und bekommt fast einen Lachkrampf. Zu komisch, die Situation, dass jemand meint, in einem Geschäft mit lauter Nippes in den Regalen Bratkartoffeln mit Spiegelei serviert zu bekommen. Für Müller sind solche Verfehlungen nichts Neues. In seinem Job hatte er Kunden, die glaubten, er sei ein getarnter Gerichtsvollzieher und boten ihm anstatt Kaffee, Prügel an. Der Postmann hinter dem Tresen klebt die letzte Marke auf den letzten Brief und schmeißt ihn zu den anderen in einen gelben Plastikkasten mit schwarzen Posthornaufklebern an den Seiten.

„Was kann ich für sie tun?“, sagt er.

„Ich müsste mal telefonieren“, sagt Müller.

„Haben Sie denn kein Handyyyyyy …?“

„Nee“, sagt Müller, angepisst, „wozu?“

„Dann würde ich Ihnen empfehlen, eine Telefonkarte zu kaufen.“

„Wie wär’s mit Bratkartoffeln?“, sagt Müller.

Der Postmann fängt an, ihm auf den Sack zu gehen. Die Frage mit dem Handy hätte er nicht stellen sollen.

Äh …, Bratkartoffellllllln?“

„Vergessen Sie’s“, sagt Müller. „Was kostet eine Telefonkarte und wo kann ich hier auf der Insel damit telefonieren.“

Die Verwirrung in den Augen des Postlers scheint nicht gespielt. Müller tut es fast schon leid, ihn mit seinen Bratkartoffeln aus dem Konzept gebracht zu haben. Es sieht so aus, als fehlten dem Typen wirklich ein paar Latten am Zaun.

„Eine Telefonkarte bekommen Sie bei meiner Kollegin“, sagt der Postler und zeigt mit dem Finger in die Richtung, „und einen öffentlichen Fernsprecher finden Sie, wenn Sie aus dem Laden gehen und sich rechts halten. Nach zweihundert Meter, direkt beim Klabautermann, an der Ecke.“

Müller bedankt sich, kauft eine Telefonkarte und findet auf Anhieb die Telefonzelle. Der „Klabautermann“ ist ein Restaurant und hat Krabbensalat im Angebot.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

56. Kapitel: Das Ende

 

Müller steckt die Karte ins Telefon und wählt Hannes‘ Privatnummer. Er bekommt ein Freizeichen und hört ein leises Klicken.

„Blik!“

„Moin, Hannes, ich bin’s, Rainer.“

„Gut, dass du anrufst“, sagt Hannes. „Hier ist der Teufel los. Hat Westermann schon mit dir gesprochen?“

„Ja, hat er und danke für alles. Wie geht’s Christel? Ist sie bei dir?“

„Mach dir keine Sorgen, ihr geht’s gut. Sie sitzt hinter mir auf dem Sofa und heult sich die Augen aus.“

„Wie ich sie kenne, gibt sie sicher wieder mir die Schuld.“

„Nein, tut sie diesmal nicht, Rainer. Ich hab ihr erklärt, wie alles gekommen ist und sie kann nicht begreifen, dass euer Onkel Hermann so lange dicht gehalten hat.“

„Du sagtest eben, bei euch wäre der Teufel los. Gibt es noch etwas, dass ich wissen sollte?“

„Westermann, hat dir doch bestimmt gesagt, wer alles an dem Fall dran ist?“, sagt Hannes.

„Ja, hat er“, sagt Müller.

„Dann müsste dir eigentlich klar sein, dass ich, als einfacher Streifenbulle, weder von der Kripo, noch vom BKA und schon gar nicht vom deutschen Verfassungsschutz irgendwelche Infos über die laufenden Ermittlungen bekomme.“

„Das heißt“, sagt Müller enttäuscht, „du weißt auch nicht mehr, als der Kettenraucher.“

„Welcher Kettenraucher?“, sagt Hannes.

„Westermann!“

„Raucht der Kette?“

„Willst du das wirklich wissen? Ich glaube, wir haben Wichtigeres zu besprechen, als uns ‘n Kopp darüber zu machen, ob sich der Inselbulle hier eine nach der anderen ansteckt oder nicht!“

Hannes‘ dämliche Fragerei findet in dieser Situation bei Müller kein Verständnis.

„Is‘ ja schon gut, Müller. Reg‘ dich nicht auf. Wir haben ja noch meinen Freund, Bodo.“

Im Hintergrund hört Müller Christels Stimme, kann aber nicht verstehen, was sie sagt. Er versteht nur Hannes, der gerade mit ihr spricht und sagt, dass sie noch einen Moment warten soll. Kurz danach ist er wieder am Hörer.

„Deine Schwester möchte gleich auch noch mit dir sprechen.“

„Na gut“, sagt Müller, obwohl er nicht die geringste Lust hat mit ihr zu sprechen. Ihm reicht‘s, dass sie bei Hannes in Sicherheit ist. Ihre weinerliche Art ging ihm schon als Kind schräg ab.

„Bodo hat mir versprochen, sich so schnell wie möglich bei mir zu melden, wenn es Neuigkeiten gibt.“

„Und …, gibt es welche?“ Müller wird langsam ungeduldig.

„Ja …, sie haben diesen David Lose geschnappt. Er hatte sich bei seiner Ex im Keller versteckt. Sie verhören ihn gerade“, sagt Hannes.

„Scheint ziemlich dämlich zu sein, dieser Lose“, sagt Müller. „Schießen kann er nicht und ein vernünftiges Versteck kriegt er auch nicht auf die Reihe.“

„Das kann man wohl sagen. Die Ex haben sie auch gleich mit eingesackt. Die Staatsanwaltschaft hat bei ihr eine Hausdurchsuchung angeordnet“, sagt Hannes und lacht.

„Übrigens, haben sie in Fierers Villa einen Tunnel gefunden, der zu einem voll ausgestatteten ABC-Bunker führt. Der alte Fierer, muss wohl mit dem Dritten Weltkrieg gerechnet haben. Außerdem gab es noch eine Waffenkammer im Keller. Schade, dass der alte Sack Sportschütze und Jäger ist und einen Waffenschein besitzt. Wegen seiner Artillerie können sie ihm leider nicht den braunen Arsch aufreißen.“

„Kannst du rausfinden, wann meine Bude wieder frei wird, Hannes? Oder kannst du da eventuell was dreh‘n?“

„Leider nein“, sagt Hannes. „Das liegt ganz alleine in den Händen der Staatsanwaltschaft. Ich schätze, wenn die Beweisaufnahme beendet ist, eher nicht. Im Moment versuchen sie, den alten Fierer mit der Gruppe „Brüder saubere Heimat“ in Verbindung zu bringen. Schätze, sie werden Lose einen Deal anbieten, damit er auspackt. Der Typ hat reichlich Dreck am Stecken und wenn sie ihm jetzt noch den versuchten Mord an deinem Onkel nachweisen können geht der nicht unter zwölf Jahren Knast mit anschließender Sicherheitsverwahrung aus dem Gerichtssaal.“

„Wäre ein Arschloch weniger.“

„Meine Rede“, stimmt Hannes zu. „Und sag‘ mal, Rainer …, diese, Lena, die du da grade am Start hast …, weiß die Bescheid? Weiß die, wo du dich im Moment rumtreibst?“

„Nee“, sagt Müller, „wir hatten Streit … Ich glaube, das Ding ist gelaufen.“

„Mhm“, macht Hannes, „schade, hübsches Mädchen.“

„Geht mir auch schwer ab“, sagt Müller.

„Also, Rainer, mehr kann ich dir im Augenblick auch nicht sagen. Aber falls Bodo neue Infos durchgibt, wie kann ich dich erreichen?“

„Gar nicht“, sagt Müller. „Ich ruf‘ dich später nochmal an.“

„Alles klar. Dann verabschiede ich mich erstmal und geb dir Christel.“

Müller hört kurzes Geraschel und dann ist seine Schwester am Apparat.

„Hallo Bruderherz“, legt sie sofort los, „ich mache mir solche Sorgen! Wie geht es dir?“

Müller hört, dass sie weint.

„Mach dir keine Sorgen, Chris, mir fehlt nichts und hör endlich mit dieser blöden Flennerei auf.“

„Ich kann nichts dafür“, schluchzt Christel. „Hier kann man keinen Schritt mehr vor die Tür machen, ohne gleich von jemandem von der Zeitung oder vom Fernsehen belästigt zu werden.“

Daran hatte Müller noch gar nicht gedacht. Er hätte wissen müssen, dass so eine Sache gleich sämtliche Medien auf den Plan ruft. Westermann hatte es im Gespräch schon angedeutet. „Woher wissen die denn, dass du die Nichte von Hermann bist?“, sagt Müller.

„Keine Ahnung“, wimmert Christel, „die wissen auch von dir. Die wissen sogar, dass du mal bei Fierers die Heizung repariert hast.“

„Scheiße“, denkt Müller und hofft, dass die nächste Fähre die Pressehölle nicht von Osnabrück nach Amrum bringt. Reporter haben immer ihre Scheiß Informanten bei den Bullen. So ist es im Fernsehen und so ist es auch in der Realität.

„Mal ganz ruhig, Schwesterlein, „die einzigen Menschen, die wissen, dass ich auf Amrum bin, sind Dr. Jansen, du, Hannes und der Inselbulle. Und der Inselbulle wird einen Teufel tun und mit der Geschichte hausieren gehen. Ich glaube nicht, dass er für ein Paar lumpige Kröten von irgendeinem Schmierblatt oder Fernsehsender Überstunden schieben will. So schätze ich ihn nicht ein. Er ist eher der Typ, der lieber seine Ruhe hat.“

„Ich hoffe, du hast recht“, sagt Christel und Müller hört, wie sie sich am anderen Ende der Leitung die Nase putzt.

„Apropos Fernsehen“, sagt sie, „du musst mal die Nachrichten einschalten. Hannes und ich sitzen schon den ganzen Morgen davor und schütteln nur noch mit dem Kopf. Fierer ist der Aufhänger des Tages. Sie haben sogar ein altes und ein neues Foto von Onkel Hermann aufgetrieben und die gemeinen Reporter verdrehen alles. Sie stellen ihn so dar, als ob er mit dem Professor gemeinsame Sache gemacht hätte.“ Christels Gejammer wird wieder lauter.

„Das machen die Aasgeier nur, weil sie die ganze Geschichte noch nicht kennen“, versucht Müller sie zu beruhigen. „Sie müssen ja irgendwie den Zuschauer bei Laune halten, bis sie wieder neue Informationen haben.“

„Das meint, Hannes, auch“, sagt Christel.

„Dann hör‘ auch auf, Hannes, und jetzt lass uns Schluss machen, sonst ist meine Telefonkarte gleich leer.“

Müller ist das Rumgezeter seiner Schwester leid. Er verabschiedet sich und legt auf.

Vor dem Klabautermann gibt es noch einen freien Tisch mit Sonnenschirm. Mittag ist vorbei. Die Touristen sind satt, bezahlen ihre Rechnungen und in den Gesichtern der gefrusteten Kellner spiegelt sich die Enttäuschung über das magere Trinkgeld wider. Müller kann gut verstehen, dass es ihnen schwer fällt, einem Gast wegen zwanzig Cents den Arsch zu lecken oder in Freudentränen auszubrechen. Im Allgemeinen wird diese Entwicklung gerne der weltweiten Finanzkrise in die Schuhe geschoben. Das perfekte Alibi, um am falschen Ende zu sparen, und wie in diesem Fall, guten Gewissens mit dem Trinkgeld zu geizen.

Müller setzt sich unter den Sonnenschirm und genießt den kühlen Schatten. Einige Ameisen krabbeln über die Tischplatte und machen sich über die Essensreste vorangegangener Mahlzeiten her.

 

Ameisen faszinierten Müller schon, als er noch ein Kind war. Seine Mutter legte jedes Jahr hinter dem Haus, in dem sie zur Miete wohnten, einen kleinen Garten an. Es gab genug Platz und der Vermieter hatte nichts dagegen. Meistens nahm sie Müller mit, wenn sie Unkraut zupfen ging, oder irgendwas anderes im Garten zu tun hatte und wenn die Kartoffeln ins Kraut schossen, war es seine Aufgabe, die Kartoffelkäferlarven von den Blättern zu sammeln. Müller mochte den Job nicht. Es langweilte ihn und er fing an, die Larven dafür verantwortlich zu machen. Seine Mutter drückte ihm zum Einsammeln eine alte Blechdose in die Hand und wenn die Dose voll mit Larven war, goss sie Spiritus rein und zündete sie an. Es qualmte, knisterte und knackte in der Dose und die Larven krümmten sich und kurz bevor sie auseinanderplatzten, gab es ein zischendes Pfeifgeräusch. Nacktschnecken bekamen von ihr die gleiche Behandlung. Nacktschnecken fing sie, indem sie einen Becher mit Bier füllte und ihn bis zum Rand in die Erde steckte. Die schleimigen Viecher waren ganz wild auf Bier und fielen eine nach der anderen in den Becher und ersoffen.

Eines Tages rutschte Müller eine Kartoffelkäferlarve aus der Hand und fiel auf die Erde. Es ist nicht so, dass ihm das nur einmal passiert wäre, nur dass ihm diesmal die Larve in ein Nest voller Ameisen gefallen war. Müller beobachtete, wie die Ameisen anfingen, die Larve zu killen. Für die kleinen Ameisen war es ein fetter Brocken und sie hatten einiges an Arbeit mit dem Vieh. Es dauerte ziemlich lange, bis sie die Larve soweit in ihrer Gewalt hatten, dass sie sie, durch ein kleines Loch ins Nest schaffen konnten. Müllers Forscherherz war geweckt und mit der Zeit probierte er es auch mit anderen Insekten.

 

Ein Kellner, der Ähnlichkeit mit Danny De Vito (amerikanischer Filmschauspieler) hat, wird auf Müller aufmerksam und kommt an seinen Tisch. Er sagt:

„Moin“, zückt sowas wie einen Organizer und wartet auf Müllers Bestellung.

„Moin … Ein‘ halben Weizenbier und die Speisekarte“, sagt Müller.

De Vito tippt hektisch irgendwas in sein Gerät und verschwindet. Etwas später kommt eine junge Kellnerin mit einem Lappen an den Tisch. Sie nickt ihm freundlich zu, wischt mit einem gekonnten Schwung über die Tischplatte und bringt dabei die Ameisen um ihre wohl verdiente Beute. Zwei Tische weiter schnippt ein Familienvater mit drei krakelenden Kindern im Schlepptau und einer gefrusteten Ehefrau im Nacken nervös mit den Fingern.

„Zahlen bitte!“, ruft er in die Runde, während eins seiner Bälger mit den Füßen wütend auf den Boden stampft und ihm dabei Milcheis in die Haare schmiert.

„Justus, würdest du bitte mit deinem Eis aufpassen und dich bitte bei deinem Vater entschuldigen!“, schimpft die Mutter, aber Justus lässt sich von nichts abbringen. Er schreit wie am Spieß und verpasst als nächstes dem Hawaii-Hemd seines Alten einen großen, braunen Schokofleck. Müller ist beeindruckt von der Energie, die Justus dabei an den Tag legt. Er scheißt auf Mamas nette Zurechtweisung und nimmt sich unbeeindruckt Papas Shorts vor.

„Dämliche, Scheiß Pädagogen“, denkt Müller.

„Ihr Weizenbier und die Karte“, sagt De Vito, „bitte schön.“

Er flitscht einen Bierdeckel vor Müller auf den Tisch, stellt den halben Liter drauf und reicht ihm die Speisekarte.

„Krabbensalat ist aus“, sagt De Vito und geht zwei Tische weiter zum Abkassieren.

Müller steckt sich eine Selbstgedrehte an, schlägt die Speisekarte auf und trinkt einen Schluck Weizenbier. Die Preise sind gepfeffert, was ihn aber nicht davon abhält, sich für das Rumpsteak mit Kräuterbutter und Kroketten zu entscheiden. De Vito lässt sich Zeit und kassiert noch drei weitere Tische ab, bevor er Müllers Bestellung in seinen Kasten tippt und sich auf den Weg zur Küche macht. Eine Viertelstunde später kommt er mit einem Tablett angepest und serviert Müller das Rumpsteak. Müller bestellt noch ein halben Liter Weizenbier und fängt an zu essen. Eine hellbraune Katze kommt vorbei, streift einmal um seine Beine und verzieht sich wieder. Das Steak ist zart und etwas blutig, genau auf dem Punkt und zusammen mit der Kräuterbutter genießt Müller jeden Bissen. Der alte Spruch, dass der Hunger mit dem Essen kommt, trifft hier voll ins Schwarze, denn jedes Stück Fleisch, dass seinen Magen erreicht, lässt ihn spüren, wie hungrig er eigentlich ist. Gierig schaufelt Müller das teure Zeug in sich rein und damit es schneller rutscht, spült er ’ne Ladung Bier hinterher. Als De Vito zwölf Minuten später das nächste Glas Weizenbier anschleppt, ist der Teller bereits leer und Müller dabei, sich mit einer Servierte das Fett von den Lippen zu wischen.

„Wie ich sehe, hat es Ihnen geschmeckt“, sagt De Vito und ringt sich dabei ein gequältes Lächeln ab.

Er tauscht das leere gegen das volle Glas.

„Wie wäre es mit einer Nachspeise?“, sagt er.

„Nee danke“, sagt Müller und versucht nebenbei, mit der Zunge ein Fitzel Fleisch zu erwischen, das sich zwischen die Zähne geklemmt hat, „dann passt das Bier nicht mehr rein, und machen Sie mir bitte gleich die Rechnung fertig.“

De Vito nickt verständnisvoll und hackt auf seinen Kasten rum.

„Dreiunddreißigfünfzig“, sagt er.

Müller zieht zwei Zwanziger aus dem Portmonee, legt sie vor De Vito auf den Tisch und winkt ab. Der Kellner sackt das Geld ein und wünscht Müller noch einen schönen Tag. Er lächelt dabei und Müller hat den Eindruck, dass diesmal sein Lächeln echt ist. Wahrscheinlich hat er ihm mit sechs Euro fünfzig Trinkgeld den Feierabend gerettet und seiner Frau eine Tracht Prügel erspart. Was soll’s, Müller ist satt und schließlich hat er sich noch um einen halben Liter Bayernplörre zu kümmern. Er dreht sich eine Bulls-Houle dazu, streckt zufrieden die Beine aus, gibt sich Feuer und pafft gemütlich drauflos. Aus irgendeiner Ecke kommt die hellbraune Katze wieder angedackelt. Sie setzt sich genau unter Müllers Hand und zeigt ihm, wo sie gestreichelt werden will. Müller hat nichts dagegen und legt los. Erst der Nacken und dann auf dem Kopf, zwischen den Ohren. Katzen mochte er immer schon lieber als Hunde. Sie haben einen festen Charakter, lassen sich nicht verbiegen und können im Notfall für sich selbst sorgen. Alles Eigenschaften, die Müller in einem Hund nicht sieht. Nach einer Weile hat die Katze genug und macht sich wieder auf die Socken. Die Sonne ist inzwischen weiter gewandert und scheint Müller direkt in die Augen. Er müsste sich einfach, samt Stuhl, fünfzig Zentimeter nach links bewegen, um wieder in den Schatten des Schirms zu kommen. Aber stattdessen wächst in ihm der Gedanke, sich auf dem Rückweg eine coole Sonnenbrille zu kaufen. Den Trouble in Osnabrück verdrängt Müller, das konnte er immer schon gut, darin ist er Meister, dank der Erziehung seiner Eltern. Er schlürft den letzten Rest Weizenbier aus dem Glas und macht sich auf den Rückweg. An einem Souvenirgeschäft entdeckt er einen Drehständer mit Sonnenbrillen. Einige Fächer sind leer, aber da Müller fast nie denselben Griff tut, wie seine Mitmenschen, findet er für sich recht fix das passende Modell. Die Gläser sind etwas verspiegelt und lassen heimliche Blicke bei den Ladys zu. Das gefällt Müller. Sein nächstes Ziel ist der Supermarkt. Er ersteht zwei Sixpacks, eine Flasche Rotwein und eine Dose Eierravioli. Er verstaut den Kram in eine Plastiktüte, bezahlt und macht, dass er in seine Ferienwohnung kommt. Er holt sich ein Wasserglas aus dem Küchenschrank, entkorkt die Weinflasche und schenkt sich ein. „Wein auf Bier, das rat‘ ich dir!“, sagt Müller laut zu sich selbst, hebt das Glas, prostet sich zu und freut sich nach dem ersten Schluck, die richtige Auswahl getroffen zu haben. 2012er Domina Rotwein im Boxbeutel aus dem Frankenland. Der Name der Traube hatte es ihm im Supermarkt bei seiner Entscheidung leicht gemacht.

„Fehlt nur noch die beschissene Peitsche!“, grölt Müller, lacht und schluckt das rote Zeug in einem Rutsch.

Er nimmt die Flasche, füllt das Glas erneut und macht den Fernseher an. Es ist fast fünf Uhr am Nachmitttag. Das Erste bringt Nachrichten. Müller dreht sich eine, hält das Feuerzeug drunter und setzt sich auf die Bettkante. Es gibt noch eine Minuten Commercials mit dem In-der-Tat- Mann, der für ein Antischuppen-Shampoo wirbt und danach der Vorspann der deutschen Tagesschau.

 

„Hier ist das Erste, Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau“

 

Die Nachrichtensprecherin kommt gleich zur Sache. Christel hatte recht, als sie ihm am Telefon sagte, dass die Verhaftung des alten Fierers der Aufhänger sei. Hinter der Nachrichtensprecherin taucht ein altes Schwarzweißfoto vom alten Fierer in SS-Uniform auf. Er steht vor Himmler und reicht ihm unterwürfig die Hand und Himmler schaut gönnerhaft auf ihn runter.

„Der Köter und sein Herrchen“, fällt Müller dazu ein

Ihm wird schlecht bei dem Gedanken, diesem Drecksack begegnet zu sein und noch um einiges schlimmer findet er, dass sein eigener Vater ein großer Fan von Fierer war. Ihn würde es nicht wundern, wenn er bis zu seinem Tode noch Kontakt mit ihm hatte. Das würde auch erklären, weshalb Hermann nie wieder etwas von sich hat hören lassen, denn so wie Müller seinen Alten einschätzt hätte er keine Sekunde lang gezögert und seinen eigenen Bruder ans Messer geliefert. Und wenn das alles zutrifft, geht es Müller durch den Kopf, musste sein Alter über den Mord an dem kleinen Jungen Bescheid gewusst haben. Er will nur nicht begreifen, weshalb Hermann das Risiko eingegangen ist, Reinhold seine Adresse und Telefonnummer zu geben. Er muss Reinhold schon sehr zugesetzt haben, damit er das Maul hält, denn schließlich hing sein Leben davon ab. Müller fragt sich, ob Reinhold ihm etwas vorgemacht hat, als sie letzte Woche telefonierten. Hatte er ihn angelogen? Ist es Zufall, weshalb er gerade jetzt seine Koffer gepackt hat und mit seiner Frau durchs Mittelmeer schippert? Wem kann Müller aus seiner Familie noch trauen? Seine Schwester steht außen vor, dessen ist er sich sicher. Für sie muss eine Welt zusammenbrechen. Sie war immer das behütete Nesthäkchen, sie hat nie die Pferdepeitsche zu spüren gekriegt, sie stand immer im Mittelpunkt und wurde von allen gelobt und verwöhnt.

Im Fernsehen bringen sie jetzt die Bilder von Hermann, und genau wie Christel es ihm sagte, lässt die Nachrichtensprecherin kein gutes Haar an ihm. Müller ist erstaunt, wie gut sich Hermann über all die Jahre gehalten hat. Er hat ihn auf den beiden Fotos sofort erkannt. Müller trinkt das Glas leer und sorgt für eine neue Füllung. Er dreht sich noch eine und schaut weiter in die Glotze. Sie zeigen den Park, in dem der Schütze auf Hermann gelauert haben muss und die Stelle, an der er sich die Kugel eingefangen hat. Danach ein paar Interviews mit Augenzeugen, die im angrenzenden Altersheim leben. Die Bestürzung bei ihnen ist groß und einem alten Sack mit hellbraunem Cordhut auf der Pläte, der über die neunzig sein dürfte, fällt nichts anderes dazu ein als:

„ Rübe ab …! An die Wand mit dem Pack! Früher hätte es das nicht gegeben, da herrschte noch Zucht und Ordnung!“

„Wie kann das Fernsehen in diesem Fall so ein Arschloch bringen“, denkt Müller. „Zucht und Ordnung“, wiederholt er sarkastisch, „am Arsch damit!“

Danach zeigen sie Fierers Villa und wie zwei vermummte Polizisten vom SEK den alten Fierer in Handschellen abführen und in einen schwarzen VW-Bus mit verdunkelten Scheiben verfrachten. Es wimmelt von Schaulustigen und irgendwo dazwischen schreit einer:

„Ich hab immer schon gewusst, dass mit dem Kerl was nicht stimmt!“

„Mir war der immer unheimlich!“, ruft eine Frauenstimme.

Ein anderer:

„Locht die Sau ein! Der hat meine Tauben auf dem Gewissen!“

Ein Reporter versucht, einige Leute vor die Kamera zu kriegen und muss aufstecken.

„Typisch“, denkt Müller, „erst große Fresse und wenn’s drauf ankommt, den Arsch einziehen.“

Nach dem Spektakel vor Fierers Villa zeigen sie noch einige Filmaufnahmen, die mit der Gruppe „Brüder saubere Heimat“ zu tun haben. Es gibt Bilder von der Razzia im Hauptquartier und einige von den Hausdurchsuchungen in den Wohnungen der Mitglieder. Die Jungs und Mädels vom SEK gehen dabei ziemlich rabiat vor und am Ende des Berichts präsentiert der Chef der Truppe stolz die Beute. Die Kamera macht einen Schwenk über einen langen Tisch, auf dem ein Haufen Waffen liegt. Vom Totschläger bis zum scharfen Sturmgewehr ist alles dabei. Sogar ein paar Handgranaten entdeckt Müller dazwischen.

„Scheiß die Wand an“, sabbelt Müller erstaunt, „sowas in Osnabrück.“

Das Weizenbier- Rotweingemisch in seinen Adern fängt an, sich um die Vorherschaft zu prügeln und wenn Müller es am Abend nochmal bis zur Telefonzelle schaffen will, wird er es langsamer angehen müssen. Er steckt den Korken zurück in den Boxbeutel, geht in die Küche und stellt ihn aufs Fensterbrett. Im TV gibt es ein Special über die morgige Bundestagswahl. Müller nimmt sich ein Bier aus dem Kühlschrank, findet auf dem Bett, zwischen den zerwühlten Laken, die Fernbedienung und drückt auf den Aus-Knopf.

 

 

 

 

 

 

EPILOG

 

Müller trank an dem Abend zwölf Flaschen Bier und den Rest aus dem Boxbeutel. Hannes rief er erst zwei Tage später an. Es gab nichts Neues. Am darauf folgenden Freitag beschloss er, seine Sachen zu packen und wieder nach Hause zu fahren. Er schrieb Frau Dr. Jansen einen Brief, in dem er sich für ihre Geduld und Gastfreundschaft bedankte und warf ihn samt Wohnungsschlüssel am Freitagmorgen in ihren Briefkasten. Er erwischte die Fähre um neun und saß knapp drei Stunden später im Zug nach Hamburg. In Hamburg musste er wieder umsteigen. Nach eineinhalb Stunden Verspätung, ging es dann mit dem IC Richtung Osnabrück weiter. Müller freundete sich auf der Fahrt mit einigen Bundeswehrsoldaten auf Heimreise an und ließ sich von ihnen mit Bier und Weinbrand-Cola aushalten. Nach einer Stunde Pressschüttung fing Müller an, schmutzige Lieder zu singen und bekam Ärger mit dem Schaffner. Schließlich stolperte er am Hauptbahnhof Osnabrück, samt drei leerer Dosen Bier und einer Plastiktüte voll dreckiger Klamotten aus dem Zug und legte sich auf dem Bahnsteig lang auf die Fresse. Als er aufstehen wollte versagten ihm die Beine. Er fing an zu pöbeln und war reif für den Vierundzwanzigstundenservice, ohne Kost und Logis, im Ein-Zimmer-Appatement bei der Bahnpolizei. Zwölf Stunden später, nachdem Müller die Rechnung von hundert Euro für die Reinigung der Ausnüchterungszelle berappt hatte, genehmigten sie ihm einen Anruf. Er rief Hannes an und ließ sich von ihm abholen. Seine Wohnung war zu der Zeit noch versiegelt und ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zusammen mit Christel, bis zur Freigabe, bei seinem Freund einzuquartieren.

Eine Woche später transportierten sie den alten Fierer nach Berlin und in der darauf folgenden Woche gaben sie Müller seine Wohnung wieder. Er traf sich noch dreimal mit Lena. Sie betranken sich, vögelten, bekamen Streit und am Ende mussten beide feststellen, dass ihre Beziehung keine Zukunft hatte. Sie trennten sich im Guten und sahen sich nie wieder.

Ein Jahr später begann in Berlin der Prozess gegen den alten Fierer. Außer Müllers Onkel Hermann, waren noch zwei weitere Zeugen aufgetrieben worden. Sie waren damals ungefähr in dem Alter des ermordeten Jungen und gerade dabei, zwischen den Trümmern der zerbombten Häuser Verstecken zu spielen, als Fierer seine Null-Acht-Mauser zückte und dem kleinen Jungen eine Kugel durch den Kopf schoss. Sie hatten den alten Nazi sofort wiedererkannt und Hermanns Geschichte bestätigt. Fierers Anwälte, obwohl sie am Anfang versuchten, Hermann den ganzen Scheiß in die Schuhe zu schieben, mussten aufstecken und die Richter, die sich sicher sein konnten, im Fokus der Weltöffentlichkeit zu stehen, gaben Fierer die Höchststrafe und verdonnerten ihn zu einer lebenslangen Haft.

Fierer konnte sich ausmalen, dass eine Berufung, oder Revision, nichts an seinem Urteil ändern würde und hängte sich achtzehn Monate später an einer Metallstrebe seines Zellenbetts mit dem Bettlaken auf. Wie genau er das gemacht hat kam nie heraus. Man nimmt an, er hätte sein Bett aufrecht an die Wand gelehnt, das Laken an der Metallstrebe am Kopfende befestigt, seinen Zellenhocker genommen, sich drauf gestellt, das Laken um den Hals gebunden, den Hocker mit den Füßen umgeworfen und ab in die Hölle.

Mit den „Brüdern saubere Heimat“ konnte keine längere Verbindung zum alten Fierer hergestellt werden. Die Kripo und der Verfassungsschutz hatten David Lose zwei Tage lang in die Mangel genommen. Bis er weinend aufgab und die Fahnen strich. Sie hatten ihn soweit, dass er sogar zugegeben hätte, seine tote Oma gepimpert zu haben. Fierer hatte Lose nur zweimal kontaktet: Einmal für den Botengang zu Müllers Wohnung und einmal, um bei Müller einzubrechen, um nach Informationen zu suchen, das war alles. Für die Zeit, als auf Hermann geschossen wurde, hatte er ein wasserdichtes Alibi. Mit all den gefundenen Waffen und die Tatsache, dass Lose der Kopf der Gruppe „Brüder saubere Heimat“ war, reichte es für ihn aber noch allemal, neun Jahre in den Knast zu wandern. Später erfuhr Müller von Hannes, dass Harms die ganze Zeit mit von der Partie war, und dass allgemein in den Polizeikreisen das Gerücht grassierte, Harms habe erst durch seine speziellen Verhörmethoden Lose dazu gebracht, sich in die Hosen zu scheißen. Harms wurde rehabilitiert und durfte seinen alten Job in Wiesbaden wieder aufnehmen. In Osnabrück weinte ihm keiner seiner Kollegen und Kolleginnen eine Träne nach.

Und Onkel Reinhold, stellte sich heraus, hatte Müller die Wahrheit gesagt. Die Kreuzfahrt hatte er schon ein halbes Jahr vorher gebucht.

Was soll’s … Müller hatte sein altes Leben wieder. Er konnte weiter aus dem Fenster glotzen und beobachten, wie Linnert seine Kundschaft bescheißt und sich anschließend in der Dusche einen auf Susanne schrubben. Hinrich drückte nochmal beide Augen zu und lud ihn auf ein Glas Whisky ein. Müllers Mutter starb noch im selben Jahr, aber er ging nicht hin.

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Tag der Veröffentlichung: 30.10.2021

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