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Prolog

Als ich klein war, wollte ich immer von meiner Familie weg. Einfach loslaufen, ohne Plan, ohne Geld – einfach nur weg. Ohne zu wissen, wohin.

  Jetzt würde ich alles dafür geben, wieder bei meiner Familie zu sein. Meine Mutter in den Arm zu nehmen und das Parfüm meiner Schwester zu riechen.

  Doch ich kann nicht zurück. Nie mehr. Die Sicherheit von meiner Familie ist mehr wert als meine Sehnsucht nach ihr.

  Es ist keine schöne Geschichte mit Happy End. Das muss ich von Anfang an klarstellen. Es geht nicht um Liebe oder Drogen.

  Nein, ich wünschte, das wäre so.

  Aber es geht um einen Mord.

Kapitel 1

 

  Es begann alles damit, dass meine Freundinnen Megan, Shelly und ich nach München gefahren sind. Wir lebten im Mädchenheim, in Glonn. Shelly und ich waren erst seit September dort, also fast zwei Monate. Megan schon über ein halbes Jahr.

  Wir machten viel Mist miteinander. Zum Beispiel unerlaubterweise ein paar Nächte wegbleiben und durchfeiern, um dann völlig verkatert wieder nach Hause zu kommen.

  Dieses Mal aber wollten wir nichts anstellen. Wir wollten um sieben Uhr am Abend in jeder Hinsicht nüchtern wieder zurück kommen und nur Shoppen gehen. Kein Alkohol, keine Drogen.

  Naja, Gott hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht.

  Megan, Shelly und ich sagten oft, dass Gott uns in einer Tour mobbt und fertig machen will. Denn nur uns gingen Sachen wie einen Klodeckel kaputt und nur uns fielen dumme Ideen ein. Und bei uns arteten diese Ideen immer in absolute Katastrophen aus. Wir hatten den starken Verdacht, dass wir für den da oben so eine Art 3D-Kino waren, wenn ihm mal langweilig war. Und ihm war so dreimal fünf Minuten in jeder Viertelstunde langweilig.

  Es war ein Samstag. Um acht Uhr morgens sind wir aufgestanden, haben unsere Haare geglättet, haben uns geschminkt und angezogen.

  Ich hatte schokobraune Haare, die mir bis zu den Schultern gingen, und dunkelbraune Augen. Meine Figur war ganz in Ordnung. Nicht dick, aber auch nicht dünn. Fast alles an mir war durchschnittlich. Normal. Selbst mein Name: Alina.

  Shelly hatte ein kindliches Gesicht, das von langen blonden Haaren umrahmt war. Ihre Wangen glichen dem einen kleinen Kind, das gerade am Lachen war. Sie lachte auch. Viel. Sehr viel. Dabei leuchteten ihre blauen Augen. Zumindest, wenn sie wirklich lachte. Sie war schlank und fast jeder Junge sah ihr auf den Hintern.

  Megan hatte etwas von einer Ghetto-Braut. Ihr Gesicht war aggressiv und ihre Figur pummelig. Ihre Haare waren blond gefärbt, ihre Augen grün-blau. Doch sie wusste, wie man Kleidung kombinierte und sah gut aus. Sie war so eines der Mädchen, mit der man befreundet sein wollte.

  Neben den beiden war ich ein Nichts. Ich machte mir nicht viel aus meinem Aussehen. Am liebsten trug ich eine zu weite Jogginghose und einen Pulli. Es gab eine Zeit, wo ich durchgehen betrunken war; da achtete man nicht darauf, dass man hübsch aussah. Es war mir einfach total egal, was die anderen Leute dachten. Und ich selbst saß meistens nur da und hatte einen riesigen Kater.

  Wir alle hatten einen Grund, weshalb wir nicht mehr nach Hause konnten. Für Megan und mich war es die allerletzte Chance, bevor wir in ein geschlossenes Heim kämen. Die Einrichtung in Glonn war für mich das dritte Heim. Megan war schon einmal im Knast gewesen. Wir beide hatten eigentlich alles verkackt, was man nur verkacken konnte. Bei uns lag alles in Scherben; unsere Familie, unser Körper, unsere Gedanken. Wir selbst waren kaputt. Wenn wir mit unseren Familien sprachen, kamen uns die Tränen. Es ging einfach nicht. Unsere Körper hatten zu viel Alkohol, zu viele Drogen bekommen, um noch so zu funktionieren wie ein normaler Körper. Wir waren einfach zu jung. In uns drinnen lebten wir nach dem Motto: Was hab ich zu verlieren?

  Stolz darauf waren wir nicht. Ich war am 16. September fünfzehn Jahre alt geworden, sie würde am 25. Dezember sechzehn werden. Und schon jetzt hatten wir fast alles durchgemacht, was überhaupt ging.

  Megan, Shelly und ich dachten, wir wären in Allem die Ausnahme. Wir dachten, wir könnten niemals schwanger oder süchtig werden. Dass wir gegen AIDS und anderen Krankheiten immun waren. Das Thema Zukunft war uns zwar nicht vollständig egal, doch wir kümmerten uns nicht um sie. Es war für uns nicht vorstellbar, irgendwie ohne dem allen zu leben. Einfach, weil wir daran gewöhnt waren, zu trinken, wenn es uns scheiße ging. Wie sollten wir es schaffen, ohne dem zurecht zu kommen?

  Unsere Überzeugung war, dass wir etwas Besonderes wären. Nicht in diesem Sinne, sondern, dass wir gegen alles ankommen könnten. Dass uns nie etwas wirklich Schlimmes passieren würde.

  Nach einer Zeit waren wir ziemlich unbeliebt geworden. Megan ging außerhalb in eine Schule, doch Shelly und ich waren den ganzen Tag im Heim gefangen. Unsere Schule war auf demselben Gelände wie das Heim. Selbst die Betreuer und Psychologen lästerten über uns. Sie nannten uns eine Gang. Die S.M.A. Shelly, Megan, Alina.

  Die ersten Male, als wir von Glonn abgehauen sind, war noch Anuschka dabei. Ein zwölfjähriges Mädchen, das in derselben Gruppe war wie wir. Sie war vor Shelly und mir da, deshalb kannten sich Megan und sie schon besser. Man hätte sie Freunde nennen können. Allerdings fanden wir nach und nach raus, dass die Kleine uns in vielen Dingen anlog. Und wir kamen darüber ein, dass man sich in einer wahren Freundschaft nicht anlog. Also schlossen wir sie aus. Danach kamen ziemlich viele Dinge heraus; dass sie Geheimnisse ausgeplaudert und Lügengeschichten verbreitet hatte. Wir stellten viele Dinge klar und sie wurde unbeliebt im ganzen Heim. Am Anfang tat sie mir noch leid; sie war trotz allem erst zwölf. Aber nachdem ich wegen ihr ein paar Mal fast geflogen wäre, war auch ich sauer auf sie. Es war ziemlich eskaliert. Jetzt ging es wieder. Shelly und Megan fanden es zwar scheiße, dass ich wieder mit Anuschka sprach, doch sie hatte bei mir noch den Welpenschutz. Dagegen konnte ich nichts machen.

  Was das mit der Ehrlichkeit anging: da war ich mir manchmal nicht sicher. Ein paar Mal bekam ich Dinge mit, dass die beiden über mich lästerten und auch mir Dinge abzockten. Vielleicht bildete ich mir das ein, doch ich hatte immer schon eine sehr gute Menschenkenntnis. Und bei den beiden sagte mein Gefühl mir, dass ich mich nicht zu sehr auf sie verlassen sollte. Dass sie weg wären, wenn ich sie brauchen würde. Auch unsere Betreuer dachten, dass wir zueinander nicht ehrlich waren. Wir lachten darüber. Die kapierten nicht, dass wir alles abgesprochen hatten, egal, was wir sagten. Wir verarschten eher die als uns gegenseitig. Wir erzählten uns auch die unangenehmen Dinge.

  Klar, wir stritten uns, aber immer hatten wir im Hinterkopf, dass das nur eine Phase war. Dass wir uns, früher oder später, wieder vertragen würden.

  An diesem Tag trug ich eine schwarze Leggins, einen grauen Pulli und schwarze hohe Schuhe. Darüber eine lila Winterjacke. Ich nahm nur eine schwarze Tasche mit 250€ zum Einkaufen und eine Wasserflasche mit. Das Geld hatte mein Vater mir geschickt.

  Shelly hatte eine dunkelblaue Röhrenjeans, einen schwarzen JackDaniels-Pulli und ihre ebenfalls schwarzen Schuhe an. Ich hatte ihre Haare eine halbe Stunde lang geglättet, was wirklich toll aussah. Ich beneidete sie. Über ihrem Arm hing die schwarze Jacke.

  Megan trug eine Leggins, Airmax und ein besches Oberteil, das viel zu kalt für November war. Denn, obwohl noch nicht einmal der erste Advent war, lag schon Schnee und die Luft war so kalt, dass es beim Atmen weh tat. Und um die Kälte fernzuhalten, hatte sie nur eine schwarze Lederjacke mit Nieten an.

  Um zehn Uhr morgens verließen wir die Gruppe und gingen vom Gelände. Auf dem halben Weg zum Bus machten wir uns eine Zigarette an und setzten uns auf die vereisten Bänke an der Bushaltestelle. Wir mussten nach Grafing, wo der nächste Bahnhof war. Als Shelly und ich das erste Mal nach Grafing fuhren, waren wir abgehauen. Jedes Mal, wenn ich die Strecke fuhr, musste ich daran denken.

  Die Bushaltestelle lag, sozusagen, direkt vor der Haustür, direkt vor dem Eingangstor des Heimes. Den Busfahrer Benni kannten wir von Anuschka und mussten deshalb keine Streifenkarte stempeln.

  In Grafing teilten wir uns dann eine Zigarette, damit wir mit den zwei Schachteln hinkamen. Schließlich waren wir zu dritt und würden bis zum Abend wegbleiben. Zumindest dachten wir das.

  Kaum, dass wir zu Ende geraucht hatten, kam der Zug zum Hauptbahnhof. Es dauerte ungefähr eine Dreiviertelstunde, bis wir dann in München ankamen.

  Im Zug lachten wir über ein offensichtliches Alkoholkind; also ein Kind, dessen Mutter in der Schwangerschaft getrunken hatte. Es war vielleicht sechs Jahre alt, die Mutter schätzte ich auf Mitte zwanzig. Vielleicht auch jünger. Eine Alkoholikerin sah immer älter aus. Jedenfalls machte das Kind komische Grimassen. Als es ausgestiegen war, sagte ich: „Das ist nicht lustig“, konnte aber nur mit Mühe mein Grinsen unterdrücken. Schadenfreude war ja die schlimmste Form des Humors.

  Megan zieht, immer noch lachend, ihre nachgemalten Augenbrauen hoch und sagte: „Alter, du lachst doch selber“ Neben ihr lachte Shelly so viel, dass sie aussah, als würde sie verrecken.

  „Weißt du eigentlich, wieso Medina in der Klinik war?“, fragte ich Shelly. Die Klinik war die Psychiatrie für Kinder und Jugendliche; ich war selbst öfters dort gewesen.

  Sie zuckte mit den Schultern. „Hab nicht mehr so viel mit ihr zu tun“

  Shelly und Medina waren eigentlich Freundinnen, ich verstand nicht, wieso. Vielleicht war ich aber auch nur beleidigt, weil Medina aus unerfindlichen Gründen eine Abneigung gegen mich hegte. Das passierte mir aber bei vielen Menschen; entweder man mochte oder hasste mich. Ein dazwischen gab es bei mir nicht.

  „Ist doch klar“, mischte sich Megan ein. „Leute wie sie und Fire wollen nur Aufmerksamkeit“ Fire war ein Mädchen aus unserer Gruppe und hatte versucht, sich das Leben zu nehmen.

  Kopfschüttelnd sah ich ihr in die Augen. „Das glaub ich nicht. Ich glaube, beide hatten ihre Gründe, wieso sie das gemacht haben“

  Megan hält mit mir Blickkontakt. „Deshalb lassen sie sich auch freiwillig in die Klapse einweisen. Alter, das ist doch krank!“

  „Fire musste dorthin, sie wollte nicht“, wandte Shelly ein.

  Genervt sah Megan uns an und zupfte an ihren Haaren rum. „Wie viele Stationen noch?“, wechselte sie das Thema.

  „Acht“, antwortete ich. „Ne halbe Stunde“

  Solange, bis wir da waren, langweilten wir uns und sprachen über belanglose Dinge. Ab und zu lachten wir über Menschen, die komisch aussahen oder sich dumm benahmen.

  Endlich waren wir da. Wir stiegen aus, hackten uns ineinander ein und suchten die Bahn nach Marienplatz. Zwar folgten wir den Schildern, aber wir kamen nur in einen Teil des Bahnhofs, der eine einzige Baustelle und kein anderer Mensch war. Wir waren allein.

  Alles war ruhig. Nur gedämpft hörten wir die Masse außerhalb. „Ich glaub, wir dürfen hier gar nicht sein“, sagte Shelly leise und lachte nervös.

  Ich ließ die beiden los und sah mich um. „Was machst du da, du Behinderte?“, rief mir Megan zu, als ich um eine Ecke bog. Die beiden kamen mir hinterher.

  „Ist doch end geil“, meinte ich. „Wir sind hier ganz allein. Stell dir vor, wir sind hier in einem Horrorfilm“ Herausfordernd sah ich sie an. „Und gleich kommt Michael Myers oder Jason“

  Sie überspielte ihr Unbehagen, indem sie einfach nur die Augen verdrehte. „Wir müssen los!“, drängte Shelly. „Wir haben nicht viel Zeit!“

  Megan nickt zustimmend und wir gingen wieder zurück. Tja… und da kam das Problem, weshalb wir in das alles überhaupt hinein geraten sind. Vor uns waren vier Wege. Wir hatten keine Ahnung, welchen wir nehmen sollten. „Ähm… welche Richtung?“

  „Nicht schon wieder“, stöhnte ich auf. „Immer passiert uns so was!“

  Wir hielten nach Schildern Ausschau, aber wegen der Baustelle wurde alles runtergerissen. Keine Chance. Seufzend zog ich meine Zigarettenschachtel raus und steckte mir eine an. Nachdem die beiden mich angesehen hatten, als sei ich bekloppt, sagte ich: „Wir können eh nichts dran ändern. Ich wär dafür, dass wir gerade aus laufen“ Ich zuckte mit den Schultern. „Irgendwo kommen wir schon raus. Und wenn nicht, können wir immer noch umdrehen“

  Shelly lachte. „Jaa… aber wir müssen Shoppen“ Sie ließ die Aussage wie eine Frage klingen.

  „Habt ihr das gehört?“, fragte Megan uns und wir waren leise. Ein gedämpftes Schreien ertönte, weit entfernt. Mit großen Augen sahen wir uns an. Fast von selbst drehten wir uns wieder um, gingen um die Ecke und den Weg entlang. Nach einigen Minuten hörten wir laute Männerstimmen. Wir gingen leiser und bei der nächsten Abbiegung blieben wir ratlos stehen. „Antonio, bitte!“, flehte eine junge Frauenstimme. „Bitte! Es tut mir leid! Aber bitte, lass sie los!“

  Es war so nah… ich vermutete, das wir sie sehen könnten, wenn wir uns aus unserem Versteck heraus trauen würden. Aber keiner machte den Anfang. Jetzt hatten wir wirklich Angst.

  „Das ist allein deine Schuld!“, meinte ein Mann mit kalter Stimme und einem russischen Akzent. „Wir haben dich gewarnt“

  Die Frau weinte hemmungslos. Vorsichtig sah ich um die Ecke. Es waren vier Männer, eine Frau und ein Baby, vielleicht ein Jahr alt. Alle standen mit dem Rücken zu uns. Leise schlich ich mich zur nächsten Säule, Megan und Shelly dackelten mir hinterher wie zwei Hunde. Keiner hörte uns. Alle waren auf das weinende Mädchen konzentriert, das allerhöchstens sechzehn Jahre alt war. Sie war sehr dünn und sah hilflos aus. Das war sie bestimmt auch. Hilflos. Ich konnte mir vorstellen, dass sie einmal sehr hübsch war. Aber jetzt waren ihre Wangen eingefallen, die Haare waren dünn und ihre Augenringe ließen den Verdacht aufkommen, dass irgendeine Droge sie kaputt machte. Sie war eine wandelnde Leiche. Die Details konnte ich nicht erkennen, weil sie seitlich kniete. Hinter ihr hielt einer der Russen ihre Arme im Polizeigriff. Vor ihr stand ein kleines Kind, vielleicht ein Jahr alt. Bequem saß einer der Typen, wahrscheinlich der Anführer, mit ihm auf dem Boden und spielte mit ihm. Die beiden anderen standen mit dem Rücken zu uns und passten auf. „Bitte nicht“, schluchzte das Mädchen und Tränen liefen ihre Wangen herunter.

  Der Mann, der neben dem Baby saß, strich dem Kind über den Kopf, um ihn dann schnell zu packen und…

  Zu langsam drehte ich mein Gesicht weg. Ich sah noch, wie die Tochter oder die Schwester des Mädchens zusammenfiel und die Haut sich am Hals zu einem ekligen Knäuel verformte. Die leblosen Augen würde ich nie vergessen. Es hatte mich direkt angestarrt.

  Shelly keuchte auf und Megan hielt ihr den Mund zu. Sie selbst hatte jedoch einen starren Gesichtsausdruck. Wir standen alle unter Schock.

  Das Mädchen schreite ihren Schmerz heraus. „Nein!“, kreischte sie. „Nein!“ Der Russe ließ sie los und sie stürmte zu dem Baby. „Was hast du getan?“, schluchzte sie. Ihre zittrigen Hände schwebten über dem toten Körper, wussten nicht, wohin. „Nein!“

  Die Russen sahen sie kalt an. „Das ist deine Schuld“, wiederholte der Anführer. „Nur wegen dir ist sie jetzt tot“

  Ich wollte nicht glauben, was ich gerade gesehen hatte. Ohne mit der Wimper zu zucken hatte dieser Mann ein unschuldiges Kind getötet. Alles in mir war zu Eis gefroren. Mein Herz aber war so schnell wie ein D-Zug. „So“, meinte der eine. „Und jetzt, wo ihr alles gesehen habt, wäre ich dafür, dass ihr aus eurem Versteck rauskommt“ Er sah direkt zu der Säule. Erst jetzt bemerkte ich die Spiegelung; sie hatten uns die ganze Zeit gesehen. Megan packte meine Hand und drückte sie so fest, dass mein Blutlauf gestoppt wurde. Aber ich erwiderte den Druck. „Ich habe gesagt, ihr sollt da raus kommen!“ Die Stimme klang drohend.

  Zögernd gingen wir hinter der Säule hervor. Vier Augenpaare starrten uns an; nur das Mädchen presste ihre Hand vor ihrem Mund und weinte vor Kummer. Der Anführer hatte ein Lächeln auf den Lippen, sah aber keineswegs freundlich aus. In diesem Augenblick hatte ich mich wirklich von meinem Leben verabschiedet.

  „Ich bin Antonio“, stellte er sich vor. Antonio war nicht unattraktiv. Er hatte eine gebräunte Haut, Muskeln wie Vin Diesel und seine Augen waren hellblau. Und voller Härte.

  Er lächelte. Er hatte gerade ein Kind ermordet und lächelte. Wie konnte man nur so gefühlskalt sein? „Wie heißt ihr?“

  Keiner von uns antwortete. Wie gebannt sahen wir das Baby und dann wieder ihn an. Ich glaube, wir waren da gar nicht in der Lage, um irgendetwas zu sagen.

  Nach einigen Sekunden zuckte Antonio mit den Schultern. „Auch egal. Ich denke, ihr wisst, dass ich euch nicht gehen lassen kann?“ Freundlich sah er uns an, als wäre die Frage ernst gemeint gewesen.

  Bei seinen Worten sah das Mädchen auf. „Nein“, hauchte sie, stand auf und stellte sich vor uns. „Nein! Heute sind schon genügend gestorben!“

  Antonio sieht sie drohend an. „Entweder die oder wir schaffen noch eine weitere Leiche weg“ Sein Gesicht war ganz nah an ihrem. „Zum Beispiel deine Mutter“ Er grinste. „Ach, Nala. Ich dachte, du hättest dazu gelernt, als ich deiner Schwester das Genick brach“ Also Schwester.

  Nach kurzem Zögern ging Nala zur Seite und wirft uns einen entschuldigenden Blick zu. „Es tut mir leid“, hauchte sie, ging wieder vor ihrer Schwester in die Knie und nahm die Kleine in ihre Arme. Sie verbarg ihr Gesicht in dem kleinen Hals, die Ärmchen hingen schlaff herunter, den Kopf hielt sie mit einer Hand.

  Der Russe gab ein Zeichen und die drei kamen auf uns zu. Wir wichen langsam zurück, dann drehte ich mich um und rannte davon.

  Megan und Shelly waren genau hinter mir. Aber als wir fast bei der Kreuzung waren, hörte ich den schrillen Schrei von Shelly. Keuchend drehte ich mich um und sah, wie meine Freundin zappelnd und kreischend sich in den Armen einer der Russen wand. Wir waren hin und her gerissen. Ja, man sollte sofort seiner Freundin helfen, aber unsere Körper wehrten sich gegen den unmittelbar bevorstehenden Tod. Doch dann sprangen wir über unseren Schatten und liefen auf sie zu.

  Plötzlich stand vor mir einer der Russen und schlug mir mit der Hand so hart ins Gesicht, dass ich mit voller Wucht gegen die dünne Wand geschleudert wurde, die durchbrach.

  Ich musste in meinem Leben nie viele Schläge einstecken. Vielleicht die ein oder andere Ohrfeige, aber nie so was. Zuerst lag ich reglos da. Mein Kopf war auf den Betonboden gekracht, meine Hand lag in einem unnatürlichen Winkel von mir ausgestreckt. Ich spürte, dass meine Nase, meine Lippe und meine Stirn bluteten, aber nach einer Minute schlug ich langsam die Augen auf.

  Vorsichtig versuchte ich, mich zu bewegen, schaffte es allerdings nur mit sehr viel Anstrengung. Alles tat weh. Ich spürte meinen Körper wie noch nie zuvor.

  Megan wusste, wie sie sich zu wehren hatte. Sie schlug mit voller Kraft zurück, steckte Schläge ein, als seien es Streicheleinheiten. Shelly war allerdings genauso hilflos wie ich. Der Russe drückte sie gegen die Wand und… was tat er da? Schnitt er ihr ins Gesicht? Fassungslos musste ich zusehen, bis mir die Sicht von dem, der mich geschlagen hatte, versperrt wurde. Schadenfroh beugte er sich zu mir herunter. „Hey, Kleines“ Er roch nach Alkohol. Irgendein Schnaps. Ich kannte den Geruch, aber mein Gehirn hatte sich verabschiedet. „Du bist hübsch“ Starr sah ich ihm in die braunen Augen. Seine Haut war schwarz, genau wie seine Haare. Er setzte sich auf mich und versuchte, meine Jacke aufzumachen. Schwach wehrte ich mich, aber dann schlug er mir noch einmal ins Gesicht, und noch einmal… und noch mal… er prügelte mich solange, bis ich einfach nur noch dalag. Meine Augen waren halb offen, mein Atem kam rasselnd. Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Schmerzen gehabt. Er hatte mir die Jacke ausgezogen, indem er mich anhob und wieder ablegte. Ich konnte mich nicht mehr wehren. „Ohne die Jacke bist du viel dünner“, sagte er. „Ich würde dir ja den Ratschlag geben, dir eine hautenge Jacke zu kaufen, aber da du dazu nicht mehr kommen wirst…“ Er beendete den Satz nicht. Und ich antwortete nicht.

  Irgendwann konnte ich meine Augen nicht mehr offen halten. Ganz langsam, wie in Zeitlupe, schlossen sie sich wie von selbst. Das letzte, was ich sah, war meine verdrehte rechte Hand.

  Dann war alles schwarz.

Kapitel 2

 

  Irgendwann wachte ich wieder auf. Vor Kälte, nehme ich an. Damals dachte ich allerdings nicht darüber nach, wieso ich aufgewacht war. Das einzige, was ich denken konnte, war: Ich lebe! Die Luft war eigentlich warm, doch trotz dessen strich ein kalter Luftzug über meinen Köper.

  Mit schmerzverzerrtem Gesicht richtete ich mich auf und sah an mir herab. Alles, was ich trug, war mein BH und meinen Tanga, der falsch herum angezogen war. Meine restlichen Sachen lagen über dem staubigen Boden verteilt.

  Was das bedeutete, war mir egal. Mir war alles egal. Ich war einfach froh, noch am Leben zu sein. Vorsichtig setzte ich mich auf und befühlte mein Handgelenk. Es war rot und geschwollen, aber solang ich es nicht bewegte, tat es nicht weh. Was ich von meinem Kopf nicht behaupten konnte. Kaum hob ich meine linke Hand, um die Wunde anzufassen, pochte er los, als hätte jemand damit Baseball gespielt. Er war der Ball.

  Trotz den Schmerzen schaffte ich es, mich einigermaßen anzuziehen. Bei meinem Pulli war das nicht ganz so einfach, doch letztendlich war ich komplett angezogen. In meine Winterjacke konnte ich nicht vollständig schlüpfen, meinen rechten Arm bekam ich nicht durch den Ärmel.

  An meinem ganzen Körper hatte ich Blutergüsse, blaue Flecken und an meinem Bauch eine tiefe Schnittwunde. Schmerzen hatte ich fast keine. Das war eine normale Reaktion des Körpers; wenn er mehr Schmerzen hatte, als er vertragen konnte, schalteten sich die Nerven ab. So etwas hatte ich bisher nur einmal erlebt; es war nun schon fast ein Jahr her. Ich war in meinem zweiten Heim und depressiv gewesen. Es war so, dass mir alles zu viel wurde, ich eine Rasierklinge genommen und mir in den Arm geschnitten hatte. So tief, dass sich mein Körper abgeschaltet hatte. Der Schnitt musste mit vier Stichen genäht werden und ich war in die Klinik gekommen, wo alle gedacht hatten, dass ich mich in dieser Nacht umbringen wollte. Was totaler Schwachsinn war; sagen wir es so: ich hatte es nicht darauf angelegt gehabt, sondern habe meinem Körper und Gott die Entscheidung überlassen. Seitdem war ich glücklicher und lebendiger wie nie zuvor.

  Jetzt aber war ich alles andere als lebendig. Ja, ich lebte, aber jetzt verflüchtete mein Glück darüber, denn ich sah meine beiden Freundinnen reglos auf dem Boden legen. Meine Knie gaben nach. Ein Ziehen in meinem Bauch erinnerte mich an die Wunde und ich drückte meine Hand darauf. Als ich sie wieder wegtat, war sie voller Blut.

  Ich krabbelte zuerst zu Shelly, die ganz in der Nähe lag. Ihr Gesicht war von fünf Schnitten auf der rechten Wange verunstaltet worden; es floss immer noch Blut aus der Wunde. In ihrem Bauch steckte noch das Taschenmesser, mit dem auch sie gestochen wurde. Leise weinend fühlte ich ihren Puls; Gott sei dank, sie lebte. Die Frage war, wie lange noch.

  Sanft schüttelte ich sie, dann zwang ich ihre Augen auf. Stöhnend sah sie mich an. „Shelly“, flüsterte ich. „Steh auf, wir müssen hier weg“

  Das Blöde war, dass sie ihre Schmerzen spürte; und zwar alle. Kaum war sie einigermaßen bei Bewusstsein, fing sie deshalb an zu weinen, was dazu führte, dass ihre Tränen in die offenen Wunden liefen. Schreiend krümmte sie sich zusammen, um sich dann sofort wieder normal hinzulegen, weil sie das Messer noch im Bauch hatte.

  „Schh“, machte ich beruhigend und strich über ihre gesunde Wange. „Alles gut. Schh“ Dann drückte ich ihre Schultern auf den Boden, nahm das Messer vorsichtig und zog es mit einem Ruck heraus. Ihre Schreie waren schrill und Megan bewegte sich leicht.

  Bei ihr sah es schlimm aus. Sehr schlimm. Ihr Gesicht war grün und blau geschlagen, die gesamte Lippe war aufgeplatzt und sie blutete aus dem linken Arm, ihrem rechten Bein und ebenfalls aus dem Bauch. Sie hatte mehr einstecken müssen als wir. Dennoch raffte sie sich auf und ging zu Shelly hin. Hilflos stand sie neben mir.

  „Shelly“, sagte ich währenddessen beruhigend. „Bitte. Nur bis zum Krankenhaus, bitte, reiß dich zusammen“

  Sie hörte mich gar nicht. Ich sah an ihren Augen, dass der Schmerz sie erblinden ließ. Shelly presste ihre Augen fest zusammen und brüllte ohne Ende ihren Schmerz heraus. „Ich ruf einen Krankenwagen“, sagte Megan und holte ihr Handy heraus.

  Nach gefühlten zwanzig Minuten kamen dann die Rettungssanitäter mit einer Trage herein gerannt. Sie forderten sofort Verstärkung an, für mich und Megan. Shelly verabreichten sie eine Beruhigungsspritze, dann stoppten sie, so gut es ging, ihre Blutungen. Nach weiteren fünf Minuten kamen dann weitere Tragen und noch mehr Ärzte. Dankbar legte ich mich auf die Trage und schloss meine Augen.

  Es fühlte sich so an, als würde ich fliegen. Nur die harte Unterfläche, auf der ich lag, belehrte mich eines besseren. Im Krankenwagen gaben sie mir ein Schmerzmittel, obwohl ich gar nichts spürte.

  Fast sofort schlief ich ein.

 

  Als ich wieder aufwachte, lag ich in einem weißen Raum. Das Licht blendete mich, deshalb schloss ich meine Augen wieder. Vorsichtiger machte ich sie wieder auf und blickte tief in die eiskalten Augen von Antonio. Ein Schrei bahnte sich aus meinem Herzen seinen Weg zu meinem Mund, doch es kam nur ein Krächzen hervor. „Na, Kleines? Wie geht’s dir?“

  Mit großen Augen sah ich ihn an, unfähig, irgendetwas zu sagen.

  Entspannt lehnte er sich zurück. „Seit drei Stunden warte ich jetzt schon, dass du wach wirst. Mein Fehler, dass du noch lebst. Aber ist jetzt nicht mehr zu ändern, was?“ Seufzend sah er mich an. „Fuck, Mirak hatte recht – du bist wirklich hübsch. Hat man unter deiner Jacke gar nicht gesehen. Aber trotz deiner Pickel hast du wirklich wunderschöne Augen“ Er grinste. „Aber jetzt mal ganz anderes Thema. Ich weiß, wie du heißt. Alina Marjana Cvrtak. Zur Hälfte Kroatin, ein Drittel Deutsche und ein Drittel Italienerin. Aber das italienische Blut nur hinter ganz vielen Ecken. Moment, lass mich nachdenken…“ Er sah in die Leere. „Ja, genau. Die Großmutter deiner Mutter ihre Tante ihr Cousin ist Italiener. Nicht wahr?“ Überrascht sah ich ihn an; zwar wusste ich es jetzt nicht so genau… aber ja, er hatte recht. Woher, zum Teufel, wusste er das? „Ich weiß, dass du in Glonn im Heim wohnst. Deine Eltern sind geschieden, deine Schwester heißt Mira, dein Bruder Matt und dein absoluter Liebling, mit der du gar nicht verwandt bist, heißt Lizzy. Vier Jahre alt. Seit du deine erste WG verlassen hast, hast du sie nie wieder gesehen, doch sie ist wie eine Tochter für dich. Ihre Eltern haben dich angezeigt, weil du ein Foto von ihr in Facebook reingestellt hast. So weit richtig?“ Fragend sah er mich an, doch ich schloss nur meine Augen. Das hörte sich gar nicht gut an. „Tja, was noch? Du hast mehrere Vermisstenanzeigen, wolltest abhauen, als du ins Heim kamst und du hast einen Eintrag wegen Drogenkonsums in deiner Polizeiakte. Drei Jungs sollen dich vergewaltigt haben, ihre Namen sind Mustafa, Ibrahim und Marid. Die Anzeige wurde fallen gelassen, weil nicht genügend Beweise vorlagen“ Er lachte. „Scheiße gelaufen, was, Kleines? Nun ja, ich denke, das reicht fürs Erste“

  Bei den Namen zuckte ich zusammen. Es war noch gar nicht so lange her… und ich hatte alles verdrängt. Seitdem habe ich einen schlechten Ruf im Heim, jeder wusste davon. Ich wollte nicht daran erinnert werden, wollte alles einfach nur vergessen. Deshalb war ich auch froh darüber, dass es zu keiner Gerichtsverhandlung kommen würde.

  „Woher weißt du das?“, fragte ich leise und schlug meine Augen wieder auf.

  Mit schief gelegtem Kopf sah er mich durchdringend an. „Sagt dir der Begriff Mafia was?“

  Ich hielt mir meine Augen zu. Nein, das durfte einfach nicht wahr sein. Das konnte nicht sein. Ich wollte ihm nicht glauben, aber ich tat es. Ich glaubte ihm. „Was willst du von mir?“, flüsterte ich.

  Er zuckte mit den Schultern. „Nicht viel. Wir wollen bloß keinen Stress mit der Polizei. Die Wahlen stehen bevor und da wär es nicht so gut, wenn die Öffentlichkeit Wind davon bekommt, dass unsere Regierung zu dämlich ist, Schläger und Vergewaltiger zu schnappen, die sich an nicht einmal sechzehnjährigen Mädchen vergangen haben. Verstehst du, worauf ich hinaus will?“

  Antonio nahm meine Hände und zog sie auseinander. Mit diesen Händen hat er das Kind getötet, schoss es mir durch den Kopf. „Wieso?“, fragte ich leise. „Wieso hast du das Baby umgebracht?“

  Er schüttelte den Kopf. „Eigentlich geht dich das nichts an. Aber ich will ja mal nicht so sein. Also, es war so: Luna, das Mädchen, hat uns an die Polizei verpfiffen. Sie arbeitet für mich und wusste genau, worauf sie sich einließ. Aber es war ihr egal, sie wollte da aussteigen. Sie wusste, welche Strafe Verrat bedeutet“ Er sah mir tief in die Augen. „Und das leg ich dir auch ans Herz: wir haben unsere Kontakte. Und wenn ich rausbekomme, dass du Anzeige erstattet hast, bringe ich deine Lizzy um. Verstanden?“ Sein Griff verstärkte sich.

  Schnell nickte ich, denn es tat weh. „Ja“; hauchte ich.

  Er stand auf, ging zur Tür und drehte sich noch einmal um. „Ihr habt euch geprügelt. Jemand hat deine Freundin als Schlampe beleidigt. Klar?“ Ich nickte. „Wir sehen uns, Kleines. Ich bin noch nicht fertig mit euch“ Damit ging er.

  Mein Herz raste mit meinem Atem um die Wette. Eine Ärztin kam eine halbe Stunde später mit zwei Polizisten rein. Sie sah missmutig aus, als würde ihr etwas gegen den Strich gehen.

  „Oh, gut, Sie sind wach“, sagte sie fröhlich. „Wie geht es Ihnen?“

  Ich nickte. „Ganz gut“

  Sie lächelte mich an. „Diese Herren hier haben ein paar Fragen, die sie dir stellen möchten.

  Erschrocken sah ich sie an. „Wieso denn? Ich habe nichts getan!“

  Sie sah mich beruhigend an. „Schon gut. Es geht darum, wer dir das angetan hat“

  Ich war eine gute Lügnerin. Das nutzte ich jetzt, obwohl ich am liebsten geweint hätte. „Hä?“

  Sie blickte verwirrt drein. „Weißt du, welches Datum haben?“

  Nickend nannte ich ihr den Tag. Unsicher sah sie mich an.

  „Wollen Sie mir damit sagen, dass das keine andere Person war?“

  Die Worte von Antonio lagen mir in den Ohren und ich konnte nur an Lizzy denken. Das Mädchen mit den blonden Locken, den blauen Augen und ihre bestimmenden Art sah mich unschuldig an. Ihr Leben stand über meinem. „Natürlich nicht!“ Ich lachte. „Wie kommen Sie denn darauf?“

  Sie glaubte mir. Sie war noch sehr jung, vielleicht Mitte zwanzig, und fiel auf meine Lügen herein. Erleichtert atmete ich auf. „Und was ist dann passiert?“

  Ich zuckte mit meinen Schultern. „Wir haben uns ziemlich heftig geprügelt. Ein Mädchen hat meine Freundin als Schlampe beleidigt und dann sind wir aufeinander losgegangen. Die hatten Messer“

  Die Polizisten gingen kopfschüttelnd aus dem Raum. „Nun ja“ Die Frau räusperte sich. Sie lächelte. „Ok. Die Wunden sind nicht so schlimm, wir können Sie entlassen. In Ihrer Brieftasche haben wir Ihre Versichertenkarte gefunden, Ihre Eltern sind informiert. Sie kommen Sie in einer halben Stunde abholen. Also, Ihre Mutter. Vor einer halben Stunde haben wir sie angerufen. Ihre Freundinnen liegen direkt neben Ihnen, falls Sie sie besuchen wollen. Beide sind wohlauf“

  Nickend erklärte ich ihr, dass ich verstanden hatte. „Gut“, lächelte sie. Sie gab mir die Hand. „Dann verabschiede ich mich. Hier ist Ihr Entlassungsbrief“ Die Frau legte den Umschlag auf das Nachtkästchen. „Auf Wiedersehen. Melden Sie sich bitte, damit wir die Fäden ziehen können. Oh, mein Name ist übrigens Frau Tolz“ Man sah ihr an, dass sie besseres zu tun hatte, als sich um Schläger zu kümmern. Sie wollte so schnell wie möglich hier weg.

  Als sie draußen war, murmelte ich: „Ganz sicher sehen wir uns nicht wieder“ und stand auf. Meine Hand war bandagiert, die Wunde und auch meine Lippe wurden genäht. Gegen die Schmerzen wirkte das Medikament immer noch, deshalb war ich etwas betäubt. Dennoch ging ich leise auf den Gang und in das Zimmer neben mir. Megan saß auf ihrem Bett und sah mich geistesabwesend an. „Wir müssen weg, oder?“

  Ich nickte. „Die wollen mit uns was weiß ich machen. Keine Ahnung. Jedenfalls müssen wir möglichst schnell abhauen, damit sie uns nicht finden“

  Verzweifelt sah sie mich an. Ihr Gesicht war übel zugerichtet, die Nase sah aus, als ob sie gebrochen wurde. „Aber wir haben nichts dabei! Wir haben keinen Schlafplatz, keine Klamotten, gar nichts!“

  Tief atmete ich durch. „Wir können nichts zurück. Er hat zu mir gesagt, dass wir uns wiedersehen. Ich hab keinen Bock, für die Mafia auf den Strich gehen zu müssen“

  Sie sah gegen die Wand. „Er hat gesagt, dass er meinem kleinen Bruder umbringt, wenn ich der Polizei was sage. Er hat mir das Handy weggenommen“ Sie schloss die Augen und eine Träne lief ihre linke Wange herunter. „Er wusste Dinge über mich…“

  Ich nahm sie in den Arm. „So war´s bei mir auch. Megan, wir müssen gehen! Jetzt! Wir holen noch Shelly und dann verpissen wir uns!“

  Nickend stand sie auf und nahm ihre Jacke, zog ihre Schuhe an und folgte mir leise auf den Gang, wo wir Shelly rausholten. Sie war wie unter Schock, lachte überhaupt nicht mehr. Es war schlimm. Zu den Ärzten sagten wir, wir würden rauchen gehen, doch sie sahen nicht einmal auf. Für sie waren wir Abschaum.

  Draußen stand Antonio. Rauchend wartete er auf irgendetwas. Auf uns. Sobald er uns sah, grinste er breit und kam auf uns zu. „Ach, ihr Süßen“, seufzte er. „Wisst ihr eigentlich, was für ein Fehler ihr gerade gemacht habt?“ Er nickte hinter uns. Langsam drehte ich mich um und sah fünf Russen auf uns zukommen.

  Mir blieb keine andere Wahl.

  So laut ich konnte, fing ich an zu schreien.

  Jeder sah uns an; die Ärzte, die draußen standen, die Patienten, Besucher, Passanten von der Straße. Als wir alle Aufmerksamkeit hatten, nahm ich meine Freundinnen an der Hand und lief aus dieser Falle heraus. Wir blickten nicht zurück. Wir rannten zur nächsten Tram und stiegen in die Erstbeste ein. Als wir saßen, atmete ich tief durch. „Scheiße“, flüsterte Shelly. „Scheiße verdammt! Wo sind wir da reingeraten?!“

  Ich wollte ihr einen Arm um die Schulter legen, um sie zu trösten. Doch mir selbst liefen Tränen herunter. „Wo sollen wir jetzt hin?“, fragte ich leise. Wir zogen alle Blicke auf uns und das war nicht gut.

  Megan gab sich selbst eine leichte Ohrfeige, um zur Besinnung zu kommen. „Ok. Am besten wir gehen zuerst zu den Pasing-Acarden. Da können wir ins Internet und abmachen, zu wem wir gehen und wie lange wir dort schlafen können“, sagte sie mit fester Stimme und befühlt ihre Lippe. Es sah schlimmer aus als vor ein paar Stunden, wo alles noch offen war. Die Nähte gaben dem allen einen noch brutaleren Effekt.

  Wir hatten alle denselben Gedanken; was dann? Wir konnten schlecht ein Leben lang auf der Flucht leben vor einer Mafia. Was hatte die eigentlich hier zu suchen? Die Russen-Mafia war normalerweise in Berlin oder eben in Russland. Soviel, wie ich wusste. „Glaubt ihr, dass die wirklich überall ihre Leute haben? Ich mein, ist das nicht übertrieben?“, fragte ich.

  „Ich glaub, hunderttausend Leute arbeiten direkt für die Mafia, vielleicht sogar mehr. Und über die Zahlen von den indirekten Menschen, die in den Machenschaften verstrickt sind, ist, glaube ich, nichts bekannt“ Megan zuckte mit den Schultern. „Aber ich denke, dass er nicht blufft. Wenn es stimmt, dass diese Nala zur Polizei gegangen ist, dann stand das unter strengere Geheimhaltung als jedes andere Verbrechen. Das heißt, dieser Antonio muss seine Leute überall haben“

  Shelly wischte sich die Tränen weg. „Ich glaub, dass die auch end viele Boxer und so dabei haben“

  Schwach lächelte ich sie an. „Klitschko oder was?“, versuchte ich, die Stimmung aufzulockern.

  Keiner lachte. „Was ich nicht verstehe, ist, was das alles mit den Wahlen zu tun hat!“, meinte Megan.

  „Die haben da ihre Finger im Spiel. Viel weiß ich echt nicht, aber ich glaub, die haben schon vielen Politikern geholfen, zu der Position zu kommen, wo sie jetzt sind“, sagte ich.

  Einmal musste ich ein Referat über die Mafia halten und es war erstaunlich, wie wenig von ihr im Netz zu finden war. Keine Namen, keine genauen Orte, nichts! Nicht einmal die Namen von denen, die für immer im Knast sitzen werden, standen irgendwo. Auch zu den Aufnahmeritualen der russischen Mafia fand ich nur, dass man Russe sein und sich ein Tattoo stechen musste. Für das Referat hatte ich eine fünf bekommen, weil ich keine genauen Angaben machen konnte.

  Die Tram fuhr nach Thalkirchen, von dort aus nahmen wir den Zug nach Pasing. Jeder starrte uns an. Ich hatte mich noch nicht im Spiegel angesehen, doch als wir durch einen Tunnel fuhren, sah ich es; meine Augen waren zugeschwollen, die Lippe war genäht und eine Haarsträhne war mir rausgeschnitten worden. Warum hatten die das gemacht?

  Da kam mir plötzlich eine Idee… das war irgendwie unlogisch. Das waren Mafiosi. Wenn sie jemanden umbringen wollten, dann wettete ich, schafften die es auch. Sie machten nichts unordentlich. Unsere Leichen hätten sie auch weggeschafft.

  Könnte es sein, dass sie uns absichtlich am Leben gelassen hatten? Aber wozu denn?

  Bevor ich meinen Freundinnen von meinen Gedanken etwas erzählen konnte, waren wir in Pasing. Wir rannten beinahe zu den Acarden; hinter jeder Ecke vermuteten wir jemanden, der uns etwas tun wollte. Schließlich hatten wir es geschafft und standen im Media Markt. Die Handys von Megan und Shelly waren nicht mehr in der Tasche, nur das Geld und Trinken waren noch drinnen. Ich selbst hatte zu diesem Zeitpunkt kein Handy. Ich war jetzt schon fast ein Jahr ohne ausgekommen, dass es mir egal war, ob ich eins besaß oder nicht.

  Wir gingen zu den I-Pads und loggten uns in Facebook ein. Wir kamen nicht oft ins Internet, weil es im Heim kein Zugang gab und normalerweise hatte ich immer so um die zehn Nachrichten. Jetzt aber waren nur die Benachrichtigungen voll. Verwundert öffnete ich den Chat mit meinem Kumpel Mike. Dort fand ich eine ganze Reihe von Nachrichten, die vor etwa zwei Stunden versendet worden waren. Da ging es darum, wo er sei, was er gerade mache… er schien total verwirrt.

  Panisch ging ich zu den ganzen Nachrichten und tatsächlich: fast alle meine Kontakte wurden angeschrieben. „Megan“, sagte ich hysterisch. Sie aber starrte ebenfalls ihr Display an. Auch Shelly. Die Typen hatten unseren Account geheckt. „Nichts verschicken oder posten“, flüstere ich den beiden zu.

  Shelly hob den Kopf und sah mich an; ihr Blick war ängstlich. „Zu spät“, flüsterte sie.

  Wir loggten uns nicht einmal aus. Wir hoben unsere Taschen hoch und machten, dass wir da weg kamen. Draußen gingen wir die Straße entlang, zurück zum Zug. „Wie kann das sein?“, ruft Shelly. „Wie kommen die an unser Facebook?“

  „Ich mach mir eher Gedanken darüber, wieso sie es getan haben“, sagte ich. Alle zehn Sekunden drehte ich mich um, um zu sehen, ob uns jemand folgte. „Das hab ich mir schon vorher gedacht. Die sind von der Mafia! Die machen keine halben Sachen!“

  Megan strich sich übers Gesicht. „Ach, du scheiße“

  Aber ich hörte nicht auf. Meine Angst beherrschte mich. „Wenn die gewollt hätten, dass wir sterben, wären wir jetzt in irgendeinem Leichensack in der Isar oder unter der Erde!“

  Shelly fing wieder an zu weinen. „Ich pack das nicht!“, schrie sie. „Ich will nach Hause, verdammt!“

  Warnend sah Megan sie an. „Sei leise, bist du bescheuert? Ich hab echt keinen Bock, dass die uns finden!“

  Plötzlich spürte ich einen Arm um meine Schulter. Schreiend zuckte ich zusammen und sah Jadish ins Gesicht. „Ganz ruhig“, meinte er und sah sich um. „Hat es einen Grund, weshalb die Tsewskajs hinter euch sind?“

  „Wer?“, fragte ich. Mein verdammtes Herz spielte verrückt, sobald ich nur an Jadish dachte. Jetzt stand er neben mir und hatte seinen Arm um mich gelegt. Das Denken fiel mir schwer.

  Er rollte mit den Augen, sah aber ernst aus. „Die russische Mafia. Einer der berühmtesten Familien in Deutschland, die bekannt dafür sind, kleine Mädchen nach Russland zu schleppen“ Kurz dachte ich, er wolle mich verarschen, aber er sah kein bisschen so aus. Und ich kannte ihn jetzt schon vier Jahre lang, das heißt, ich wusste, wann er mich verarschte.

  Mein Atem beschleunigte sich noch mehr. „Hilf mir“, flüsterte ich und sah ihm tief in die Augen.

  Er nahm meine Hand und zog mich um die nächste Ecke. Megan und Shelly liefen hinterher. Sie hatten mitgehört und sahen sich ständig um. „Lauf!“, rief er und wir fingen an zu rennen.

  Wir nahmen Abkürzungen; der geheime Gang bei der Brücke, die Wiese und manchmal rannten wir durch irgendwelche Gärten.

  Jadish wohnte hier in der Nähe und kannte sich gut aus. Er ging zu einer Ruine; ein abgelegenes Haus, heruntergekommen und abgeschlossen. Zumindest dachte ich das immer. Er aber machte die Tür auf und wir liefen herein. „Ihr dürft euch nicht aufrichten, das kann man von draußen aus sehen“, meinte er und wir versuchten, wieder zu Atem zu kommen. „Und passt auf, dass ihr keine lauten Geräusche oder so macht. Wenn jemand kommt, geht ihr ins Bad und durch das Fenster raus. Dann müsst ihr laufen“ Er sieht uns der Reihe nach an.

  „Danke“; keuchte ich und mied seinen Blick. Ich konnte ihm noch nie wirklich in die Augen sehen. Jedes Mal fürchtete ich, dass mein Herz aussetzen könnte.

  Er lachte. „Wollt ihr mir erzählen, warum euch die Mafia auf dem Radar hat?“, fragte er und hob mein Kinn an. „Haben die das gemacht?“ Jetzt sah er leicht besorgt aus.

  Megan setzte sich auf den Boden und lehnte sich an die Wand. „Wir haben gesehen, wie so ein Antonio jemanden umgebracht hat. Da hat er uns zusammen geschlagen und…“ Sie presste ihre Augen zusammen. Dennoch lief eine Träne herunter.

  In den letzten Stunden hatten wir mehr geweint als das gesamte letzte Jahr. „Antonio?“ Er lachte mit ungläubigem Gesicht. „Alina, du steckst bis zum Hals in der Scheiße“

  Ich nickte. „Ich weiß“ Verzweifelt fuhr ich mir durch meine Haare. „Was jetzt? Bitte, du musst uns helfen, Jadish! Was sollen wir machen?“

  Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Am besten geht ihr zur Polizei, aber dann wird er wahrscheinlich die Hälfte eurer Familie ausrotten. Es ist nicht unter seiner Würde, Kinder zu töten. Das einzige, was ihr machen könnt, ist eigentlich, euch zu verstecken“, antwortete er.

  „Aber wir können uns nicht ewig verstecken!“, rief Shelly. „Wie denn auch? Was ist mit Schule, unsere Familien…“

  Er unterbrach sie grob. „Wenn die euch erwischen, kommt ihr nach Polen oder Russland oder sonst wohin und könnt auf den Strich gehen“, sagte er.

  Ein hysterisches Lachen drang aus meinem Mund. Das durfte doch nicht wahr sein. „Also sind wir sozusagen am Arsch“

  Jadish spielte mit seinem Lippenpiercing und nickte. „Jep“  

  „Das ist schrecklich!“, weinte Megan. „Was haben wir denn gemacht? Wir wollten nur Shoppen gehen, verdammt!“

  Er zuckte mit den Schultern. „Alina“, sagte er und ging vor mir in die Hocke, nahm eine Haarsträhne in die Hand und spielte mit ihr. Als er bemerkte, was er da tat, ließ er sie los. Mir war schwindelig, weil ich das Atmen aufgehört hatte. „Ich muss wieder gehen. Ich komm heute Abend noch mal und bring euch was zu Essen und Decken mit. Es ist kalt in der Nacht“

  Dankbar nickte ich. „Bring gleich noch ein bisschen Alkohol mit. Ich hab grad echt Lust, mich zuzusaufen“, bat ich ihn.

  Ein Lächeln, beinahe spöttisch, bildete sich auf seinen Lippen. „Mach ich. Bis dann. Und lasst euch nicht erwischen“

  Wir nickten, er stand auf, sah kurz durch das Fenster, um dann zur Tür zu gehen, uns zuzuwinken und rauszugehen.

  Megan, Shelly und ich sahen uns an. Dann holte ich die Kippenschachtel raus und wir rauchten jeweils eine. Als ich fertig war, sagte ich: „Wir sind am Arsch“

  Sagen wir es mal so: es würde noch schlimmer werden.

 

Kapitel 3

 

  Jadish und ich hatten uns damals in einer Psychiatrie in Rosenheim kennengelernt. Wir waren auf derselben Station und ich dachte mir zuerst, dass ich ihn mir gleich aus dem Kopf schlagen sollte. Er war damals mit einer Freundin von mir zusammen, die ebenfalls auf der Station war, aber nach einer Zeit wurde sie entlassen. Das hieß, er und ich waren alleine.

  Eigentlich stand ich die ganze Zeit auf ihn. Es war so schlimm, dass ich fast ausgetickt wäre, weil ich erstens elf war und somit nicht wusste, wie man einen Jungen überhaupt anmachte, und zweitens, weil da noch Green war, seine Freundin.

  Damals war ich nicht hübsch und dazu noch richtig nervig. Aber es machte mich verrückt, dass ich ihn jeden Tag sah und nicht wusste, was ich tun sollte.

  Es war so schlimm, dass ich ihn so provozierte, dass er anfing, mich zu schlagen. Nicht fest, sondern nur auf die Nerven. Das hatte blaue Flecken zur Folge. Ich sah schlimm aus. Aber es interessierte mich nicht, weil die elfjährige Alina Schmerzen mochte. Sie liebte es, von Jadish berührt zu werden, für sie war das ein Zeichen der Liebe. Deshalb war ich damals auch nicht wütend auf ihn. Und wenn ich so darüber nachdenke, nicht einmal heute.

  Und irgendwie, glaube ich, mochte er mich doch. Am Abend vor seiner Entlassung lag ich mit dem Kopf auf seinem Schoß und er spielte mit meinen Haaren, während ich dachte, dass ich gleich sterben würde. Mein Herz hatte damals so schnell geschlagen, dass ich wirklich bezweifelte, diesen Abend zu überstehen.

  Doch ich überstand ihn und er war am nächsten Tag weg. Die Traurigkeit war so schlimm, dass ich noch viele Monate danach im Bett lag und mich in den Schlaf weinte. Obwohl wir nie was wirklich miteinander hatten, war ich noch vier Jahre später in ihn verknallt.

  Aber das, was ich erzählen wollte, war, wie Jadish, Nika und ich von der Klinik abgehauen sind. Jadish und Nika wollten einfach nur weg und ich bin mitgegangen, weil ich unbedingt mit Jadish zusammen sein wollte. Er hatte sich kurz davor sein Bein gebrochen und lief mit einem Gips rum. Wir waren also von der Klinik ins Parkhaus gegenüber gerannt, weil wir abwarten wollten, bis sich alles beruhigt hatte, und dann wussten wir auch nicht, was dann kommen sollte. Wir saßen da, ich happy, weil Jadish neben mir saß, er gleichgültig wie immer und Nika total down, weil sie bereute, weggelaufen zu sein.

  Es war kalt, ich hatte nur eine Hot-Pant mit Leggins an und trotzdem konnte ich schlafen.

  So war es auch jetzt. Es war eisig kalt, wir hatten nur unsere dünnen Sachen an und saßen in einer alten Hütte, wo die Wände dünn waren und die Fenster kaputt. Trotzdem waren wir nach einer Stunde eingeschlafen, weil wir so erschöpft waren.

  Die Finger von Jadish weckten mich. Müde blinzelte ich ihm entgegen und lächelte. „Hey“, flüsterte ich.

  Er lächelte und setzte sich vor mich. Seit ich ihn kannte trug er Haremhosen und sah damit wahnsinnig gut aus. Für mich. Andere sagten, er sei nicht so hübsch, er wäre arrogant… Gelaber eben. Es war mir egal. Jadish hatte schwarze Dreadlocks und blaue Augen, die von einem schwarzen Ring umgeben sind. Außerdem einen Lippenpiercing unten rechts. Für mich war er absolut perfekt. Der Moment an sich war es. Dass ich ihn beim Aufwachen in die Augen sehen konnte, seine Hand an meiner Wange… „Hey“, antwortete er. Selbst seine Stimme war für mich alles.

  „Wieso?“, fragte ich leise.

  Fragend runzelte er die Stirn. „Wieso was?“, hackte er nach.

  Müde strich ich mir über das Gesicht. „Wieso liebst du mich nicht?“, hauchte ich. Am liebsten hätte ich die Frage zurück genommen, aber das ging nicht. Und selbst wenn – vielleicht war es gut, dass es jetzt draußen war.

  Er lachte leise. „Ich glaub, du musst noch ein bisschen wach werden“, meinte er und spielte mit seinem Piercing. „Brauchst du einen Moment? Im Bad funktionieren noch das Klo und das Waschbecken. Kannst ´ne Katzendusche nehmen“

  Enttäuscht sah ich ihn an, nahm dann aber schweigend das Handtuch, das er mir gab, und Shampoo und Duschgel. Dann ging ich in das winzige Badezimmer. Die Wände waren vergilbt, die Fließen fast alle kaputt. Schnell ging ich auf die Toilette und wusch mir das Gesicht. Im kaputten Spiegel sah ich, dass meine Schminke verschmiert und meine Augen geschwollen waren. Meine Haare standen wegen dem Schlafen ab und mussten dringend gekämmt werden. Aber zuerst wusch ich sie und größtenteils meinen Körper, ohne zu viel ausziehen zu müssen. Es war immer noch eisig kalt und es gab kein warmes Wasser.

  Als ich fertig war, betrat ich wieder das heruntergekommene Wohnzimmer. Erst jetzt sah ich mich wirklich um; es war leer, nur ein Tisch stand darin, um ihn herum ein paar Stühle. Es war dunkel, draußen dämmerte es. Das heißt, ich hatte nur ein paar Stunden geschlafen, nicht mal. Shelly und Megan lagen immer noch an der Wand gelehnt da und schliefen. Ich ließ mich auf allen Vieren nieder und krabbelte zu Jadish, neben dem drei Einkaufstüten, drei Decken und Kissen standen. „Ich hab euch Essen mitgebracht. Toast, Nutella, Orangensaft und so weiter. Nichts Besonderes“, informierte er mich und zuckte mit den Schultern.

  „Für mich schon“, erwiderte ich. Vorsichtig lächelte ich ihn an. „Danke. Für alles“

  Misstrauisch sah er mich an. So war er schon immer. Er stellte alles infrage, was falsch sein könnte. Das tat weh, aber so war er nun mal. „Passt schon“ Er sah abwesend in die Ferne. „Schau mal nach, ob ihr sonst noch was braucht“

  Brav sah ich in die Tüten und packte alles auf den Boden. Honig, Toast, Nutella, Wasser, Apfelschorle, Orangensaft, Chips und Knäckebrot war in Massen in der ersten Tüte, in der zweiten Shampoo, Duschgel, Rasierer, Tampons und Zahnputzzeug für eine ganze Frauenarmee und in der letzten Tüte war der Alkohol drinnen. Vier Six-Packs Becks, drei Flaschen Wodka und eine Flasche Schnaps.

  Ein Lächeln umspielte meine Lippen, als ich eine Flasche Orangensaft in die Hand nahm. „Weißt du noch, wie wir uns damals in Rosenheim end cool gefühlt haben, weil wir im Parkhaus saßen und geraucht haben? Dazu haben wir…“

  „Orangensaft getrunken“, beendete er meinen Satz. Auch er grinste. „Ja, das weiß ich noch“

  Leise lachte ich. „Wir haben uns wie voll die Gangster gefühlt. Und dann haben wir uns noch in den Fahrstuhl gesetzt und sind die ganze Zeit rauf und runter gefahren“ Die Erinnerung raubte mir den Atem, aber trotzdem redete ich weiter. „Und als wir abgehauen sind, hast du mir deinen Pulli angeboten“ Die letzten Worte flüsterte ich nur.

  Nickend sah er Shelly beim Schlafen zu. „Ja. Du hast gesagt, dir ist immer kalt“ Trauer lag in seinem Blick. „Das hat weh getan“

  Verwirrt sah ich ihn an. „Dass ich gesagt hab, dass mir immer kalt ist?“

  Er schüttelte den Kopf und sah stur weiter meine Freundin an. „Dass du alles abgelehnt hast. Egal was. Das hat genervt, aber es war auch irgendwie putzig“

  Ich schloss die Augen. Seit einem Jahr hatte ich Jadish nun nicht mehr gesehen und plötzlich saßen wir nebeneinander und redeten über die Vergangenheit. „Das hast du schon mal gesagt“

  „Was?“ Er wusste es wirklich nicht mehr. Das tat mir weh. Es zeriss mich beinahe. Bei keinem anderen Menschen habe ich je so krass gefühlt wie bei ihm. Einerseits liebte ich es, weil es mir zeigte, dass ich lebte, anderseits hatte ich Angst, dass es mich umbrachte, falls er irgendwann wieder weg war. Wahre Liebe ging nie gut aus. Sie begann mit einer Träne und endete mit dem Tod. Denn man hörte nie auf zu lieben, wenn es wirklich Liebe war. Aber man konnte nicht zusammen glücklich werden. Dazu waren die Gefühle zu stark. Jeder, der was anderes sagte, war entweder gutgläubig und glaubte die Liebesgeschichten oder log. Ganz einfach.

  Kurz spielte ich mit dem Gedanken, einfach nicht zu antworten, doch dann tat ich es trotzdem. „Dass ich ganz putzig wär. Nur die Pickel stören“ Es hatte mich fertig gemacht, dass er mir so was ins Gesicht gesagt hatte.

  Er sah mich an. „Da waren wir Kinder, Alina. Du warst elf und ich gerade mal dreizehn. Was wir da gesagt und getan haben zählt nicht“ Dabei sah er mir tief in die Augen.

  Ich wendete den Blick ab. „Meinst du damit, dass du mich geschlagen hast?“, fragte ich.

  Jadish zuckte mit den Schultern. „Es wundert mich, dass du kein Trauma deshalb hast. Aber ja, unter anderem mein ich das“, gab er zu. „Sorry“

  Das letzte Wort hatte er schnell ausgesprochen, als wolle er es hinter sich haben. „Du musst dich nicht entschuldigen. Ich hab dich provoziert. Ich wollte es“, gab ich leise zu.

  Eine Weile lang war Stille zwischen uns. Es war nicht so ein peinliches Schweigen, sondern wie die Ruhe nach dem Sturm. Als sei alles gesagt, was gesagt werden musste. „Aber jetzt sind wir keine Kinder mehr“, brach er das Schweigen.

  Nickend stimmte ich ihm zu. „Nein. Sind wir nicht“ Kurz sah ich ihn an. Sein Blick hatte sich an mich geheftet. Wir haben uns das letzte Mal auf der geschlossenen Suchtstation in München gesehen. Ich war auf Entzug, wenn auch nur kurz, da ich noch nicht wirklich süchtig war. Da hatte ich mir geschworen, nie wieder eine Sucht zu riskieren. Bei ihm war es schlimmer. Noch heute wusste ich nicht, von was er abhängig war, doch es hatte mich geschmerzt, ihn so zu sehen. Daran musste ich jetzt denken. Die Drogen hatten uns wachsen, aber auch ein bisschen sterben lassen. Wir waren beide einmal suizidgefährdet gewesen und hatten unsere Depressionen gegen Drogen und Alkohol eingetauscht. Wir hatten beide keine Wahl. Als ich es merkte, war es schon zu spät. Es ging plötzlich alles viel zu schnell; der Alkohol wurde immer mehr, irgendwann kam ich mit der Realität nicht mehr klar. „Aber ich wünschte, ich wäre noch eines“

  Am liebsten hätte ich geweint. Noch vor ein paar Monaten hatte ich mich gegen meine Sucht und für meine Zukunft entschieden, da passierte mir so was. Jetzt war alles umsonst gewesen. Ich würde nie wieder in die Schule gehen können, es sei denn, Lizzy müsste dafür büßen. „Ja, ich manchmal auch“ Er schloss die Augen. „Ist es komisch, dass ich am liebsten wieder in die Klinik will?“

  „Nein“, sagte ich. „Ich mein, wer wünscht sich das nicht ab und zu? Man muss keine Entscheidungen treffen, man ist in einer sicheren Blase, wo einen nichts erreichen kann. Man hat Essen, einen warmen Schlafplatz…“ Ich lachte bitter. „So gesehen ist das der sicherste Ort der Welt“

  Er sah mich überrascht an. So hatte er mich schon immer angesehen. Als sei ich der erste Mensch, den er je gesehen hatte. „Würdest du zurück gehen?“

  Bestimmt schüttelte ich den Kopf. „Ich liebe die Freiheit. Noch einmal würde ich es nicht aushalten“

  „Und für mich?“ Er fragte es so leise, dass ich bezweifelte, ob ich ihn richtig verstanden hatte.

  Doch dann zuckte ich innerlich mit den Schultern. „Ich würde alles für dich machen“ Ich verbarg mein Gesicht in meinen Händen. „Aber das weißt du, oder?“

  Er schwieg. Und ich auch. Es gab nichts mehr zu sagen. Es war einfach so, dass er nicht auf mich stand. Ja, ich war in ihn verliebt, aber was brachte mir das?

  Nach einer halben Stunde regte sich Megan. Als erstes sah sie sich überrascht um, dann befand sich wieder die Traurigkeit in ihren Augen. „Wie viel Uhr haben wir?“

  Jadish sah auf sein Handy. „Kurz nach halb sechs. Es wird bald dunkel“, meinte er und zeigte auf zwei Taschenlampen, die neben den Decken lagen. „Nur anmachen, wenn ihr sie wirklich braucht. Wenn die merken, dass ihr hier seid, kann ich euch nicht mehr helfen“

  Megan nickte. „Danke“, meinte sie, aber sie meinte es nicht so. Sie war zu sehr mit sich selbst beschäftig, als dass sie es wirklich ernst meinen könnte. „Hast du geduscht?“, fragte sie mich.

  Das Handtuch war immer noch um meinen Kopf gewickelt. „Ja, im Waschbecken. Shampoo und so stehen noch dort, wenn du willst“

  Sie stand auf und ging unsicher ins Badezimmer. Mit angeekeltem Gesicht schloss sie die Tür. Shelly war durch unsere Gespräche ebenfalls aufgewacht. „Ich will nach Hause“, flüsterte sie.

  Ich schüttelte den Kopf. „Die bringen dich um oder schlimmeres“

  Sie wischte sich eine Träne weg. „Ich weiß“

  Jadish schüttelte den Kopf. „Ihr heult ganz schön viel“, meinte er und zupfte an seinen Dreadlocks. „Das ist nervig“

   Shellys Augen verengten sich wegen der Beleidigung, ich aber musste schwach lächeln. Das war mein Jadish, wie ich ihn kannte und liebte. Sarkastisch, provokant und mit einem schwarzen Humor.

  Meine Gedanken machten mir Angst. Normalerweise sagte ich selten, dass ich jemanden liebte. Doch bei ihm passte es irgendwie. Ich glaube, ich liebte ihn wirklich. „Dann geh halt!“, rief Shelly und stand auf.

  „Shelly, duck dich!“, schrie ich sie an und sie ging schnell auf die Knie. „Und er bringt uns Essen und Decken! Du solltest ein bisschen dankbarer sein!“

  Jadish lachte. „Wenn sie meint, dass sie Lärm machen muss, kann sie gleich vor die Tür gehen. Mal sehen, wann sie abgeknallt wird“ Wieder dieses Grinsen. „Wollen wir Wetten abschließen, Alina? Ich gebe ihr fünf Minuten“

  Sie sah ihn mit zusammen gekniffenen Augen an. Dann ging sie kurzerhand zu ihm hin und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. „Da kannste nichts mehr sagen, was?“, feixte sie.

  Er sah sie lange an. Sie wurde nervös, sie wusste, dass sie einen Fehler begangen hatte. Auch er stand auf.

  Schnell packte ich ihn am Arm. „Jadish“, flüsterte ich. „Nein!“

  Er sah mich mit diesem Blick an. Dass ich jetzt lieber aufhören sollte, bevor ich einen Schlag bekam. Und ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er nicht bluffte. Es war nicht unter seiner Würde, Mädchen zu schlagen, gleich, wie sehr es ihm danach leid tat. Deshalb nahm ich meine Hand wieder weg.

  „Alina“, sagte Shelly nervös. „Sag ihm, dass er weg gehen soll“ Sie wich zurück, während er langsam auf sie zu kam.

  Hilflos stand ich daneben. „Entschuldige“ Aber so konnte ich bei ihm nichts machen. Es war nicht in meiner Macht, ihn zurück zu halten, egal, was ich tat oder sagte.

  Als die beiden sich gegenüber standen, hörten wir es gleichzeitig. Ein leises monotones Piepen. „Runter!“, schrie Jadish und wir ließen uns zu Boden fallen.

  Dann kam die Explosion.

  Alles war voller Rauch, Hitze, Asche – und Feuer. Die wenigen Möbel brannten lichterloh.

  Jadish auch.

  Ein Schreien bahnte sich aus meiner Kehle. Wieso lag er nur so da? Wieso war er voller Blut? Wieso stand er nicht mehr auf und machte die Flammen aus?

  Seine Jacke brannte wie Zunder und es roch fast sofort nach verbranntem Fleisch. Diesen Geruch würde ich nie vergessen können. „Nein!“, schrie ich und kroch zu ihm. Hustete, schrie weiter.

  Seine beiden Hände und sein rechtes Bein waren weggesprengt worden. Überall war Blut und seine Haut wurde schwarz. Starb ab.

  Ich wünschte, ich könnte sagen, dass er die Augen noch einmal geöffnet und gesagt hätte, dass er mich lieben würde. Aber er tat es nicht. Er war schon tot, als ich mich zu ihm hinunter beugte und hauchte: „Ich liebe dich“

  Megan war aus dem Bad gestürmt und hatte alle Sachen genommen, die sie jetzt Shelly und mir in die Hände drückte. Dann rannten wir ins Bad und stiegen durch das Wandfenster, das beim Öffnen kurz klemmte.

  Und dann rannten wir. Den Alkohol hatten wir zurück gelassen, weil er zu schwer war. Wieder unter den Leuten keuchten wir und ließen uns auf den Boden sinken, wo wir erst einmal tief Luft holten. Wir hatten eine Raucherlunge vom Feinsten und konnten eigentlich überhaupt nicht laufen. Meine Haare waren noch nass, das Handtuch war beim Rennen herunter gefallen.

  „Schnell, wir müssen weiter“, drängte Megan und wir standen auf.

  An der Straße hielt ich ein Taxi an. „Wie viel bis Thalkirchen?“, wollte ich wissen.

  Der Fahrer wiegte den Kopf hin und her. „Dreißig“

  Wir stiegen ein, gaben ihm das Geld und entspannten uns sichtlich. „Was jetzt?“, fragte Shelly leise. Sie sah mir nicht in die Augen.

  Keiner antwortete.

  Als wir endlich da waren, gingen wir bis zur Isar und sahen uns um. „Dort“, sagte ich und zeigte auf eine freie Stelle unter einer der vielen Brücken. Wir gingen darauf zu und setzten uns hin.

  Alle sahen uns an, doch das war mir egal. Wir wickelten uns in Decken ein, legten uns auf eine Stelle, wo am wenigsten Steine waren und kamen zu Atem.

  Es dämmerte. Wir aßen jeweils zwei Scheiben von dem Toast und schmierten uns eine dicke Schicht Nutella darauf. Irgendwann kamen die von gegenüber zu uns und lächelten. Es waren zwei junge Erwachsene, gerade mal zwanzig. Wir unterhielten uns ein bisschen mit ihnen, dann gingen sie wieder.

  Als es noch kälter wurde, holte ich noch eine der dünnen Decken und lullte mich damit ein. Als es immer noch nichts half, zog ich mein zweites Paar Strümpfe, die Wuschelsocken waren, über meine Hände und rollte mich zu einer Kugel zusammen.

  Dann erst erlaubte ich meinem Körper, wieder irgendwelche Emotionen durchzulassen.

  Und es haute mich um.

  Es tat so weh! Dieser Schmerz war nichts im Vergleich zu meiner Hand oder meiner Wunde, die aufgeplatzt sein musste. Er zeriss mich von innen nach außen und ließ mich wimmern. Tränen flossen meine Wangen herunter und tropften auf den Boden. Außer ab und zu ein Keuchen oder Wimmern verließ kein Ton meine Lippen.

  Doch innerlich war ich am Schreien.

  So ein Schmerz wünschte man nicht einmal seinen schlimmsten Feinden. Es war schlimmer als der Tod, es war, als würde ein Stück von einem herausgerissen werden, um dann noch Salz in das Loch zu streuen.

  Und so, leise und vor Schmerzen gekrümmt, weinte ich mich in den Schlaf.

  Erst um die Mittagszeit wachte ich wieder auf. Die Sonne kitzelte meine Nase und täuschte vor, alles sei in Ordnung.

  Es hatte geschneit. Alles war weiß und sah aus wie Puderzucker. Früher, als Kind, als ich noch bei meiner Mutter und meinem Stiefvater gewohnt hatte, liebte ich den Schnee. Ich war aufgewacht und hatte vor Freude gejubelt, als ich sah, dass es geschneit hatte. Meine Schwester Mira und ich hatten unsere Skisachen aus dem Keller geholt und waren auf die Piste gegangen. Die Leute, die die Fahrbahn gebaut hatten, hatten unabsichtlich einen Teil auf unserem Grundstück gebaut und deshalb durften wir immer kostenlos fahren. Es war für mich das reinste Paradies.

  Mein Stiefvater Hunter hatte einen Hof in Elbach, das lag in Fischbachau. Ein einziges Kaff und meine Geschwister hatten es gehasst. Ich aber liebte es. Es bedeutete mir alles.

  Der Hof war riesig. Das Haus, in dem wir lebten, hatte zwei Stockwerke und einen Dachboden, dazu einen mehrräumigen Keller. Es war fast alles aus Holz und sah wirklich genauso aus wie aus dem Bilderbuch. Einfach bayrisch. Am Anfang hatten Mira und ich uns ein Zimmer geteilt, dann hatten wir unser eigenes. Mein Bruder Matt schlief in einem Raum, das eigentlich ein Gästezimmer war. Das Bett von ihm hatte genügend Platz für fünf Leute und das einzige, das störte, war die Kälte. Es war schließlich ein altes Haus.

  Dann gab es noch gegenüber Gästewohnungen; ein großes Gebäude mit vier Stockwerken und, ich glaube, sechs Wohnungen.

  Und es gab zwei Ställe mit Pferden, Eseln, Hasen, Meerschweinchen, Schweinen, Ziegen, Hühnern und wir hatten sogar zwei Lamas. Die Scheune, wo das ganze Heu drinnen war, hatte uns dazu gedient, darin zu spielen, auch, wenn es uns verboten war.

  Das Landpanorama und die Berge gaben mir Sicherheit. Als das mit der Vergewaltigung passiert war, stand ich kurz vor einem Burn-Out. Ich rief meine Mutter an und sagte, sie solle mich abholen. Eine Woche lang hatte ich Pause und der Hof hatte mich wieder aufgebaut. Schon nach den ersten fünf Tagen hatte ich wieder Kraft, um weiter zu machen. Wäre ich im Heim geblieben… ich weiß es nicht. Und, ehrlich gesagt, ich will es mir gar nicht vorstellen, was dann passiert wäre.

  Eine Zeit lang war ich suizidgefährdet. Die Zukunft hatte mir Angst gemacht, ich kam mit ihr nicht klar. Schon allein bei der Vorstellung, irgendwann einmal erwachsen zu sein, schrillten bei mir die Alarmglocken. Und dann, von einem Tag auf den anderen, waren meine Depressionen fast ganz verschwunden.

  Das war, als ich mich so tief geritzt hatte. Die Narbe ist heute noch leicht rötlich.

  Ich war so erleichtert. Nicht mehr depressiv zu sein – das baute mich fast gänzlich wieder auf. Und wäre ich nicht schon süchtig nach Alkohol gewesen, dann hätte ich auch mit dem Trinken aufhören können.

  Die ganze Zeit lachte ich. Das Leben so zu sehen, wie es wirklich war – nicht trüb, düster, gemein – das war für mich der Himmel. Keiner hatte mir geglaubt. Ich kann es ihnen nicht verdenken – wie oft kam es auch schon vor, dass ein Suizidgefährdeter wie durch ein Wunder plötzlich geheilt wurde? So etwas passierte ja nicht alle Tage.

  Doch es war so. Ich sah alles so klar vor mir: Schule zu Ende machen, Arbeiten gehen, Reisen und vielleicht sogar Kinder bekommen… das alles machte mir keine Angst mehr. Die Vorfreude ließ Schmetterlinge in meinem Bauch flattern.

  Jetzt aber war meine Chance verspielt. Ich glaubte, für mich war es nie vorherbestimmt, glücklich und erwachsen zu werden. Ich glaubte, das Schicksal hatte mir die Wahl der Qual gegeben. Entweder, ich brachte mich selber um oder ein anderer tat es. Und als ich wieder leben wollte, hatte es mir die Entscheidung abgenommen.

  Sobald ich mich aufgesetzt hatte, kam mit voller Wucht der Schmerz zurück, ließ mich leise aufschreien.

  Verzweifelt schlang ich meine Arme um mich, um zu verhindern, auseinander zu brechen. „Alina, was ist denn los?“, murmelte Megan verschlafen und richtete sich auf.

  „Jadish“, flüsterte ich und versuchte, mich zusammenzureißen, nicht loszuheulen.   Sie sah mich an, als wolle sie abschätzen, ob es wirklich so schlimm war. „Was ist mit ihm?“, fragte sie.

  Sie wusste es nicht. Sie hatte nicht seine Leiche gesehen, die mit leeren Augen in die Leere gestarrt hatten. Sie wusste nicht, dass er tot war.

  Megan sah mich mit großen Augen an. „Alina, was ist mit ihm?“, fragte sie, jetzt lauter. Eine Vorahnung machte sich in ihr breit, ich konnte es in ihren Augen sehen.

  Da fing ich an zu weinen. Nicht wie die letzten Stunden, stumm, ohne das Gesicht zu verziehen.

  Nein, ich weinte richtig. Laut schluchzend fiel ich Megan in die Arme, krallte meine Finger in ihr Top. Meine Tränen machten es nass, doch es war ihr egal. Sie hielt mich fest und stand mir bei. Sie versuchte gar nicht, mich zu beruhigen. Sie kannte mich gut genug, um zu wissen, dass es schlimm sein musste, wenn ich so weinte. Und so hatte sie mich noch nie gesehen.

  Es dauerte lange, bis meine Tränen versiegt waren. Vielleicht fünf Minuten. Vielleicht zehn. Vielleicht auch länger. Ich wusste es nicht. Das einzige, was ich tun konnte, war, an ihn zu denken.

  Wie er mit mir in der Klinik Fußball gespielt und mich immer wieder zum Lachen gebracht hatte. Wie er mit meinen Haaren gespielt hatte. Wie er mir seine Jacke angeboten hatte, als mir kalt war. Wie er einmal ganz nah zu mir gekommen war und mich fast geküsst hatte. Wie er mich verteidigt hatte. Wie er eifersüchtig geguckt hatte, als ich mit Fabian rumgeknutscht hatte, um seine Aufmerksamkeit zu haben.

  Und als ich mich von ihr löste und in die Ferne sah, da konnte ich nur an einen einzigen Satz denken.

  Meine Gedanken bestanden nur aus diesem einem Satz: Ich habe meine erste Liebe verloren!

  Und dann kam ich nicht umhin, mich zu fragen, ob ich jemals wieder so sehr einen Jungen lieben könnte, wie ich Jadish geliebt habe.

Kapitel 4

 

  Die Stunden zogen sich hin. Wir saßen eigentlich nur da und wussten nicht, was wir tun sollten. Zurück konnten wir nicht; dort war alles bei der Explosion kaputt gegangen. Es wunderte mich, dass wir überlebt hatten. Und Jadish nicht.

  Eine Zeit lang dachte ich darüber nach. Und Zeit hatte ich wirklich mehr als genug. Irgendwann kam ich dann zu dem Entschluss, dass er zu spät am Boden war. Vielleicht hatte er sogar die kleine Bombe, oder was auch immer das war, vor uns abgeschirmt. Das würde erklären, weshalb meine Klamotten voller Blut waren. Sein Blut.

  „Ihr solltet euch warme Kleider mitnehmen, wenn ihr abhaut“, meinte eine weibliche Stimme hinter mir und meine Gedanken hellten sich minimal auf.

  Crystal stand tatsächlich hier und ging vor mir in die Hocke. „Crys“, meinte ich und lächelte, als wir uns umarmten. „Was tust du denn hier?“

  Sie lachte. „Thalkirchen ist mein Gebiet, schon vergessen? Die Frage ist, was du hier zu suchen hast“

  Mein Lächeln verblasste. „Wir sind in Scheiße geraten“

  Sie sah meine Klamotten an. „Wie groß?“

  „Richtig groß“ Ich strich mir übers Gesicht. „Kennst du die Russen-Mafia hier?“

  Crystal sah mich abwartend an, dann nickte sie. „Ja. Kenn ich. Ich bin mit dem kleinen Bruder vom Boss befreundet“

  Mit großen Augen sah ich sie an. Aber dann dachte ich mir, dass sie mich nie verraten würde. Dazu kannten wir uns zu gut.

  „Hast du Stress mit denen?“, fragte sie.

  Langsam nickte ich. Misstrauisch behielt ich sie im Auge, als könnte sie ihren Kumpel anrufen, wenn ich mal kurz nicht hinsah.

  „Welche Art von Stress?“

  Ich ließ mir mit der Antwort Zeit. Schließlich antwortete ich: „Wir haben… einen Mord gesehen“

  Wieder sah sie meine Kleidung an. „Kommt daher das Blut?“

  Kopfschüttelnd sah ich an mir herunter. Vom weiten könnte man denken, es seien rote Spritzer, die beim Malen oder so auf den Pulli gekommen waren. „Nein“

  Sie nickte. „Hab ich mir schon fast gedacht“ Crystal spielte mit ihrer Lippe. Sie kam aus Bosnien, was man ihr auch ansah. Die gebräunte Hautfarbe, die schwarzen Haare, die tiefbraunen Augen. „Ok. Habt ihr Geldschulden oder ähnliches?“

  Irritiert schüttelte ich den Kopf. „Wir wussten bis vor kurzem nicht einmal, dass es die in Deutschland wirklich gibt“

  „Gut“ Sie atmete laut aus. Dann zündete sie sich erst einmal eine Zigarette an. „Du meinst schon die Tsewskajs, oder?“

  Ich zuckte mit den Schultern. „Denke schon“ Dann sah ich sie flehend an. „Crys, bitte! Du darfst ihnen nicht sagen, wo wir sind!“

  Sie guckte mich an, als sei ich komplett bescheuert. „Alter, wir sind jetzt schon zwei Jahre lang befreundet! Du solltest mich besser kennen“

  Langsam versuchte ich, meine Gedanken zu sortieren. „Ok… danke“

  „Wie viel weißt du über die Tsewskajs?“, wollte sie wissen. Sie pustete mir ein bisschen vom Rauch ins Gesicht, doch ich spürte es kaum.

  Kopfschüttelnd hob ich eine Schulter. „Gar nichts“, antwortete ich. „Nur, dass die Mädchen über Grenzen schmuggeln“ Nach kurzem Zögern fügte ich hinzu: „Jadish hat mir das erzählt“ Der Name ließ mich zusammenzucken.

  „Jadish?“, fragte sie. „Wo ist er?“ Wir kannten ihn beide von der Klinik, sie war mit ihm mal auf derselben Schule in Moosach.

  Tränen stiegen mir in die Augen, doch ich drängte sie zurück. „Er ist…“ Ich holte zitternd Luft. „tot“

  Kurz lachte sie, doch es war so ein Lachen wie Meint sie das jetzt Ernst? Dann hörte sie auf und nahm mich kurz in den Arm. Sie wusste, was er mir bedeutet hatte. „Das tut mir leid, Alina“

  Knapp nickte ich, dann ließ sie mich wieder los. „Was sollte ich denn von denen wissen?“

  Sie überlegte. „Das wichtigste ist, dass sie Zugang zu allen Kameras haben. Vom Bahnhof, von Läden… einfach alle. Sie können sich fast überall reinhecken, egal wo. Also solltest du am Besten dir einen neuen Facebook-Account zulegen. Und sie laufen gerade die andere Seite der Isar ab, um zu schauen, ob ihr hier seid“

  Wieder schlug mein Herz mit voller Kraft. „Was?“

  „Deshalb hab ich nachgeschaut, ob hier irgendwer ist, der nicht hier sein sollte“, erklärte sie. „Ganz ruhig, sie lassen sich Zeit. Aber ihr solltet trotzdem langsam verschwinden“

  Nickend sprang ich auf. „Megan, Shelly“, sagte ich leise und die beiden sahen mich an. „Wir müssen gehen! Jetzt!“

  Die beiden verstanden sofort. „Hör zu, Alina“, sagte Crys eindringlich. „Ich kann euch bei Makani unterbringen. Der lässt euch bei sich wohnen, bis ihr was anderes gefunden habt. Ich kann nicht mit, aber wir treffen uns bei ihm. Ihr geht jetzt ganz unauffällig zur nächsten Tram, von dort fahrt ihr bis zu Deisenhofenerstraße. Von der Klinik aus geht ihr nach links, in die Innenstadt. Gegenüber von der Bäckerei, wo wir mal Essen waren, dort wohnt Makani. Ich ruf ihn gleich an, er wird warten. Und bis ich da bin verlasst ihr nicht das Haus, verstanden?“ Alles in meinem Kopf drehte sich, doch ich nickte. Zu Makani wäre ich gegangen, wenn ich vom Heim abgehauen wäre. Er kannte mich zwar nicht, aber wir hatten schon einmal telefoniert. Er schien ganz ok zu sein.

  „Ja“ Sie drückte mich an sich.

  „Bleibt nicht stehen, verstanden? Bis dann“, verabschiedete sie sich und wir gingen davon.

  Shelly hatte Mühe, nicht zu rennen. „Was ist passiert?“

  „Sie sind hier“, erklärte ich und ging etwas schneller. „Sie haben die Videoaufnahmen von der Tram und so angesehen. Sie suchen uns“

  Megan bekam hektische rote Flecken im Gesicht. „Wohin?“

  „Zu einem Freund“

  Sobald wir von der Isar weg waren, fingen wir an zu rennen. Auf dem Weg zu Deisenhofenerstraße atmeten wir tief durch. „Wo müssen wir raus?“

  „Hier“, sagte ich und wir stiegen aus. Wir gingen bis zur Eingangstür der Klinik, dann in die Innenstadt und zu dem Wohngebäude, wo es zehn Stockwerke nach oben ging. Es waren Lofts, was vielversprechend aussah, aber das dumme war, dass wir durch uns Aufsehen erregten. Wir beeilten uns, in den breiten Gang zu kommen, wo schon ein Junge wartete.

  Er sah gut aus. Makani hatte dunkelbraune Haut, schwarze kurze Locken und hellbraune Augen. An seiner Nase konnte man erkennen, dass er aus Indien stammte; sie war etwas zu groß. Er hatte richtig viele Muskeln, was zu seinen Füßen nicht zu passen schien; die waren nämlich kleiner als meine. Und ich hatte Schuhgröße 38.

  Makani kam zielstrebig auf uns zu. „Alina?“, fragte er mich und als ich nickte, umarmte er mich kurz. Nervös sah er sich um. „Kommt, wir müssen die Treppe nehmen. Im Fahrstuhl sind Kameras“

  Er nahm uns unsere Taschen ab und wir gingen in den fünften Stock. Als wir ankamen, keuchten wir alle vier vor Erschöpfung. „Also…“, sagte er. „Das fängt ja schon mal gut an“

  Als er aufsperrte, musste er uns reinschieben, weil wir mit offenem Mund da standen. Wir hatten uns in den wenigen Stunden schon so sehr auf Ruinen und Straßen eingestellt, dass die Wärme, mit der das Apartment uns empfing, schon fast unangenehm war.

  Es war der Himmel. Zwar waren es keine Panoramafenster wie bei Hangover, aber die Fenster waren trotzdem groß, die roten schweren Gardinen waren zur Seite gezogen worden. Es gab zwei Sofas; eines, das weiße, stand direkt vor dem riesigen Ofen, das zweite stand vor einem Fernseher, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Er musste neu sein, er schien in der Luft zu schweben. Erst beim zweiten hinsehen erkannte ich, dass die Unterlage, auf der er stand, aus Glas war. Der Boden bestand aus hellbraunem Parkett, in der Mitte lag ein runder weißer Teppich. Die Wände waren alle hellblau.

  Fast nahtlos ging es in die Küche über, die mit allem möglichen ausgestattet und genauso unbenutzt war wie der Esstisch. Der Tisch war aus Glas, die Stühle aus Holz, mit einem schwarzen Fell überzogen. Es sah wahnsinnig gut aus.

  Makani führte uns ins Gästezimmer; es hatte ein so großes Bett, dass wir locker zu dritt drauf passen würden. Der Schrank war begehbar und der Traum jedes Mädchens. Es gab ein Badezimmer dazu, das ebenfalls nicht gerade kleinlich war. Regendusche, Poolbadewanne, zwei Waschbecken, duzende Regale und eine Toilette. Es war überall fast schon zu warm, nachdem wir beinahe einen ganzen Tag draußen in Eiseskälte verbracht hatten.

  Normalerweise sollte ich jetzt sagen, dass es mir zu schlecht ging, um das alles überhaupt wahr zu nehmen. Aber wenn man selber erst mal in diesem Paradies drinnen stand, haute es einen so um, dass man gar nicht anders konnte als einen Moment seine Sorgen zu vergessen. Bloß… nachdem dieser Moment vorbei war, kam es mit doppelter Härte zurück, als wolle man mich bestrafen, kurz eine Auszeit gemacht zu haben. „Ich hab noch ein Zimmer, wo ein Billardtisch, ein Kicker und die Waschmaschinen drinnen stehen. Die Putzfrau kommt immer Montag und Freitag, da müsst ihr kurz raus. In ein Cafe oder so“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin außer Sonntag von acht Uhr morgens bis neun Uhr abends bei der Arbeit, da seid ihr auf euch gestellt“

  Ich umarmte ihn. „Danke. Ich glaub, du hast gerade unser beschissenes Leben gerettet“ Um ihn ansehen zu können, musste ich meine Kopf in den Nacken legen, da er dreißig Zentimeter größer war als ich.

  Er winkte ab. „Kein Problem. Am besten richtet ihr euch ein bisschen ein“ Damit ging er raus.

  Wir gingen durch die Tür zurück ins Zimmer und ich ließ mich aufs Bett fallen. „Oh mein Gott“, murmelte ich.

  Shelly wirkte total verloren. „Ist ja ganz schön hier“, meinte sie leise, doch sie schien wieder mit ihren Gefühlen zu kämpfen. „Ich hab trotzdem Angst“

  Nickend stimmte Megan ihr zu. „Ich auch. Die haben uns schon mal gefunden. Wie haben die nur gemerkt, dass wir in der Hütte da waren?“, fragte sie und ärgerte sich offensichtlich.

  Kurz sah ich zu Shelly, im gleichen Moment, wie sie mich anschaute. Schnell senkte ich wieder den Blick. Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen. „Es tut mir leid“, stieß sie hervor. Überrascht sah ich sie nun doch an. „Ich wollte das nicht! Ich…“ Jetzt weinte sie wieder. „Alina, bitte! Es tut mir leid!“

  Megan sah verwirrt zu ihr, doch ich schüttelte nur den Kopf. „Scheiß drauf. Nicht mehr zu ändern, oder?“ Dafür hasste ich mich. Normalerweise war mir so ziemlich alles egal, weil ich einfach daran gewöhnt war, alles an mir vorbeiziehen zu lassen. Aber wenn ich fühlte, dann richtig. Und jetzt tat ich nur so, als wäre mir egal, dass Jadish tot war. Dennoch hatte ich kein Recht, meine Freundin dafür verantwortlich zu machen. Zumindest nicht allein. Beide hatten Schuld daran. Aber am allermeisten gab ich mir die Schuld. Ich hätte ihn abhalten sollen, aufzustehen. Dann wäre es nicht passiert. „Wirklich, Shelly. Ich mach dich nicht verantwortlich für das, was passiert ist“ Dabei sah ich ihr tief in die Augen.

  Nickend wischte sie sich die Tränen weg, doch sofort kamen neue nach. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken und ging ins Badezimmer, wo sie sich einschloss.

  Fragend sah mich Megan an. „Was ist hier los?“

  Ich schloss die Augen. Vor meinen Augen spielte sich alles wieder ab; der Mord, Jadish, die Hütte, die Explosion, das Blut, Jadish, das Blut, Jadish… Stöhnend hielt ich mir den Kopf, um die Bilder zu vergessen. Aber es ging nicht. Sie waren da und verfolgten mich. Es war schmerzhaft und bereitete mir Kopfhämmern. In einer Endlosschleife erlebte ich alles immer wieder.

  Dann spürte ich kühle Hände auf meinen. Zögernd öffnete ich die Augen. Vor mir kniete Megan und nahm meine Hände von meinem Kopf. Dann legte sie sie an meine Schläfen und massierte diese. Fast sofort wurde es besser. „Alles in Ordnung?“, fragte sie leise.

  Ich nickte. „Tut mir leid“

  Sie schüttelte den Kopf. „Muss es nicht. Aber bitte erzähl es mir“

  Mit verschwommenem Blick sah ich auf den hellen Parkett. „Als du duschen warst, hatten Jadish und Shelly einen Streit. Er hat sie provoziert, sie hat ihn geschlagen, beide sind aufgestanden… und dann… war da die Bombe… der Knall… der Rauch… und Jadish…“ Zitternd hielt ich mich an Megans Händen fest. Das Atmen fiel mir unendlich schwer.

  Megan hielt meinem Druck stand, beruhigte mich, indem sie meine Hand mit ihrem Daumen streichelte. „Was war mit Jadish?“

  Wieso quälte sie mich so? Aber im Inneren wusste ich, dass es gut wäre, darüber zu reden. Das war immer meine Taktik: Reden. So viel wie möglich, denn dann würde es zur Normalität werden. Und man würde mit der Normalität leben können. So einfach war das. „Er… es war überall Blut… und er… hat sich zu spät geduckt… alles war voller Blut… seine Hände… sie waren weg… er hat geblutet… überall so viel Blut…“, flüsterte ich und sah ihr dabei in die Augen. In ihren sah ich Schmerz und Mitleid. Ich wollte kein Mitleid, aber ich war zu schwach, um irgendetwas zu sagen.

  „Bist du deshalb voller Blut? Ist das seins?“, fragte sie sanft. Ich nickte. „Ok. Wir kriegen das wieder hin, ok? Alles wird gut“

  „Versprochen?“, hauchte ich.

  Sie nahm mich in den Arm wie ein kleines Kind. Und so fühlte ich mich gerade auch. „Versprochen“, flüsterte sie.

  Nach einer Ewigkeit ließen wir uns wieder los und ich legte mich auf das Bett, während Megan zu Shelly ging. Es war ein Wasserbett und so gemütlich, dass ich nicht einmal dazu kam, mich zuzudecken, da war ich schon eingeschlafen.

 

  Es war schon dunkel, als ich wieder aufwachte. Neben mir lag Shelly, die Haare zu einem Pferdeschwanz zurück gebunden, die Augen vom Weinen geschwollen und die Schnitte an ihrer Wange gerötet. Selbst im Schlaf sah sie erschöpft aus. Irgendwie resigniert.

  Jemand hatte uns zugedeckt, ich lag unter der weichen Decke, die sich wie Satin anfühlte. Grüner glatter Satin. Aber dennoch warm. Merkwürdig.

  Anders als heute Morgen war ich nicht aufgewacht und hatte nicht gewusst, was passiert war. Nein. Ich wusste es sofort. Nur wusste ich nicht, was schlimmer war.

  Leise stand ich auf und versuchte, Shelly nicht aufzuwecken. Auf Zehenspitzen ging ich durch das dunkle Zimmer, zur Tür, die auf den Gang führte. Vom Weiten hörte ich, wie jemand Klavier spielte.

  In dem Zimmer, von dem Makani gesprochen hatte, standen alle möglichen Sachen; drei Staffeleien, fünf Gitarren, eine bizarre Ansammlung von Nagellacks und ein Klavier. Dazu noch Kicker, eine Stereoanlage und so weiter.

  Und in der Mitte des Raumes, in einem schwarzen Kleid gehüllt, saß Crystal und spielte das traurigste Lied, das ich je gehört hatte. Irgendwoher kannte ich es, doch es wollte mir nicht einfallen.

  Crystals Haare hatte sie gelockt und zu einer Wasserfallfrisur gesteckt. Ihre schlanke Figur war in einem schwarzen Kleid versteckt; das obere Teil des Kleides war an ihrem Bauch locker, auch ihre Brüste konnte man durch die Falten nicht sehen. Nur ihre langen Beine wurden betont, da das Kleid eng und kurz vor ihrem Po endete. Aus Erfahrung wusste ich, dass Crys keinen Schlüpfer trug, um sich nicht zu viel ausziehen zu müssen. Sie war eine Alkoholikerin, genau wie ich. Nur war sie viel schlimmer. Ich schlief ab und zu mit Jungs, wenn ich dicht war, doch sie bumbste pro Nacht mindestens fünf Typen. Ohne Kondom. Wenn sie die Pille vergaß, nahm sie die Pille danach. Und im Gegensatz zu ihr war ich ein braves kleines Mädchen, das abends den Eltern ein Gute-Nacht-Bussi gab.

  Und ich übertrieb nicht. Es war so. Sie war die größte Schlampe in München. Jeder kannte sie. Und fast alle hatten sie schon in der Kiste. Oder im Gebüsch. Oder auf der Tankstellentoilette. Man konnte sich das eigentlich aussuchen bei ihr.

  Wir hatten einen indirekten Wettkampf, wer mehr Typen vögelte, den ich aufgegeben hatte, nachdem die Vergewaltigung passiert war. Ich wusste von dieser Nacht fast gar nichts mehr, deshalb konnte ich es nach einer Zeit verdrängen.

  Megan und Makani saßen auf dem Sofa und hörten Crys zu. Erst, nachdem ich mich zu ihnen setzte, hörte sie auf zu spielen. „Endlich bist du wach“, beschwerte sie sich. „Ich hab fast acht Stunden warten müssen“

  Müde sah ich in die Runde. „Wie viel Uhr haben wir denn?“

  Makani sah auf sein Handy. „Gleich halb neun. Schläft Blondi noch?“

  Ich rollte mit den Augen. „Echt, jeder nennt euch Blondi“, sagte ich zu Megan. „Und ja, tut sie“ Der letzte Satz war an den einzigen Jungen im Raum gewandt. „Was hast du da gespielt?“

  Sie zuckte mit den Schultern. „Read all about it. Ich hab es verlängert und noch düsterer gemacht“

  „Wann das denn?“, fragte ich ungläubig.

  Crys sah mich böse an. Sie mochte es nicht, wenn man sie unterschätzte. „Als wir beide in der Klinik waren und du in der Ecke gehockt und deinen Entzug gehabt hast. Wenigstens hab ich was Nützlicheres gemacht als geheult“, zickte sie mich an.

  Beruhigend hob ich meine Hände. „Schon gut. Hört sich schön an. Aber es ist so traurig“ Es war eine Frage, und das hatte sie auch verstanden. Nur wollte sie keine Antwort geben.

  Makani stand auf. „Wegen dem Blondi – da ich mal denke, dass ihr auch mal raus wollt, verändern wir, so gut es geht, euer Aussehen. Der Friseur kommt um neun, er bleibt bis zehn, dann hat er Feierabend. Und anschließend geht ihr Shoppen. Jedes Mal, wenn ihr rausgeht, müsst ihr euch schminken und so verändern, dass man euch nicht erkennt. Klar?“ Sein Ton war fast schon verängstigt. „Ich hab keinen Bock, auf der Abschussliste der Russen-Mafia zu stehen“

  Megan und ich nickten. „Wir gehen heute auch noch zu einem Geschäft… man, mir fällt der Name nicht mehr ein. Da könnt ihr eure Hautfarbe ändern“, erklärte Crys. „Und da ich weiß, wie sehr du dir Piercings und Tattoos wünschst, Alina, spendier ich dir welche“

  Hier muss ich hinzufügen, dass Crystal reich war. Ihr Charme brachte Leute dazu, Dinge für sie zu tun. Zum Beispiel der Mann aus Amsterdam, der ihr kostenlos pro Monat alle möglichen Drogen schickte, die sie weiterverkaufen konnte. Das war eines ihrer Lieblingshobbys; dealen.

  Ihr Leben bestand, seit sie elf war, eigentlich nur aus Drogen, Alkohol und Geld. Wie sie irgendwann mal erwachsen werden sollte, wusste ich nicht. Ich war mir nicht mal sicher, ob sie bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr überleben würde.

  Es war verführerisch, die ganzen Sachen zu bekommen, die ich schon immer haben wollte, doch es war viel zu viel passiert, als dass ich mich darüber hätte freuen können. Eigentlich wollte ich nur noch schlafen und weinen. Und nach Hause gehen.

  „Hey, was ist los? Ich dachte, du freust dich?“, fragte sie, leicht beleidigt. Wir waren Kanaken, bei uns war es unhöflich, sich über Geschenke nicht zu freuen.

  Ich nahm sie in den Arm. „Das tu ich doch! Danke“ Ich gab ihr einen Bussi und lächelte.

  Zufrieden nickte sie. „Gut, dann würd ich sagen, warten wir auf den Friseur. Er sollte eigentlich gleich da sein“, meinte sie und sah auf die Uhr an der Wand.

  Wie auf Stichwort klingelte es. Makani machte auf und da stand der schwulste Italiener, den ich je gesehen hatte. Er war auf eine Weise richtig putzig und auf jeden Fall sympathisch. „Crystal“, rief er übertrieben und gab ihr zwei Bussis auf die Wange. „Wie geht’s dir, Dear?“

  „Gut, Giovanni“, meinte sie lächelnd. „Sie dir mal diese Haare an“ Sie zeigte auf mich und Giovanni kam auf mich zu.

  „Bella, warum stecken du deine Haare zurück?“, fragte er fassungslos und machte meinen Pferdeschwanz auf, den ich mir, bevor ich in den Raum gekommen bin, gemacht habe. „Was für Haare“ Ein Seufzen von ihm. Unsicher sah ich ihn an. „Du wollen was machen?“

  Fragend sah ich meine Freundin an. „Haarverlängerung auf jeden Fall“, sagte sie bestimmend. „Ich finde, es würde geil aussehen, wenn du ihr die oberen Haare dunkelrot färbst und die künstlichen Haare tiefschwarz. Wie fändest du das?“ Anerkennung erheischend blickte sie zu ihm.

  Er nickte begeistert. „Das perfekt! Sehr gute Idee, was meinst du, Bella?“ Er wartete gar nicht ab. Er zog den Stuhl vom Klavier weg und drückte mich drauf. „Irina, wo bleiben du?“, rief er. „Ich brauchen meine Werkzeug!“

  Eine schöne Italienerin kam herein geeilt. Sie war höchstens achtzehn; ihre schwarzen Haare waren zu einer aufwendigen Frisur geflochten und die brauen Augen von weißem Kayal, aufgeklebten pinken Wimpern und hellrosa Lidschatten umrandet. Ihre Kleidung war schwarz, außer ihr Halstuch, das war ebenfalls rosa. „Schon gut, Gio!“, sagte sie genervt. „Ich komme ja“ In ihren Händen waren zwei riesige Koffer, aus denen Giovanni jetzt ein großes Tuch herausholte, wie bei einem Friseur eben. Er legte es mir um und bürstete meine Haare.

  Dann spürte ich eine Stunde lang nur noch ein starkes Ziehen, bevor er zufrieden war und anfing, meine echten Haare mit Haarfarbe zu bestreichen. „Es werden wundervoll aussehen“, sagte er und gab mir einen Wangenkuss. Sofort zuckte ich zurück, doch das bemerkte er nicht.

  Während Giovanni sich an Megan und anschließend an Shelly ausließ, dachte ich still darüber nach. Warum war ich zurück gezuckt? Dann musste ich daran denken, was passiert war, bevor ich ohnmächtig geworden war. Hatte er mich… Nein, das war unmöglich. Es war unmöglich, dass mir das noch einmal passierte. Die Wahrscheinlichkeit war viel zu niedrig.

  Dann hatte ich Lizzy vor Augen und Erinnerungen überschütteten mich, erfüllten mich so sehr mit Sehnsucht und Heimweh, dass mir Tränen in den Augen traten. Schnell schloss ich sie und erlebte alles noch einmal, was ich mit der Kleinen erlebt hatte.

  Einmal waren wir in Kroatien. Die WG und ich. Wir waren in einem Restaurant und ich hatte sie auf dem Schoß, las ihr aus einem ihrer Lieblingsbücher vor. Dann durfte sie heimlich aus meiner Cola trinken und jedes Mal, wenn ihre Eltern, also meine Betreuer, herschauten, fing sie an zu kichern. So lachen kann nur ein Kind. Dabei leuchteten ihre blauen Augen. Natürlich wussten Arana und Mike, was wir da taten, doch sie erduldeten es. Lächelten darüber. Sie fanden es genauso schön wie ich, Lizzy glücklich zu sehen.

  Wir gingen oft am Strand spazieren. Wenn sie Sandburgen baute, war ich im eiskalten Meer drinnen und genoss die Sonne. Es war eigentlich viel zu kalt dafür, doch ich war so lange nicht mehr in meinem Heimatland gewesen, dass ich gar nicht anders konnte, als sofort ins Meer zu springen.

  Es war mitten im Winter gewesen. Zu der Zeit schlief ich sehr viel, mehr als zu der Zeit, wo das mit uns passierte. Mit dem Mord, mein ich. Jedenfalls ist Lizzy einmal ungeduldig zu mir ins Zimmer gestürmt und hatte mich dadurch aufgeweckt, dass sie meinen Namen rief und mir über die Wange strich. Es war vielleicht zwölf Uhr mittags gewesen.

  Bei uns daheim in Langenfeld hüpften wir oft Trampolin und ich spielte mit ihr. Der Junge, der mit mir dort lebte, Kilian, mochte die Kleine lieber als mich, weil sie ihn schon länger kannte. Und weil er wahrscheinlich auch witziger war als ein depressives Mädchen.

  Nach der Geburt von ihrem kleinen Bruder Miro war sie sehr eifersüchtig. Sie brauchte mehr Aufmerksamkeit als Kilian und ich ihr geben konnte. Zum Glück kam sie dann in den Kindergarten, wo sie lernte, mit anderen Kindern zu teilen und umzugehen. Dann wurde es wieder besser.

  Dann waren wir Campen in Österreich. Dort waren vor allem Kilian und ich öfters zusammen, da wir am Anfang fast keinen kannten. Aber er war besser als ich, sich anzupassen, und irgendwann war ich dann meistens nur im Zelt und tat gar nichts. Es war eine schöne Zeit. Vor allem meine Englischkenntnisse sind besser geworden.

  Wir waren auch schon in Spanien gewesen. Das war der Urlaub, bevor ich gegangen war. Mein letzter mit meiner WG.

  Öfters dachte ich daran, was geschehen wäre, wenn ich dort geblieben wäre. Auch jetzt, als ich mit juckender Kopfhaut wegen der Haarfarbe dasaß, dachte ich an diese Frage. Was wäre, wenn? Wahrscheinlich wäre ich dabei, meinen M-Zug fertig zu machen, würde mich cool fühlen, wenn ich mal ab und zu rauchte und hätte Freunde, die noch nicht wegen Alkohol oder Drogen in irgendeiner Klinik gewesen waren. Vielleicht wäre ich aber auch nicht von meinen Depressionen weggekommen. Und es hörte sich zwar merkwürdig an, doch ich war lieber die meiste Zeit high als immer depressiv.

  Und ich liebte es, betrunken zu sein. Manche wurden aggressiv und provozierten, andere wurden melancholisch und weinten, aber ich wurde einfach nur lustig und fiel irgendwann einfach um.

  Trotzdem wäre ich gerne wieder in Langenfeld. In meiner Schule, bei meinen Freunden, bei Lizzy, Miro und Kilian.

  Doch damals hatte ich keinen Grund zu bleiben. Und kein Grund zu Bleiben ist ein guter Grund zu gehen.

Kapitel 5

 

  Es sah gut aus. Gewissermaßen. Die Haare hatte er mir noch zu einem linken Pony geschnitten, doch es war ganz ok. So war ich noch nie rumgelaufen. Ich machte mir nichts aus Designerklamotten oder geile Frisuren. Es sah zwar gut aus, doch es interessierte mich einfach nicht.

  Megan hatte jetzt schokobraune Haare und Crys hatte ihr einen Lockenstab gekauft. Ihre Haare waren in Stufen geschnitten. Sie hasste es. Sie liebte ihre blonden Haare, doch nur mit viel Anstrengung konnte sie Giovanni und Crys dazu überreden, ihr die Haare nicht fuchsrot zu färben.

  Shelly aber war am schlimmsten dran. Ihre schönen langen blonden Locken hatte der Italiener kurz geschnitten und pechschwarz gefärbt. An der rechten Seite war es ganz kurz, auf der linken Seite fiel ein langer Pony. Es sah gut aus, doch sie hatte fast einen Wutanfall erlitten, als er ihre Haare zu einem Zopf gebunden und einfach abgeschnitten hatte. Letztendlich aber war sie zufrieden.

  Crystal machte Freudensprünge; sie kapierte auch nicht wirklich, warum wir uns nicht freuten. Schließlich waren wir von der Russenmafia zusammen geschlagen worden und die verfolgten uns jetzt. Das war nicht wirklich was, was man einfach mal so beiseite schieben konnte. „Du wirst schon noch wieder fröhlich werden“, meinte sie. „Spätestens, wenn du dein geliebtes Tattoo und deine ganzen Piercings hast“

  „Muss ich mir die Haut schwarz sprayen lassen?“, fragte ich. „Reicht nicht dunkelbraun?“

  Sie nickte gleichgültig. „Von mir aus. Aber wenn sie dich erkennen – zeig nicht mit dem Finger auf mich“

  Mit Wangenküssen und Umarmungen gingen dann Giovanni und Irina wieder. Aus der Küche hörte man Makani herumhantieren. „Habt ihr Durst?“

  „Hast du Alk?“, rief ich.

  Er lachte. „Ja, hab ich. Aber erst, wenn ihr zurück seit“ Man hörte seine Schritte, dann stand er in dem Zimmer. „Zum Glück hat die kleine Italienerin aufgeräumt. Hab keinen Bock, Haare hier liegen zu haben“

  Crystal sah ihn streng an. „Wieso weiß ich nichts davon, dass einer deiner Betthäschen die Assistentin von Gio ist?“, fragte sie und stemmte ihre Hände in die Hüften.

  Er dachte scharf nach. „Deswegen kam sie mir so bekannt vor. Jaa, das war die, die so gut blasen kann!“ Er lachte. „Sorry, hab mich echt nicht an sie erinnert“

  Sie schüttelte fassungslos den Kopf. „Du bist echt ´ne männliche Schlampe“

  Er nickte. „Da haben wir ja eines gemeinsam“

  Crys´ Augen verengten sich. „Bei dir sieht man, dass der Hirntod jahrelang unbemerkt bleiben kann“

  Makani sieht sie stirnrunzelnd an. „Sag mal, kann´s sein, dass du da ein graues Haar hast?“

  Megan fing an zu grinsen. „Wenigstens hab ich noch Haare“ Provokativ zog Crystal eine Augenbraue hoch.

  Es machte Spaß, den beiden so zuzuhören. „Oh ja, vor allem an deiner Fotze“, feixte Makani

  „Im Gegensatz zu dir weiß ich, wie man einen Rasierer benutzt“, zischte sie.

  „Echt jetzt? Sieht man unter deinen Armen gar nicht“

  „Der war schwach“, lachte Crys und umarmte ihn. Beide lachten. Das hatten sie damals auch gemacht, als ich mit ihm telefoniert hatte und er daneben stand. Normalerweise gingen ihnen nach ein paar Minuten die Sätze aus und alles war wieder gut.

  Er sah zu ihr herunter. „Hättest du wohl gerne“ Kurz machte er Pause. „Haste aber nicht“

  Sie schubste ihn weg. „Fuck you!“ Dann wandte sie sich uns zu. „Wir gehen“

  Wir standen auf und strichen uns über die Haare, wobei Shelly ziemlich schnell damit fertig war. „Wenn Alina nicht schwarz wird, darf´s ich dann sein?“, fragte sie schmollend. Zwar war es eine etwas merkwürdige Vorstellung, eine Schwarze mit blauen Augen zu sehen, doch wahrscheinlich kaufte Crys ihr in ihrem Kaufrausch noch Kontaktlinsen. Würde mich nicht wundern.

  Es war der erste normale Satz, den Shelly sprach, seit das passiert war. Doch sie bekam einen schmerzhaften Ausdruck im Gesicht, als sie mich ansah. Schmerz und Schuld. „Du bist nicht Schuld, Shelly“, sagte ich leise. Diesmal meinte ich es so. „Ich werfe dir nichts vor“

  Sie nickte. „Danke“ Man sah ihr an, dass sie es glauben wollte, aber nicht konnte.

  „Dann mal los“, sagte Crys und ging voraus. Wieder mussten wir die Treppe nehmen, doch ohne schwere Taschen ging es viel leichter. Draußen holte ich meine Zigaretten raus und gab Shelly und Megan jeweils eine. Wir zündeten sie uns an und gingen zu Crystal ihr Auto. Sie sah aus wie achtzehn, aber tatsächlich war sie gerade einmal so alt wie Shelly und ich. Dennoch hatte sie ihren Führerschein, den sie in Bosnien bekommen hatte, und einen gefälschten Ausweis von Sami, einem Kumpel von uns. Darin war sie schon einundzwanzig und konnte überall reinkommen.

  In dem Auto war es sauber und der Geruch von Bruno Banani hing in der Luft, was daher kam, dass das Crys´ Lieblingsparfüm war. „Zuerst zu dem Air-Brush-Tannin, dann zum Tätowierer und Piercer und dann geht’s auf zum Shoppen“ Fröhlich startete sie den Motor ihres pink-schwarzen Mercedes und schoss die Straßen entlang.

  Bei ihr auf dem Beifahrersitz zu sein war für mich nicht wirklich angenehm; sie wich Gegenständen nur im allerletzten Moment aus und hielt sich fast nie an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Aber sie wurde auch fast nie geblitzt. Erst nach einigen Monaten, als wir uns kennen gelernt hatten, hatte sie mir verraten, dass sie Freunde hatte, die ihr per SMS immer schickten, wie sie zu fahren hatte, wenn gerade irgendwo irgendwelche Blitzer oder Kontrolleure waren. Sie hatte ihren Führerschein schon mit zwölf, wir hatten uns kennen gelernt, als wir zu zweit auf derselben Station in der Psychiatrie waren.

  „Crys, fahr bitte ein bisschen langsamer“, bat ich sie, doch sie fuhr noch etwas schneller, um mich zu ärgern. „Fuck you“ Ich lachte.

  Bei einer Stelle schnellte ihre Hand vor und gab mir eine Ohrfeige, sodass mein Kopf zur Seite flog. „Was war das denn?“, schrie ich sie an.

  Sie zuckte mit den Schultern. „Sei dankbar“

  „Dankbar? Dafür, dass du mich geschlagen hast?“, schrie ich.

  Nickend drosselte sie ihr Tempo. „Da war ein Blitzer“, sagte Megan furchtvoll.

  Crystal sah sie im Rückspiegel an. „Keine Sorge, euch hat man nicht gesehen. Es ist meine Schuld. Ich hab vergessen, dass hier heute einer ist“ Leise fluchte sie. „Fast hätten sie dich drauf gehabt, Alina“ Ehrlich entschuldigend sah sie mich an. „Tut mir leid“

  Mit einer Hand strich ich über meine brennende Wange. „Das nächste Mal schlägst du nicht so fest“ Finster sah gerade aus.

  Bei ihrem Tempo waren wir innerhalb von fünf Minuten da und stiegen vor dem Air-Brush-Center aus. Sobald wir aus dem Auto waren, konnte man sehen, wie beliebt sie war. Die Straßenkids, die hier um der Ecke ihre Schlafsäcke hatten, kamen her und umarmten sie. „Hast du was?“, fragte ein Junge, der wie sechzehn aussah.

  Meine Freundin holte aus ihrer Tasche einen Beutel voller Pillen und schenkte ihm drei Stück. „Aufteilen“, ermahnte sie.

  Der Junge nickte mir zu. „Alina, lange nicht gesehen“

  Verwirrt sah ich an. „Kennen wir uns?“

  Grinsend ging er weg. „Du warst betrunken“, flüsterte Crys und zerrte mich nach drinnen.

  „Dann will ich bitte keine Einzelheiten wissen“, bat ich sie und sie kicherte auf so mädchenhafte Weise, dass man erkannte, wie alt sie war.

  Jeder wusste, dass wenn ich betrunken war, nur Mist heraus kam. Egal, ob ich mal so aus Spaß mich bei einem der Stripclubs anmeldete, die im Hinterraum Minderjährige strippen ließen, noch dass ich mir so aus Spaß an der Freud mal eben so Heroin spritzte oder Fenster einschlug. Es war einfach beschissen. Das ich mit allen möglichen Jungs schlief, wenn ich mit Crys unterwegs war, mal außen vor.

  Diese Zeiten hatte ich hinter mir gelassen. Ich schämte mich dafür. Es tat mir leid, dass ich ein paar Nächte lang weg war und meine Mutter solange nicht schlafen konnte, weil sie Angst um mich hatte. Dass ich zwei Schuljahre lang statt lernen Alkohol getrunken und Drogen genommen hatte. Dass ich high in den Unterricht gegangen war. Und vor allem, dass jetzt jeder von mir dachte, dass ich eine Schlampe war. Ich konnte es ihnen nicht verdenken. Sie hatten Recht. Ein Mädchen, das alle paar Wochen pro Nacht fünf Typen knallte, war eine Schlampe.

  Von Megan wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als sie mich am Ärmel zog und wir zu den Kabinen gingen. „Was?“

  Sie rollte mit den Augen. „Hör doch mal zu, du Behinderte. Ich bekomm schwarz, Shelly dunkelbraun und du ein Mittelbraun“

  Shelly lächelte leicht. Vorsichtig. Als wüsste sie gar nicht mehr, wie es ging. „Wir werden Kanaken“

  Crystal und ich sagten beide gleichzeitig: „Fresse“ Wir mochten es nicht besonders, von anderen so genannt zu werden. Wir sagten das zwar selbst zu uns, doch trotzdem war es beleidigend. Sofort hörte sie auf zu lächeln und schlang ihre Hände um ihren Bauch.

  Wir wurden vorgelassen. Das war ein Vorteil, wenn man Crys kannte; man konnte eigentlich alles bekommen, was man wollte. Fast gleichzeitig kamen wir in die Kabinen. Unsere Haare wurden von einer dicken Schutzfolie umgeben und nackt stellten wir uns rein. Als ich, kurz bevor das Sprayen losging, an mir herunter schaute, nahm es mir den Atem; die blauen Flecken waren riesig! Dann hörte ich die Durchsage und schloss schnell die Augen. Von allen Seiten kam das Spray und wie immer, wenn meine Augen zu waren, musste ich dem Drang widerstehen, sie nicht zu öffnen.

  Nach zehn Minuten, wo ich einfach nur dastand und so darüber nachdachte, wie die nächsten Jahre weiter gehen sollten, zog ich mich wieder an und blickte in den Spiegel. Das Braun war schön; so sah ich aus, wenn ich in Kroatien Urlaub machte. Mein Vater hatte diese Farbe. Die Haare passten dazu fast perfekt, denn das rot sah man nur im Licht ganz stark; so aber sah es aus, als hätte ich ganz schwarze Haare.

  Nur meine Klamotten straften diesem Bild Lüge; ich sah aus wie ein ganz normales Mädchen, das sich stylte, um cool zu wirken, jedoch nicht das Geld für die dazu passenden Klamotten hatte.

  Als ich Megan sah, dachte ich mir, dass sie wirklich aussah wie eine echte Schwarze. Ihre Haare und selbst ihre Kleidung strahlten etwas Afrikanisches aus. Das war krass.

  Shelly sah wunderschön aus. Die Haut gab einen tollen Kontrast zu ihren blauen Augen ab und die Haare passten ebenfalls dazu. Sie sah aus, als würde sie direkt aus Arizona oder Sydney kommen.

  Crys wirkte zufrieden und unterhielt sich noch eine gefühlte halbe Stunde lang mit der Frau hinter der Rezeption. So lange waren wir drei draußen und ich unterhielt mich mit dem Typen, an den ich mich nicht erinnern konnte. Er hieß Jean und war wirklich erst sechzehn. Er erzählte, dass er schon seit vier Jahren auf der Straße lebte. Als er mir das sagte, dachte ich mir, dass ich wirklich keinen einzigen Tag mehr frei sein würde. Ich würde nie wieder nach Hause zu kommen, zu Lizzy, zu meiner Familie… und genauso wenig Shelly oder Megan.

  Gerade als mir die Tränen in die Augen stiegen, bewahrte mich Crystal vor einer Blamage. „Los, wir müssen Shoppen. Wenn ihr die nächste Zeit bei Makani bleibt braucht ihr Wechselkleidung. Danach kannst du dir von mir aus so viele Piercings und Tattoos stechen lassen, wie du willst, Alina“ Sie lächelte und nahm meine Hand. „Komm“

  Wir stiegen wieder ein und fuhren zum Marienplatz. Sie parkte etwas weiter von der Einkaufsmall entfernt, doch es war nicht sehr weit zu laufen. Als allererstes gingen wir zum New Yorker. Sie wusste, dass das mein Lieblingslabel war. Danach würden wir zu ihren Läden gehen; Gucci, La Coste, Prada und andere Designermarken.

  Sie hatte ihre Kreditkarte dabei; mit der war sie neunzehn Jahre alt und sie hatte unbegrenztes Limit. Oft hatte ich sie darum beneidet, doch immer, wenn sie mir angeboten hatte, mit mir einkaufen zu gehen, hatte ich abgelehnt. Ich hasste es, so viel geschenkt zu bekommen.

  Jedenfalls gingen wir gemeinsam durch die Regale und am Anfang hielten Megan, Shelly und ich uns sehr zurück. Erst als Crys beleidigt weggehen wollte, griffen wir zu. Und nach zehn Minuten ließen die beiden ihre Hemmungen fallen. Bei mir brauchte es etwas mehr; normalerweise war mein Kleiderschrank halb leer und ich besaß allerhöchstens zwei Paar Schuhe. Doch nachdem die beiden mit der ersten Ladung in die Umkleidekabinen verschwunden waren, fing sie an, mir Sachen auszusuchen und in die Hände zu drücken. Und erst, als mir die Klamotten schon fast herunterfielen, schob sie mich in die Umkleidekabine.

  Fast alles, was sie mir ausgesucht hatte, sah gut aus. Nur einige Dinge passten zu meiner schokobraunen Haut nicht, zum Beispiel das hellrosa Kleid, das man so gar nicht im Winter tragen konnte. Was ich aber gut fand war, dass ich jetzt weiß tragen konnte. Obwohl ich Kroatin war, war meine Haut normal wie bei einer Deutschen. Nur wenn ich eine Zeit lang in der Sonne war erkannte man meinen richtigen Teint.

  Normalerweise hätte ich jetzt aufgehört einzukaufen. Aber Crys nötigte mich dazu, noch mehr anzuprobieren. Wenn ich so daran zurück denke, schätze ich, dass ich zwei Stunden nur in der Umkleidekabine gestanden war und mich umgezogen hatte. Denn meine Freundin hatte immer mehr Klamotten gebracht. Nach dem dritten Mal hatte ich sie gefragt, ob sie den ganzen Laden durchging, doch sie hatte sich eine Antwort gespart.

  Als wir den Laden verließen wollte ich mich eigentlich nur hinsetzen, doch Crystal scheuchte uns gleich weiter in den Gucci-Laden, der direkt gegenüber lag. „Crys, das wird zu teuer“, protestierte ich. „Du hast doch schon dort über tausend Euro ausgegeben“

  Kopfschüttelnd zog sie mich weiter. „Schatz, du weißt, dass mein Tageseinkommen mindestens fünftausend Euro sind. Die Betonung liegt auf mindestens! Jetzt hör auf rumzuheulen und genieß es“

  Drinnen fühlte ich mich vollkommen fehl am Platz. Alles sah so teuer aus, war so edel, dass ich am liebsten wieder gegangen wäre. Doch Crys kannte sich natürlich total gut aus und plauderte mit dem Verkäufer. Dann wies sie uns an, in die Umkleiden zu gehen und dort zu warten. Es wiederholte sich, was im letzten Laden geschah; Klamotten werden reingereicht, es wird angezogen, begutachtet, wieder ausgezogen. Dann, nach einer halben Ewigkeit, ging sie die Kleidung bezahlen und wir probierten Schuhe an; die meisten glänzten und waren mehr wert als alles, was ich momentan anhatte.

  „Gefallen euch welche?“, fragte meine Bonzen-Freundin und zückte mit hochgezogenen Augenbrauen ihre Kreditkarte.

  Shelly hatte etwas Farbe ins Gesicht bekommen. Klar, für sie war es der Wahnsinn, alles zu bekommen, was sie wollte. „Wie viel Geld hast du überhaupt?“

  Auch darauf antwortete Crys nicht.

  Es wurde eine lange Nacht. Wir gingen in eigentlich alle Läden, die es hier gab, auch in Elektronikläden, wo wir neue Handys und Laptops bekamen. Was ich gut fand, denn ich schrieb Bücher. Noch hatte ich keines veröffentlicht, aber sie waren nicht schlecht.

  Da war noch eine Vorliebe, die ich meist geheim hielt; ich liebte es, Sims zu spielen. Das wusste Crystal natürlich und kaufte mir die ganzen Erweiterungen. Auch andere Spiele; ich liebte Wimmelbildspiele und solche Dinge. Wo man sich so richtig vertiefen konnte.

  Irgendwann hatten die Läden natürlich geschlossen. Das war zu der Zeit, wo eigentlich jeder schlief, und das wollte ich eigentlich auch tun. Doch dann sagte Crys etwas, was unser Standardspruch war: „Schlafen kannst du, wenn du tot bist“ Also gingen wir zu einer Tankstelle mit sauberen Toiletten (es gab auch Duschen und so, dafür musste man natürlich ordentlich bezahlen) und zogen uns dort um. Noch nie hatte ich mich so gestylt, denn Crys hatte auch Schminke gekauft und zeigte mir, wie ich mich zu schminken hatte. Da ich das nicht oft tat, war es ungewohnt. Mein Gesicht fühlte sich schwer an. Aber es gefiel mir, wie ich aussah. „Jetzt noch Piercings und Tattoos, was meint ihr?“ Breit lächelnd sah sie in die Runde.

  Auch Megan und Shelly waren völlig erschöpft. „Ey, sorry, aber ich bin echt…“

  Crys unterbrach sie. „Davon will ich nichts hören“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Was ist nur los mit euch? Ihr könnt alles haben, was ihr wollt!“

  Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare. „Crys, wir werden von der Maffia verfolgt. Wir können nicht mehr nach Hause. Klar ist es toll, dass wir jetzt alles bekommen, aber was wollen wir damit?“

  Sie nickte langsam. „Aber ihr könnt es nicht rückgängig machen, oder? Ich versuche grade nur, euch aufzuheitern! Also kommt, keine Widerrede“ Mit bösen Blick ging sie voraus und wir dackelten ihr wie geprügelte Hunde hinterher.

  Es war vielleicht vier Uhr morgens und es wunderte mich, dass es noch Läden gab, die offen hatten. Bordells und Kneipen, ja ok. Aber Tattoostudios?

  Immer wieder wunderte ich mich, wie sie mit jedem Ladenbesitzer Smalltalk führte. Der Mann sah gruselig aus; langer schwarzer Bart, Glatze, voller Tattoos und Piercings. Er hatte etwas von einem Biker. „Die Süßen dort wollen alles“ Verführerisch sah sie ihn an.

  „Wie alt sind die denn?“, fragte er misstrauisch. „Sehen nicht so aus wie achtzehn“

  „Seit wann bist du denn so ein Spießer, Balzac? Was soll das?“, schmollte Crys. Dabei sah sie so ungewohnt aus, dass ich fast gelacht hätte. Sie war ein selbstbewusstes Mädchen, doch konnte richtig unschuldig wirken, wenn sie etwas wollte.

  Er seufzte. „Na schön. Geld ist Geld, wa?“ Balzac wechselte plötzlich in den Berliner Dialekt, was noch mehr zu ihm passte. „Wer zuerst?“

  Megan und Shelly zeigten beide auf mich und lachten leicht. So war es eigentlich immer. Wenn wir versuchten, uns selber zu piercen, da war ich auch die erste. „Na schön“, seufzte ich.

  „Welche willst du?“, fragte Crys. „Und scheiß aufs Geld. Du weißt, wie viel ich hab“

  Nickend überlegte ich. „Von den Piercings Zunge, Lippe unten rechts und Bauchnabel“

  Er zeigte mir die Piercings und ich suchte mir für die Zunge einen schwarzen und für Lippe und Bauchnabel einen silbernen Stecker raus. „Tattoo erklär ich dann“, sagte ich leise. Leicht nervös kaute ich an meine Fingernägel, doch Megan zog meine Hand vom Mund weg.

  Balzac wies mich an, mich auf eine Liege zu legen, und machte sich ans Werk. Zuerst Bauchnabel, was wirklich fast gar nicht weh tat. Dann Zunge – da hatte ich eine Betäubung. Und Lippe hatte ich mir selbst schon dreimal gestochen, das tat auch nicht weh. „Also, was für ein Tattoo willst du?“, fragte er mich mit einem Tonfall als sei ich noch ein Kind. Naja, war ich für ihn bestimmt auch. Er sah aus wie vierzig.

  „Also, ich will eine silbern-goldene Schlange. Der Kopf auf meinem Fuß, dann schlängelt sich das so mein ganzes Bein hoch und der Schwanz endet dann hier so“ Ich zeigte auf meinen Bauch.

  Er lachte. „Das wird dauern. Bist du sicher, dass du das aushältst?“, fragte er.

  Unsicher nickte ich. Dann musste ich mich auf den Stuhl legen, mein Bein wurde angehoben und er fing es.

  Es tat richtig weh. Crys stand neben mir und hielt meine Hand. Er setzte nur ab und zu ab, doch es war schlimmer, wenn er kurz unterbrach, als wenn er die ganze Zeit weiter machte. Ich kämpfte am Anfang mit den Tränen, dann hatte ich mich daran gewöhnt. An meinem Knie und an der Hüfte war es dann wieder schlimmer, aber am Bauch spürte ich fast nichts.

  Die Assistentin von ihm nahm sich derweil Shelly vor, die sich nur Lippenbändchen stechen und sich nach mir etwas tätowieren wollte. Ich glaube, eine hellrote Rose unter ihrer linken Brust. Megan wollte Lippe, Bauchnabel, Zunge und an ihren beiden Wangen. Die Begriffe von den Piercings konnte ich mir noch nie merken.

  Als ich fertig war blieb ich noch ein bisschen liegen. „Hey“, grinste Megan und kam rein. „Rate, mit wem ich grade schreib“

  Ich sah sie stirnrunzelnd an. „Ich wette, du sagst es mir gleich“, gähnte ich. Müdigkeit übermannte mich, doch Megan schien wacher als je zuvor. Wenn ich sie so von der Ferne aus ansehen würde, könnte ich sie wahrscheinlich nicht erkennen. „Also, schieß los“

  Sie zog die Augenbrauen hoch und ein breites Lächeln lag auf ihren Lippen. Wahrscheinlich dachte sie, dass sie es damit spannender machen würde. „Mustafa“, lachte sie.

  Es war, als hätte sie mir in die Fresse gehauen. Lange sah ich sie an, doch sie bemerkte es nicht einmal. „Seit wann schreibst du wieder mit ihm?“, fragte ich leise.

  Sie sah mich fragend an. „Seit er sein Handy zurück hat. Von den Bullen“, antwortete sie langgezogen.

  Etwas zog sich in mir zusammen. Er hatte sein Handy etwa einen Monat, nachdem die Ermittlungen begonnen hatten, wieder zurück. „Du willst mich doch verarschen“, sagte ich und Wut überkam mich.

  Sie runzelte die Stirn. „Wieso denn?“

  „Hast du vergessen, was er gemacht hat?“ Meine Stimme war ruhig, doch innerlich musste ich mich zusammenreißen, nicht anzufangen zu weinen. „Wie kannst du noch mit ihm befreundet sein?“

  Megan spielte mit ihren Haaren, während sie mich fixierte. „Er ist immer noch mein Freund“

  Meine Augen verengten sich. „Und wir? Sind wir Freunde?“

  Sie sah verwirrt, aber auch sauer aus. Sie wurde immer sauer, wenn man sie in die Enge trieb wie jetzt. „Was ist denn das für eine Frage?“, sagte sie laut.

  „Eine berechtigte. Von meiner Seite aus kann ich mit keinem befreundet sein, der sich mit Leuten trifft, die mich vergewaltigt haben!“, sagte ich, ebenfalls laut. Es war das erste Mal, dass ich es laut aussprach. Selbst bei der Polizei hatte ich dieses Wort nicht in den Mund genommen.

  Es wurde mir zu viel; ich wollte nach Hause, hatte Schmerzen, war müde und sauer. Ich war noch nie im Leben so gereizt gewesen. Meine Stichwunde sah hässlich aus und blutete; nur ein Pflaster, das mir Balzac gegeben hatte, war darüber. „Echt jetzt? Willst du ernsthaft unsere Freundschaft kündigen? Nur weil ich mit ihnen was mache?“, zickte sie.

  Ich zuckte mit den Schultern. „Ja. Echt. Weil ich nicht will, dass ich mir immer anhören muss, was Mustafa oder Mardin geschrieben haben“ Bei den Namen zog sich etwas in meinem Bauch zusammen.

  Etwas Nervosität mischte sich in die Wut in ihren Augen. Auch ihre Körperhaltung änderte sich; eigentlich vergab ich Dinge nach spätestens einem Tag. Sie kannte es nicht von mir, dass ich noch nach ein paar Monaten daran denken musste, was passiert war. Und dass ich es den Typen immer noch übel nahm. Es war krank, wie sie sich das vorstellte. Klar, man konnte es nicht verstehen, wenn man es nicht erlebt hatte. Doch es war normal, dass man es nicht nach ein paar Wochen wieder vergessen konnte. Ich hatte Albträume deswegen. Ich kam in der ersten Zeit nicht mehr aus dem Bett, weil ich es nicht gepackt hatte, aufzustehen. Und sie redete mit mir über die Kerle, als ob ich noch mit denen befreundet wär? Also, entschuldige, aber das war doch keine Freundin!

  Ich war so verdammt wütend! So kannte ich mich gar nicht. „Musst du so übertreiben?“, fauchte sie mich an.

  Mit Tränen in den Augen wandte ich mich ab. „Du kannst mich mal, Megan“

  Nach einigen Sekunden stand sie auf und ging aus dem Raum.

  Ich blieb noch kurz sitzen, dann stand ich auf und ging zu Crys, die mit Balzac redete. Mein Bein stach bei jedem Schritt, doch es war auszuhalten. Ich hatte mir eine schwarze Jogginghose angezogen, deshalb war es nicht so schlimm. Eine Jeans wurde reiben. „Na“, sagte Crys. „Tut es weh?“

  Kopfschüttelnd sah ich zu Shelly und Megan, die beide auf der Couch saßen. Shelly hielt sich ihre Seite, wo wahrscheinlich ihr Tattoo war. „Gehen wir? Ich bin müde“, jammerte ich.

  Crys verdrehte ihre Augen. „Ja, wir gehen. Ich fahr euch hin, dann geh ich noch weg. Hab ne Verabredung“ Sie wackelte mit ihren Augenbrauen.

  Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. „Vergiss deine Kondome nicht. Wir wollen ja nicht, dass du wieder schwanger wirst“

  Sie lachte. Und ich wunderte mich, dass auch ich lachen konnte.

 

 

 

 

Kapitel 6

 

  Als wir wieder bei Makani waren, musste ich mich anstrengen, nicht sofort einzuschlafen. Doch es roch so lecker nach Essen, das sich mein Magen mit ganzer Kraft bemerkbar machte. Ich hatte die letzten Tage so wenig gegessen, dass der Geruch nach Nudeln mich aufstöhnen ließ. Schnell lief ich in die Küche und sah an Makani vorbei; es gab Spaghetti Bolognese. Die italienische Art. Ich fragte mich, woher er die Nudeln hatte, die man nur in Italien in den Restaurants essen konnte. Sie waren dicker als die normalen und machten auch schneller satt.

  „Gut, dass ihr da seid, es gibt gleich Essen“, sagte er und Shelly, Megan und ich setzten uns an den gedeckten Tisch. Es war ein weißes Tuch über den Glastisch gelegt worden und vor jedem war noch eine blutrote Serviette.

  Megan und ich sahen uns nicht an, sie schien beleidigt, doch das war mir egal. Ich war sauer auf sie. Vielleicht, weil ich übermüdet, gestresst, frustriert, traurig, verzweifelt und hungrig war. Aber das war nur so eine Idee.

  Makani servierte uns, schön dekoriert, das Essen. Die Teller sahen teuer aus, genau wie die Weingläser. Die Gläser waren hauchdünn und hatten außen Verzierungen, bei den Tellern war ein Symbol am Rand eingraviert. Jetzt, wo ich es sah, bemerkte ich, dass es fast überall drauf war; auf dem Besteck, den Servietten, in der Mitte der Tischdecke… und an seinem Handgelenk. „Was bedeutet das?“, fragte ich interessiert.

  Er lächelte. „Das ist indisch und bedeutet so viel wie >Lebenslang dein<. Aber das kann man nicht so wortwörtlich übersetzen“, erklärte er und strich über sein Tattoo, das sich nur von seiner Haut abhob, wenn man genau hinsah.

  Shelly runzelte die Stirn. „Warum ist das überall drauf?“

  „Naja, meine Mutter war eine sehr starke Frau, aber bei ihrer Hochzeit konnte sie nicht mitsprechen. Deshalb hat sie lebenslang gesagt. Für sie war es eine Strafe“, sagte er und ein harter Ausdruck war in seinen Augen. „Aber jetzt solltet ihr Essen“ Er ging nach hinten und machte einen Schrank auf. „Alina, willst du Rot- oder Weißwein?“, rief er.

  Ich verzog mein Gesicht, weil ich Wein eigentlich nicht mochte, doch es würde unhöflich sein, abzulehnen. „Weiß“, antwortete ich und rollte hungrig die Nudeln auf. Während ich aß und er mir einschenkte, bemerkte ich die neidischen Blicke von Megan und Shelly, die nichts angeboten bekommen haben. „Gibst du denen auch was? Bitte?“

  Er nickte und schenkte beiden Rotwein ein. „Du kannst gut kochen“, sagte Megan und trank einen Schluck. „Wie alt ist der?“

  Makani sah auf die Flasche. „Bordeaux, 1892“, sagte er. „Hat mich dreitausend Euro gekostet“

  Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Er hatte so viel Geld, da waren dreitausend Euro für ihn wie fünfzig Cent. Noch einen Grund, weshalb ich zu ihm gehen wollte. Ich hatte gedacht, dass ich dann das Leben genießen könnte wie nie zuvor. Nur hatte ich nicht daran gedacht, dass es nicht alles war.

  Ja, das kommt jetzt komisch; ich mein, wer wünscht sich nicht ein Haufen Kohle? Am besten so viel wie möglich. Aber wenn man erst mal alles hat, was man sich immer gewünscht hat und dafür nicht mehr zu seiner Familie kann, dann würde man alles dafür geben, um seine Mutter zu umarmen. Denn egal, was man sagte oder behauptete, die eigene Mutter liebte man mehr als alles andere auf der Welt. Und ich liebte sie umso mehr, da sie mich nie im Stich gelassen hatte. Als ich betrunken im Krankenhaus lag: sie war da für mich. Als ich in der Klinik war: sie war da für mich. Als ich vergewaltigt wurde: sie war da für mich. Und selbst, als ich zu ihr gesagt hatte: „Mama, du musst das nicht mehr machen. Du kannst gehen, wenn du willst“ hatte sie mich einfach nur umarmt. Und dafür liebte ich sie umso mehr. Jede andere hätte ihr Kind in eine Geschlossene geschickt und hätte versucht zu vergessen. Sie nicht. Sie hat alles versucht und hatte meine Schlachten geschlagen, weil ich keine Kraft mehr dazu hatte. Und sie hatte gewonnen.

  Aber diesen Kampf hätte nicht einmal sie gewinnen können.

 

  Nach dem Essen war ich sofort ins Bett gegangen. Mit Shelly. Wir hatten Hose, BH und Schuhe ausgezogen und uns zugedeckt. Megan unterhielt sich noch mit Makani und gab sich wahrscheinlich die Kante.

  So müde ich war, ich konnte nicht schlafen. Ich nahm jeden Abend Mirtazapin; das war ein Antidepressivum gegen Schlafstörungen und Depressionen. Ohne die konnte ich kein Auge zumachen.

  Also beobachtete ich Shelly. Ihre Schnitte an der Wange waren immer noch rot, sahen aber nicht mehr entzündet aus. Crys hatte sie gesäubert. Die blauen Flecken waren bei der Hautfarbe fast nicht mehr gesehen. Da sie beim Air-Brush die Wunde abdecken musste, sah es so aus, als wäre da ein weißer Fleck in ihrem Gesicht, doch den konnte sie sich leicht wegschminken. Der Nasenpiercing stand ihr, doch ich fand, damit sah man ein wenig aus wie eine polnische Prostituierte.

  Irgendwann hörte ich, wie Megan und Makani zu ihm ins Schlafzimmer gingen. Es war merkwürdig, wie schnell sie über das, was passiert war, hinweg kommen konnte. Doch vielleicht war es auch nur der Alkohol.

  Plötzlich war ich froh, dass ich nichts getrunken hatte. Das Glas Wein zählte für mich nicht. Ich wollte gar nicht wissen, wie ich mich blamiert hätte, wenn ich mir die Kante gegeben hätte. Und ehrlich gesagt wollte ich mir auch nicht vorstellen, mit einem Jungen zu schlafen, nach allem, was passiert war.

  Irgendwann fielen mir die Augen doch zu und ich träumte von dem einzigen Menschen, an den ich gerade denken konnte:

  Jadish

 

  Als ich aufwachte war es später Nachmittag, fast schon Abend. Das sah ich an dem Wecker, der neben mir auf dem Nachttisch stand. Sechzehn Uhr dreiunddreißig. Die Seite neben mir war leer, also war Shelly schon wach.

  Gähnend streckte ich mich und musterte die Decke. Sie war mit dem indischen Schriftzug, der auch auf dem Besteck und der Tischdecke war, verziert; es war so vergrößert, dass es die gesamte Decke einnahm. Es wunderte mich, dass es mir nicht früher aufgefallen war.

  Ich dachte darüber nach; Lebenslang dein. Ja, nach einer Zeit erinnerte es mich auch an die Strafe, die man für Mord bekam. Ein bisschen merkwürdig. Mir erschien es, nach allem, was geschehen war, wie ein kleineres Übel, den Ehemann ausgesucht zu bekommen. Doch wenn ich jetzt nicht auf der Flucht wär und keine Mafiosi hinter mir her wären, würde ich es vielleicht genauso sehen. Wer würde denn auch schon gerne den Mann ausgesucht bekommen?

  Meine Augen waren wie zugeklebt; ich hatte Mühe, sie offen zu halten. Außerdem war das Bett so schön warm, dass ich gar nicht daraus hinaus wollte.

  Die dicken dunkelgrünen Vorhänge waren zugezogen worden und das Zimmer sah leicht grünlich aus, weil die Sonne draußen stark schien.

  Als ich mich leicht bewegte, erinnerte mich ein Stechen an meinem Bein an die Tätowierung. Und das Ziehen in meiner Brust an Jadish. Plötzlich hatte ich so Heimweh, das ich nur daliegen und zittern konnte. Ich wollte nach Hause! Ich wollte meine Mutter anrufen und sagen, dass sie auf Lizzy aufpassen sollte. Und auf jedes andere Familienmitglied.

  Wieso war gerade mir das passiert? Wieso hatten wir uns verlaufen? Was war das für ein Gott, der solche Dinge passieren ließ? Ich fühlte mich wie in einem schlechten Film, in dem ich die depressive Nebenrolle spielte. Denn das war ich; eine Nebenrolle. Hier ging es nicht um mich oder Shelly oder Megan. Hier ging es um viel mehr als um Teenager. Ich konnte es nicht verstehen, und irgendwie wollte ich das auch nicht.

  Nach einer halben Stunde stand ich trotzdem auf. Zog die Vorhänge zur Seite und ging duschen. In einem Handtuch gewickelt ging ich zurück ins Zimmer und zog mir eine hellblaue Jeans und einen schwarzen Pulli an, der an einer Seite schulterfrei war. Meine Haut hatte jetzt die ganze Bräune erreicht und die Haare steckte ich hoch. Nachdem ich mein Gesicht gewaschen und meine Zähne geputzt hatte, ging ich in die Küche und machte mir einen Toast mit Honig. Schweigend lauschte ich in die Stille und fragte mich, wo Shelly und Megan waren. Nach fünf Minuten, als ich alles wieder aufräumte, erfuhr ich es; die Balkontür ging auf und die lachenden Mädchen kamen herein. Naja, Megan lachte, Shelly lächelte abwesend. Ich glaube, sie kam am allerwenigsten mit dem, was passiert war, zurecht.

  Ich strich mir durch die Haare und nahm ihnen die Schachtel aus der Hand, nahm eine Zigarette raus und ging alleine auf den Balkon, um mir eine anzustecken. Nach wenigen Sekunden kam Shelly zu mir. „Habt ihr Streit?“, fragte sie und lehnte sich ans Gelände.

  Mit den Schultern zuckend wandte ich mich ab und der Straße zu. Ein paar Jungs sahen mich anzüglich an, doch es war mir egal. Alles war mir egal. Ich wollte einfach nur nach Hause. „Keine Ahnung“

  Sie sah mich von der Seite an. „Alina“, sagte sie eindringlich. „Wir haben keinen Kontakt mehr zu denen. Ja, ab und zu haben wir mit ihnen geschrieben, aber nicht mehr so wie früher. Nicht seit dem Video“ Jetzt sah auch sie weg. Das hier war ein schwieriges Thema; ich war immer noch frustriert, dass mir keiner geglaubt hatte, bis ein Beweis in Form eines Videos da war. Auf dem alles, was ich gesagt hatte, als wahr befunden wurde.

  Aber es war für die Polizei nie Beweis genug. Die Jungs hatten zu gute Anwälte und das Verfahren wurde eingestellt.

  Seitdem allerdings glaubten mir wenigstens Megan und Shelly. Zumindest dachte ich das. Jetzt war ich mir nicht mehr sicher. Dachten sie auch, dass ich es genau so, wie sie es getan hatten, wollte? Dass ich ihnen gesagt hätte, dass sie weiter machen sollten, selbst wenn ich weinte? „Lass es gut sein, Shelly, bitte“, sagte ich mit ruhiger Stimme, obwohl ich am liebsten geschrien hätte. „Ich will nicht daran denken. Ich will vergessen“

  Erleichterung. Das sah ich in ihren Augen. Sie war erleichtert darüber, mit mir nicht darüber reden zu müssen. Keine Spur von Sorge, wie es mir gehen könnte.

  In diesem Moment hasste ich alle beide.

  Die noch nicht einmal zur Hälfte fertig gerauchte Zigarette schmiss ich in den Aschenbecher und stürmte nach drinnen. Dort atmete ich zittrig tief Luft; mein Atem rasselte dabei. Crys stand vor mir, mit ihrem Autoschlüssel in der Hand. „Brauchst du eine Auszeit?“, fragte sie mich.

  Dankbar nickend lief ich ins Bad, schminkte mich schnell und zog mir eine Jacke über. Alles innerhalb von fünf Minuten. Ich rannte Crys voraus die Treppe runter und legte vor der Tür des Gebäudes eine Verschnaufpause ein. „Ich kann nicht mehr“, sagte ich zu ihr. „Ich schaff das nicht“

  Sie legte einen Arm um mich. „Erzählst du es mir?“, fragte sie, nein, bat sie mich. Und in ihren Augen las ich freundschaftliche Liebe, Sorge und auch ein wenig Mitleid. „Bitte?“

  Erschöpft setzte ich mich auf den Beifahrersitz ihres Autos. „Ich hasse die beiden. Sie mögen mich nicht einmal!“, seufzte ich und spürte erst jetzt, wie weh mir diese Vorstellung tat.

  Dafür hasste ich die beiden noch ein Stück mehr.

  „Ich glaube schon, dass sie dich mögen“, widersprach Crys. „Aber du musst es am besten wissen. Ich kenn die beiden zu wenig, um sie einzuschätzen. Mich wundert es, dass du mit so einer wie Megan abhängst“

  Ein kleines Lächeln bildete sich auf meinen Lippen. „Das ist eine lange Geschichte. Wir konnten uns am Anfang gar nicht abhaben. Aber dann haben wir uns irgendwie angefreundet“

  Sie lachte. „Alina und ein typisches Weib als Freundin. Das ist total abgedreht“

   Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern. „Am Anfang wollte ich einfach nur abhauen. Zu dir, zu Makani. Aber dann hab ich mich mit ihnen angefreundet… und irgendwie wollte ich dann auch gar nicht mehr weg“ Seufzend steckte ich meine Hände in die Jackentaschen und ging ein paar Schritte, Crys folgte mir. „Ich schätze, ich bin zu alt geworden, um immer wegzulaufen. Und jetzt?“ Ein bitteres Lachen stieg aus meiner Kehle. „Jetzt denken wieder alle, dass ich abgehauen wäre. Und weißt du was? Ausgerechnet jetzt, wo ich gefunden werden will, würden sie mich niemals erkennen“ Ich sah in den trüben Himmel, lief weiter.

  Crys nahm meine Hand, doch ich zuckte zurück. Schon wieder. Sofort ließ sie sie wieder fallen. „Tut mir leid“, sagte sie erschrocken.

  Ich schüttelte nur den Kopf und nahm von mir aus ihre Hand. Jetzt ging es. Nur diese überraschende Berührung… das ging gar nicht. „Mir auch“

  Sie schluckte und drückte sie vorsichtig. „Weißt du was? Ich glaube, die Kunst zu lernen besteht darin, zu lernen, im Regen zu tanzen statt auf die Sonne zu warten“ Ein Lächeln, die ihre winzigen Grübchen zeigten, so echt, dass es mich überwältigte. Bei ihr war ich mir sicher, dass sie mich mochte.

  „Das hört sich schön an“, sagte ich und wir setzten uns in ein Cafe. Dort tranken wir draußen einen Kaffee und ich aß ein Croissant.

  Sie nahm einen Schluck, dann setzte sie hastig ab, als wäre ihr gerade was eingefallen. „Ihr braucht neue Ausweise. Und ich wollte dich fragen, wie du heißen willst“

  Da dachte ich lange nach. Weil ich Geschichten schrieb, brauchte ich sehr viele Namen, was nicht immer einfach war. „Ich hab keine Ahnung“, sagte ich ehrlich. Mir gingen so viele schöne Namen durch den Kopf.

  Crys lachte. „Es können auch zwei oder drei sein. Ist total egal“ Sie holte Stift und Papier raus; ihr kleines Notizbuch, das wirklich winzig war, wo alles Wichtige drinnen stand. Auf bosnisch, versteht sich.

  Und dann hatte ich diesen Einfall. „Mach Ljubica Sakura Soirée. Und als Nachnamen einfach... Vasiliki“ Der Nachname war eigentlich ein Vorname, doch das war egal. Ich fand, es war ein sehr schöner Name: Ljubica Sakura Soirée Vasiliki. Vielleicht etwas lang, aber wen interessierte das? Auffallen ist die beste Tarnung.

  Crystal lag misstrauisch den Stift weg und sah mich aus zusammen gekniffen Augen an. „Alina, was hast du mit einem russischen Namen vor?“, fragte sie. „Du siehst nicht aus wie eine Russin“ Leise raunte sie mir zu: „Das wird nicht funktionieren“

  Gelangweilt nippte ich an meinem Kaffee und schrieb an ihrer Stelle den Namen auf. Dazu noch Nationalität Russland, geboren am 18.07 vor achtzehn Jahren und die Wohnadresse vom Ex meiner Schwester. Dann schob ich ihr den Block wieder zu. „Lass es meine Sorge sein. Bisher ist es sowieso nur eine Idee“

  Sie zuckte mit den Schultern, doch ihre Augen waren panisch. Sie hatte Angst um mich, wegen meinen dummen Einfällen, die immer schief ausgingen. „Dann such dir noch Namen für Megan und Shelly aus. Tob dich aus“

  Da überlegte ich noch länger. Ich wollte keine hässlichen Namen nehmen; zwar war ich sauer, doch wahrscheinlich würden sie mit ihnen ihr Leben lang leben müssen. „Für Megan… Chiara Alessia Sumerer“ Crys schrieb ihn auf und die Nation Indien. „Und bei Shelly… High Hope Davids“ Sie nickte und machte sie zur Amerikanerin, von Dallas.

  Wir tranken weiter unseren Kaffee und langsam kam ich runter. Es kam mir so vor, als würden uns alle Menschen anstarren, vor allem die Jungs. Was bei Crys kein Wunder war; sie war bildhübsch. „Weißt du, in einer Woche sind die Ausweise da. Wenn du willst, kannst du deinen Führerschein machen, dir ein Auto kaufen, wegziehen… du wärst frei“ Sie sah mich an. „So wie du es immer wolltest“

  Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe kein Geld und ob ich frei sein will, weiß ich nicht mehr“ Betrübt sah ich auf meine Schuhe. „Eher nicht“

  Sie schürzte ihre Lippen. „Du weißt, dass du das Geld von mir bekommen könntest. Aber dafür musst du mir ein Versprechen geben“

  Abwartend legte ich den Kopf schief. „Welches?“

  Diesmal war es Crys, die wegsah. „Du… musst einen Schwangerschaftstest machen lassen“

  Lange war es still. „Daran hatte ich noch gar nicht gedacht“, flüsterte ich. „Wie…“

  „Megan hat es mir erzählt. Sie wollte dir helfen, aber da hat sie ein Messer ins Bein bekommen und konnte nicht mehr laufen. Danach ist ihr dasselbe passiert wie dir“, erklärte sie. „Sie hatte es gesehen“

  Eine Träne lief meinem Gesicht runter und sofort wischte ich sie mir weg, doch es war wasserfeste Schminke. „Wieso kommt sie damit so gut klar?“

  Sie lachte freudlos auf. „Schatz, sie hat heute um drei Uhr mittags angefangen, sich mit Wodka zuzuknallen. Dazu noch ein Joint von Makani“ Damit hatte ich nicht gerechnet, und das sah sie auch. „Sie ist heute aufgewacht, weil sie geweint hat, Ljubica. Seit gestern war sie keine Sekunde mehr nüchtern“

  Es war seltsam, mit diesem Namen angesprochen zu werden, doch das war gerade nicht von Belang. „Wieso hat sie nichts gesagt?“, flüsterte ich schuldbewusst.

  Crystal stand auf. „Weil sie sieht, wie du damit umgehen kannst. Und sie will dich nicht noch mehr runterziehen“

  Wir gingen zu der Wohnung zurück und sie fragte Shelly und Megan, ob sie mit den Namen einverstanden seien. Megan war soweit wieder nüchtern, dass sie protestieren konnte, von wegen, der Name sei hässlich, doch Shelly nickte nur stumm. Und nachdem Megan ganz alleine war, beugte sie sich ebenfalls.

  Makani kam in diesem Moment zur Tür rein und sah uns missmutig an. „Na“, sagte er und trug die Einkaufstüten in die Küche, stellte sie ab und räumte ein.

  Crys lächelte ihm zu und winkte uns, sodass wir ihr ins Wohnzimmer folgten. Wir setzten uns auf die Couch, nur Crys saß gegenüber auf einem Sessel. „Die Ausweise werden etwas dauern, doch solange werden wir andere Dinge regeln. Irgendwann werden sie genug davon haben, euch zu suchen, und euch mit euren Familien drohen. Oder sie gleich umbringen“ Megan sog scharf die Luft ein, während ich mein Gesicht in den Händen vergrub. „Ja“, sagte Crys. „Letztendlich werden sie euch kriegen. Und wenn ihr für sie arbeitet, muss eure Familie in Sicherheit sein. Damit sie euch nicht mit ihr drohen können“

  Shellys Stimme war absolut tonlos und ohne jede Emotion, als sie fragte: „Was muss ich tun?“

  Crys holte wieder ihr Notizbuch hervor, blätterte auf eine neue Seite und legte den Stift daneben. „Ich werde dafür sorgen, dass sie sicher über die Grenzen kommen. Neue Ausweise, neue Schulen, neues Haus… ein neues, sicheres Leben“ Sie holte tief Luft. „Aber euch muss klar sein, dass ihr nicht daran teil haben könnt“

  Ich setzte mich normal hin und wischte mir meine Augen. „Du wusstest es schon die ganze Zeit, oder? Dass wir hier nie rauskommen werden“, fragte ich sie vorwurfsvoll. Es war dumm, sie dafür verantwortlich zu machen, doch momentan überforderte mich die Situation noch mehr als die letzten Tage.

  Sie nickte zögernd. „Ihr könnt euch nicht ewig verstecken“

  „Und warum können wir sie nicht gleich in Sicherheit bringen?“, rief Megan aufgebracht. „Unsere Familien?“ Es war das erste Mal, dass ich sie so menschlich erlebt hatte; davor war sie eine Art Puppe, die sich zuknallte, sobald sie Gelegenheit dazu hatte. Die auf andere Menschen schiss.

  Meine Freundin hob bedauerlich eine Schulter. „Weil sie sie beobachten. Zwar nur oberflächlich, weil sie denken, dass ihr nicht die Mittel habt, um sie wegzubringen, aber dennoch. Sie werden nur für einen Augenblick unsicher sein: wenn sie euch haben und wegbringen“ Auch sie sah plötzlich unendlich traurig aus. „Es tut mir leid“

  Shelly war die einzigste, die gerade an sich halten und sich auf das Wesentliche konzentrieren konnte. „Was sollen wir tun?“, wiederholte sie sich.

  Crys schüttelte sich und strich ihre Haare hinters Ohr; eine Geste, die sie immer tat, wenn sie nervös war. „So was ähnliches wie Shoppen. Die Menschen, die euch am wichtigsten sind, mit Adresse aufschreiben plus neuen Namen und wo sie hinsollen. Am besten auseinander, das ist nicht so auffällig“

  Sie riss drei Zettel aus ihrem Block und gab sie uns. „Makani“, rief ich. „Kannst du uns Stifte bringen?“

  Nach einigen Sekunden stand er im Raum und sah kreidebleich aus. „Alina“, begann er zögernd. „Du stehst in der Zeitung“

  Ich runzelte die Stirn. „Natürlich, ich bin verschwunden“

  Er schüttelte den Kopf. „Sagen wir es so, du bist darin erwähnt…“ Er klammerte sich an die Zeitung wie ein Ertrinkender an ein Boot. „Deine Familie…“

  Sofort stand ich auf und riss ihm die Zeitung aus der Hand. Der Artikel stand auf der Titelseite.

Tragisches Unglück in Stuttgart, Nellingen

 

Gestern, in der Nacht auf heute, geschah im Kreis Nellingen, Stuttgart, ein tragischer Mord: im Haus der Frau Christine E. gab es gestern ein Blutbad. Nachdem die Nachbarn Schüsse gehört hatten, riefen sie die Polizei. Als diese eintraf, war es allerdings zu spät.

In dem Wohnblock fand man zehn Leichen: Robert M. (13), Tim M. (10), Mira C. (19) und ihr Bruder Matt C. (21), Tony H. (32), Bozena M. (46) und ihr Ehemann Florien M. (49), Kathrin H. (48) und ihr Exmann Dominic C. (56), Ellen E. (74) und ihre Schwester Christine E (72).

Die Familie hatte sich zusammen gefunden, da die Tochter von Kathrin C, Alina C. (15), seit drei Tagen als vermisst gemeldet war.

Bisher gibt es keine Verdächtigen. Einzige Überlebende der Familie sind die Schwestern von Dominic C. und der Lebenspartner von Kathrin H, Hunter L.

Polizei nimmt keine Stellungnahme.

 

 

Kapitel 7

 

  Der Schock ließ mich erstarren. Crys redete auf mich ein, doch nachdem ich nicht antwortete, las sie den Zeitungsbericht ebenfalls durch. Er erstreckte sich über drei Seiten, doch ich wollte nicht weiter lesen. Wollte nicht sehen, wo genau meine Familie umgebracht worden war. Wollte meine Familie nicht in ihren Leichensäcken sehen.

  Wie durch Wasser hörte ich Crys Makani anbrüllen, doch ich verstand ihre Worte nicht. Auch nicht, als sich Shelly vor mich hockte und auf mich einredete. Ihr Mund bewegte sich, doch kein Ton kam heraus. Ihr Blick wurde flehend, ihre Stimme lauter. Das merkte ich, dass ich Töne hörte, jedoch keine Wörter verstand. Sie lächelte ab und zu hilflos, als hätte sie etwas gesagt, dass mich aufheitern sollte, doch ich blickte ihr nur ausdruckslos in die Augen.

  Ihre Wange war wieder frisch verbunden, doch durch den Stoff sah man leichte Blutflecken. Es musste schlimm sein. Megan sagte etwas zu Shelly, die aufstand und wegging. Dann sah ich zu Megan hoch und in der nächsten Sekunde flog mein Kopf zur Seite.

  Plötzlich hörte ich alle wieder normal, wie Crys sich leise mit Makani stritt, konnte sogar ihre Worte entziffern. „Geht’s wieder?“, fragte Megan und sah mich voller Sorge an.

  Ich machte den Mund auf, brauchte jedoch vier Anläufe, bevor ich in der Lage war, zu sprechen. Und das auch nur in meiner Sprache. „Moja obitelj je mrtva“

  Megan konnte zumindest so viel kroatisch, um die Wörter >Familie< und >tot< herauszuhören. Sie nickte langsam. „Ja“

  Dann sagte ich es auf deutsch: „Meine Familie ist tot“ Meine Stimme zitterte und im nächsten Moment weinte ich. Crys nahm mich beschützend in die Arme und wiegte mich hin und her, während sie das Lied >Guten Abend, Gut Nacht< sang. Immer wieder.

  Doch es war anders als bei Jadish. Ich konnte mich nicht beruhigen. Ich war schuld, dass meine gesamte Familie ermordert wurde! Wie sollte ich jemals damit klar kommen?!

  Irgendwann war ich zu erschöpft, um weiter zu schluchzen. Meine Tränen waren entgültig aufgebraucht. Crys wischte mir mit einem Tempo, das Kamani ihr gereicht hatte, meine verwischte Schminke ab (wasserfest hielt keinem Tsunami stand) und sah mir tief in die Augen. „Ljubica, ich weiß, es ist schwer, aber du musst dich jetzt zusammenreißen, bevor es noch mehr Tote gibt. Wir fangen jetzt sofort an, das neue Leben deiner noch übrig gebliebenen Geliebten zu planen. Ok?“

  Leicht nickte ich. Sie hatte recht; elf Tote waren mehr als genug und wenn sie mein Facebook hatten, dann wussten sie auch alle meine Freunde. Sollte ich die auch verstecken?

  Ich beneinte mir die Frage. Ich würde Lizzy, Arana, Mike, Miro und Kilian wegschaffen und das alles dann beenden. „Aber sie werden nicht freiwillig gehen“, murmelte ich.

  Sie lachte ohne jede Freude auf. „Doch, Ljubica. Weil ich sie entführen lassen werde. Im Auto werden wir ihr dann alles erklären“

  Da kam mir eine Idee. „Kann ich ihnen einen Brief schreiben?“

  Crys nickte. „Den wir ihnen dann geben? Natürlich. Aber jetzt fangen wir an, dann kann ich noch heute Nacht alles in Bewegung bringen. Wenn wir Glück haben, sind sie nächsten Monat schon in Sicherheit“ Erleichtert atmete ich aus: Lizzy würde leben. „Wer soll jetzt alles gehen?“, fragte sie.

  Ich schrieb die Namen von ihnen und ihre Adresse auf, dann überlegte ich noch einmal. Konnte ich meine Freunde mit guten Gewissen hierlassen? Kurzerhand schrieb ich die Freunde auf, mit denen ich noch in Kontakt stand.

  Als allererstes meine beste Freundin Kayla und ihren kleinen Bruder Fabian.

  Dann meine Exfreunde Bohan, Riku, Jaari und Scalia.

  Meine Freunde Matej, Claudio, Like, Samantha, Jessica.

  Und zum Schluss, aus meinem alten Heim, Natalie und Kisha.

  „Das sind nicht viele“, bemerkte Megan, die mir über die Schulter gespickt hatte wie bei einer Probe. Auch sie und Shelly schrieben schnell ihre Zettel, die allerdings schon bald auf beiden Seiten gefüllt waren. Der Tod meiner Familie hatte ihnen Adrenalin und Angst eingejagt.

  Ich ignorierte sie und reichte ihr den Zettel. „Die Länder, die falschen Namen, die Schulen, die Arbeit…“, fragte Crys mich geduldig und riss mir noch zwei weitere Blätter ab.

  Mein erstes Heim würde nach Kroatien kommen; auf die Insel Rab, wo wir einmal waren. Kilian gehörte nun offiziell zur Familie und der Nachname hieß Kovac.

  Meine beste Freundin und ihren Bruder schickte ich nach Frankreich, Bordeaux. Ihr Nachname war Ledoux.

  Meine Exfreunde und -freundinnen zusammen zu stecken war vielleicht nicht die beste Idee, doch solange sie sicher waren, war es mir gleich. Söhngen, Neuseeland.

  Meine Freunde kamen nach Afrika; Yeboah.

  Und schließlich die Mädchen aus meinem zweiten Heim würden nach Australien kommen, mit dem ehrvollen Nachnamen Lopez.

  Irgendwann sah mein Zettel dann so aus:

Kroatien, Rab

Kilian:  Lovro Kovac, 17J. = Realschule, 9. Klasse

Miro: Luka Kovac, 2 J. = Kinderkrippe       

Lizzy: Svea Kovac, 5 J.= Kindergarten

Arana: Ana Kovac, 29 J.= Sozialpädagogin

Mike: Ivano Kovac, 35J.= Sozialpädagoge

Frankreich, Bordeaux

Kayla: Maélys Ledoux, 17J.= Gymnasium, 9. Klasse

Fabian: Louis Ledoux, 15J.= Realschule, 7. Klasse

Neuseeland, Auckland

Bohan:  Joshua Söhngen, 18J.= Hauptschule, 9. Klasse

Riku: Isaac Söhngen, 18J.= 1. Ausbildungsjahr Kaufmann i. Einzelhandel

Jari:  Jackson Söhngen, 16J.=  Hauptschule, 8. Klasse 

Scalia:  Ruby Söhngen, 16J.= Gymnasium, 10. Klasse

Afrika, Daressalam

Matej:   Bashiri Yeboah, 17J.=Realschule, 10. Klasse  

Claude:  Jamal Yeboah, 18J.= Gymnasium, 11. Klasse

Samantha: Yakini Yeboah, 17J.= Gymnasium, 10. Klasse

Like:   Nadra Yeboah, 15J.= Realschule, 7. Klasse

Jessica:  Chiku Yeboah, 18J. = Hauptschule, 9. Klasse

Australien, Sydney

Natalie:  Charlotte Lopez, 18J.= Hauptschule, 9. Klasse

Kisha: Isabella Lopez, 17J. = Hauptschule, 9. Klasse

 

  Ja, mit dem Alter hatte ich etwas geschwindelt, aber ansonsten stimmte alles – hoffte ich. Es war merkwürdig, über den Verlauf des Lebens eines anderen Menschen zu richten. Es fühlte sich falsch an.

  Aber es würde auch falsch sein, sie hier zu lassen, schutzlos. Während wir, Shelly, Megan und ich, die Namen unsere Menschen aufschrieben, telefonierte Crys hektisch und kam anschließend jedoch zufrieden zurück. „Der Makler kommt in fünf Minuten“

  Stirnrunzelnd sah ich sie an. „Makler?“

  Sie verdrehte ihre Augen. „Für die Häuser“

  Ich sah zurück auf das Blatt, ohne es wirklich zu beachten. „Die Häuser werden im Ausland sein“

  Crys zuckte mit den Schultern und sah in ihrem kleinen Handspiegel nach, ob ihre Schminke noch saß. „Ist mir doch egal“ Beruhigend lächelte sie mich an. „Keine Sorge, wir bekommen das schon hin“

  Keiner schnitt das Thema an, obwohl wir alle daran dachten. Es war zu schmerzhaft für mich, das wussten sie. Meine Eltern waren tot. Meine Großmutter. Meine Geschwister. Meine Cousins. Ich hatte niemanden mehr, zu dem ich gehen konnte. Und ich war daran schuld. Wegen mir waren sie tot.

  Die Zeit verging schnell, aber irgendwie auch langsam. Jedenfalls war bald der Makler da, mit drei Laptops und mehreren USB-Sticks unterm Arm. Er sah unfreundlich aus, wahrscheinlich hatte er schon Feierabend und irgendwie konnte Crystal ihn doch dazu bewegen, herzukommen. Ohne uns zu begrüßen erklärte er uns kurz und knapp, wie man auf dem einzigen Programm des Computers Häuser gestaltete und genehmigte sich von Makanis Bar einen Scotch.

  Das Programm lenkte mich ab; es war ein bisschen so wie Sims spielen, nur, dass es dann echt gebaut worden würde.

  Das Haus von meiner WG machte ich riesig; Erdgeschoss, 1. Obergeschoss, 2. Obergeschoss, Dachboden und Keller. Das 1. OG war ein wenig verschoben auf den Fundamenten des EG geschoben, was echt cool aussah. Das 2. OG war kleiner als das 1. OG und ich baute eine große Terrasse hin. Der Dachboden war winzig, über dem 2. OG ein kleiner Raum ohne Fenster und ohne Tür. Nur die Dachluke führte hinauf und wieder herunter. Das Haus bekam einen Winkel von 90°, wo es dann weiter ging. Der Keller wurde ebenfalls riesig, mit fünf aneinanderreihenden Räumen.

  Die Wände bestanden fast vollständig aus Glas, genau wie die Türen. Nur die, die zu den Schlafzimmer führten, waren hölzerne Schiebetüren; Elfenbeinholz. Selbst die Badezimmertür war aus Glas, doch einem, wo man nur verschwommen hindurch sehen konnte. Vor dem Haus war noch einmal eine Art Terrasse, so etwas wie ein Vorgarten. Die Eingangstür wurde vor Regen geschützt, da das 1. OG sich etwas weiter über ihr herausstreckte.

  Lizzys – Sveas Zimmer baute ich als erstes; ein 20qm großer Raum, das nur mit einer Wand nicht nach außen zeigte. Es war das Zimmer im 1. OG, das, was sich über die Eingangstür hing. An den drei Wänden, die nach außen zeigten, also, Norden, Süden und Westen, waren vollständig aus Fenstern, die von der Decke bis zu dem Boden reichten und die man nicht aufmachen konnte. Den Deckenboden machte ich beige, die Wand, die nach Osten zeigte, besetzte ich mit hellem Mahagoniholz. Die Tür war aus Nussbaumholz und ließ sich auf- und zuschieben, aber dennoch absperren. Der Boden war aus dem Holz einer weißen Weide, was wirklich atemberaubend schön war; zumindest auf dem Laptop.

  Dann gestaltete ich noch ein großes Wohnzimmer von 35qm im EG, in dem in der Mitte eine Vertiefung von einem Meter war. Darin konnte man Couchs und Tische stellen, aber auch eine Spielecke daraus machen. Eine kleine Treppe aus schwarzem Ebenholz mit einem goldenen Gelände führte hinunter. Es gab einen großen Ofen und sehr viel Platz. Die Decke war ungewöhnlich hoch, was aber sehr schön aussah.

  Daneben legte ich das Schlafzimmer von Lovro an, damit er sich, falls er es wollte, leichter aus dem Haus schleichen konnte. Er hatte ein eigenes Badezimmer mit einer Regendusche und einem Whirlpoolwanne. Dann kam man an den 90°-Winkel, der in einen Gang mit weiteren Türen endete. Es gab noch ein großzügiges Gästezimmer, eine einzelne Toilette und ein Raum, der zu allem genutzt werden konnte; Bibliothek, Billardraum, Lounge…

  Im 1. OG, neben Sveas Zimmer, war Lukas Schlafplatz, etwas kleiner als ihres, aber dennoch größer als in jeder anderen Familie. Nach dem Winkel kam dann das Zimmer von Ana und Ivano, daneben das gemeinschaftliche Bad.

  Die Wendeltreppe, die beim Keller anfing, erstreckte sich bis ins 2. OG, wo noch ein Gästezimmer stand, die Küche, ein weiteres Bad und noch ein Esszimmer. Von dem Esszimmer aus konnte man die Luke zum Dachboden öffnen und schließen.

  Der Balkon von 1. OG war halb so groß wie Sveas Reich, also groß. Der Boden bestand aus braunem glatten Stein.

  Im Vorgarten setzte ich einen Swimmingpool, der glatt als Becken eines Schwimmbads durchgehen könnte, und einen Grill plus der drei Parkplätze.

  Dann war das Haus fertig, ich zog es auf den USB-Stick und fing mit dem nächsten an.

  Nach einer Zeit machte es einfach keinen Spaß mehr, so war ich froh, als der Makler ging und ich entspannen konnte.

   Am liebsten hätte ich entspannt, doch es ging natürlich nicht: meine Familie war ermordet worden. Sie mochten dich nicht, flüsterte eine Stimme in meinem Hinterkopf.

  Ich massierte mir meine Stirn. Natürlich. Es war meine Familie!

  Außer deinen Eltern, Matt und Oma Christine mochte dich keiner.

  Genervt schloss ich die Augen; jetzt führte ich schon Selbstgespräche! Nur weil sie mich nicht abhaben konnten, heißt das nicht, dass ich sie nicht geliebt habe!

  Und zu meiner Verärgerung erwiderte mein Inneres: Wieso hast du dann mit ihnen den Kontakt abgebrochen und fast ein Jahr mit keinem außer deiner Mutter geredet?

  Ok, das reichte. Genervt stand ich auf und stellte mich unter die eiskalte Dusche; es half.

  Völlig erschöpft legte ich mich hin.

  Und dann kamen die altbekannten Albträume, die Erinnerungen, die ich nicht mehr aus dem Kopf bekommen hatte, als die Polizei den Fall zu den ungelösten Fällen legte.

 

  Ausgeschlafen streckte ich mich und sah nach oben; meine Gefühle ließen mich mal wieder im Stich. Neben mir lagen Shelly und Megan, wobei Megans Augen verdächtig geschwollen waren.

  Nach dem Plan, den ich vorhatte, wäre es vielleicht besser, wenn ich mich bei ihr entschuldigen würde. Aber das würde ich erst tun, wenn Lizzy in Sicherheit war. Das hatte Vorrang.

  Jadish schoss mir durch den Kopf. Wo er jetzt wohl gerade war? Was hatten sie mit seiner Leiche getan?

  Crys steckte ihren Kopf herein. „Endlich bist du wach“, flüsterte sie. „Los, komm, wir müssen wegen den Häusern reden“

  Ich stand auf, gähnte und ging ihr hinterher. Verschlafen setzte ich mich auf die Couch und sie schob mir einen Plan hin; es war der für Lizzys Haus. „Ok“, sagte ich nur.

  „Er hat gesagt, das mit dem Wohnzimmer geht nicht so, wie du es willst, aber dafür macht er es schöner. Die Fenster werden auch nicht ganz bis zum Boden reichen, aber die sehen auch cool aus. Das mit dem Pool im Garten wird auch nichts, aber dafür alles andere“, erklärte sie mir. Ich nickte. „Gut. Das wird so ein, zwei Monate lang dauern, er lässt Tag und Nacht arbeiten, dass es schnell geht. Die Ausweise sind schon morgen da, ich hab sie gestern Nacht in Auftrag gegeben“

  Stirnrunzelnd erwiderte ich ihren Blick. „Und das heißt?“

  Sie zuckte mit den Schultern. „Dass wir sie wahrscheinlich übermorgen entführen lassen. Sie kommen nach Indien erstmal, zu Makanis Schwester, die hat ein großes Haus. Da kommt auch“ sie sah auf den Zettel vor sich „diese Kayla und ihr Bruder hin. Die anderen lass ich wahrscheinlich nach Hongkong bringen, in ein Hotel, das ich natürlich bezahl“

  Erleichtert umarmte ich sie. „Danke“, flüsterte ich. „Tausend Dank. Es tut mir leid, dass ich es dir nie zurück geben kann“ Mit Tränen in den Augen löste sie sich von mir.

  „Alina, was hast du nur vor?“, fragte sie mich.

  Ich strich ihr über die Wange. „Ich werd mich für meine Familie und meine Freundinnen rächen. Das ist das mindeste“

  Sie weinte fast. „Dann werden sie dich töten“

  Meine Unterlippe war schon ganz abgekaut, so oft hatte ich in letzter Zeit darauf gebissen. Das hatte ich gar nicht gemerkt; jetzt aber tat es weh und ich ließ sie wieder los. „Ich bin lieber tot als das zu sein, als was sie mich haben wollen“ Ich fuhr mir über mein Gesicht. „Weißt du, was komisch ist? Jahrelang hab ich versucht, mich von den Menschen zu lösen, die mir etwas bedeuten. Ich wollte nie etwas haben, dessen Verlust ich nicht verkraften könnte“

  Crys nickte. „Ich weiß“ Sie nahm mich in den Arm. „Du darfst so einen Fehler trotzdem nicht machen!“

  Ein trauriges Lächeln zierte meine Lippen. „Manche Fehler muss man machen. Manchmal muss man ein klein wenig sterben, um ein bisschen mehr zu leben“ In ihren Augen lag so tiefe Traurigkeit, dass ich fast mitgeweint hätte. „Und außerdem… wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht. Ich spür sie die ganze Zeit“ Ich wischte ihr eine Träne weg, die ihre Wange herunter lief. „Und ich will sie endlich los haben“

  Es war einer der seltenen Momenten, in denen sie weinte. Wir waren beide ziemlich stark – es war uns oft alles egal und wenn uns etwas traurig machte, dann verging es nach ein paar Stunden wieder. Wir achteten immer darauf, etwas nicht zu nah an uns heran zu lassen, damit es uns egal bleibt. Deshalb war ich fast nie wütend auf meine Freundinnen; denn ich wusste, dass die Freundschaft nach einigen Jahren sowieso nicht mehr bestehen würde.

  Das machte mich so unsympathisch. Das war der Grund, wieso mich viele nicht mochten. Ich hielt sie auf Abstand, indem mein erster Eindruck arrogant war. Erst, wenn sie mich ansprachen und ich sie nett fand, zeigte ich, wer ich wirklich war.

  Crystal und ich hatten uns völlig aufeinander eingelassen, um dann zu tun, was wir am besten konnten: abhauen. Wir dachten beide, dass unsere Freundschaft nicht mehr so fest wäre wie früher. Doch dem war nicht so. Die monatelange Funkstille hatte unser Band zwischen uns sogar noch gestärkt. „Also lässt du dich einfach umbringen?“

  Ich schüttelte den Kopf. „Zuerst leg ich Antonio um. Nachdem alle in Sicherheit sind. Und dann… ja, danach werde ich mich umbringen lassen“, erklärte ich mit leiser Stimme.

  Sie sah mich an, als habe ich komplett den Verstand verloren. „Wie willst du an ihn hinkommen? Wenn du dich fangen lässt, werden sie dir alles wegnehmen, auch Waffen. Das geht so nicht!“

  „Deswegen der russische Name“, sagte ich. „Ich werd mich hocharbeiten“

  Ein schmerzverzerrter Ausdruck machte sich auf ihrem Gesicht breit. „Du willst dich zur Nutte machen? Sorry, aber wo ist deine Ehre?“

  Böse sah ich sie an. „Die wurde mir schon vor langer Zeit genommen. Nur hat Antonio den Fehler begannen, meinen Freundinnen wehzutun, meine Familie zu ermorden, meine kleine Schwester zu bedrohen und mir sogar meine Mutter zu nehmen“, sagte ich leise und beugte mich vor, sodass mein Gesicht nah an ihres war. „Vergiss es nicht: Ihr Wort ist mein Gesetz, ihr Lächeln ist mein Sieg. Ihr Leben heißt Frieden, ihre Tränen heißen Krieg“

  Sie atmete tief ein und stieß die Luft langsam wieder aus. „Okay“, meinte sie. „Ich helfe dir. Weil du meine Freundin bist und Recht hast. Aber sobald es dazu kommt, dass du ihn nicht umbringen kannst, sondern er dich davor tötet, dann kann ich nichts mehr tun. Ich werde nicht für dich sterben“

  Ein Adrenalinschub ließ meinen ganzen Körper kribbeln. „Sag mir nur, wo ich ihn finde“

 

                                      

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 30.12.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für L., meinem kleinen Engel

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