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Prolog

Als er sie dort sah, wie sie mit dieser Frau an dem Tisch saß, wusste er, dass er sich endlich entscheiden musste.
Die anderen hatten ihm Zeit gegeben, aber sie lief langsam ab.
Und er wusste das, er sah die Sanduhr praktisch vor seinen Augen ablaufen. Das machte ihn fast wahnsinnig.
Aber als er durch das Fenster des kleinen Hauses sah, indem sie lebte, sie beobachtete und all das bemerkte, was sich in der langen Zeit an ihr geändert hatte und was gleich geblieben war, wusste er, dass er sich entscheiden musste.
Ihr langes, lockiges kastanienbraunes Haar zum Beispiel war gleich geblieben. Oder ihre blauen Augen, die von langen Wimpern umsäumt waren. Oder die Art, wie sie der alten Frau, die ihr gegenübersaß zuhörte. Ihre Ohren versuchten den Worten, die auf sie trafen zu lauschen, aber ihre Gedanken schienen immer wieder abzuschweifen. In einen Ort fern von der Vorstellungskraft der Frau, mit der sie lebte.
Aber es hatte sich auch einiges an ihr geändert. Sie war gewachsen, zierlich geblieben, aber trotzdem stark gealtert. Gerade mal sechzehn war sie, aber für ihn schien sie viel älter zu sein. Sie unterschied sich stark von dem kleinen Mädchen, dass er mal gekannt hatte.
Die Person, die Pusteblumen über die Wiesen gepustet hatte und durch die reifen Felder im Sommer getanzt war. 
Sie trug dunkle Ringe unter ihren Augen, die er noch nie bei ihr gesehen hatte. Auch ihr gehetzter Blick war ihm fremd. Das Mädchen, das sie früher einmal gewesen war, hätte keine Angst zu haben brauchen.
Früher, als sie noch zu ihm gehört hatte, hätte er sie vor allem und jedem beschützt.
Aber jetzt kannte sie ihn nicht einmal mehr.
Und er wusste nicht, ob er sie wohl noch kannte.
Oder ob er sie noch kennen wollte, nach allem was passiert war.
Die Anderen würden in die Luft springen, wenn sie von seiner Entdeckung erfuhren.
Und sie würden alles tun, damit sie wiederkam.

1.

 

„Ich habe diese Träume.“
Meine Stimme klang seltsam, als würde sie in einer anderen Dimension sprechen, und mein Körper schien woanders. Sie wirkte fremd, als würde sie nicht mir gehören.
Dr. Leighton sah kurz von ihrem Klemmbrett auf, auf dem sie die ganze Zeit herumkritzelte.
Heimlich vermutete ich, dass sie Tic-Tac-Toe gegen sich selbst spielte. „Diese Träume hattest du schon einmal erwähnt…“ Sie blätterte in ihren Akten und sah dann wieder auf. „In unserer ersten Sitzung. Mrs. Colton hat sie auch erwähnt. Genauso wie Panikattacken und geistliche Abwesenheit.“
Ganz sicher hatte sie das nicht wortwörtlich gesagt, ich vermutete, dass sie das Wort denn überhaupt schreiben konnte.
Dr. Leighton rückte ihre Brille zurecht und lehnte sich zu mir vor. „Von was handeln diese Träume?“
Ich dachte kurz nach. „Ich weiß es nicht genau. Es ist als würden diese Träume keinen Sinn ergeben. Sie sind verworren und es scheint als würde ich Teile nach dem Aufwachen vergessen.“ Ich rieb mir müde über die Stirn. „Zuerst sehe ich gar nichts. Dann höre ich ein Lachen, das von einem Kind. Einem Jungen nehme ich an. Und dann verhallt das Lachen. Einfach so. Es wird zu einem Schrei. Aber dieses Mal schreit ein Mädchen, so schrill, dass ich manchmal denke mein Trommelfell reißt. Und dann ruft jemand meinen Namen. Immer und immer wieder, bis ich aufwache.“
Dr. Leighton musterte mich kurz und notierte wieder etwas während sie sprach. „Leila, Träume sind Mitteilungen deines Unterbewusstseins, manchmal auch verschlüsselt. Es will dir etwas sagen, oder dich auf etwas hinweisen. Hast du eine Ahnung was das sein könnte?“
Ich schüttelte vehement den Kopf. Wenn mein Unterbewusstsein mir etwas sagen wollte, dann sollte es verdammt nochmal anrufen und in klaren Worten sprechen.
Und mir keine schlaflosen Nächte bereiten.
Dr. Leighton lehnte sich wieder zurück. „Wie oft hast du diese Träume?“
„Jede Nacht.“
Sie hielt kurz inne und schrieb dann weiter. „Seit wann?“
Ich spielte mit dem Saum meines T-Shirts. „Seit ein paar Monaten.“
Als Dr. Leighton nichts erwiderte, sprach ich weiter. „Ich weiß, ich weiß. Aber am Anfang war der Traum nur Dunkelheit. Aber mit der Zeit kam immer mehr dazu. Ich träume manchmal, dass jemand an mir zerrt, mich von der Stimme wegzerrt, und wenn ich dann aufwache, ist es, als würde ich den immer noch Griff an meinen Handgelenken spüren.“ Die Härchen an meinen Armen stellten sich auf.
Es herrschte Stille und ich wurde langsam unsicher, bekam Angst, dass sie mich jetzt für verrückt halten würde und sofort in eine Klinik einweisen.
Doch dann klappte sie nur ihre Mappe zusammen und rückte wieder ihre Brille zurecht. Sie tippte auf ihre Armbanduhr.
„Unsere Zeit ist um.“

 

 

 

Mit einem Scheppern legte ich die Schlüssel auf die Ablage neben der Tür.
Ich lauschte kurz und nahm dann ein Ächzen aus dem Wohnzimmer wahr. „Du bist schon wieder da?“
Die Frau, die sich meine Großmutter schimpfte, stand vor mir im Türrahmen und hielt sich mit einer Hand die breite Hüfte.
„Das Training ist ausgefallen.“ Ich streifte meine Schuhe ab und zog meine Jacke aus.
„Wie Schade.“ Die Ironie troff sozusagen aus ihrer Stimme. „Und was sagt die Psychologin, für die ich ein Vermögen ausgebe?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Das übliche. Dass ich verrückt bin und eine Gefahr für meine Umwelt. Als sie mich einweisen lassen wollte, hab‘ ich sie niedergestochen. Außerdem hast du mich zu ihr geschickt.“
Grandma schürzte missbilligend die Lippen. „Deinen Sarkasmus hättest du bei Dr. Leighton lassen können. Und jetzt geh das Essen warm machen, ich bin müde.“
Hinter ihrem Rücken verdrehte ich die Augen. „Ja, Grandma, was auch immer du willst, Grandma.“

 

Als ich eine halbe Stunde später den Hackbraten warm gemacht hatte, quetschte sich Grandma‘s breite Gestalt durch den Türrahmen und ließ sich auf einem der Stühle nieder.
Zähneknirschend stellte ich den Teller vor ihr ab. Dann setzte ich mich selbst und stocherte in dem Essen herum.
Einen Moment herrschte Stille, dann begann Grandma auch schon herum zu zetern. „Als ich so alt war, wie du, konnte ich schon acht Leute bekochen. Alles was du kannst, ist aufwärmen.“
Ich versuchte, an etwas Nettes zu denken, kleine Hundewelpen oder galoppierende Fohlen, nur nicht an Grandma.
„Als deine Mutter so alt war wie du, hat sie dich bekommen. Da sieht man mal, was aus der Jugend wird.“
Finster starrte ich auf den Hackbraten vor mir, um nicht auszurasten.
Meine Mutter hatte mich als Kind bei meiner Grandma ausgesetzt und war nie wieder gekommen. Mein Vater war unbekannt, als hätte er nie existiert.
„Und dann hat sie dich hier ausgesetzt. Um in irgendwelche Klubs zu gehen, zu kiffen und irgendwelche illegalen Sachen zu machen.“ Sie stampfte immer wütender mit ihrer Gabel im Essen herum. Das war ein schlechtes Zeichen. „Sie hat in ihrem Leben nichts erreicht. Alles was sie getan hat, war dich zu bekommen. Und das war ja wie man sieht auch kein Gewinn.“
Ich funkelte sie an. „Dass du dich nicht schämst, so über deine Tochter zu reden.“
Sie kippte den Teller um, sodass sich der gesamte Hackbraten über den Tisch lief. „Dass sich deine Mutter nicht schämt, ihre Tochter auszusetzen!“
Ich biss mir auf die Lippe, wartete, lauschte ihrem Atem der heftig ging.
Irgendwann sah ich zu ihr auf. „Bist du fertig?“
„Ja, das bin ich.“ Dann wuchtete sie sich aus dem Raum und ließ mich alleine zurück.

 

 

 

 

Am nächsten Morgen stand ich früh auf, um den Bus nicht zu verpassen und schlüpfte gehetzt in die Jeans, deren Löcher keine modische Ursache waren.
Ich sprintete zur Bushaltestelle und zog mir meine Kapuze über den Kopf, als ich den Nieselregen in meinem Gesicht spürte. Meine Haare lockten sich schon jetzt wieder wie wild.
Gestern Abend hatte ich noch das Essen vom Tisch gewischt und war ins Bett gegangen.
Natürlich hatte ich wieder diesen merkwürdigen Traum gehabt, der sich nach und nach in einen Albtraum verwandelte.
Im Soziologiekurs schweiften meine Gedanken ab und meine Hand glitt abwesend über das Blatt Papier.
Erst als mein Sitznachbar mich merkwürdig ansah und fragte: „Alter, was ist das für eine Sprache?“, bemerkte ich, dass ich das gesamte Blatt mit vier Wörtern vollgeschrieben hatte.

Teña en conta que.

Ich runzelte die Stirn. “Ich habe keine Ahnung”, murmelte ich.

 

 

 

Als es nach der Pause wieder zum Unterricht klingelte, beeilte ich mich um an meinen Spind zu kommen. Schnell gab ich meinen Code ein und stopfte die Bücher, die ich für meinen nächsten Kurs brauchte, ein.
Ich schlüpfte aus der schwarzen Jacke, in der ich, obwohl es erst Frühsommer war, schwitzte.
Ich hängte sie in den blauen Freiraum und fuhr mir mit den Händen durch meine Haare.
Als ich den Spind schloss, schulterte ich meine Tasche und drehte mich in Richtung meines nächsten Kurses, als ich auf dem leeren Flur jemanden stehen sah.
Ich warf einen Blick über meine Schulter, aber ich war alleine mit der Gestalt.
Als der Schatten sich näherte, bemerkte ich die breiten Schultern und die markanten Gesichtszüge.
Eindeutig ein Mann, oder ein Junge. Sein Alter konnte ich nicht wirklich einschätzen, aber ich vermutete, dass er ein paar Jahre älter was als ich.
Er trug ein dunkle Jeans und eine schwarze Lederjacke, seine dunklen Haare fielen ihm leicht ins Gesicht. Sein Gesicht war hart und seine Augen schienen mich zu durchleuchten.
Beunruhigt sah ich ihn an. “Suchst du das Sekretariat?”, fragte ich mit zittriger Stimme.
Er steckte die Hände in seine Hosentaschen und lehnte sich etwas zurück.
Aber er sagte nichts.
Seine Miene verriet nicht was er dachte, sie schien so hart zu sein wie die Mauern dieses Gebäudes.
Lächelt er auch mal?, fragte ich mich. “Ich bin Leila.”
Sein Gesicht verzog sich kurz, so, als würden meine Worte ihm einen Stich versetzen.
“Ich weiß”, sagte er dann.
Überhaupt nicht gruselig oder so.
Ich spielte nervös am Trageriehmen meiner Tasche. “Bist du hier neu?”
An jemanden wie ihn hätte ich mich bestimmt erinnert.
Herablassend sah er mich an. “Nein”, sagte er nur. Seine Stimme klang tief und rau.
Mit gerunzelter Stirn sah ich ihn an. “Oh. Okay.” Ich sah mich auf dem leeren Flur um. “Kann ich dir sonst irgendwie helfen?”
“Du könntest mit mir kommen .”
So langsam bekam ich Angst. “Tut mir leid”, stammelte ich. “Ich muss in meinen Unterricht. Geschichte. Du weißt schon, man soll sich schließlich erinnern.”
Er schnaubte. “Wie passend.” Verstört sah ich ihn an. “
Okay, kryptischer nicht-neuer-Junge, ich muss los. Wie schon gesagt, Geschichte.”
“An deiner Stelle würde ich nicht gehen.”
Ich drehte mich auf der Achse um und stolperte den Gang entlang, einfach in die entgegen gesetzte Richtung.
Als ich das Gebäude verließ und um die Ecke biegen wollte, sah ich noch einmal zurück.
Und auf einmal wurde meine Welt schwarz.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.11.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Geschichte ist für alle, die Träume haben. Am besten verwirklicht man sie selbst.

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