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Marvin




Marvin Peltzke wuchtete die roten Steine, die den neuen Parkplatz der Stadtwerke säumen sollten in eine Schubkarre, sah auf, fuhr sich mit den mörtelverkrusteten Fingern durch das störrische Haar und schüttelte den Kopf. Schon der dritte Tag, an dem die komische Alte bei der Baustelle war. Beim ersten Mal hatte sie durch den Bauzaun gespäht und Marvin beobachtet. Immer wieder musste er zu ihr hinübergucken, bis er so verärgert war, dass er ihr den Mittelfinger zeigte. Beim zweiten Mal stand sie reglos am Rand der Baustelle und lenkte ihn mit ihrer Anwesenheit ab. Heute stand sie mitten auf dem mühsam planierten Sand. „Ey!“, brüllte er. „Verpiss dich, du Tunte!“ Das breite Kreuz, die dicke Nase - wenn die eine Frau war, dann hatte sie sein Beileid sicher bis in alle Ewigkeiten. „Was denn los, Marvin?“, fragte Lutger, der ewige Geselle. „Die Omma latscht durch meinen Sand, ey!“ Marvin formte die dreckigen Hände zu einem Trichter und schrie noch lauter: „Mach dich vom Acker! Ich will Feierabend machen!“ Meine Fresse, können olle Leute eigentlich auch was anderes außer nerven? Jetzt kann ich die Scheiße wieder richten, na geil!
„Du sollst doch nicht bei der Arbeit saufen“, bemerkte Lutger bekümmert.
„Willse was aufs Maul?“ Er drehte sich mit flackernden Augen zu seinem Kollegen und spürte saure Wut seine Speiseröhre aufsteigen. Marvin Peltzkes Ausbildungsstelle war dauergefährdet, weil er schon leicht angeheitert auf Baugerüsten herumgeturnt war und seinem Mitlehrling in den Helm gepisst hatte. Seitdem trank er keinen Tropfen mehr während der Arbeit. Wenn er seine Lehrstelle verlöre, wäre Schicht im Schacht.
„Da ist niemand!“
Marvin lachte laut und höhnisch, dann stampfte er entschlossen zur halbfertigen Auffahrt. Eindeutig war da jemand. Ein verkleideter Typ in einem schwarzen Jackenkleid und aufgestecktem roten Haar, ein Zinken im Gesicht wie ein Tukan und die zentimeterdicke Make-Up-Schicht konnte die Zeichen des Alters nicht tarnen. Netzstrümpfe? Hielt der Clown sich für zwanzig? Lutger lief dem jungen Auszubildenden ein paar Meter hinterher.
Marvin war außer sich. „Da! Die ruiniert meine Arbeit!“ Lutger betrachtete die unberührte Fläche kritisch. „Ist doch alles perfekt.“
Marvin riss den Mund auf, um Lutger Blindschleiche zu schimpfen, schloss ihn wieder, prüfte den Sand und fand … keine Fußabdrücke. Er hob den Kopf und erblickte die Frau oder was das Wesen darstellen sollte, die ihre Augenbrauen beleidigt zusammenzog. Mensch. Keine Fußabdrücke. Mensch. Keine Fußabdrücke. Die beiden sich widersprechenden Aussagen lösten einen kleinen Kurzschluss in Marvins Gehirn aus. Irgendwas stimmt da nicht.
„Aber du siehst die Schwuchtel, oder nicht?“
Lutger schüttelte bedauernd den Kopf und Marvin packte ihn an den Schultern. „Kein Wort zu irgendwem.“ Egal was da gerade lief.
„Wenn das rauskommt ...“, sagte der Vierzigjährige zu sich selbst und schluckte. Sein Kollege musste getrunken haben. Lutger hatte schon viele verkrachte Gestalten gesehen, aber um Marvin tat es ihm leid. Der Junge war nicht schlecht. Nicht wirklich. Zum Glück lief Peltzke noch sicher, sein Gang war untadelig. Von ihm, Lutger, würde keiner auch nur ein Sterbenswörtchen erfahren, dass Marvin wieder trank oder was auch immer.

Marvin kehrte verwirrt zu seiner Schubkarre zurück. Da war eine Frau, er hatte sie schon mehrmals gesehen … Was zum verfickten Teufel …?
Als er begann die ersten Steine einzupassen, war sie neben ihm.
„Ich mags nicht besonders Schwuchtel genannt zu werden, Schwuchtel. Ich bin eine Dame.“
Der Stein fiel Marvin aus der Hand, auf seinen Finger und er fluchte. Natürlich hatte er keine Handschuhe an.
„Ein Scheiß bist du!“
Sie kreuzte die Arme vor der Brust, tappte mit ihrem High-Heel auf die frischverlegten Steine und hob eine geringschätzig eine Braue. „Und noch weniger als eine Schwuchtel bin ich alt!“ Sie schlug ihm auf den strubbeligen Hinterkopf und Marvin sprang auf. Seine geballte Faust stoppte kurz vor ihrem geschminkten faltigen Gesicht und er warnte sie unsicher: „Ey, wenn du keine Omma wärst, dann ...“
Langsam zählte er von zehn abwärts, wie in der staatlich verordneten Anti-Aggressions-Therapie gelernt und wandte sich gepresst an Lukas, der langsam mit dem Gabelstapler auf ihn zugerollt kam: „Kannst du die alte Tunte vielleicht hier rausbegleiten?“
Lukas zeigte ihm einen Vogel: „Ist das wieder so ne kranke Sache zwischen dir und Lutger?“ Marvin hatte Lutger schon ein paar Mal wegen seiner Leibesfülle und seinem Speckbrustansatz verspottet.
„Nein. Ich mein ...“ Marvin brach ab, weil die alte Frau sagte: „Vergiss es, er kann mich nicht sehen.“
Der junge Mann rieb sich die Augen. War das ein Flashback? Nur ein paar Mal LSD und dann gleich so was? Blieb in seinem Leben denn nichts ungesühnt? Zittrig fuhr er sich wieder durchs Haar. Er musste zum Arzt. Dringend. „Was willst du von mir?“ Warum rede ich mit einer Halluzination?
Sie lächelte breit. „Erst einmal lernen wir uns kennen. Mein Name ist Honey.“
„Was ne Überraschung. Warum nicht gleich Kitten oder Lolita?“
Sie sah ihn mit mütterlicher Geduld an. Spott war Honey gewohnt und er perlte an ihr ab, wie Wasser an Vaseline. „Wärst du ein Gentleman würdest du mir auch deinen Namen sagen.“
„Peltzke“, spuckte er aus, als würde sie tatsächlich existieren. „Marvin Peltzke.“
Sie seufzte. „Das tut mir leid für dich.“
Er warf dem Er-Sie-Es einen bösen Blick zu, zog die Nase hoch und legte Stein an Stein, so wie er es gelernt hatte. LSD war so ein Schrott.

Wenn man es objektiv betrachtete, war Marvin Peltzkes Leben glücklos verlaufen, nur dass er selbst das nicht wusste, weil er nichts anderes kannte. Jeden Morgen wenn Marvin aufstand, Geplärr und Geschrei in den Ohren, schwor er sich, sein Leben schnellstmöglich zu beenden. Noch nicht einmal ausziehen konnte er, weil seine Mutter sein kleines Gehalt brauchte. Geld, Geld, Geld. Diese Scheiß-Kröten! Seine arme Mutter, seine armen Aldi-Geschwister, die nur das nochmal reduzierte Zeug trugen, das entweder zu groß oder zu klein war und an den nächstkleineren weitergaben.

„Ich freu mich schon auf deinen neuen Job“, erwähnte Honey fröhlich, die sich noch immer zeigte, als Marvin auf dem Weg nach Hause war.
„Woher weißt du ...?“ Ach ja, sie war ausgedacht, also teilten sie seinen Schädel. Marvin wurde rot. Heute war sein erster Abend als Tortenstripper auf einer Junggesellinnen-Party. Laut Veranstalter musste man nicht allzuviel dafür können. Jung und einigermaßen attraktiv zu sein reichte für den Job. Bisschen mit dem Hintern wackeln und Ferienclubstimmung verbreiten. Also das Gegenteil von dem machen, was man in den Sommerferien beim Stadtrandlager getan hatte.
„Aber wasch dir die Flossen! Frauen achten auf Hände.“ Honey klang streng. Der Dreck schien sich regelrecht in die Haut des Jungen eingefressen zu haben.
„Du musst es ja wissen“, entgegnete Marvin grimmig ins Nichts. Er steckte sich sein Handy-Knopf ins Ohr. So würde jeder denken, er telefonierte, und nicht, dass er gerade eine Drogenpsychose zu bewältigen hatte.
„Ich weiß mehr, als du überhaupt denken kannst, mein Guter.“
„Das kann ich mir vorstellen.“ Er musterte das Zwischenwesen abfällig.
„Was soll das denn heißen?“
„Ich halt nicht viel von solchen wie euch.“ Männer in Frauenkleidern, Wie tief musste man sinken, um so etwas zu tun?
„Solche wie uns? Ich bin ein Unikat.“ Honey stemmte empört die Hände in die Hüften.
„Dir sollte mal jemand was auf die Fresse hauen, mal sehen wie dann redest.“ Verdammte Transe. War das die Strafe für die Novemberausgabe des Playgirls hinter dem Klokasten?
Honeys Augen wurden traurig. Dieser Marvin Peltzke hatte eindeutig schon zu viel davon bekommen, ebenso wie sie. Gut, dass sie da war. Auch wenn der Typ einen Schuss in den Ofen bedeutete, vielleicht konnte sie ihm ein bisschen helfen. In ihrer Vorstellung sah Honey nicht nur aus wie Glinda, die gute Fee, nein sie war es auch.

Zu Hause angekommen sprang Marvin unter die Dusche. „Verpiss dich!“
Honey setzte sich seelenruhig auf den Toilettendeckel und bearbeitete einen tiefroten Nagel mit Uschi Peltzkes Nagelfeile.
„Oh Gott, glaubst du ich habe noch nie ein nacktes Kind gesehen?“
Marvin ballte die Fäuste. Ich muss aufhören meine Halluzination zu behandeln, wie einen echten Menschen. Also rasierte er sich den Sack ohne sich abzuwenden und Honey lächelte verklärt. „Nett! Die Damen werden was zu gucken haben!“
Marvin fühlte sich unendlich müde. Eine Geistesmüll-Transe, die seinen Säuberungsvorgang kommentierte. Was habe ich erwartet?

Natürlich klemmte der Scheiß-Tortendeckel. Marvins erster Einsatz und er war gefangen in pieksigem Sperrholz. Großartig. Er brach in Schweiß aus; hier drin war es klaustrophobisch eng und finster. „Ganz ruhig, der Nagel hier ist verbogen, ein wenig Muskelkraft und du hast es.“ Wenn er wenigstens alleine in seinem süßen Grab wäre! Panisch stemmte er seine Fäuste gegen die Decke des winzigen Gefängnis, fing sich einen Splitter im Handballen, als das dünne Holz krachend zerbarst und blinzelte gegen die Helligkeit in eine Horde gespannter Frauengesichter. Er wollte sterben vor Verlegenheit.
„Ganz cool, lächle, Junge.“ Honey war bei ihm und führte ihn durch das grelle Licht.
Marvin lächelte.
„Und jetzt langsam aussteigen, nicht an den Holzkanten hängenbleiben.“
Marvin hob einen Fuß. Die Hühner, die erst erschreckt geschrien hatten, als er sich durch die Torte gerammt hatte, klatschten nun frenetisch. Hatten die noch nie einen Mann gesehen oder was stimmte nicht mit denen?
„Zuck mit der Brust!“, empfahl Honey.
Marvin spannte seine Muskulatur abwechselnd links und rechts an. Wie peinlich.
„Die in Blau ist die Braut. Tanz hin.“
Marvin tanzte.
„Ey, kneif mir nochmal in die Wange und du bist tot!“, keifte Marvin Honey an, die ihre Begeisterung über seine Souveränität nicht im Zaum halten konnte und die Braut machte ein entsetztes Gesicht, weil sie dachte, die Worte galten ihr. Marvin lächelte wieder. Scheiße, Scheiße. Er beugte sich vor und versuchte möglichst schleimig zu raunen: „Nicht du, Schönheit, deine hässliche Freundin!“
Die Braut war beruhigt.
Sie steckten ihm wahrhaftig Scheine in den roten Minislip. Ey, Frauen sind genauso Schweine wie wir, dachte Marvin Peltzke entrüstet und schob sein Becken weiter vor, damit die dumme Nudel mit dem Partyhütchen ihm noch was in den Tanga steckte.
Marvin war nicht glücklich. Er war einfach nur leer. Scheißdreck. Scheißgeld, Scheißleben.
Hände zerrten an ihm, aufgescheuchte Weiber johlten, sein Körper - ein Riesenspaß für jung und alt. Ein Mordsgaudi. Fünfzig Euro. Zwei Paar Winterstiefel. Eine Woche Fressen. Er zeigte die Zähne, die alberne Fliege um seinen Hals fühlte sich eng an.
Morgen wieder plockern auf dem Bau, heute Nacht vier Schnarcher im Kinderzimmer. Eine Hallu-Transe neben ihm und Luzie, die Chefdealerin im Viertel gab keine Kredite. Marvin schwitzte, sein Rücken tat weh. Rente mit 67. Davor war er ein körperliches Wrack, das wusste er.

Honey beobachtete ihn. Der Kleine gab sein Bestes, er war ein Hohlkopf, aber tat sein Bestes. Am liebsten hätte sie die Dunkelhaarige weggeschubst, die ihm am Slip zog, weil Marvin das nicht mochte. Zu ihrer Zeit hätten Ladies sich nicht so aufgeführt. Egal ob mit oder ohne Penis.

Es war halb zwei, als er leise die Tür aufschloss und sich die Zähne putzte. Er sah sich nie im Spiegel an. Es war egal.
Zurück in seinem Zimmer. Leon heulte und Marvin nahm ihn aus seinem Gitterbettchen. Er sollte die anderen nicht wecken. „Schau mal der Mond.“ Er hatte seinen kleinen Bruder im Arm und deutete auf die weiße Scheibe am Himmel. Leon heulte weiter und Marvin schaukelte ihn im Arm. „Schau der Mond, Leon, wer wird denn weinen, wenn gerade die Werwölfe rauskommen?“ Er sprach wie große Menschen mit kleinen sprechen: Ein wenig enthirnt. „Da draußen sind die Werwölfe und essen Eichhörnchen und Banker. Ja, genau. Das gefällt dir was?“, singsangte Marvin sanft. Leon hatte sich ein bisschen beruhigt und starrte mit glasigen, rotgeweinten Augen auf die Hausdächer, über denen sich ein aufgeblasener, silberner Vollmond erhob. Er war so oft alleine in seinem Bettchen, ohne die Welt zu sehen. Marvin unterdrückte ein Gähnen. Leon war noch klein, er duftete süß nach Tränen und Unschuld und Marvin stellte die kleinen Füße auf die Fensterbank, die sich prompt dagegen stemmten. „Schau Leon, die ganze Stadt voller Werwölfe, sie kriechen aus den Gullys und überfallen alte Tunten, die einen nerven.“
Leon gluckste. Marvin fuhr durch die Löckchen und registrierte stirnrunzelnd die Mottenlöcher in den geringelten Strumpfhosen. „Jetzt leg ich dich wieder hin und dann schlafen wir beide. „Ja? Machen wir das? Leon, machen wir das? Schön schlafen, ganz müde Augen kriegen ...“
„Hand“, sagte Leon. Der Ältere seufzte.

Marvins halber Oberkörper hing aus dem Bett, damit er seinen Bruder mit den Fingerspitzen berühren konnte. Die kleine Hand legte sich um seine rauen Finger.
Marvin schlief ein. Ein paar Minuten später atmete Leon tief und langsam.

Seine neue Begleiterin ließ sich umständlich auf Marvins Bettkante nieder. „Kleine Schwuchtel“, sagte Honey leise und lächelte.


Luzie




Luzie Kringel faltete kleine Papierquadrate mit geschickten Fingern, wie eine japanische Origami-Meistern zu ebenmäßigen Briefchen, streckte Speed mit zermörsertem Aspirin und wog winzige Portionen mit der Feinwaage. Violette Pillen kullerten in kleine Plastiktütchen. Wie niedlich, auf einem war das Krümelmonster! Ein bisschen fühlte sie den Stolz fünfjähriger Kaufmannsladenbesitzerinnen, die ihr Mini-Sortiment in Miniregale räumten. Aus dem Schlafzimmer hörte sie die vertrauten Klänge von Sailor Moon. Bettie lag auf dem Bett und ließ sich einlullen. Wenn es irgendwo einen fauleren Menschen geben sollte als ihre älteste Freundin, dann wäre der schon tot. Betties Alltag gestaltete sich als eine einzige Überlebensmaßnahme. „Zum Geburtstag schenk ich dir nen Katheterbeutel“, drohte Luzie ihr des öfteren an und Bettie schloss genießerisch die Augen. Nie mehr aufstehen müssen, um zu urinieren! Das wäre das Paradies!
Wenn Freddy der Penner schon hier gewesen wäre, wie vereinbart, würde Luzie sich zu ihr rollen und mit der Nase in den braunen, nach Apfelshampoo riechenden Locken und japanischen Geplärr im Ohr einschlafen.
Zehn Minuten länger und du kannst dir dein E woanders besorgen, dachte Luzie gereizt. Scheiß Junkies. Nie pünktlich.

Luzie Kringel war die unangefochtene Königin im Viertel. Schlau, gewieft und mit jedem befreundet, bei dem es sich lohnte. Und wenn sie mit jemandem nicht befreundet war, dann wusste sie zumindest etwas Belastendes über ihn. Sie hätte locker ihr Abitur machen können, aber wieso fünf Stunden Kurven diskutieren oder Transit lesen, wenn man seine Zeit interessanter und lukrativer nutzen konnte? Momentan engagierte Luzie sich hingebungsvoll für die Interessengemeinschaft Anti-Alkohol. Ihr Leben könnte so schön sein, wenn Alkohol verboten werden würde. Sie würde sich eine Destille besorgen und den ganzen Tag Fusel brauen. Und dann teuer verkaufen. Mit ihrer Hartnäckigkeit hatte sie es schon in den Vorstand von Anti-Alkohol geschafft und schrieb fleißig rechtschreibfehlerfreie Briefe an die amtierende Bundesregierung. „Wer außer ein paar Drogen-Nazis könnte noch Interesse an einem Alkoholverbot habe?“, überlegte sie laut. Sie brauchte ernstzunehmende Lobbyisten, die mächtiger waren, als ein paar spaßfeindliche Asketen … Realistischerweise würde es noch dauern, bis sie ihre eigene kleine Brennerei eröffnen konnte und deshalb beschäftigte sie sich, während sie auf Freddy wartete intensiv mit Pflanzenkunde. Gras ging immer und ihr Traum war es, es wachsen zu lassen, um von Raoul, der unzuverlässigen Zwischenhändlerballerbirne unabhängig zu werden. Sie wusste genau, wie es ging. Sie brauchte nur einen geeigneten Raum, den sie präparieren konnte. Ecstasy und Speed gingen immer, aber wenn sie das Monopol auf Gras hätte, könnte niemand mehr ihr Leben im Luxus stoppen. Niemand wollte Hasch, alle wollten Gras. Und sie würde das anregendste, lockerste, beste, begehrteste Gras der Stadt anbauen. Die dritte Züchtung, die im Badezimmer unter der speziellen Lampe gedieh, hatte hervorragende Ergebnisse geliefert. Leider zu wenig, aber sie könnte die Mutter ihres Drogenimperiums werden. Nur das mit dem Raum war ein Problem. Alkohol brennen war da unkomplizierter, benötigte weniger Platz und man roch es nicht so, wie den verführerischen Duft ihrer Königin des Rauschs.

Es klopfte. Poch Poch. Pause. Pochpochpoch. Pause. Poch.
Freddy. Endlich.
Luzie steuerte langsam die Tür an, warf einen Blick in den Spiegel, zog die über den Bauch rutschende Jeans hoch, strich sich den überlangen Pony aus den Augen machte ein angepisstes Gesicht und deutete mahnend auf ihre aufgemalte Armbanduhr, als sie die Tür aufzog..
„Jaja, 'tschudigetschuldige ...“ Freddy fragte sich, wie sie es schaffte mit selbstgestrickten Schlumpfsocken immer noch furchteinflößend auszusehen. Ein gepflegter, älterer Herr mit Hut und einem altmodischen Anzug schob sich hinter Freddy in ihre Wohnung und lüftete sehr höflich seinen Stetson. Luzie hatte ihn noch nie gesehen. Irgendein Spießer, der sich von Freddy über den Tisch ziehen ließ. Wenn er das nächste mal jemanden mitbrächte, würde sie ihm nichts mehr verkaufen. So eine Frechheit.

Stöhnend zählte sie die Münzen aus Freddys Kleingeldbeutel, dessen unsteter Blick durch ihre bunte Küche glitt. Er wippte mit den Knien.
„Hier.“ Sie schmiss ihm zwei Tütchen zu.
„Danke.“
„Wenn du mich das nächste mal wieder ne Stunde warten lässt, kostet's das doppelte. Also spar schon mal. Und wenn du jemanden mitbringst, ohne Bescheid zu sagen, kannst du die Augen nach einem anderen Ticker aufhalten.“
Freddy wagte nicht sich ihr zu widersetzen und Luzie atmete auf, als er endlich aus ihrer Wohnung gestolpert war.
Breitbeinig wie ein Cowboy mit Hodenverdrehung stiefelte sie summend durch den Flur, einfach weil sie gern merkwürdige Gangarten ausprobierte und zuckte zusammen, als auf dem Küchenstuhl immer noch Freddys Freund saß.
„Bist du beknackt? Freddy ist schon weg. Zieh Leine!“
„Oh, entschuldigen Sie. Ich bin kein Bekannter von ihrem Bekannten.“ Der Herr erhob sich und streckte die Hand aus. „Georg Malteser ist mein Name.“
Die GEZ-Stasibrut war abgeschafft, war das ein Bulle? Fuck!
„Und jetzt?“ Luzie musterte ihn abschätzend.
„Ihr werter Name lautet Luzie Kringel?“
„Ja? Aber ich bin eine Z-Luzie. Lu-TSI, nicht Lu-ßi.“ Hätte sie mitgezählt, hätte sie festgestellt, dass sie den Satz heute das 347 Mal in ihrem Leben sagte.
„Es freut mich Sie kennenzulernen.“ Der Mann sah tatsächlich glücklich aus, stellte Luzie fest.
„Haben sie einen Haftbefehl?“
„Nein!“
„Eine Durchsuchungserlaubnis?“
„Bewahre!“
„Lesen sie den Strom ab?“
„Nicht dass ich wüsste.“
„Wollen Sie was kaufen?“
„Ich habe kein Geld.“
„Dann raus hier!“
„Das kann ich nicht, jetzt wo ich weiß, dass sie Luzie Kringel sind.“
Luzie fasste sich an den Kopf. Was war das für ein Typ? Vielleicht suchte er Janette von nebenan?
„Janette wohnt gegenüber. Da finden Sie was sie suchen. Handjob zwanzig, Blasen fünfzig ...“, begann sie das Programm der Nachbarin herunter zu leiern.
„Ich suche nur Sie, Fräulein Kringel!“
„Sind sie ein Stalker?“ Na super.
„Was bedeutet das?“ Der Mann war irritiert. Stohka?
„Ob sie hinter mir her sind und jetzt vor meiner Wohnung warten, mich anrufen und mir hinterherlaufen, um ihre kranken Fantasien auszuleben.“
„Nun ...“ Georg Malteser errötete. „In der Hauptsache spielen meine Fantasien keine Rolle, aber der Rest trifft des Pudels Kern.“
Luzie hatte die Schnauze voll. Er bestritt seine widerwärtigen Pläne nicht einmal. „Bettie!“ Polizei rufen war nicht, wenn man jede Menge Drogen in seiner Wohnung aufbewahrte.
„Häh?“
„Komm mal.“ Bettie erhob sich schwerfällig und kam in ihrem kurzen Bademantel in die Küche geschlurft.
„Wir müssen den Typen hier rausschmeißen. Das isn Stalker.“
Bettie gähnte und sagte: „Du hast 'nen Knall.“
„Ist kein Witz. Er kam mit Freddy und jetzt sagt er, er wolle immer in meiner Nähe sein.“ Georg Malteser nickte zustimmend. So war es.
„Ey, Luzie. Da ist keiner. Schlaf mal ne Runde, du siehst Gespenster. Kann ich jetzt weiter gucken? Bunny und Tuxedo Mask werden wieder vereint ...“
Luzie trat auf den Mann zu und packte ihn an der Schulter. Der Typ war echt! Sie versuchte es noch einmal und Bettie drehte sich schulterzuckend ab. Luzie machte immer komische Sachen. Das war normal. Jetzt fuchtelte sie halt mit den Händen rum.
„Siehst du den Freak nicht?“
„Doch. Und sein Pony muss mal wieder dringend geschnitten werden.“ Sie tippte Luzie gegen die Stirn. „Saubere Jeans wären auch ganz nett.“ Mit diesen Worten klopfte Bettie ihrer Freundin gutmütig auf den Po und zockelte ins Schlafzimmer, magisch angezogen von der warmen, weichen Matratze. Luzie war nicht blöd. Bettie hatte den Mann nicht gesehen, obwohl er da war.
„Was zum Teufel sind Sie?“
„Nun … Gespenst trifft es leidlich. Gestatten Sie mir eine Frage aus reiner Neugier: Sind die jungen Damen heutzutage alle so forsch wie Sie?“
Luzie Kringel war nicht der Mensch, der an sich zweifelte. Da stand eher ein Gespenst vor ihrer Nase, als dass sie verrückt war. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und forderte ihn auf, ohne auf seine Frage zu antworten: „Beweisen Sie, dass sie ein Gespenst sind.“
„Und wie?“
„Spuken Sie. Oder bewegen Sie den Toaster mit Gedankenkraft.“ Was machten Geister noch so?
„D-das kann ich nicht!“
„Dann eine Botschaft von meiner toten Großmutter Hannah Kringel.“
„Ich kenne ihre werte Frau Großmutter nicht.“
„Was können sie denn?“
„Nun“, Georg Malteser starrte auf den Boden. Dass das junge Fräulein gleich so direkt sein musste! „Ich weiß Dinge über Sie, die sonst niemand wissen kann.“
„Und was?“
Georg Malteser kämpfte mit sich. Schließlich trat er dicht zu ihr und flüsterte unhörbar ein paar Sätze in ihr Ohr. Luzie wurde blass. Wie konnte dieser Perverse das wissen? Er musste in ihr Hirn eingedrungen sein! „Wenn Sie jemals einem Menschen davon erzählen, dann stopf ich ihnen ihre verdammten Geistereier in den Rachen!“
„Sie wollten einen Beweis!“ Georg Malteser tat es ausgesprochen leid die junge Frau so direkt damit konfrontiert zu haben „Und das ist nichts wofür man sich schämen muss, glauben sie einem welterfahrenen Mann“, beschwichtigte er.
Okay. Informationen waren manchmal Bargeld, wer wusste das besser als sie selbst? „Was wollen Sie von mir?“ Luzie trat einen Schritt zurück.
Georg wägte ab. Nichts sagen, bevor Honey ihr Okay gab.
„Wir müssen erst die anderen finden. Dann werden Sie alles erfahren.“
„Was für andere?“
Georg Malteser, gelernter Buchhalter bei Schmitz Eisenwaren zuckte verlegen lächelnd mit den Schultern. „Ich darf es nicht sagen!“
„Wollen Sie mir schaden?“
„Nein! Es ist eher so ...“ Er brach ab. „Ich kann es nicht sagen. Und wenn Sie mich drängen, dann ...“ Er überlegte kurz. „Dann verfluche ich Sie“, log er schließlich.
Luzie war ein wenig überfordert. „Können Sie wenigstens durch Wände gehen?“
„Selbstverständlich“, bestätigte der Geist erleichtert. Warum war ihm das nicht früher eingefallen? Eifrig durchschritt er ein paar Male die Wand die das Bad von der Küche trennte.
Luzie biss sich auf die Lippe. Wenn sie nun ihr eigenes Gespenst hatte, dann würde sie auch einen Nutzen aus der Sache ziehen wollen … Was konnte ein Gespenst, was sie nicht konnte?
„Kennst du Raoul?“
„Bitte?“
Direkt aufs Ziel zugehend verlangte sie: „Also, bitte spann mal den Raoul aus. Der wohnt hier ganz in der Nähe. Immer wenn ich bei ihm kaufen will, hat er angeblich nichts. Kannst du rausfinden, an wen er sein Gras vertickt?“
Georg Malteser zog sein Kinn zurück. Das war nicht richtig. Gras wuchs doch überall, warum pflückte die juvenile Schönheit es nicht selbst? Und ausspannen – was meinte sie damit? „Also, das ist eigentlich nicht mein Auftrag ...“
„Jetzt mach mal. Check mal was der Raoul mit dem Gras anstellt! Einfach ein bisschen hinterher spionieren, das wirst du doch können, als Dämon, oder? Dann darfste auch gucken, wenn ich mich ausziehe.“
„Ich würde niemals …!“ Er war ein anständiger Mann! „Und ich bin auch kein Dämon! Herrje!“
„Bitte!“ Sie schürzte den kleinen Mund und ihre braunen Augen schimmerten flehend.
„Wo genau wohnt dieser Herr?“, gab das Gespenst sich geschlagen.
„Malinckrodtstraße 2. Raoul Heinzmann“
Georg sah sie mit schmelzendem Herz an. Ihr Lächeln war süßer als die Buttercremetorte seiner Tante Hedwig. Die Mode heutzutage war wirklich ein wenig gewöhnungsbedürftig, diese Schlabberhosen - furchtbar - aber die Augen der jungen Frau so rein und stark und klar und wundervoll!
„Ich sehe mir den jungen Mann einmal an.“
Luzie reckte die Daumen begeistert in die Höhe.

„Ich habe nen Geist, Bettie.“
„Nervt das nicht ohne Ende?“ Mamoru Chiba aka Tuxedo Mask schmiss seine Rose.
„Weiß ich noch nicht. Gerade checkt der Raoul für mich ab.“
„ Wer wärst du aus Sailor Moon?“, überging Bettie das anstrengende Thema „Neue Freunde aus dem Totenreich“.
„Misato Katsuragi.“
„Das ist Neon Genesis.“
„Trotzdem.“
Luzie hielt ihr Feuerzeug an die Bong. Jetzt hatte sie also ihren eigenen Geist. Toll. Und wie leicht es war, ihn durch die Gegend zu scheuchen. Sie zweifelte nicht eine Sekunde an seiner Existenz. Es war ihr völlig klar, dass so etwas eines Tages geschehen musste. Das einzige, was sie wunderte war, dass sie erst zweiundzwanzig werde musste, um ihrem persönlichen Gespenst zu begegnen.

Früher hatte sie geträumt, heute glaubte sie nicht mehr an Sentimentalitäten. Früher wollte sie gern gehabt werden, heute war sie froh über jeden der sie zum Kotzen fand. Früher hatte sie geweint, wenn ihr Vater sagte, ihr Wasserfarbenbild sähe scheiße aus. Heute war das einzige, das sie malte Emoticons in SMS. Rennen, rennen, rennen – das war Luzie Kringel. Bein aufschürfen, fluchen, rennen, Arm brechen, fluchen, rennen, Herz auf der Strecke rausgerissen bekommen, fluchen, rennen.
„Ich bin so müde und ich kann nicht schlafen“, maulte Luzie in die alte, talgig riechende Bettwäsche. Sie war überzeugt davon, nie in den Schlaf zu finden und schon schnarchte sie halblaut. Bettie legte ihren Arm um Luzie, so wie sie es gemacht hatte, als Luzie vor lauter Energie bei der Abschluss-Kindertagesstätten-Übernachtungsfeier nicht einschlafen konnte. Betties Augen lösten sich vom Bildschirm und sie zog Luzie dichter an sich, als das allnächtliche Weinen ihren Körper durchrüttelte. Bettie strich den rausgewachsenen Pony von den flatternden Lidern. Jede Nacht dasselbe.

Dr. Poppe




„Was guckst du denn so stinkig?“, schnauzte Uschi Peltzke Marvin an, der die Zappelei auf dem Kinderstuhl neben sich ignorierte und seine persönliche Heimsuchung Frau Dr. Hoffmann* niederstarrte. Sichtlich unbeeindruckt und wie aus dem Ei gepellt stand der geschlechtsverwirrte Geist gegen den Kühlschrank gelehnt da und wartete geduldig bis sein Schützling seine Choco-Pops gelöffelt hatte.
„So guck ich immer“, erwiderte Marvin schlecht gelaunt und bekam routiniert mit einer Hand den Hochstuhl zu packen, der bedenklich schwankte. Leon wartete nicht gerne auf sein Gläschen, das im Wasserbad warm wurde.
Marvin schob die Schale von sich, er hatte keinen Appetit. „Ich muss jetzt los.“
Seine Mutter, Justin und Yannik riefen ihm etwas hinterher und ohne Abschiedsgruß knallte Marvin die Tür hinter sich zu.

Er wählte den nächstgelegenen Psychiater. Dr. Poppe. Neurologe, Psychiater, Heilpraktiker und zertifizierter Lichtkundler nach Frey.
„Was soll das bringen? Du sagst, du siehst Gespenster – er sagt, du bist verrückt. Du bekommst Elektroschocks und mich gibt es immer noch, nur dass du dann wie das Gespenst durch die Gegend rennst“, versuchte Honey ihn zur Vernunft zu bringen.
„Elektroschocks?“
„Oder auch eine Lobotomie.“ Honey war nicht ganz auf dem Stand moderner Psychiatrie.
„Halt die Klappe!“ Komisch, wenn er sich die Ohren zuhielt, hörte er sie wirklich nicht mehr. Konnte man die Stimmen im Kopf so einfach zum schweigen bringen?

Marvin wähnte sich im Glück. Er musste nicht warten, denn die Praxis war leer. Es gab auch keine Dame am Empfang, sondern der Doktor persönlich speiste seine Daten in den Computer und die zehn Euro in eine Geldkassette ein, die mit Pril-Blumen beklebt war. Zu Marvins Verblüffung trug Dr. Poppe trug eine Art Stirnband, an dem eine mattschimmernde Pyramidenkonstruktion befestigt war, einem schwebenden Hut gleich. Der vollbärtige Mann, der überhaupt fast nur aus Haar zu bestehen schien, lächelte ihm ermunternd zu. „Na, dann schauen wir mal Herr Peltzke, was ich für Sie tun kann.“

Trotz seines befremdenden Kopfputzes erschien er Marvin kompetent, weil er eine Menge Fragen stellte, die meisten konnte Marvin beantworten. Drogen, Job, familiäre Situation. Manche empörten ihn. Ob er Probleme mit der Blasenkontrolle hätte und wann er das letzte Mal im Urlaub gewesen sei? Und wohin es ging? „Das geht sie nichts an.“ Marvin schämte sich, überhaupt noch nie eine Reise gemacht zu haben.
„Manchmal gibt es Krankheiten, die hier nicht sehr verbreitet sind und merkwürdiges Empfinden begründen. Das muss man alles sorgfältig abklären.“
Der Arzt notierte gewissenhaft, was Marvin im erzählte und fragte abschließend: „So und was ist ihr Anliegen?“
Stimmt so weit waren sie ja noch gar nicht gekommen. „Also seit gestern habe ich Hallus. Und als ich heute aufgestanden bin immer noch. Na ja, ich denk mal muss was mit der Pappe zu tun haben, die ich neulich genommen habe.“
„Beschreiben sie die Halluzination bitte.“
Und so begann Marvin dem Psychiater alles über Honey zu berichten.
„Ist sie hier?“ Dr. Poppe sah sich um.
„Ja, sie sitzt auf dem Sofa.“
„Redet sie aktuell?“
„Nö. Ich bin ja mit Ihnen am labern. Reinquatschen macht sie bis jetzt nicht.“
„Gibt sie ihnen Befehle?“
„Nicht direkt.“ Dr. Poppe war begeistert. Der Junge hatte eine weitreichende drogenindizierte Bewusstseinserfahrung gemacht und nun kommunizierte er unmittelbar mit seinem Unterbewusstsein. Der Glückliche!
„Wenn ich mir die Ohren zuhalte, höre ich Honey nicht.“
Das war interessant.
„Krieg ich jetzt Psychopillen?“ Marvin Peltzke wollte endlich wieder nur tatsächlich existierende Personen sehen und er glaubte an die Magie der Medizin.
Unschlüssig wackelte der Arzt mit dem Lockenkopf. Er sah aus wie ein gutmütiger Löwe.
„Was denken Sie? Hab ich ne LSD-Psychose?“
„Also … manches deutet darauf hin, manches nicht. Optische und akustische Halluzinationen sind Symptome, bei denen man hellhörig sein sollte, aber ...“
„Aber was?“, langsam wurde er ungeduldig.
„Ein Mensch mit einer Psychose glaubt an das, was er sieht. Er kommt nicht in eine Praxis spaziert und sagt, er sei verrückt. Im Gegenteil. Wir sollten erst einmal untersuchen lassen, ob sie nicht einen Hirntumor haben … also diese Honey ist also ein Crossdresser?“
Marvin sah unsicher zu seinem Geist der leise „Transvestit“ sagte. Sie kannte das neumodische Wort nicht.
„Nein, ein Transvestit“, plapperte er ihr nach.
„Sind sie homosexuell?“
„Nein!“, schrie Marvin entsetzt.
„Also ja“, Dr. Poppe machte sich eine Notiz.
„Das haben sie jetzt nicht da hingeschrieben!“ Der Maurer sprang auf und kämpfte mit dem Arzt um das Klemmbrett.
„Doch.“
„Nein!“
„Ein bisschen vielleicht?“, lockte der Pyramidenhutbesitzer.
„Aber nur ein ganz kleines!“ Ganz ganz kleines bisschen. Marvin wurde rot. Dort, wo er lebte, war das kein Thema. Man war einfach normal. Daran gab es nichts zu rütteln, egal wie es im Inneren aussah.
Dr. Poppe wartete bis der Junge sich beruhigt hatte und rückte seine Pyramide, die unter dem kleinen Handgemenge verrutscht war wieder gerade. Eindeutig zu viel Yang, zu wenig Erde und schwul. „Ich tendiere zu zwei Möglichkeiten: Entweder Sie verdrängen ihre Sexualität oder sie haben tatsächlich einen Geist. Ach ja, oder Hirntumor. Dann kann ich ihnen allerdings nicht helfen.“
„Es gibt keine Geister.“
„Wir sind an der Schwelle zu einer neuen Zeit. Der Aufstieg in die fünfte Dimension hat bereits begonnen. Es kann gut sein, dass ektoderme Wesenheiten...“ Der Arzt brach den Beginn seiner enthusiastischen Rede seufzend ab, als er in Marvins verstörtes Gesicht blickte.
„Ich verdränge meine Sexualität“, entschied Marvin. Besser als irgendwelche Dimensionswechsel.
„Ich halte das für sehr wahrscheinlich. Das Thema belastet ihre Psyche und nun manifestieren Sie Ihre Ängste in Form einer Überzeichnung, einer Karikatur ihrer Vorstellung von gleichgeschlechtlicher Liebe.“
Marvin ließ die Worte auf sich wirken, schob die Unterlippe vor und sagte finster: „Das bleibt aber unter uns.“
„Natürlich! Ärztliche Schweigepflicht. Eid des Hippokrates! Aber bitte erst vorher ein MRT machen, es wäre ein bisschen peinlich für mich, wenn es doch ein Hirntumor wäre. Dann kommen Sie wieder und wir beginnen Ihre Therapie.“
„Und danach ist die Alte weg?“
„Sobald sie ihr Ying zulassen staut es sich nicht mehr als abgespaltener Teil Ihrer Persönlichkeit.“
„Und bis dahin?“
„Nun, erst einmal schreibe ich Sie krank. Dann kiffen Sie sich einen und dann reden sie mit ihrem Alter Ego über die Freuden der erblühenden Liebe unter Knaben! Nehmen Sie ihr Unbewusstes als Ratgeber, das sie heilen will!“
Honey schnaubte amüsiert.
Marvin Peltzke war verunsichert. Ein Rezept wäre ihm lieber, aber ein gelber Schein war auch nicht zu verachten.
„Sagen sie, was ist das eigentlich für ein Ding?“, wagte Marvin zu fragen und deutete auf die Pyramide.
„Es bündelt die universalen Energien und bringt mich in meine Kraft! Es energetisiert und harmonisiert meine Körperzellen. Ohne meinen Pyramidenhut bin ich viel grobstofflicher im Empfinden.“
Honey verzog das Gesicht und tippte sich an die Stirn.
„Ah … okay. Ich … klingt logisch.“
Dr. Poppe grinste selbstzufrieden und schüttelte Marvin Peltzke die Hand. Verwirrt stand der junge Mann mit einer Überweisung, einem Attest und einem Rosenquarz, den er von nun an immer dicht am Körper tragen sollte, auf dem schäbigen Flur. Neben ihm sein schwules Unterbewusstsein, deutlich amüsiert.

Kiffen hatte der Psychiater gesagt. Marvin fühlte die Scheine, die ihm gestern Abend in den den String gesteckt worden waren, in seiner hinteren Jeanstasche. Gute Idee. Er war reichlich angespannt, da würde ein Joint Wunder wirken.
Also steuerte er Luzie Kringels Wohnung an. Mit Geld war man stets willkommen.

Luzie und Marvin konnte man nicht als Freunde, aber als sich wohlgesonnene ehemalige Grundschulkollegen bezeichnen. Er fand Luzie lustig und sie war mutig. Luzie wiederum hatte nichts gegen Marvin einzuwenden, denn er bettelte nie um Kredite, kam zu der Zeit, zu der er sich ankündigte und sagte ab, wenn er es nicht schaffte. Außerdem kümmerte er sich oft um seine Geschwister, das hier nicht selbstverständlich war. Vielleicht war sein Herz einfach zu voll an diesem Tag, denn als Luzie bemerkte, er sähe beschissen aus, erwiderte er niedergeschlagen: „Ich habe Unterbewusstsein. War gerade beim Doc.“
„Gibts nicht.“ Luzie pflückte aus dem grünen Ballen eine kleine Menge und legte sie auf die Waage.
„Ich sehe Gespenster. Also kein Gespenst, sondern mein unterbewusstes Gespenst.“
„Entweder ist es ein echtes Gespenst oder du bist kolone.“
„Kolone.“
„Ich habe ein wirkliches. Checkt gerade Raoul für mich ab.“
„Wenn du deinen persönlichen Zellhaufen meinst, den habe ich gerade im Schlafzimmer husten gehört.“
„Schnauze, Peltzke“, tönte es aus dem Schlafzimmer. Bettie war auch in der 3c der Fröbel-Grundschule gewesen.
Marvin lachte. „Musst dich mal bewegen.“
„Kannst mich ja heute Abend bei Body-Company besuchen.“ Irrerweise stand Bettie hinter der Theke des Fitnessclubs, obwohl sie niemals in den Trainingsraum vorgedrungen war.
Marvin fühlte Honeys Hand auf seiner Schulter, die scharf forderte: „Frag sie nach dem Geist.“
Marvin gehorchte: „Was ist das für ein Geist?“
„Irgendwie ziemlich oldfashioned. Georg heißt er, hat nen Hut und sagt komische Sachen. Wenigstens keiner aus dem Mittelalter, da hätt ich ja sowas von keinen Bock drauf. Mal schauen, wie man ihn am besten verwenden kann.“
Honey knirschte mit den Zähnen. Sie sprach von dem armen Kerl wie von einem Küchengerät. Und dann sagte Honey: „Frag sie, warum sie sich so sicher ist, dass sie keinen Dachschaden hat.“ Wie hatte Malteser das nur angestellt? Sie würde jetzt als Homosexualitäts-Problem abgetan werden, während Georg der willige Stiefelknecht einer größenwahnsinnigen Drogenhändlerin war. Das war doch verkehrte Welt! Sie als Geister sollten furchteinflößend sein und respektiert werden!
„Wie kannst du dir sicher sein, dass es nicht dein Unterbewusstsein ist?“
„Unterbewusstsein ist im Hirn drin. Verstehst du? Ein Gespenst ist außerhalb und kann durch Wände gehen.“
„Ja, aber vielleicht ist es auch deine unterdrückte Sexualität, die sich“, was hatte Dr. Poppe noch gesagt? - „manifestiert?“
„Unsinn“, lehnte Luzie kategorisch ab. „Das ist ein Verstorbener und gut ist. Ich lass mir doch von dir meinen Geist nicht madig machen!“
Wenn Georg nur hier wäre, Honey würde ihm einen denkwürdigen Einlauf verpassen! Er konnte doch nicht einfach seinen Posten bei Luzie Kringel verlassen, um für sie andere Menschen auszuspionieren. Dieses Weibstück! Sie fand sie richtig sympathisch, aber wenn sie dachte klüger zu sein, als Honey, hatte sie sich geschnitten.
„Frag sie doch mal, warum sie damals weggelaufen ist, wenn ihre Sexualität nicht unterdrückt ist!“
„Und warum bist du dann damals weggelaufen, wenn du kein sexuelles Problem hast?“
Luzie erhob sich. Sie war sich sicher, dass Marvin keine Ahnung hatte wovon er sprach. „Du hast keine Halluzinationen, sondern wirklich ein Gespenst. Wo ist es?“
„Hinter mir.“
Luzie wusste nicht wen oder was sie drohend fixierte, aber ihre Botschaft war eindeutig: „Wenn ihr perversen Freaks nicht aufhört meine privaten Daten zu veröffentlichen, dann verklag ich euch. Ihr Schweine!“
Honey lächelte. Der arme Georg.
„Wenn mein Geist wieder hier ist, dann ruf ich dich an und du kommst mit deinem vorbei, klar?“
Marvin stöhnte. Was war real, was war ausgedacht? Wo war seine schöne sichere Geistesstabilität nur hin?
„Okay.“ Er schnappte sich den kleinen Beutel und freute sich dem Irrsinn entfliehen zu können.

Nachdenklich saß Luzie Kringel am Küchentisch und knabberte an ihrem Daumennagel. Im Kopf war immer alles so einfach, aber in der Realität hatte sie bei der einzigen Möglichkeit ihre innere Perverse zu entfesseln kläglich versagt. Woher wussten die Geister das und wieso war das wichtig? Nicht einmal Bettie kannte ihre Fantasien. „Scheiße“, murmelte sie, als sie sich einen türkisen Lacksplitter von der Zunge zupfte. Ausgerechnet Marvin Peltzke hatte einen Geist. Waren die irgendwie aus dem Heim für gefallene Parallelwesen ausgebrochen und suchten sich neue Herrchen? Sie würde Georg ausquetschen, sobald er wieder da war. Wenn er wiederkam. Hoffentlich! War sie zu kratzbürstig gewesen?
„Na was denkste?“ Bettie lächelte ihr zu.
„Ob mein Geist wieder zurück nach Hause kommt!“
„Mach dir mal keine Sorgen. Wenn nicht der, dann ein anderer.“


…....................................................
Dr. Albert Hoffmann, Chemiker und Entdecker des LSD

Falls jemand glaubt, der Pyramidenhut sei eine meiner Erfindungen, irrt. Ich kenne sogar jemanden, der ein solches Teil besitzt und trägt.
http://www.pyramiden-kraft.de/pyramiden/02_standpyramiden.htm
Ein Muss für alle Esoterikbegeisterten wie mich: http://www.youtube.com/watch?v=a6X0IuiVsmk

Jonathan




Jonathan von Kosewitz versteckte seine tiefsitzende Schüchternheit hinter seinen schwarzen Haaren und jeder, der das Klaviergenie spielen hörte und etwas vom Klavierspiel verstand, hatte Tränen in den Augen, wenn seine Finger über die Tasten glitten. Er hatte bereits Kinderlieder nach Gehör auf dem Flügel nachspielen können, bevor er mit Messer und Gabel umgehen konnte. Die Anfangsmelodie von Catweazle – perfekt interpretiert von einem Dreijährigen. Seine Eltern waren entzückt. Wer rechnete schon damit ein leibhaftiges Pianisten-Supertalent in die Welt zusetzen? Er wurde behandelt wie eine Ming-Vase. Sofortige Sportbefreiung ab der ersten Klasse, seine Hände - millionenhoch versichert. Sein Leben ein einziges Üben. Jonathan war etwas besonderes. Eigentlich sollte man meinen, ein Mensch, dem vom Kindesbeinen an mit Ehrfurcht und Bewunderung begegnet wurde, wäre vorm Dauerrotwerden gefeit. Man sollte meinen ein solcher Mensch stolzierte erhobenen Hauptes durch den Bodensatz der Talentlosen. Doch sobald Jonathans Puls sich warum auch immer minimal beschleunigte, lief er nicht nur Rot an, nein, er stotterte auch noch. Wenn andere auf ihn trafen, dann kamen sie hinterher meist überein, er sei vielleicht ein fantastischer Pianist, aber furchtbar arrogant und hielte es nicht für nötig Fragen mit mehr Worten als Ja oder Nein zu beantworten. Beides stimmte. Er war furchtbar schüchtern und furchtbar arrogant. Jonathan gab keine Interviews, „prinzipiell nicht“, aber der wahre Grund war sein Stottern. Um flüssig zu sprechen, musste er vollkommen entspannt sein. So war der Klang seiner Worte die Mauer zwischen ihm und seiner Umwelt und der Klang des Flügels die einzige Waffe, um sie zu durchbrechen.
Seine Eltern hatten alles versucht: Versierte Logopäden, innovativste Atemtechniken, autogenes Training, Psychoanalyse, rituellen Trance-Tanz bei einer Schamanin, Bachblüten, Psychopharmaka, Schocktherapie – aber das Kind wollte es einfach nicht lernen. „Wo der liebe Gott ihm zu viel draufgepackt hat, hat er an der anderen Stelle etwas fortgelassen“, seufzte von Kosewitz Senior hin und wieder.

Alle, die Jonathan näher kannte, atmeten auf, dass nun mit 27 endlich eine Verlobung bekannt gegeben werden konnte. Standesgemäß, zum Glück. Sofie zu Schwick hieß die Glückliche und stammte aus noch nicht vollständig verarmtem Adel. Noch besaß die Familie zu Schwick ein großes Stück Wald, auf dem – Halali – Füchse und Böcke gejagt werden konnten. Als Sofie ihrem Bräutigam dialektbedingt von ihrer „Jacht“ erzählte, wähnte er sich schon auf den schimmernden Wellen des Mittelmeers, bis er um fünf Uhr morgens in eine grüne Wachsjacke gehüllt ein paar Dackeln und Sofie zu Schwick hinterher eilte. Nachdem die Füchse Dackel Kasimirs Hinterteil angefressen hatte, weil dieser im Fuchsbau stecken blieb, trocknete er Sofies Tränen und entschuldigte sich stets mit seinen empfindlichen Fingern. So befand sich eine Menge Waidmanns-Heil-Publikum in seinem Art-Deco-Haus, neben allem, was in der Stadt Rang und Namen hatte. Die Kapelle hatte Sofie ausgesucht. Jonathan nahm Musik viel zu ernst, wenn Stimmung aufkommen sollte, brauchte man kein Streichquartett, jedenfalls nicht wenn der Alkoholspiegel stieg. Sofie war eine zauberhafte Verlobte, wie jeder anerkennend bestätigte und die prächtige Verlobungsfeier bot Aussicht auf eine noch fulminantere Hochzeit. Meist stand Jonathan schweigend neben Sofie, der man den Stress mit der Schneiderin, dem Catering, den Musikern, den falschen Blumenarrangements und ihrem rohseidenen Cocktailkleid nicht mehr ansah. Seine aufmerksamen Augen glitten über die Gäste, von denen er nicht alle kannte. Schließlich wurden sämtliche Bekannte - selbstverständlich nur die einigermaßen repräsentativen - beider Eltern eingeladen. Er erkannte den Ministerpräsidenten und sah zur Seite. Bloß keine Gespräche beginnen, die in einem Desaster aus halbausgespuckten Wortanfängen bestünden.
Eine Frau allerdings stach ihm ins Auge. Sie hatte blonde, kinnlange Haare, einen tiefrot geschminkten Mund und trug ein knielanges, goldenes, ihre in der Tat üppigen Rundungen betonendes Kleid und puderte sich gerade ungeniert ihre Nase mit einer flaumfederpuschigen Quaste. Ab und an verzog sie unzufrieden das Gesicht und als Jonathan ihr einen verstohlenen Blick schenkte, streckte sie ihm einfach die Zunge heraus. Das musste eine von Sofies Freundinnen sein.
Es ärgerte ein wenig, dass niemand mit ihr sprach. Vielleicht sah sie ein wenig vulgär aus, aber es bestand kein Anlass sie gleich zu ignorieren. Natürlich hätte Jonathan sich ihr vorstellen können, aber aus bekannten Gründen entschied er sich dagegen.

Es war nicht so, dass er Sofie nicht mochte. Nein, sie war durchaus ein stellenweise angenehmer Mensch, vor allem wenn sie schlief, aber Jonathan schmeckte es nicht zu dieser Verlobung systematisch getrieben worden zu sein. Als er mit achtzehn keine Freundin hatte, hieß es, er habe zu viel mit seiner Karriere zu tun, mit 22 begannen die Leute komisch zu gucken und mit 25 beschlossen seine Eltern und sein Management den scheuen Mann sanft in die richtige Richtung zu schubsen, um ihm erst sachte, dann vehementer zu einer Verlobung mit Sofie zu überreden, nachdem die „Konfetti“ titelte: „Der ewige Junggeselle – ist ihm keine gut genug?“ Es waren ein paar abgeblitzte Verehrerinnen aufgeführt und als sein Management eine Anfrage erhielt, ob Jonathan nicht bereit wäre bei „Junggeselle sucht Herzdame“ unter fünfzehn geltungssüchtigen Frauen die anspruchsvolle Trophäe darzustellen, wussten alle: Es musste etwas geschehen. Jonathan hatte sich immens geärgert, dass man ihn überhaupt bei einer solchen für alle Beteiligten erniedrigenden Zurschaustellung aller abstoßenden Instinkte in Erwägung zog. So traf er sich also mit Sofie, sie gingen essen, er stotterte nicht so viel wie sonst, dann schliefen sie miteinander und nun waren sie verlobt. Na ja, wenigstens ließ man ihn nun mit diesem Thema in Ruhe und er könnte sich wieder auf seine Kernkompetenzen besinnen.

Als die Gäste betrunkener wurden, zog Jonathan sich klammheimlich auf die erste Etage auf seinen Balkon zurück, um dort eine Zigarette zu rauchen. Er hatte Sofie versprochen das Laster abzulegen, aber es war sein einziges, also fand er, hin und wieder sein Versprechen brechen zu dürfen.
Er stützte sich mit den Ellenbogen auf dem steinernen Geländer ab und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Als er hörte, wie ein Streichholz angerissen wurde, stolperte er nach hinten und merkte Hitze in seine Wangen steigen.
„Meine Güte. Nicht gleich zusammenbrechen!“
Da war die Frau von vorhin. Die Flamme erhellte ihr schneeweißes, pralles Dekolletee und sie hielt ihm das Zündholz hin.
„Was -Was-was?“ Machen sie hier?, fügte Jonathan gedanklich hinzu.
„Wieso ich hier bin? Bestimmt nicht weil die Fete hier so amüsant ist. Und ganz bestimmt nicht, um ihnen zu dieser Verlobungsfarce zu gratulieren.“
„F-f-farce?“
„Ja. F-f-farce“, machte sie ihn nach.
Jonathan war entsetzt. Was hatte die Frau auf seinem Schlafzimmerbalkon verloren? Und wie konnte sie es wagen so mit ihm zu sprechen? Immerhin war er Jonathan von Kosewitz, nun der Verlobte von Sofie zu Schwick und überhaupt! „B-bitte?“
Sie hatte lange darüber nachgedacht, wie man ein Geist-Mensch-Gespräch eröffnen sollte und ihr wäre wohl eine umschweiflose Vermittlung der Faktenlage am liebsten gewesen. „Nun egal. Ich bin hier, um dich sanft an die Tatsache heranzuführen, dass ich die bedeutende Oberdämonin Liz bin, die ab nun an deiner Seite ist, um dich deiner wahren Bestimmung zuzuführen.“ Helga Schmitz trug gerne etwas auf, sie war Liz-Taylor-Fan der ersten Stunde. Warum also den Klavierstar mit ihrem banalen Vornamen langweilen? Und Oberdämonin klang um einiges imposanter als trutschiger Hausgeist.
„Ge-gehören sie zu S-s-s-o … Sofie?“
„Sicher nicht.“ Liz verdrehte die Augen. Nachdem, was sie über Sofie wusste, würden sie bestimmt keine Freundinnen werden. Die Frau wusste wahrscheinlich nicht einmal wie man Glamour buchstabierte.
„W-w-er hat Sie ein-eingeladen?“
„Niemand.“
Jonathan holte tief Luft und konzentrierte sich auf seinen Atem: „Dann gehen Sie bitte.“
„Nein Schätzchen, ich kann nicht gehen. Du sollst dich an mich gewöhnen.“
„W-wenn sie nicht frei-frei-.willig gehen , dann rufe ich den den den Sicherheits-sicherheitsdienst.“
Liz zuckte mit den Schultern. „Bitte.“

So dezent wie möglich zupfte Jonathan einem der Männer am Arm. Er war groß und schlank, und seine Züge bleiben gelassen, als Jonathan kurz mitteilte, dass eine nicht geladene Frau auf seinem Balkon wirres Zeug redete und ihn belästigte.
„Ein F-fan, glaub ich.“ Der Mann nickte. „B-bitte bringen sie sie nicht in Ver-Verlegenheit, ja?“
„Natürlich nicht.“
Er folgte dem Pianisten, aber als sie die Ballustrade erreichten war sie leer.
„Sie scheint gegangen zu sein.“
„Dann werde ich nach ihr suchen. Wie sah die Frau aus?“
„Goldenes Kleid“, Jonathan deutete mit den Händen Liz Vorbau an. „B-blond. Rote Lippen.“
Der Security-Mann nickte. „Ich sehe mich nach ihr um.“
„Danke!“ Jonathan schloss die Augen. Ein durchgedrehter Fan auf seiner Verlobungsparty, Sofie wäre außer sich, wenn sie das wüsste.


Reichlich angetrunken war Sofie in ihrer 2000-Euro-Robe ins Bett gefallen. Sie hatte die lang geplante Party von ganzem Herzen genossen. Jonathan lächelte sie schwermütig an, öffnete seine schwarzen Binder und beschloss eine weitere heimliche Zigarette zu rauchen. Wie sollte er es nur aushalten von nun an jeden Tag denselben Menschen an seiner Seite, in seinem Bett, am Frühstückstisch, zwischen seinen Übungseinheiten und seinen Konzerten bei sich zu haben? Waren seine Räume nicht ohnehin eng genug? Alle Welt wollte seinen Schwanz, aber was wenn er nichts anderes wäre, als ein … Maurer? Wer würde auf einen schüchternen stotternden Erröter stehen, dessen Ausstattung mit zwölfeinhalb Zentimetern (er hatte gemessen) nicht unbedingt beeindruckend war, wenn er nicht reich und berühmt wäre? Vielleicht mochte Sofie ihn rein menschlich, aber er hatte genau gespürt, dass ihr Verlangen nach ihm sich in Grenzen hielt. „Ich bin eine Frau - wir haben nicht so eine ausgeprägte Libido wie ihr“, hatte sie behauptet und bedauernd gelächelt. Wenn sie dachte, dies sei einer ihrer Minuspunkte, irrte sie sich gründlich, dieser Umstand sprach absolut für sie. Ab und an konnte er sich durchaus aufraffen den Beischlaf zu vollziehen – aber bitte bitte nicht öfter als einmal monatlich. Maximal. Jonathan wusste nicht, ob Frauen tatsächlich weniger sexuell getrieben waren, aber vermutlich schon. Frauen waren reine Wesen. Jedenfalls die, die er kennengelernt hatte.
Aber er kannte Liz nicht.
„Hi Schätzchen, da bin ich wieder“, sagte sie sanft, um ihn nicht zu erschrecken.
„Was zur Hölle machen sie schon wieder hier?“ Jonathan war so erschrocken, dass er ganz vergaß zu stottern.
Liz senkte die silber geschminkten Lider und ihre Kunstwimpern warfen Schatten auf ihr Gesicht. „Bleib ganz ruhig. Und sprich nicht so laut, sonst weckst du deine Braut. Mich kann ja niemand hören, außer dir.“
„Hahaha“, lachte der Pianist freudlos. Das Weib war verrückt.
Liz überging sein Gelächter. „Obwohl ich die Oberdämonin aller verlorenen Seelen bin, solltest du mich betrachten, wie eine unsichtbare Freundin. Das kennst du doch? Lolo Pantolo – hieß der sprechende Dalmatiner, den du über Jahre an deiner Seite wähntest, nicht so?“
Aus Jonathans Gesicht wich alle Farbe, bevor hektische Flecken aufblühten. Niemand kannte Lolo Pantolo!
„Siehst du. Nur dass ich wirklich existiere.“
„Entweder Sie-sie ge-gehen jetzt oder ich rufe die Po-polizei!“
Liz nahm ihn entschlossen an der Hand. „Ich zeig dir was und wenn du danach die Polzei rufen willst, dann tu es.“
Er ließ sich von ihr ins Bad zerren. „Hübsch hier, aber ein bisschen altmodisch.“ Sie sah sich im geschmackvollsten Bad der Welt um.
„Äh … Jugendstil.“
„Ich erinnere mich, das war vor einiger Zeit der letzte Schrei. Jetzt sieh in den Spiegel.“
Jonathan von Kosewitz sah sein müdes, fahles Gesicht. Sonst nichts. Er schaute zur Seite, da stand sie, er konnte das schwere Parfüm riechen, aber im silber-zieselierten Spiegel war sie nicht zu sehen.
„Das – das … Sie sind ein Vampir! O-oder i-ich träume.“ Dass er stotterte, sprach dagegen. In seinen Träumen tat er das nämlich nicht.
„Ich wünschte es mir“, sagte Liz bedauernd. Vampirbraut - wie verrucht.
„I-ich muss schlafen.“ Scheinbar hatte die Verlobung zu einer gewissen psychischen Instabilität geführt. Er nahm sich eine Valium aus der kleinen Schublade und als Liz ihm abraten wollte, schloss er entschieden die Augen und sagte: „Ich will nichts hören. Ich werde jetzt schlafen und wenn Sie morgen immer noch da sind, dann reden wir weiter.“
Liz seufzte. Schade. Ihr war so langweilig. Mit Honey hatte man wenigstens Spaß, bis die Sohlen qualmten, wenn sie in die Tasten haute, aber der hier? Nun ja, was sollte sie machen? Schließlich war sie nicht zu ihrem Vergnügen hier.
Also streunte sie durchs Haus, öffnete die Schränke und Kommoden, durchwühlte Fotos und inspizierte den Kühlschrank. Irgendwie war heute alles anders. Merkwürdig, dass sie sich fast jeder ein großes, schwarzes Bild ins Wohnzimmer hängte. Liz fuhr mit dem Finger über den Flachbildschirm. Und auf schicke Rahmen legte heute auch niemand mehr wert. Sehnsuchtsvoll dachte sie an ihr Zigeunerinnengemälde mit dem üppig verzierten Goldrahmen und die Perserteppiche. Das Telefon schien auch wieder out zu sein. Jedenfalls sah sie keins. Dabei hatte es sich damals so gut etabliert.

Hätte Jonathan gewusst, heute der Dritte zu sein, dem einem Gespenst begegnete, wäre er vermutlich nicht beruhigt gewesen. Falls die Erscheinung morgen noch da wäre, würde er einen Nervenarzt aufsuchen. Und wenn das der Fall wäre, bräuchte er eine gute Ausrede, nicht dass Holger, sein Manager dahinterkäme, er würde ihn bestimmt vorsorglich in die Betty-Ford-Klinik einweisen lassen.

Konrad




Für Konrad Herbst war der Kontrast zwischen der Verlobungsfeier der von und zu Kosewitz-Schwicks und seinem spartanischen Waldhaus so immens, als könne er seit Stunden erstmalig wieder frei durchatmen. Er fühlte sich bei solchen Veranstaltungen wie in einem Affenhaus, in dem viel zu wenig Platz herrschte. Mit seiner Größe von zwei Meter sieben kam ihm die Welt ohnehin manchmal ein wenig zu klein geraten vor. Hier in seiner Eremitenhütte ohne Computer, Fernseher und Nachbarn fühlte sich die Welt gerade richtig groß an. Nachdem er nach acht Jahren Bundeswehr wusste, dass er sich keinesfalls weitere Jahre verpflichten würde, hatte er immer wieder die Jobs gewechselt. Keine Tätigkeit vermochte ihn langfristig zu fesseln. Aber er kam zurecht. Er hatte eine Weile mit einer Frau zusammengelebt und nachdem sie seine Welt zum Einstürzen brachte, wohnte er hier, in seinem abgeschiedenen, unkomfortablen und für die Müllabfuhr nicht zugänglichen Häuschen. Nur er, Sniper und seine schlecht besuchte Selbstverteidigungsschule, die sich in einem selbstgezimmerten Flachdachanbau befand. Schlecht besucht, weil Konrad stets vorgab „ausgebucht“ zu sein. Eine Lüge, aber seine drei Einzelkunden reichten ihm neben seinen Aufträgen für die Sicherheitsfirma vollständig. Deshalb hatte er auch nicht enthusiastisch reagiert, als Holger Sacher, der Manager von Jonathan von Kosewitz ihn fest anstellen wollte. Konrad sollte Teil des engsten Securitystab des Pianisten werden, bei Tourneen und Urlauben auf den Klavierspieler aufpassen. Konrad behagte der Gedanke nicht seine Tage mit dem empfindlichen Pianisten zu verbringen. Und überhaupt: Was sollte er mit Sniper machen?

Der Dobermann sprang an ihm hoch, hüpfte, um aus welchen Gründen auch immer Konrads Gesicht zu erreichen und freute sich mächtig über die Rückkehr des Mannes. Mann zurück bedeutete: Fressen und Gesellschaft. Beides Dinge, die Hunde mochten. Konrad streichelte ihn ein bisschen und versuchte sich nicht wie ein Idiot zu benehmen, der einen lang vermissten Bruder wiedertraf. Ihm war das Getue um Hunde im Grunde seines Herzens zuwider, aber dennoch konnte er sich bisweilen kaum verkneifen sich eben so unbändig zu freuen, wie sein vierbeiniger Mitbewohner. Eigentlich sollte Sniper schon tot sein. Konrad war eine Zeit lang für das Veterinäramt tätig gewesen und fing den Hund ein, im Haus des halb von ihm zerfetzten Besitzers. Er erinnerte sich noch, dass ihm kalt geworden war, als er an den engen, verdreckten Zwingern und dem wütend bellenden Kettenhund, dem wie einem Geier das Fell am Hals fehlte, vorbeigeschritten war, den widerborstigen Hund mit Maulkorb hinter sich her schleifend. Sniper sollte eingeschläfert werden. Konrad brachte es nicht übers Herz, behauptete der Hund wäre entwischt und kurz darauf war er Besitzer eines Dobermanns, den er nie haben wollte. Zu Hause hatte er ihm den Maulkorb abgenommen, in der Erwartung nun ebenfalls angefallen zu werden, aber Sniper hatte ihn nur achselzuckend angesehen, mit dem Schwanz gewackelt und sich dann auf den Hintern gesetzt. Eine Weile beäugten sie sich und dann seufzte Konrad. Das Tier hatte gewonnen. Da er nichts hundetaugliches in der Vorratskammer fand, schüttete er eine Dose Gulaschsuppe in eine Plastikschüssel. Sniper war entzückt. Von sich aus machte Konrad keine Anstalten das Tier zu streicheln oder mit ihm in Kontakt zu treten, er ließ ihn raus, ging mit ihm spazieren und öffnete Dosen. Aber abends kam der Hund angeschossen, sprang zu ihm aufs Sofa und rollte sich vor dem Bett des Mannes zusammen. Und irgendwann hatte Konrad es gewagt das braun-schwarze Fell zu streicheln, bis es normal für ihn wurde.

Wem sollte Sniper hier schaden? Konrad hatte sein Grundstück gewissenhaft abgezäunt und seitdem Sniper nicht permanent angebrüllt, geschlagen, festgebunden und getreten wurde hatte er das Verspeisen von Menschen aufgegeben. Gab Lustigeres. Katzen zum Beispiel.
Obwohl es mitten in der Nacht war, schnappte Konrad Herbst sich die Hundeleine und schüttelte den Kopf über Snipers grenzenlose Begeisterung mit ihm durch den Wald zu laufen. Das liebte Konrad am Alleinleben: Hunde durften auf Sofas, man musste keine Dekoration auf Tische und Regale stellen, er konnte kommen und gehen wann er wollte und jeden Tag dasselbe anziehen. Im Leben des ehemaligen Unteroffiziers kamen keine Frauen mehr vor. Eine große Liebe reichte. Mehr würde er nicht schaffen. Die Liebe hatte ihn ausgequetscht, sein gut verborgenes Inneres herausgezerrt und wenn man den zwei Meter Hünen gelegentlich nach seinen Narben fragte, behauptete er „Bundeswehr“, und nicht wahrheitsgemäß: „Bianca“.
Sniper war nur halb so gefährlich wie die Liebe. Konrad hatte von Kosewitz und seine Verlobte keine Sekunde beneidet, nicht um ihre Beziehung, nicht um das Fest, nicht um die Villa und ihre Autos. Beim Bund trugen alle dasselbe. Das zerstörte viele Vorurteile. Es zählte nicht viel, was man sich draußen anzog und an den Wochenenden hatte Konrad sich manches Mal den Kopf gekratzt, als er seine Kollegen in Zivil sah. Mit Markus hätte er nie geredet, hätte er ihn zum ersten Mal in seiner Freizeitkleidung gesehen. Bianca hatte darauf gestanden, auf seine Uniform. Leider war sie komplett verrückt, aber das hatte er nicht gewusst, er hatte ja keine Erfahrung gehabt. Jetzt mit 36 Jahren allerdings wäre er vorsichtiger. Das was er suchte, gab es ohnehin nicht.

Konrad steckte sich seine Taschenlampe in die Cargohose und ließ sich willig von Sniper zur Tür ziehen. „Keine Sorge, ich überleg's mir nicht anders“, versicherte Konrad ihm und gemeinsam ließen sie sich von der Dunkelheit des Waldes einsaugen. Snipers nächstgrößere Freude, neben Fressen und Gesellschaft bestand im fortwährenden Pinkeln an Bäume, Farne und Brombeersträucher. Konrad überlegte zum x-ten Mal, wie die Welt aussähe, wenn Menschen das auch so machten. Vermutlich würden sich die Lügen über Penislängen nicht so hartnäckig halten.
Sniper hielt inne, richtete das, was nach dem Kupieren von seinen Ohren übrig geblieben war, aufmerksam auf und riss Konrad aus seinen Gedanken. „Was ist los?“, fragte er leise, als erwarte er eine vernünftige Erklärung. Da er diese vorhersehbarerweise nicht erhielt, griff Konrad zu seiner Taschenlampe und leuchtete in die Richtung, in die der Hund starrte. Tatsächlich. Da war jemand. Auf einem Baumstamm am Wegesrand kauerte ein Teeanger. Er war viel zu dünn angezogen. Sniper knurrte und Konrad verkürzte die Leine. „Bist du von zu Hause weggelaufen?“, fragte er beruhigend und trat ein paar Schritte ihn zu. Ein verloren wirkender Junge um diese Zeit allein im Wald und nicht in einer Gruppe, deren Bierflaschen und Kippenschachteln Konrad regelmäßig entsorgte, war ungewöhnlich. Zumal der Junge so … brav aussah.
„So ähnlich.“
Konrad seufzte. Was sollte er jetzt machen? Konnte er verantworten den Jungen hier zu lassen, sollte er die Polizei rufen? Die Eltern?
„Ist dir nicht kalt?“
Der Junge schüttelte den Kopf.
„Soll ich dich vielleicht nach Hause bringen?“
„Nein.“
„Kann ich dir anders helfen?“
„Ich weiß nicht.“
Konrad wägte ab, dann entschied er: „Ich nehme dich mit zu mir und wir überlegen, was wir tun können.“ Und wenn der Junge seine Eltern nicht anriefe, würde er die Polizei informieren. Seine Eltern machten sich bestimmt furchtbare Sorgen. Aber das sagte Konrad nicht, damit das Kind nicht ablehnte.
„Danke.“ Unsicher stand der Junge auf.
Es war eine komische Situation für beide. „Keine Angst, Sniper tut dir nichts“, bemerkte Konrad mit Blick auf seinen knurrenden Hund, obwohl er sich nicht sicher war.
„Ich habe keine Angst.“ Wenn man schon tot ist kann nicht mehr allzu viel passieren.
Konrad richtete den Lichtkegel auf den unebenen Waldboden, damit der Junge nicht auch noch stolperte und fragte: „Wie heißt du?“
„Manfred.“
„Das ist ja mal ein Name.“ Die Kinder seiner Schwester hießen Maurice, Elias-Finn und deren Freunde Joel-Noah und Chiara-Aimee. Oder Leon. Wenn man auf dem Spielplatz Leon rief, kam gleich ein ganzer Pulk angerannt. Bei Manfred eher nicht.
„Wieso möchtest du nicht mehr nach Hause.“
Manfred dachte nach. Wie konnte er dem Mann beibringen, dass er bereits tot war? Ein Geist? Warum war er hier? Genau, das Vertrauen des Riesen erlangen, ihn dazu zu bringen sich mit den anderen zu treffen und weil ansonsten ein großes Unglück geschähe. Manfred war das alles furchtbar unangenehm. Auch wenn er noch keinen ordentlichen Bartwuchs hatte, war er immerhin fast achtzehn, na ja, verdammt ewig siebzehn zu sein, und er fragte sich, ob es besser war zuzugeben ein Geist zu sein oder seine Schwäche für … „Nylonstrümpfe.“
„Bitte?“ Es hatte geklungen wie Nylonstrümpfe, aber die Antwort war absurd.
„Oh. Ich habe eine unerklärliche Vorliebe für … Strümpfe.“
Konrad kratzte sich am Kopf. Puh. Na ja. Das kam vor. Strumpfhosenfetischisten. Er hatte davon gehört, aber was sagte man dazu, als doppelt so alter, weiser Mann? „Irgendeine bestimmte Farbe?“
„Schwarz.“
„Ist ein Klassiker“, bemerkte Konrad unbehaglich und wollte wissen: „Und deshalb hast du dich mit deinen Eltern gestritten?“
Seine Eltern hätten ihn vermutlich gleich in Streifen geschnitten, anstatt einen Streit zu beginnen, wenn sie das gewusst hätten, aber Manfred log: „Genau.“
Konrad atmete auf. Es gab bestimmt reizende Damen bei der Pro Familia oder dem Kinderschutzbund, die zwischen Sohn und Eltern vermitteln konnten. Morgen früh würde er sofort da anrufen.
„Weißt du, Eltern reagieren manchmal ein wenig vorschnell, wenn ihre Kinder sich nicht so verhalten, wie sie es für sie wünschen … ich denke aber dass die Liebe größer ist als die Differenzen über … Nylonstrümpfe.“
„Meinen Sie?“ Der Mann tat ja fast so, als wäre das nicht absolut abartig.
„Ganz sicher. Vielleicht möchtest du sie anrufen und ihnen sagen, dass es dir gut geht?“
„Nein. Besser nicht.“
„Wie alt bist du?“
„Siebzehn und 9 Monate.“
„Fast volljährig.“ Manfred sah jünger aus.
„Na ja fast? Noch mehr als drei Jahre.“
Konrad schenkte ihm einen befremdeten Blick. „Früher vielleicht. Aber ich war mit 18 bereits bei der Grundausbildung und hatte eine eigenen Wohnung … und ein Auto.“
Manfred rügte sich stumm, dass er Honeys Unterlagen nicht sorgfältig studiert hatte. Allerdings hatte Liz behauptet, das wäre nicht nötig, weil man nicht mehr wissen bräuchte, als das Leute sich in kleinen Fluggeräten fortbewegten und ihre Briefe per Raketenpost versendeten. Und jetzt so etwas.
„Haha, ich wollte nur gucken ob Sie vielleicht von gestern sind.“
„Ein bisschen schon.“ Konrad lachte. „Ich bin nicht bei Facebook oder Twitter.“
Manfred fragte sich, wovon er redete.
„Du bestimmt schon.“
„Äh ...“ Manfreds Kopf war leerer als eine zenbuddhistische Wand.
„Na dann haben wir ja was gemeinsam.“ Konrad lächelte den Jugendlichen freundlich an. Vermutlich hatte er nicht genug Freunde für Social Networks.
„Findest du es nicht komisch, dass ich na ja … also wegen der Nylons.“
„Na ja. Es gibt ja recht viele die darauf stehen. Meine Baustelle ist das nicht, aber so komisch ist es auch nicht.“
„Viele?!“, hakte Manfred aufgewühlt nach.
„Ähm. Glaub schon.“
„Darf man das heute zugeben?“
„Nun, ich würd's nicht meinem Vorgesetzten oder meiner Schwiegermutter erzählen. Aber so besonders ist es jetzt nicht.“
Manfred Fingerspitzen kribbelten. Was für eine aufregende Zeit! „Kann man die auch kennenlernen?“
„Puh … keine Ahnung. Bestimmt im Internet.“
„Gehst du mit mir dahin?“
„Wohin genau?“
„Zu diesem Internet?“
Konrad wich konsterniert zurück. Mittlerweile zog er in Betracht, dass der Junge geistig behindert war. Vielleicht war er ja aus einer betreuten Wohngruppe geflohen?
„Du hast doch bestimmt einen Computer?“
„Wo soll ich den denn unterkriegen`?“ Manfred wollte sich ausschütten vor Lachen
1956, kurz bevor er gestorben war, wurde das erste Plattenlaufwerk erfunden: Mehr als fünfzig Platten für fünf Megabyte.
Konrad erwiderte nichts. Der Teenager kam ihm reichlich merkwürdig vor. Fast, als gehörte er nicht ins Jahr 2010.

Zu Hause angekommen schob er Manfred aufs Sofa und reichte ihm einen olivgrünen Pullover. „Dir muss kalt sein.“
„Danke.“
„Willst du was essen? Oder einen Tee zum Aufwärmen?“
Gespenster konnten nicht essen, deshalb antwortete Manfred: „Nein danke.“
Er blieb sitzen Aug in Aug mit dem misstrauischen Hund, während Konrad sich eine Hühnersuppe aus der Dose warm machte. Er hatte nämlich Hunger. Konrad dachte über das Kind nach. Eigentlich wirkte es so nett. Und andererseits war es unheimlich. Was hatte er sich da bloß wieder aufgehalst? Sniper, gestörte Fetischisten, verrückte Weiber, mimosenhafte Pianisten … war er ein gottverfluchter Magnet des Wahnsinns?

„Wenn du auch was willst …?“ Konrad zeigte auf die Brühe.
„Nein wirklich nicht.“
Achselzuckend begann der Mann die Suppe zu essen, versuchte sich jeden Bissen bewusst zu machen, aber war abgelenkt von Manfred, der ihn fast ein bisschen entrückt anstarrte.
„Was?“, fragte er hilflos.
„Ich habe immer gedacht, Männer, die sich gerne von Frauen schlagen lassen, wären alle so wie Georg oder totale Weicheier.“
Konrad fiel der Löffel in die Suppe und Manfred schlug beide Hände vor den Mund. Wie respektlos redete er mit einem Erwachsenen! „Entschuldigung“, kiekste er mit weit aufgerissenen Augen.
In Konrads Kopf überschlugen sich die Gedanken und ein einziger kristallisierte sich heraus: Woher wusste der Junge das?
„Schickt Bianca dich?“, fragte er gespielt gelassen und Manfred wollte sich umbringen, wäre er nicht bereits tot. Bianca, ja klar, er kannte die Geschichte. Das musste er schließlich.
„Nein! Sie denkt gar nicht mehr an dich!“ Auweia! Verflixt und zugenäht! Wieso nur hatte er das gesagt?
„Du kennst Bianca?“
„N-n-nein. Nicht persönlich! Sie ist eine garstige Person!“
„Garstig?“ Konrad schloss die Augen und versuchte den zwingend logischen Anteil aus dem Gespräch herauszufiltern, aber es gelang ihm nicht. Nichts passte zusammen! Ein entlaufener strumpfhosengeiler Teenie ohne Internet, der Bianca zu kennen schien…
Er reduzierte seinen Puls und sah dem Geist in die Augen, bevor er routiniert mit aller Härte fragte: „So Kollege, und jetzt sagst du die Wahrheit. Und zwar Wort für Wort, wenn du nicht willst, dass mein Dobermann dir deine Eier abbeißt.“
Manfred war kurz vorm Heulen. Er hatte alles vermasselt!
„I-ich. Ich bin ein Geist!“
Konrad sah ihn verblüfft an und dann musste er lachen. „Und was Blöderes fällt dir nicht ein?“
„Doch. Schon. Aber …“ Er seufzte abgrundtief.
„Pass auf, Junge, ich hol dir ein Taxi, dann geh zu Bianca und sag ihr, dass ich nichts mehr von ihr wissen will.“
Manfred wand sich. „Ich will auch nichts von Bianca wissen!“
Sniper spürte die Aufregung seines Herrrchens und fletschte die Zähne.
„Kann ich nicht heute Nacht bei dir bleiben? Bitte? Ich kann sonst nirgendwo hin.“ Wortlos erhob sich Konrad Herbst, reichte ihm eine kratzige Decke, löschte das Licht und knallte die Tür zum Schlafzimmer zu, Sniper am Halsband gepackt.
Manfred war traurig. Der Mann glaubte ihm nicht und er hatte ihn verärgert, dabei war er so freundlich gewesen. Nur der Gedanke dass sich im Internet Nylonliebhaber trafen baute ihn auf. Irgendwie würde er herausfinden, wo dieser Club sich befand.

Jonathan von Kosewitz will Liz loswerden




Am nächsten Morgen befand Jonathan von Kosewitz sich in Gesellschaft zweier Frauen. Die eine versuchte die Zeitung zu lesen, während sie einen Milchkaffee mit drei Ibuprofen 400 trank und die andere kommentierte aus dem Geister-Off jeden ihrer Schritte.
„Ich kann mir kaum vorstellen, gleich die Verlobungsgeschenke auszupacken, so schlecht geht es mir!“, jammerte Sofie und verkündete im selben Atemzug: „Wir werden nicht die Dankkarten benutzen, die du hast drucken lassen, auch wenn sie sehr schön sind. Wir bedanken uns handschriftlich – alles andere hat keinen Stil!“
„Schnell Johnny – verbrenn das Teufelszeug, bevor Sofiechen noch in Ohnmacht fällt“, ätzte Liz von der breiten Fensterbank, auf der sie sich drapiert hatte. Jonathan unterdrückte den Drang, sich zu ihr umzudrehen.
„Oh, mein Kopf! Das kommt davon, wenn man nicht bei Champagner bleibt!“
„Ich bekomme nicht einmal Kopfschmerzen, wenn ich Spiritus trinke und manchmal hatten wir nur das!“ Liz fand Sofie ganz schön verwöhnt.
Sofie schlug einen ernsten Tonfall an: „Ich fand es übrigens ein bisschen traurig, dass du nicht mit Ministerpräsident Runge gesprochen hast.“
„Heul doch!“ Liz verdrehte die Augen.
„Halt deine Klappe!“, rutschte es Jonathan heraus und er wurde rot, er musste lernen sich zu disziplinieren, wenn Liz sich einmischte.
Seine Verlobte nickte mit dem Stolz der zutiefst Gekränkten. „Kaum dass du mir die Ehe versprochen hast, meinst du schon, mich beschimpfen zu dürfen.“
Jonathan fuhr sich nervös über die Stirn. Flucht nach vorn. „I-i-ich ärgere mich ja-ja nur ü-über mich selbst. Verzeih, dass-dass du es abgekriegt hast!“
Nun, das sah Sofie ein. Auch wenn ihr Zukünftiger ein berühmter Mann war, er musste an seiner Kommunikationsfähigkeit arbeiten. Schließlich mussten sie ein gesellschaftlich reges Leben führen und das würde sie sich von ihrem Verlobten mit dem Stotterproblem nicht nehmen lassen.
Liz rümpfte die Nase. Sie selbst liebte Gesellschaft, sie stand gerne im Mittelpunkt und durchschaute Sofie, die denselben Geltungsdrang hinter einer Schicht farbloser Bescheidenheit verdeckte.
„Gestern hat meine Mutter mir die Adresse eines fabelhaften Stimmtrainers gegeben. Er verlangt kein Honorar, wenn du hinterher immer noch ein Problem beim Sprechen hast.“
„Wie heißt er?“
„Prof. Udo Felsner.“ Sofie strahlte und Jonathan lächelte mitleidig. Sie hatte immer noch nicht begriffen, dass es ihn nur in der Stotter-Version gab. „D-doch, S-sofie. D-er will sein Ho-honorar trotzdem. Ich ha-habe zwei Jahre gegen ihn prozessiert.“
„Sie soll froh sein, dass du keine Erektionsprobleme hast. Das Geschwätz von Männern braucht doch wirklich kein Mensch!“, kommentierte Liz und tupfte sich mit dem kleinen Finger eine Spur Lippenstift vom Mundwinkel. Jonathan hustete, um sein Grinsen zu verbergen. Sofie zu Schwick legte ihre Hand auf seine. „Jetzt sind wir wirklich verlobt!“ Vor lauter Ehrfurcht bezüglich dieser Tatsache stiegen ihr Tränen in die Augen. Jonathan lächelte sie an. Als Liz rau sagte: „Was für eine Leistung. Ich war schon acht mal verlobt!“, drückte er Sofie einen Kuss auf den Mund, damit sie nicht fragte, was ihn so erheiterte.

Liz war eine Katastrophe. Sie lief neben ihm her und fragte ihn tausend Sachen. „Was ist das für ein Zauberkasten, der Musik macht und Bilder erzeugt?“ - Das Handy. Telefon, du verstehst? „Warum trägt deine Frau diese trampeligen Indianerschuhe, wo sie doch reich ist?“ - Das sind Todds und sie sind teuer. „Das ist ja toll: wenn man Kaffee will, dann braucht man gar kein Wasser kochen, sondern einfach nur ein Knöpfchen drücken! Ist das bei Essen dasselbe?“ - Fast.
Jonathan wusste nicht, was er mit seiner unsichtbaren Freundin machen sollte. Entweder würde er sich Realitätspillen verschreiben lassen müssen, dann wäre sie weg oder er gewöhnte sich an sie, was er eigentlich ganz aufregend fand. Einen unsichtbaren Freund nur für sich allein.
„Weißt du, was mich wundert?“
„Nein“, seufzte Jonathan.
„Dass ihr 175er immer noch heiraten und Kinder machen müsst und euch nicht längst mal durchgesetzt habt.“
„Bitte?“ Jonathan wusste nicht was ein 175er sein sollte.*
„Ich meine euch warmen Brüder!“
Jonathan drehte sich steif zu ihr um. „Das haben wir. Heute gibt es sogar Eheschließungen.“
Liz pfiff anerkennend durch die Zähne. „Sauber. Aber warum du nicht?“
Er schluckte. „Ich habe zu viel mit meiner Musik zu tun, um mich mit solchen Nebensächlichkeiten zu beschäftigen. Mich zu irgendeiner uninteressanten Neigung zu bekennen bedeutet Stress in alle Richtungen. Und den brauche ich nicht.“
Liz sah ihn zweifelnd an. Meinte der das wirklich? Wenn nicht … dann würde sie ihm einheizen. Rechte haben und sie nicht zu nutzen – so ein Blödsinn. Ihre Gedanken waren schon wieder bei einem neuen Thema. „Was ist mit Prostitution?“
„Ich habe einen Job, danke der Nachfrage.“
„Nein, ist das auch erlaubt, heute?“
„Ja. Glaub schon, aber ich kenne mich nicht aus.“
Das hätte ihr eine Menge Ärger ersparen können. Liz seufzte. Eine ganze Menge Ärger!
„Und Frauen brauchen keine Einwilligung mehr, wenn sie heiraten wollen. Unser Bundeskanzler ist eine Frau. Und es gibt Tabletten, damit Frauen nicht schwanger werden ...“, zählte Jonathan ein paar Punkte aus, die Liz vielleicht interessieren konnten. Als er sah, dass Liz Augen feucht schimmerten und ihr roter Mund zitterte lächelte er traurig.

Liz seufzte laut und anklagend, als Jonathan sich an seinen Flügel setzte. Sie quetschte sich auf den Hocker neben ihn, klagte in Beethoven hinein über Langeweile und machte Jonathan verrückt. Okay. Er knallte den Deckel des Instruments zu und entschied sich für die Pillen gegen Realitätsverlust. Wenn seine unsichtbare Freundin ihn vom Üben abhielt, war der Punkt erreicht, an dem er die Notbremse ziehen musste. Er schrieb seiner Verlobten eine SMS, die gerade das 12-teilige Service aus der Colour Collection der Manufaktur Fürstenberg in Sip of gold umtauschte. Hatte sie nicht ausdrücklich gesagt: Keine Farben?
Ich habe einen Termin bei einem Komponisten, dessen Werke mir gefallen. Sag Holger nichts, er mag es nicht, wenn ich so etwas allein entscheide. Kuss Jonathan.
Damit hatte er sich Sofie und seinen Manager zugleich vom Hals gehalten. Liz erstarrte vor Ehrfurcht, als Jonathan sein Notebook aufklappte und nach einem Psychiater suchte, der möglichst nicht in seinem Stadtteil praktizierte. Das war Zauberei! Wie in einem Kinofilm!
„Dr. Poppe“, murmelte Jonathan und merkte sich die Adresse. Privatpatienten mussten ja in aller Regel nicht lange warten. Er würde gespensterfrei sein, bevor ihm jemand auf die Schliche käme.

„Dass ein Arzt überhaupt hier eine Praxis haben darf“, flüsterte Jonathan Liz zu. Eine große Sonnenbrille bedeckte seine berühmten Pianistenaugen, wohingegen der weiße Schal ihn als Künstler verriet. Der Nachkriegsbau war gammelig, der Flur dreckig und jede Menge arme Leute gingen ein und aus. Nun, das sagte nichts über die Qualität des Arztes, schließlich suchten sie sich ihre Standorte nicht selbst aus, ermutigte er sich.

Jonathan versuchte den Poppeschen Pyramidenhut zu ignorieren.
„Ich bräuchte ihre Karte.“ Der Arzt streckte die Hand aus.
„Ich bin privat versichert.“
Uiuiui, ein Privatpatient! Großartig. Er würde jede erdenkliche Untersuchung durchführen können! Dr. Poppe dankte der großen Göttin stumm und fragte dann: „Ihr werter Name?“
Jonathan war sprachlos, dann begriff er: Die Sonnenbrille. Er setzte sie schwungvoll ab. Noch Fragen?
„Sie dürfen mir ihren Namen ruhig verraten. Fällt alles unters Ärztegeheimnis“, scherzte Dr. Poppe, der den Klavierspieler nicht kannte.
Jonathan knirschte mit den Zähnen. „Von Kosewitz.“
„Fonn? Ist das ein niederländischer Vorname?“ Er tippte Fonn.
„Jonathan von Kosewitz!“ Wenn es jetzt nicht klingelte, dann wusste er auch nicht weiter.
„Ah! So ist das also! Ein hübscher Name. Sehr hübsch!“ Dr. Poppe hörte sich gerne Walgesänge an, manchmal auch Pink Floyd oder die Kassierer, wenn er kiffte. Früher auch The Ramones, aber bei Klaviermusik war er ein Laie. Er hatte lange Zeit geglaubt Richard Clayderman sei der Komponist von „Für Elise“**.
„Warum tragen Sie dieses Teil auf dem Kopf?“, fragte Jonathan anklagend. Er hatte dem Psychiater noch nicht verziehen, dass er ihn nicht erkannt hatte.
„Damit mein Haar besser sitzt“, erklärte Dr. Poppe zuvorkommend.
„Das erleichtert mich, ich dachte schon, es wäre irgendetwas Esoterisches.“
„Junger Mann, ich bin Mediziner! Denken Sie ich verschreibe mich einem solchen Hokus-Pokus?“
„Natürlich nicht“, erwiderte Jonathan entschuldigend.
Liz lächelte, ihrem Schützling war nicht bewusst, dass er weder im Gespräch mit ihr, noch dem wilden Mann hinter dem Empfangstisch stotterte.

Dr. Poppe faltete die Hände und legte den Kopf schräg, nachdem sein Patient, nach Aufnahme der Anamnese seine Geschichte erzählt hatte. Zwei Gespenster in drei Tagen!
„Beschreiben sie den Geist für mich.“
„Nun ja … Liz ist von geringer Bildung, sehr auf Äußerlichkeiten fixiert und hat ein wirklich loses Mundwerk.“
„So redet man nicht über eine Dame!“, mischte sie sich erzürnt ein. „Und ich bin nicht ungebildet! Ich kenn mich nur nicht aus in deiner Zeit.“
Jonathan überging ihr Gemecker: „Sie scheint recht anzüglich und männerverrückt.“
„Bitte?“ Liz baute sich vor ihm auf und beschimpfte ihn nach allen Regeln der Kunst. „Und gerade benutzt sie eine ganze Menge vulgärer Ausdrücke, weil meine Beschreibung ihr nicht zusagt.“
„Weißt du was, Herr Klimper? Ich würde mich nicht so weit aus dem Fenster lehnen wenn ich ein feiger Stotterer vom anderen Ufer wäre!“
Zack. Jonathan wurde rot. Ja, sie hatte recht.
Dr. Poppe beobachtete das merkwürdige, für ihn einseitige Zwiegespräch und fragte: „Was hat sie gesagt?“
„I-i-ch sei-ein schwu-schwuler Stotterer.“ Jonathan legte seine Handballen über die Augen. Ihre Worte taten so weh.
„Und hat sie Recht?“, fragte der Psychiater neugierig.
„Ja“, gab Jonathan kläglich zu.
Dr. Poppe mochte ein wenig unkonventionell sein, aber er war nicht dumm. Was hatte es damit auf sich, dass zwei Homosexuelle in seine Praxis kamen, die behaupteten mit Geistern in Kontakt zu stehen. Und den Wahn dabei nicht mit der Realität verwechselten. Psychische Krankheiten waren geheimnisvoll, sie gingen verschlungene Wege, aber das war absolut untypisch. Menschen ohne vorherige psychotische Erfahrungen, ohne familiäre Belastungen nahmen etwas wahr, das nicht sein konnte und verfügten über eine derartig intakte Ich-Abgrenzung, dass sie nicht daran zweifelten Trugbilder zu sehen. Und sie waren homosexuell, ohne damit offen umzugehen. War das ein neues psychisches Phänomen? Konnte er seinen eigenen kleinen Paragraphen im ICD erwirken? Das Poppe-Syndrom? Oder waren es wirklich Geister? Er hielt das nicht für ausgeschlossen, nur durfte sein neuer Privatpatient das nicht wissen. Einmal eine Sexbombe, dann ein Cross-Dresser. Zwei Frauen, die das Leben der unterschiedlichen Männer durcheinanderbrachten? Trauma? Mutterkomplex? Ödipus? Iokaste? Elektra?
Nun, es war ganz und gar ungesund seine Sexualität zu unterdrücken und Dr. Poppe fragte sich, ob ein Tantra-Kurs wohl das richtige für den Jungen nervösen Mann wäre. Vielleicht zusammen mit Marvin Peltzke. Er selbst schwor auf Tantra!
Jonathan sah den Arzt erwartungsvoll an.
„Ich halte den Geist für den visuellen Ausdruck ihrer unausgelebten Sexualität.“
„Ach“, staunte Jonathan.
„Ich habe kürzlich einen ähnlichen Fall gehabt.“
„Nein!“
„Doch ein junger Mann mit einer Drag-Queen ...“
„Honey!“ Liz klatschte erfreut in die Hände.
„Honey?“, wiederholte Jonathan laut und Dr. Poppe fuhr es wie Strom durch die pyramidal energetisierten Glieder.
„Wie kommen sie auf Honey?“, erkundigte er sich unverbindlich.
„Das sagte meine … meine unterdrückte Sexualität gerade.“
Poppe strich unwillkürlich über seinen Kopfputz. Verflucht sei Hippokrates und seine Schweigepflicht. Am liebsten hätte er alles über Marvin erzählt. Vielleicht kannten sie sich ja …? „Sagt ihnen der Name Peltzke was?“
„Nein. Wieso?“
„Es gibt das Peltzke-Phänomen. Allerdings passt das nicht zu Ihnen“, erfand der Psychiater blitzschnell. Schlimm genug, dass er überhaupt einen Patientennamen erwähnt hatte. Aber die Angelegenheit war einfach zu kurios.
„Frag den Arzt, wie der andere hieß, der mit Honey gekommen ist!“
„Könnten Sie mir eventuell den Namen des anderen geben?“
„Nein! Auf keinen Fall!“
„Sag ihm, er kriegt was Schönes dafür!“, rief Liz verzweifelt.
„Vergiss es! Er darf nicht! Und dich gibts nicht, also Ruhe!“
Dr. Poppe wartete geduldig, bis die beiden ausgezankt hatten und fragte dann milde: „Konsumieren Sie ab und an THC?“
„Natürlich nicht. Seh ich etwa aus wie ein Junkie?“ In Jonathan von Kosewitz lebenslänglicher Schutzzone kamen Drogen nicht vor. Für ihn war von Gras bis Crack alles ein mysteriöses, weißes Pulver, das man sich in die Armbeuge spritzte.
„Das könnte bei ihrem Stotterproblem helfen. Die roten Augen erklären sie am besten mit Krebs oder so.“
„Keine Drogen“, wehrte Jonathan entschieden ab.
„Natürlich nicht … Ich schreibe Ihnen ein Neuroleptikum auf. Nehmen sie das eine Woche und dann besuchen sie mich wieder. Und hier noch die Telefonnummer einer sehr zuverlässigen jungen Frau, falls sie sich das mit dem Kiffen noch einmal anders überlegen sollten.“ Er zückte den Kuli und notierte den Namen eines Placebos auf seinem Rezeptblock und Luzies Handynummer. Er würde nie eine andere als sie empfehlen. Drogen nur vom Fachmann, pflegte er stets zu sagen. Wenn die Milchpulverpillen anschlugen, wusste er zumindest, dass kein andersdimensionales Wesen für von Kosewitz Wahrnehmung verantwortlich war.
„Oh, danke!“
Dann klärte Poppe ihn routiniert über mögliche Nebenwirkungen auf und verabschiedete den Pianisten. „Fleißig üben“, empfahl Dr. Poppe „Dann werden sie eines Tages noch berühmt.“
„Ich werde mir Mühe geben“, erwiderte Jonathan sarkastisch.

Es lag an der viel zu düsteren Sonnenbrille, dass Jonathan von Kosewitz den jungen Mann im Flur anrempelte. Papierbögen flogen durch die Luft. „Maaaann! Pass doch auf!“ Marvin bückte sich genervt und Jonathan beeilte sich ihm zu helfen, die heruntergefallenen Blätter einzusammeln, nachdem er einen kurzen Blick auf seinen Hintern geworfen hatte.
„Das ist der Beweis, dass ich kein Kopfkrebs habe“, nuschelte Marvin hockend und wischte ein verdrecktes Papier an seinem Hosenbein ab. Jonathan nahm die Brille ab. Ihre Blicke trafen sich und Jonathans zwölfeinhalb Zentimeter erwachten aus ihrem Dornröschenschlaf. Dabei waren es nur … Augen. Glibbergefüllte Feuchtkugeln. Aber mit Abstand die schönsten, grünen Glibberkugeln, die er je gesehen hatte. Hier inmitten von Dreck und psychischen Krankheiten fand er erektionsfördernde Augen.
„Wie heißt du?“, flüsterte Jonathan heiser.
Marvin richtete sich auf: „Glaubst du ich bin so bescheuert jemandem meinen Namen zu sagen, der gerade aus der Praxis von Dr. Poppe kommt?“ Entgeistert deutete er mit beiden Daumen auf das Türschild. Da konnte er sich ja gleich eine Zielscheibe aufs Shirt malen!
Hätte Honey Liz sehen können, hätte sie eingegriffen, aber das konnte sie erst, wenn alle vier vereinigt waren.
„Neinneinnein, wir suchen dir jemanden mit Niveau! Einen Mann aus deinem Umfeld!“ Liz zerrte ihn am Jackenärmel. Diesen Blick kannte sie nur zu gut. Er hieß: hirntot.
Entschlossen klingelte Marvin, nicht ohne Jonathan drohend anzusehen. Der Spinner war gewiss gefährlich …!
Das letzte, was er hörte, war das Zischen des jungen Mannes, das einer unsichtbaren Frau galt: „Hörst du bitte auf damit, mich zu bevormunden?“
Marvin schüttelte den Kopf. Manche Leute waren wirklich nicht ganz richtig im Kopf.


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*
Den Begriff hat meine Oma immer benutzt. Für das Jungvolk, dass keine solche Oma hatte hier:
Der § 175 des deutschen Strafgesetzbuches (§ 175 StGB-Deutschland) existierte vom 1. Januar 1872 (Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches) bis zum 11. Juni 1994. Er stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. Bis 1969 bestrafte er auch die „widernatürliche Unzucht mit Tieren“ (ab 1935 nach § 175b ausgelagert). Insgesamt wurden etwa 140.000 Männer nach den verschiedenen Fassungen des § 175 verurteilt. 1935 verschärften die Nationalsozialisten den § 175, unter anderem durch Anhebung der Höchststrafe von sechs Monaten auf fünf Jahre Gefängnis. Darüber hinaus wurde der Tatbestand von beischlafähnlichen auf sämtliche „unzüchtigen“ Handlungen ausgeweitet. Der neu eingefügte § 175a bestimmte für „erschwerte Fälle“ zwischen einem Jahr und zehn Jahren Zuchthaus. (Wikipedia)

**
Ich kenne einen Menschen, der das wirklich glaubt :-)

Luzie und der Wolfshund




Nachricht von Dr. Poppe:
Luzie hat mir gezeigt, wie ich bei diesem Facebook Mitglied werden kann und jetzt habe ich da meine eigene Seite! Werdet meine Freunde bei Facebook! Jeder ist willkommen, vor allem Privatpatienten! Ich spüre die Energien der neuen Zeit. Einfach toll das Internet, das ich nur noch „den künstlichen Organismus der großen Göttin“ nenne!
http://www.facebook.com/peter.poppe.184


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Luzie und der Wolfshund

Wie auch die anderen hatte Konrad einsehen müssen, dass Manfred kein Mensch war. Um was auch immer es sich handelte, es war nicht aus Fleisch und Blut. Er beschloss Manfred zu ignorieren. Egal was der Junge tat, bei Konrad biss er auf Granit. Der Ex-Soldat verbot es sich sich, einem Gespenst oder einer kranken Psyche zu beugen. Er versteckte seine Angst, einsam und verrückt in seiner Waldhütte zu sterben, sorgsam vor sich, Manfred und dem Rest der Welt. Nur Sniper spürte sie und wich seinem Menschen nicht von der Seite. Mit dem Geist hatte er sich abgefunden, machte aber einen Bogen um ihn.
„Bitte sprich mit mir!“, flehte Manfred, während Konrad Rasierschaum auf seinen Wangen verteilte und die Klinge ansetzte. Er würdigte ihn keines Blickes.
„Ich bin wirklich hier. Und ich habe Gefühle!“, klagte Manfred, während Konrad in seine Boxershorts stieg und nicht antwortete.
„Du musst dringend die anderen finden! Bitte! Rede mit mir.“ Keine Reaktion. Konrad kippte Trockenfutter und frisches Wasser in die Schüsseln und klopfte Sniper wohlwollend auf den Rücken. „Bis später.“
Mit schwerem Herzen folgte Manfred ihm und musste die Fahrt zur Kosewitzschen Villa in Konrads Pick-Up schweigend genießen. Was für geile Autos es heute gab! Wahnsinn!

Jonathan, der in seinem Büro saß und auf seinen Manager wartete, wollten zwei Dinge nicht aus dem Kopf gehen: Marvin und THC. Erst musste er seinen Sprachfehler loswerden, bevor er sich um das grünäugige Wunderwesen kümmern konnte. Denn im Gegensatz zu Liz fand Jonathan nicht, dass er sich jemanden mit Niveau suchen sollte. Er hatte bereits eine Verlobte mit Niveau und das reichte.
Er recherchierte im Privatmodus über THC und wägte ab. Es war einen Versuch wert. Allerdings würde er selbst keinen Kontakt zur Unterwelt herstellen. Immerhin war er Vertreter für Bildung, Kunst und Werte. Es mochte ja einige zauselige Musiker geben, die ihrer entgangenen Karriere bei den California Dream Boys nachtrauerten, aber zu denen gehörte er nicht. Er würde bestimmt nicht in Zigeunerkleidung am Flügel sitzen und mit seinem Sex-Appeal von Bach, Orff oder Mozart ablenken.
Plötzlich traf ihn ein erschreckender Gedanke wie ein Faustschlag des Schicksals: Was, wenn der Mann nicht homosexuell war? Nichts hatte darauf hingedeutet. Rein gar nichts!
„Liz?“
„Ja?“
„War der junge Mann, den ich bei Dr. Poppe getroffen habe schwul?“
Liz war konsterniert: „Woher soll ich das denn wissen?“
„Ja, du bist doch ein Geist!“
„Genau. Und kein Homoseismograf.“
„Angeblich habt ihr Frauen doch ein Gespür für so was.“
„Wie kommst du darauf?
„Na ja, stimmt“, murmelte Jonathan enttäuscht. „Ihr habt ja auch geglaubt, Rock Hudson und James Dean stünden auf Frauen.“
Liz fuhr auf. Ihr klappte die Kinnlade herunter. Giganten – der letzte Film ihres Lebens als sichtbares Wesen. Liz Taylor, Rock Hudson, James Dean! „Rock Hudson ist vom anderen Ufer?“
„Ja. Das weiß doch jeder.“
„1954 wusste das niemand!“ Liz ließ sich auf den Sessel fallen und fächelte sich aus reiner Gewohnheit Luft zu. Diese Geste hatte sie lange trainiert – sie war so weiblich - und mittlerweile hatte sie sich automatisiert. „Das ist ja ein dicker Hund!“
Jonathan überging ihren Schock. Sie war ein Gespenst, sie musste ihm helfen. „Kannst du nicht etwas über ihn herausfinden?“
„Gerne Johnny, aber dafür brauche ich seinen Namen.“
Jonathan von Kosewitz dachte über das Problem nach, bis Holger Sacher in seine Gedanken platzte.
„Jonathan, es geht um dein Sicherheitsteam ...“ Für den Auftritt in Amsterdam hatte er bestimmte Leute gefordert. Holgers Handy bimmelte „Geh schon mal vor, ich komme gleich“, der geschäftige Mann deckte das Mikrofon mit der Hand ab.
„Okay“, formte Jonathan lautlos mit den Lippen und betrat von Liz gefolgt das Empfangszimmer.
Auf dem niedrigen Sofa saß ein Mann, Flakweste, Cargohose, riesig. Ah - der Rausschmeißer der Liz auf der Verlobungsfeier suchen wollte. Stimmt, der war ihm sympathisch.
Konrad erhob sich, Manfred automatisch auch.
„Herr ...“ Jonathan fahndete nach einem Namensschild.
„Herbst.“
„Ich freu-freue m-mich, wenn Sie uns nach Amsterdam begleiten würden. Ich könnte mir auch vor-vor stellen, sie langfristig ...“
Konrad unterbrach ihn. „Ich bin gerne für alle Belange hier vor Ort für sie da, aber ich kann sie nicht ins Ausland begleiten. Ich … ich habe einen“, pflegebedürftigen Verwandten, wollte er sagen, aber er log nicht gerne. „Einen Hund.“
„Oh!“ Was war nur in den letzten Tagen los? Ein Doktor erkannte ihn nicht, ein überdrehtes Weib überschüttete ihn mit Respektlosigkeiten, sein Traumprinz hielt ihn für einen gefährlichen Verrückten und ein unbedeutender Bodyguard zog einen Köter ihm vor.
„Vielleicht besorgt er dir ja das Rauschgift!“ Liz tippte Jonathan an die Schulter. Er hätte sie küssen können. Genau. Jonathan schielte nach rechts und links und schloss die Tür.
„Hund. Ja na-natürlich. Das-das sehe ich ein. Aber vielleicht könnten Sie mir anderweitig behilflich sein.“
„Sicher.“
Jonathan senkte die Stimme: „Mein Psy-psychiater – Dr. Poppe – ha-hat mir ge-geraten, Ma-ma-marihuana zu kaufen ...“
Konrad verzog die Miene nicht, als er den Zettel aus Jonathans verschwitzen Händen entgegennahm.
„Empfehlung von Dr. Poppe?“
„Genau. D-das sagen Sie. U-und nur g-ganz wenig! F-für einmal aus-ausprobieren.“
„Aha.“
„I-ich brauche es ..“ Jonathan guckte verlegen zur Seite. „Weil es helfen s-soll bei Stott-stottern.“
„Sie müssen mir nicht sagen, wieso Sie es brauchen“, setzte Konrad ihn in Kenntnis. Manfred fand ihn so knorke. Ein echter Cowboy … jedenfalls auf den ersten Blick, wenn man nicht wusste, was er im Schlafzimmer tat.
„W-wenn Sie d-das machen, da-dann haben Sie einen Job bei mir sicher. A-auch ohne Tour-toureneebegleitung.“
Konrad musste den Drang die Sätze für den Pianisten zu vollenden unterdrücken.
„Danke“, erwiderte Konrad unbewegt, nickte und steckte sich Luzie Kringels Telefonnummer in die Westentasche.
„Wo soll ich mich melden, wenn ich ihnen das Gras besorgt habe?“
„Psch! Nicht so laut!“ Jonathan zückte seinen Mont Blanc und schrieb seine Telefonnummer auf ein Post-It. „Meine Handynummer“, sagte er vertraulich und ohne zu lächeln fragte Konrad: „Sie haben nichts dagegen, wenn ich die in meinem Bekanntenkreis rumreiche?“
Jonathan zuckte zurück. Manfred und Liz lachten.
„Also! B-bloß nicht!“
„Ah. Verstehe.“
Jonathan war sich nicht sicher, ob der Riese scherzte, obwohl er meinte den Anflug eines Lächelns gesehen zu haben.
Mit Magenschmerzen entließ er den Kurier des Verbrechens. Hoffentlich war er vertrauenswürdig und würde die Nummer und seinen Absturz in die Kriminalität nicht der Klatschpresse verraten.

„Kaufhaus Kringel. Wir geben keine Kredite“, meldete Luzie sich wie gewohnt. Sie hoffte Marvin versteckte sich hinter der unterdrückten Nummer. Sie hatte jetzt schon vierzehn mal in Sachen Gespenster-Austausch bei ihm angerufen.
„Der Psychiater sagt, sie können mir helfen.“ Konrad erwähnte entgegen Jonathans Weisung nicht den Namen des Arztes am Telefon. Er war schließlich kein Idiot.
Luzie kannte nur einen einzigen Arzt, der sie an Patienten empfahl und das war Poppe. Seine Kunden mochte sie am liebsten, meist hatten die nämlich gar keine Ahnung, zahlten und sie gaben sich mit weniger zufrieden, als sie fordern konnten.
„Feini fein. Haben Sie ein Auto?“
„Ja.“
Luzie nannte Konrad einen Parkplatz. Erstkunden ließ sie nicht in ihre Wohnung.
„Lassen Sie mich bitte mitkommen, Fräulein Luzie“, bettelte Georg, der das Gespräch verfolgt hatte.
„Nein, das geht nicht, du musst hier auf die Medizin aufpassen!“ Luzie hatte es immer noch nicht übers Herz gebracht, ihrem unschuldigen Hausgeist die Wahrheit über ihr Machenschaften zu beichten. Sie hatte ihm einfach erzählt, sie würde armen Leuten teure Arzneien, die sie sich sonst nicht leisten konnten vieeel günstiger zukommen lassen. Das sei nicht ganz legal, aber … ihr weiches Herz, nicht wahr?
Georg Malteser hatte sie zuerst für eine Apothekerin gehalten, wegen der Pillen und Pülverchen, die Luzie gewissenhaft wog und verpackte. Sie wollte sich mit einem altmodischen Gentleman nicht auf moralische Grundsatzdebatten einlassen. Am Ende hätte sie ihren kleinen Hui-Bu noch vergrault und um keinen Preis der Welt würde sie einen Gast aus der Zwischenwelt wieder hergeben. Und das Beste war: Er gehorchte aufs Wort. Wollte sie mit Bettie Pornos oder Animes gucken, befahl sie ihm einfach: „Warte in der Küche.“ Brauchte sie Gesellschaft: „Komm mit.“
Von allen vier Geistbesitzern war sie die Bestinformierteste. Sie wusste was Georg gearbeitet hatte, dass er Junggeselle war, dass es drei andere gab, die sie aufspüren musste und dass die Geister sie für einen geheimen Geheimplan hatten. Mehr durfte Georg nicht sagen, aus Furcht vor einer Honey. „Mich musst du viel mehr fürchten!“
Georg schüttelte den Kopf und erklärte mit großen Kulleraugen: „Sie kennen Fräulein Honey nicht, Fräulein Luzie.“
Und so blieb Georg wieder einmal brav Luzies Anweisungen entsprechend in ihrer Wohnung und schämte sich, dass er nicht widerstehen konnte Bettie unter der Dusche zu bespannen, die direkt vom Tresen ins Bad und dann umgehend ins Bett fiel, in dem sie den Fernseher anknipste.
Er konnte sich nicht beklagen.

Luzie klopfte mit der Faust zweimal gegen die nasse Seitenscheibe des Pick-Ups und grinste ins Wageninnere. Es regnete, aber das störte Luzie Kringel nur, wenn sie ihre Haare mit einem Haarvernichtungseisen plättete. Und das tat sie nur, wenn sie plante einen Mann mit nach Hause zu nehmen. Der Parkplatz beim Schrottplatz war großartig. Nie einer da und im angrenzenden Waldstück konnte man bestens Geschäfte abwickeln.
Konrad stieg aus und nickte der kleinen Frau mit den gelben Gummistiefeln zu.
„Mein Psychiater schickt dich?“
„Mhm.“
„Na super, dann gehen wir ein paar Meter spazieren.“ Sie linste verstohlen auf den großen Mann. Er war wie ein Baum mit Füßen. Ruhig und riesig. Sie fühlte sich wie eine französische Bulldogge neben einem irischen Wolfshund.
„Was brauchen wir denn, junger Mann?“, fragte Luzie im Krankenschwester-Tonfall und vergrub ihre Hände in den Jackentaschen.
„Gras.“
„Wieviel?“
„Für genau einen Joint.“ Sie sah ihn an und verzog den Mund unzufrieden. Konrad lächelte.
„Kleinste Menge sind fünf Gramm.“
„Okay.“
Schweigend gingen sie ein paar Meter nebeneinander her. „Wer zum Teufel kauft Gras für genau einen Joint?“, platzte sie neugierig heraus.
„Oh. Es ist für einen Bekannten. Er will etwas testen.“
„Und was will dieser Bekannte testen?“ Sie setzte den Bekannten mit den Fingern in Gänsefüßchen.
„Ob er aufhört zu stottern.“
Luzie lachte. „Poppe ist echt ein Genie!“ Andere Ärzte kamen mit so einem unbewiesenen Quatsch wie Logopäden und Sprachtrainern aus der Ecke, Poppe verschrieb Drogen.
Luzie grinste vergnügt und steuerte eine Bank an. Langsam ließ Konrad sich neben ihr nieder. Während ihre Hosenböden durchnässten, berührten sich ihre Ärmel, obwohl das nicht hätte sein müssen. Luzie tastete nach einem Fünf Gramm Beutel in ihrer Innentasche. Luzie Kringel hatte einen sonderbaren Geschmack. Durch die Männer, die anderen feuchte Slips bescherten, sah sie einfach hindurch und dann wiederum konnte sie in Begeisterungsstürme über eine Stimme, schwere Augenlider oder graues Haar ausbrechen. Sixpacks und definierte Oberarme bedeuteten ihr nicht das Geringste. Bei Konrad war es die Stimme und die Größe und das Haar, das ihr gefiel. Und das Egal-Outfit. Nichts war abturnender als ein Mann, der morgens länger im Bad brauchte, als sie selbst. Es war nicht so, dass sie in Ohnmacht fiel vor Begeisterung, aber sie fand es angenehm mit jemandem einen Deal abzuwickeln, den sie nicht abstoßend fand, wie neunzig Prozent ihrer Kundschaft.
„Ich krieg sechzig.“
„Das erscheint mir ein wenig viel für fünf“, widersprach Konrad und fixierte ein zitterndes Buchenblatt.
„Kleinstmengenzuschlag.“
Konrad nickte bedächtig, reichte ihr den Schein und betrachtete das Klarsichttütchen, das er im Tausch erhalten hatte. Dann entnahm er seiner Westentasche eine Briefwaage.
„Alter! Du zweifelst doch nicht an meiner Integrität?!“ Luzie fühlte sich schwer in ihrer Dealerinnenehre verletzt.
„Doch.“
Scheiße!
„Das sind drei“, bemerkte Konrad, der die Waage mit ruhiger Hand austarierte ohne Vorwurf und suchte ihren Blick. Und nun? Luzie pustete sich eine Stirnfranse aus den Augen. „Drei ist das neue Fünf“, erklärte sie gönnerhaft, ohne den Hauch von Schuldbewusstsein. Es dauerte zwei Sekunden und dann lachte Konrad. Manfred, der ein wenig abseits stand riss den Kopf herum. Der Mann lachte und die müden Augen sprühten Funken! Zum ersten Mal.
Der große Konrad guckte auf Luzies Scheitel. Köpfe von oben kannte er gut. Er sah braune Haare ein paar Schuppen und saugte leicht den Duft ein. Irgendwas mit Apfel und Talg. Frischgewaschen roch anders, aber keineswegs besser.
„Schnupperst du etwa an mir?“, fragte Luzie empört.
Konrad errötete. „Nein!“
„Ich habs genau gehört!“ Sie machte das Geräusch nach. Sniff Sniff.
„Heute morgen war die Zeit zu knapp zum Duschen, okay? Und zum Abschminken war ich auch zu faul. Das sind nämlich keine Augenringe sondern Wimperntusche von gestern. Aber ich dachte du wärst ein Psycho und deshalb wars mir egal“, verteidigte sie sich.
„Das wäre mir gar nicht aufgefallen. Und ich bekomme noch zwei Gramm.“
Luzie sprang auf die Bank und richtete ihre 160 Zentimeter zu voller Größe auf. Konrad erhob sich ebenfalls, neugierig, was die Frau jetzt vorhatte.
„Jetzt, wo wir festgestellt haben, dass es nur drei sind, krieg ich noch nen Zehner.“
„Was?“
Luzie stellte sich auf die Zehenspitzen. Jetzt waren sie gleich groß.
„Das ist die Steuer auf den Kleinstmengenrabatt.“ Sie lüpfte ein Braue und scannte das fremde Gesicht furchtlos.
Jetzt hatte sie endgültig gewonnen. Lachend kramte Konrad in seiner Hosentasche und reichte ihr den Schein als Zuschlag für ihre Unverschämtheit. Er spürte Luzies Atem auf seiner Wange und sein Herz klopfte einen Pulsschlag schneller als sonst. Luzie nahm das Geld, stopfte es achtlos in ihre hintere Jeanstasche und beschloss, dass der Hüne der beste Kunde der Welt war.
„Ich heiße übrigens Luzie.“ Sie streckte ihre Hand aus.
„Konrad.“
Das Wasser lief aus Luzie Kringels ungewaschenen Haaren, als sich ihre Wege trennten. Konrad sah ihr nach und musste wieder lachen.

Jonathan goes Mary Poppins




Dr. Poppe wand sich auf seinem Stuhl. Zu gern hätte er dem dem Pianisten geholfen, zumal beide Patienten dieselben interessanten Symptome aufwiesen, aber er durfte nicht.
„Ich kann Ihnen keine Patientennamen nennen. Stellen Sie sich einmal vor, ich würde dem nächsten Ihren sagen!“
Ja, der Arzt hatte ja recht. Frustriert sackte Jonathan in Poppes entspannungsfördernden Sessel zusammen und legte sich geistesabwesend den Zeigefinger an die Lippen. Was konnte er nur tun?
„Aber vielleicht kenne ich jemanden, der ihnen eventuell helfen könnte ...“, rang der Psychiater sich mit schlechtem Gewissen durch.
„Ja?“ Das zerknitterte Häuflein Elend erwachte wieder zu leben und beugte sich vor. Liz schüttelte den Kopf. Heute morgen hatte Jonathan sogar Die Internationale geklimpert, vom neuen Wind seiner Proletarier-Liebschaft umweht.
„Die Telefonnummer, die ich ihnen beim letzten Mal gegeben habe – Sie entsinnen sich?“
„Na-natürlich!“
„Die junge Frau ist eine Bekannte meines Patienten.“
„Das ist fantastisch! Danke Dr. Poppe! Tau-tausend Dank.“ Es hätte nicht viel gefehlt und der Musiker hätte dem Mann die Hände geküsst.

Sein Hintern berührte nicht einmal die hellen Ledersitzen seines Wagen – er hatte die Türen von innen verriegelt, in solchen Gegenden wusste man ja nie – wählte er schon Konrad Herbsts Nummer.
„Herr Her -Herbst! Sie-sie müssen mir noch-noch einmal helfen!“
Konrad hatte, von Sniper und Manfred genauestens beobachtet, trainiert und verdrehte die Augen, als er Jonathan von Kosewitz Stimme hörte.
„Ja?“
„Dort wo-wo-wo Sie mir letztlich das … Zeug besorgt haben.“
„Wie? Schon weg?“, fragte Konrad überrascht.
„N-nein. N-nein. Ich ha-habe es nicht angerührt! Aber diese Pe-Person kennt je-jemanden, den ich un-unbedingt treffen muss.“
Während Konrad zuhörte, wischte er sich mit einem Handtuch den Schweiß vom Nacken, griff nach frischer Wäsche und sagte dem neuen Auftrag lieber zu, als er sich eingestehen wollte. Zweimal Kaufhaus Kringel in vier Tagen. Das wirkte unvermutet stimmungsaufhellend auf den Sicherheitsmann.
„Ich frage mich, warum er nicht selber geht!“, überlegte Manfred laut.
„Weil er ein überzüchtetes Treibhauspflänzchen ist.“
„Ja, er ist ein wenig weltfremd.“ Manfred spannte sich an und verbarg seine Freude und seinen Schock darüber, dass Konrad ihm antwortete.
„Vielleicht muss man als Künstler so sein. Was weiß ich.“
„Ich musste Akkordeon lernen. Wegen des Trachtenvereins, in dem mein Vater Kassenwart war.“
„Du armer Kerl. Obwohl, die Kniestrümpfe haben doch auch was.“ Er zwinkerte Manfred zu und bemerkte dann entsetzt, dass er vor lauter Vorfreude mit seinem Hirn-Schnodder gesprochen hatte. Konrad schloss kurz die Augen und schüttelte unwillig den Kopf. Das Wesen war immer noch da. „Ich habe den Verstand verloren!“, bemerkte er laut und wechselte wieder in den Manfred-Gibt-Es-Gar-Nicht-Modus.
„Kniestrümpfe sind nicht dasselbe …“
Konrad antwortete nicht und dennoch war der Junge erleichtert. Er hatte fast schon selbst an seiner Existenz gezweifelt.

Diesmal gab Luzie ihm ihre Adresse. Sie kämmte ihr Haar und versteckte das dreckige Geschirr im Backofen, das ging schneller als spülen. „Erwarten Sie jemand Bestimmtes?“, erkundigte sich Georg, der sie noch nie einen solchen Aufwand betreiben sah, wenn ein Kunde sich anmeldete.
„Nee. Ich kann den Anblick von dem Dreckszeug nur nicht mehr ertragen. Wie sehe ich aus?“
Das war das erste Mal, dass sie Georg um seine Meinung bat und er tat sich schwer, ihr zu antworten. „Nun, ihre Grundsubstanz ist durchaus ansprechend, aber dass sie immer Nietenhosen und diese Urmenschen-Frisur tragen, lässt Ihre Weiblichkeit nicht in vollem Glanz erstrahlen, muss ich gestehen. Und ich weiß nicht, ob ein schwarzer Rollkragenpullover das richtige für eine junge Dame ist. Oder sind Sie etwa ein Beatnik?“
Luzie starrte ihn an. Okay, das war Georg. Ihn musste man anders fragen: „Hab ich irgendwo Flecken? Bin ich verschmiert? Asche an der Backe? So was?“
„Ihre Hose ist schmutzig.“ Er versuchte nicht vorwurfsvoll zu klingen.
Luzie seufzte leise und mangels eines einwandfreien Exemplars räumte sie erst ihren, dann Betties Kleiderschrank aus, fand keine frische Jenas, und entschied sich nach einigem Überlegen für einen schwarzen Rock mit neonfarbenen Leggings.
Dann entwirrte sie einen farblich passenden breiten Plastikreifen, der in Betties und ihrem H&M-Chaos-Karton von Kettchen und verhedderten Broschen, Buttons und Ohrringen umschlungen war und streifte ihn über. Zum Schluss ihrer Verschönerungseinheit stieg Luzie in ihre abgewetzten Boots, aus denen ihre Beine, wie die einer seltenen Vogelart stakten.
„Besser jetzt?“
Georg schluckte sein Entsetzen. War denn schon Fasching?
„Entzückend“, schwindelte er, um ihre ersten Gehversuche in Sachen weiblicher Bekleidung zu unterstützen. Luzie war glücklich. Ein Hausgeist war besser als ein Panda. Sie und Bettie hatten schon alle Hebel in Bewegung gesetzt, um mit Schmugglern exotischer Tiere in Kontakt zu treten. Erfolglos. Schlangen, Echsen, gar einen Gepard konnte man kaufen, aber keine vernünftigen Tiere.
„Du aber auch.“ Luzie lächelte und Georg fand sie plötzlich wirklich entzückend.
Umso weniger freute er sich, als Konrad klingelte. Seine ein Meter fünfundsiebzig kamen ihm plötzlich sehr mickrig vor.

„Da kommt ja einer schneller wieder als erwartet. Vielleicht doch nicht die Kleinstmengen?“ Luzie grinste ihr „Siehste?“-Grinsen.
„Nein. Ich bin aus einem anderen Grund da.“
Wegenmirwegenmirwegenmir, dachte die etwas alberne Instanz in Luzie Kringel erfreut.
„Mein Auftraggeber sucht jemanden.“
Peng. Nichtwegenmir.*
„Ich bin aber nicht die Detektei Kringel“, informierte sie ihn missmutig.
„Ich weiß.“ Konrad nickte. „Es geht um einen von Dr. Poppes Patienten. Er schickt mich, um seinen Namen zu erfahren, weil er ihn selbst nicht preisgeben möchte.“
„Ich kenne doch seine Patienten nicht mit Namen. Ab und an kommt mal einer zum kaufen, aber ...“
„Es ist wohl jemand, den du besser kennst. So einsachtzig, grüne Augen, dunkelblond, kurze Haare. Patient bei Poppe“, zählte Konrad die wenigen Details auf, die er kannte.
Luzie dachte nach und zuckte ratlos mit den Achseln. Konrad betrachtete sie unauffällig. Er fragte sich, was genau er sympathisch an ihr fand. Die augenkrebserregenden Strumpfhosen wohl kaum. Auch die pastellfarbene Fünfziger-Jahre Küche in flieder, hellblau, rosa und gelb konnte es nicht sein. Konrad wartete, ob noch etwas kam und sagte dann freundlich: „Danke, da kann man nichts machen. Ich wollte dir nicht auf den Nerv gehen. Ich führe nur Befehle aus.“
Luzie wurde warm, sein Blick war so tiefgründig und seine Stimme wie ein ruhiger See, in dem ein Ungeheuer lebte. „Und bist du gut darin?“ Luzie drehte eine Strähne um ihren Finger. Sie sahen sich an. „Manchmal.“
„Zum Beispiel wann?“
Konrad hob vielsagend eine Braue und bevor Luzie es irgendwie falsch verstehen konnte erwiderte er: „Ich war bei der Bundeswehr.“
„Oh Gott! Freiwillig? Bähh!“
„Ich dachte mir schon, dass wir diesbezüglich ideologische Differenzen haben würden.“ Das war nichts, das ihn erschütterte.
„Mich hätten sie bestimmt sofort gefeuert. Oder gleich Kriegsgericht.“
Konrad warf ihr einen fragenden blick zu.
„Drei Schulwechsel wegen Unfähigkeit zur Befehlsausführung. Auf der vierten Schule haben sie mich endgültig geschmissen.“
Konrad lächelte. „Ist nicht jeder zum Gehorsam gemacht.“

Georg gefiel das Ungreifbare nicht, das in der Luft lag und Manfred hockte unter dem Küchentisch und betrachtete fasziniert die knallbunten dünnbestrumpften Beine der Dealerin. Er wusste noch nicht, ob die Farbe ihm gefiel … oh, doch. Doch! Sehr hübsch. Sie gefiel ihm. Der Teenager streckte seinen Finger aus und berührte ihr Schienbein. Luzie spürte einen kühlen Hauch und zog ihr Bein unwillkürlich zurück.
„Wer ist eigentlich dein mysteriöser Auftraggeber?“
„Darf ich nicht sagen.“
„Ich glaube dir nicht, dass es ihn gibt.“
„Das musst du auch nicht.“ Konrad erhob sich langsam. Eigentlich wollte er nicht gehen, aber er hatte keinen Grund mehr zu bleiben.
Erst als er schon die Klinke in der Hand hatte, sprang Luzie auf. Ihr Gespräch mit Marvin! „Ich hab Unterbewusstsein.“
„Hey, Konrad, warte! Kann es sein, dass er Marvin sucht?“
„Ich weiß es nicht.“
„Marvin Peltzke.“

„Marvin Peltzke …!“ Der Name schmolz auf Jonathans Zunge, wie Vanilleeis. „Da-danke, Herr Herbst! Es tut mir leid, d-dass ich Sie in-in diese Sache verwickle.“
„Kein Problem. Wenn ich wieder mit der Frau in Kontakt treten soll ...“
„U-um Gottes Will-llen!! I-ich denke, wenn d-das der Mann ist, den-den i-ich suche, dann hat sich das erledigt.“ Und Drogen hatte er jetzt auch mehr als genug.
„Natürlich.“ Und mit einem Mal war Konrads gute Laune wie weggeblasen. Er stieg in seinen Pick-Up und blaffte Manfred an: „Ich hab genau gesehen, dass du sie unterm Tisch betatscht hast. Mach das noch einmal und wir kriegen Ärger.“
„Ich wollte nur einmal fühlen, wie das Material ist! Ich habe noch nie ein echtes Bein mit Nylonstrümpfen berührt.“

Die Bornstraße war dicht befahren, laut und und definitiv nicht in deutscher Hand, stellte Jonathan fest. Aber er würde auch durch die Wüste robben, um Marvin Peltzke kennenzulernen. Wie er wohl wohnte?

Die Tür öffnete zu Jonathans Erstaunen ein vielleicht Zehnjähriger mit eingelaufenem, speckigem Schlafanzug und nackten Füßen. Jonathan schaute sicherheitshalber noch einmal auf das Türschuild.
„Gu-guten Tag. Ist … Ma … Marvin da?“
„Der is einkaufen“, setzte der Junge ihn misstrauisch in Kenntnis.
Jonathan schielte in den Flur und ihm sträubten sich die Haare, als ein etwas älteres Kind ein wütend schreiendes Fast-Noch-Baby am Fuß gepackt über den Flur schleifte.
„Was ist denn da los?“
„Ich bin krank. Und Yannik-Maurice schwänzt die Schule, damit Leon nicht allein ist.“
„Und wo ist eure Mutter?“
„Arge.“
Jonathan schob sich kurzentschlossen in die Wohnung. Die Kinder würden sich gegenseitig umbringen!
„Ey! Hier darf kein Fremder rein!“
„Ich bin ein Freund von Marvin“, behauptete Jonathan selbstbewusst.
Justin fragte sich ob ein Freund seines Bruders als Fremder einzustufen war, aber der Mann wirkte harmlos und so entschied der grippegeplagte Junge sich dagegen.
„Ich warte bis Marvin hier ist. Ist er dein Bruder?“ Nicht, dass er der am Ende noch Vater wäre!
„Ja.“
Ein wenig überfordert sah Jonathan sich um, dann befreite er Leon mit gewisser Autorität aus den Schlägerhänden seines größeren Bruders, nahm ihn mit spitzen Fingern auf und setzte ihn in den Kinderstuhl, der am Küchentisch stand. Da er keine Küchenrolle fand, wischte er ihm mit dem Spültuch den Rotz von der Nase.
„Wenn du k-krank bist, da-dann zieh Socken an!“, befahl er Justin.
„Am besten machst du ihnen eine heiße Milch mit Honig.“ Jonathan schenkte Liz einen dankbaren Blick. Das wäre ihm von selbst nicht eingefallen.
Yannik, der Älteste, wollte wissen: „Passt du jetzt auf die beiden auf?“
„Bis Marvin oder eure Mutter wieder da sind - ja.“
„Na fein.“ Jetzt konnte er Playstation spielen, ohne dass Leon ihm die Ohren vollheulte.

Jonathan hatte den Kühlschrank durchforstet, Milch gefunden und suchte nun Honig. Auf den Arbeitsflächen stapelten sich Lebensmittelpackungen, Vitamintabletten, Kaffeefilter, Zigarettenhülsen und Kinderspielzeuge, alles klebte, und roch unangenehm. Als er ein Glas mit kristallisiertem Honig fand, fragte er Liz zweifelnd: „Kann man den noch benutzen?“
„Honig hält ewig. Das löst sich auf in der warmen Milch. Töpfe sind da unten.“ Sie deutete auf den Küchenschrank.
Verlegen kam Justin wieder in die Küche, diesmal mit viel zu großen Socken. Er war der schüchternste der Peltzke-Brut. Argwöhnisch sah er dem schick gekleideten Mann zu, wie er mit einem Teelöffel im Topf rührte. Auch Leon war ruhig. Etwas Unbekanntes ereignete sich und er verfolgte das Treiben mit offenem Mund, bis ein Speichelfaden über seine Lippen rann. „Bah, Leon, du alte Sau!“, schimpfte Justin und wischte dem Kleinen den Sabber mit seinem Pyjamaärmel vom Kinn.
Liz war erstaunt wie selbstverständlich Jonathan sich um die Kinder kümmerte.
Der Pianist kannte solche Familien nur aus dem Fernsehen. Jetzt kam es ihm unerträglich vor, dass ein Zweijähriger und seine Brüder in einer verwahrlosten Wohnung auf sich allein gestellt waren. Wenn er früher krank gewesen war, dann wurde er mit liebevoller Sorgfalt gesund gepflegt. Die Ansicht, dass man Kinder schützen und gut behandeln muss war tief in Jonathan verankert. Selbst wenn hier nicht Marvin, sondern jemand anderes leben würde, hätte er nicht einfach gehen können.
Über seinen neuen Babysittertätigkeiten - Milch probieren, erwärmen, abkühlen in Tassen schütten und löffelweise an Leon verfüttern - hatte er Marvin fast vergessen. Aus diesem Grund fiel ihm der Teller, den er gerade spülte, fast aus der Hand, als eine zornige Stimme an sein Ohr drang. Spätestens als Marvin sich auf ihn stürzte, begriff er, dass die Beleidigungen ihm galten.

Marvin war schockiert. Nachdem er Jonathan als den Verrückten vor Poppes Praxis identifiziert hatte, spürte er Wut in sich aufsteigen und seine Schutzinstinkte brachen sich Bahn. Marvin ließ die Einkaufstüten fallen, riss Jonathan am Kragen, schlug kräftig zu und kniete sich auf die Brust seines atemlosen, leise ächzenden Opfers, das nun auf dem Küchenboden lag.
„Vergreif dich ja nicht an meinen Brüdern, du perverser Psycho!“ Gott, der Irre hatte ihn ausfindig gemacht und seine Geschwister als Geiseln genommen. „Justin, hat er euch was getan?“ Er sah seinen kleinen Bruder mit wildem Gesichtsausdruck an.
„Äh … Milch gekocht!“
„So ...“ Marvin fiel einen Moment lang nichts ein, dann spuckte er verächtlich aus: „Das ist also eure Masche! Harmlosen Kindern Milch kochen!“
„Uh, gibs ihm, so was machen wirklich nur Verbrecher!“, spottete Honey, die einen besseren Überblick hatte. Die Kinder wirkten zufrieden, der peltzkesche Geschirrhaufen war halb abgebaut, Leon war ruhig, die Landplage im Wohnzimmer aggressiv wie eh und die Küche duftete nach Honig. Jonathan sagte nichts. Er war starr vor Angst. Niemals, niemals zuvor hatte irgendein Mensch ihn derartig grob behandelt. Er fühlte wie Feuchtigkeit sich auf seinen Haaren ausbreitete. Blut? War sein Künstlerkopf ruiniert? Vorsichtig schielte er zur Seite. Aus der schwungvoll abgestellten Plastiktüte floss orangefarbene Flüssigkeit auf ihn zu. Multivitaminsaft. So ein Glück. Liz war verärgert. „Diesem widerlichen Proleten wolltest du helfen und ihm auch noch den Hof machen. Steh auf, Jonathan, zeig einen Rest würde und geh!“
Ein paar Minuten war es ganz still, abgesehen von den Kampfspielgeräuschen aus dem Wohnzimmer.
Liz war wütend auf Marvin. Honey war begeistert über die unvermutete Action, Justin und Leon wussten nicht, ob sie schuld an dem Desaster waren, Marvin schämte sich für seine Überreaktion und der katatonische Jonathan schaute verliebt in das verunsicherte Gesicht über ihm. Ramm dein Knie noch tiefer in meinen Brustkorb, dachte er betört, tu mit mir, was du willst.
Marvin tat, was er wollte, ließ den Klavierspieler langsam los, richtete sich auf und fuhr sich mit beiden Händen verwirrt durch die Haare.
„Was machst du hier? Ich habe dir schon bei Poppe gesagt, ich will nix mit dir zu tun haben.“
Honey lag es auf der Zunge: „Oh Gott, du Grünschnabel, der Knabe ist verknallt in dich!“, zu rufen, aber sie übte sich in Zurückhaltung. Marvin musste sein Hirn ab und an selbst anstrengen. Man durfte ihm nicht alles auf dem Präsentierteller servieren. Und so übel sah das Häufchen Elend auf dem Küchenboden nicht aus. Sicher ohne Saft-Frisur wäre er noch attraktiver, aber für Marvins Möglichkeiten gar nicht so übel.
Liz dachte genau andersherum, als ihre alte Freundin, von deren Anwesenheit sie nichts ahnte. Jonathan sollte vielleicht einen netten Violinisten oder wenigstens einen Arzt kennenlernen, anstatt dieses brutalen Gesocks, wenn es nach Liz ging. Sie selber wusste wovon sie sprach. Das hier waren ungefähr ihre Lebensverhältnisse, fünfzig Jahre in die Zukunft verlagert.
„Ich habe deinen Geschwistern nichts getan. Im Gegenteil! Wie können deine Eltern einen Zweijährigen und einen Kranken sich selbst überlassen!“ Jonathans Liebeszauber wich Empörung. „Du kannst froh sein, dass ich nicht sofort das Jugendamt informiert habe!“
„Wie allein? Justin und Yannik-Maurice passen doch auf.“
„Aufpassen? Das ist den Bock zum Gärtner gemacht!“
Marvin sah ihn gekränkt an. Aber er widersprach nicht.
„Und verrückt bin ich auch nicht! Ich bin ein weltberühmter Pianist, der einen Geist hat! Nur deshalb musste ich zum Psychiater.“
„Hahaha! Und ich bin Kurt Cobain seine Mutter!“
„Frag ihn nach dem Geist“, seufzte Honey. Wenn es nur den Hauch einer Chance gab, musste man sie nutzen.
„Was denn für ein Geist?“
„Ach, das ist sinnlos, das würdest du eh nicht verstehen, du Klotzkopf!“
„Komm, Sorry. Stell dich jetzt nicht an. Was für ein Geist?“, wiederholte Marvin auf Honeys Drängen.
Jonathan räusperte sich. Na bitte. Dann würde er seinen Ruf jetzt völlig ruinieren. „Sie heißt Liz und ist eine Dame.“
Liz lächelte zufrieden. Jonathan von Kosewitz machte Fortschritte.


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*Da ich öfter darauf angesprochen werde: Ich weiß, dass es korrekt meinetwegen heißt.
Aber die meisten Leute – inklusive mir selbst- , die ich kenne reden grammatikalisch nicht korrekt.

Doch nicht verrückt!




Justin guckte die Erwachsenen ängstlich an. Gespenster? Marvin nahm die Augen seines fiebrigen Bruders wahr und beruhigte: „Der Typ spinnt. Geister gibt’s nicht. Mach dir keinen Kopf.“ Verdammt, wo konnten sie jetzt reden? Badezimmer? Nee, da hörten alle mit.
Er überlegte verzweifelt. „Lass ihn nicht einfach gehen! Wir müssen herausfinden, ob er tatsächlich einen Geist hat oder einfach nicht richtig tickt!“, drängte Honey.
Marvin fand das Leben mit den Untoten ziemlich enervierend.
Er wendete sich an Jonathan. „Pass auf, momentan ist ganz schlecht mit Quatschen, aber wenn meine Mutter wieder hier ist, können wir uns bei 'ner Freundin treffen, der das vermutlich ziemlich normal vorkommt.“
Treffen – ohne die kleinen Nervensägen? Toll!
„Wann?“
„Weiß nicht, wann meine Mutter wieder da ist, halt. Kann ich dich anrufen?“
„Sicher!“
Marvin speicherte die Nummer. In seinem Auto sagte Jonathan alle Termine für den restlichen Tag ab. Für Sofie erfand er die Lüge, er wolle sich um eine Überraschung für sie kümmern, weil sie dazu neigte sehr, sehr gekränkt zu sein, wenn er eine Verabredung nicht einhielt. Vielleicht konnte dieser Herbst das für ihn übernehmen. Irgendeine Lösung würde sich schon finden.

„He-Herr Herbs- herbst?“ Jonathan klang aufgeregt.
„Ja.“ Bei diesem Anruf befand sich Konrad vor dem Hundefutter-Regal im Supermarkt.
„I-ich … es tut-tut mir leid Sie wieder zu be-be-be...“
„Belästigen.“
„Genau.“
„Kö-könnten Sie wo-wohl, a-also ich brauche ein-eine Ü-überrschung f-für meine Ver-lo-Verlobte.“
„Und?“ Er schmiss eine Palette Deluxe Hundenahrung in den Einkaufswagen.
„Könn-nen Sie d-da was arrangieren?“
„Kümmern Sie sich besser selbst darum. Ich bin nicht besonders gut darin Frauen mit Überraschungen zu beglücken.“
„B-bitte!“, flehte Jonathan.
„Ich denke drüber nach.“ Verärgert legte Konrad auf. Wen sollte er fragen? Frauen mochten Blumen, Schmuck, und solche wie Sofie vermutlich Pferde und Sachen, die man auf der Kö kaufen konnte.
„Womit kann man Frauen beglücken?“, fragte er Manfred, als sie bezahlt hatten.
Der Junge zuckte mit den Schultern. „Bei meiner Mutter hat es immer gereicht zu versprechen ein guter Junge zu sein. Oder ein Vogelhäuschen zu bauen.“
„Nee, so eine ist das nicht. Wir müssen eine Frau fragen.“
„Und wen?“
„Den Friseur meiner Schwester“, seufzte Konrad. Sie kannten sich schon lange und wenn einer sich in Sachen Trends und Bedürfnisse bei Frauen auskannte, dann er.
„Oh, wie schön, heutzutage haben Frisierstuben auch Montags geöffnet.“
„Nein.“ Mist.
Konrad hielt an einem Kiosk und kaufte einen Arm voll Frauenzeitschriften.

Marvin war als Erster bei Luzie. Er hatte Jonathan eine SMS geschickt und als dieser ihn zurückrief, schrieb er: SMS reicht.
Er ließ sich auf Luzies Küchenstuhl fallen. Dass Bettie ebenfalls am Tisch saß und lesend eine Tütensuppe in sich schaufelte machte ihn nervös. Er würde mit dieser undurchsichtigen Person ungern über seine Halluzinationen sprechen.
„Und was hast du für nen Geist, erzähl mal.“
Marvin kratzte sich am Hals. „Nicht, wenn der Zellhaufen dabei ist.“
„Keine Angst“, entgegnete Bettie gleichgültig. „Ich weiß bereits alles über Georg.“
Marvin verschränkte unbehaglich die Arme und forderte dann: „Gib mal ein paar Infos. Mein Geist sagt nämlich, er kennt deinen.“
„Na, dann soll dein Geist doch was über meinen sagen!“, gab Luzie zurück.
„Schreibt doch einfach Fragen, die nur der andere Geist beantworten kann auf einen Zettel und besprecht sie in verschiedenen Räumen.“
„Boah Bettie, das ist genial!“
Gar nicht so doof, musste Marvin eingestehen. „Aber wir warten noch bis der andere da ist.“
„Wie ist der denn so?“
„Voll schwul.“
„Du doch auch“, bemerkte Honey.
„Das hat doch nix damit zu tun, dass er schwul ist! Bettie kann auch voll schwul sein. Und Männer können auch Pussys sein … verstehst du?“
„Er muss seinem Gespenst die Welt erklären“, raunte Luzie, der das ganze bekannt vorkam ihrer Freundin zu.
„Schon klar.“

Jonathan war nicht bewusst, dass die Dealerin und die Freundin von Marvin ein und dieselbe Person waren und so klingelte er vorfreudig erregt, um das Objekt seiner Begierde ins einem natürlichen Umfeld näher kennenzulernen. Marvin und Luzie schickten Bettie zu Tür und Jonathan versuchte seine Irritation über das Mädchen mit Riesenbrille in dem knielangen Bademantel und Plüschpuschen zu verdecken.
„Ah … I-ich bin ...“
Bettie winkte ihn träge hinter sich in die Küche, wo ein geöffnetes Tetrapack Winzertraube bereits auf dem Küchentisch stand. Es ist nicht einmal halb drei, dachte Jonathan mit Blick auf den Alkohol. Jonathan erwartete von der Runde gar nicht erst erkannt zu werden, als Luzie Kringel fassungslos die Hand ausstreckte und sagte: „Meine Fresse! Kannst du nicht mal vorher Bescheid sagen, dass fucking Jonathan von Kosewitz der Irre ist, den du hier her bestellt hast?“
„Hab den Namen vergessen. Woher kennst du den denn?“
„Das ist ein Starpinanist“, informierte Bettie ihn.
„Genau! So ne Art Lang Lang ohne Schlitzaugen.“ Für Luzie Kringel war Political Correctness ein Fremdwort.
„Wat?“
„Nigel Kennedy nur mit Piano und uncool.“
„Oder Andre Rieux mit Anspruch!“
„Oder David Garrett in unsexy.“
Jonathan schloss seine Lider beherrscht und stoppte die Bande, bevor er in kaltem Schweiß ausbrach. „Lang Lang trifft es am ehesten. Und meinen Namen zusammen mit Andre Rieux oder D-david Ga-garrett verbiete ich mir!“
„Kenn ich eh nicht“, winkte Marvin ab.
„Wein? Joint? E? Speed?“, bot Luzie in einem Anfall starverehrender Großzügigkeit an.
„Einmal alles.“ Marvin nutzte die Chance.
„Du kannst den Wein haben. Das gilt nur für die Berühmten im Raum.“
Jonathan von Kosewitz entspannte sich ein wenig. Endlich jemand, der um seine Fähigkeiten wusste. „Ich möchte nur ein Glas Wasser. Danke.“ Luzie goss ihm eigenmächtig die Wintzertraube ein. „Strohhalm?“, erkundigte sie sich höflich.
„W-wasser!“
„Oh Gott, Jonathan, hier wird Wein getrunken, jetzt benimm dich nicht wie ein ABC-Schütze“, griff Liz ein und der Pianist trank einen winzigen Schluck mit schmalen Lippen.
„Also da wir alles Geister-Besitzer sind habe ich folgendes beschlossen. Jeder schreibt eine Frage auf, die nur der Geist des anderen beantworten kann und hält eine Aussage fest, die auch nur der Geist des anderen wissen kann.“
„G-gut.“
„Das war Zellhaufens Idee!“, warf Marvin zur Richtigstellung ein.
„Wir sind eins“, entschied Luzie und Bettie nickte.
„Marvin geht ins Bad, ich ins Schlafzimmer und du bleibst in der Küche.“
Die drei sahen sich verschwörerisch an und nickten. Jetzt war also D-Day.

Bettie begleitete Luzie. Sie hatte sich an die Zwiegespräche schon gewöhnt. Es war ihr gleichgültig, ob dieser Geist existierte oder nicht. Hauptsache Luzie war da.
„Okay, Georg. Sag was über Liz oder Honey. Etwas, das nur du wissen kannst.“
Georg schluckte und kramte in seinem hirn nach einer passenden Antwort. Dann fiel ihm ein: „Sie liebt die Gedichte von Mascha Kaléko. Besonders 'Großstadtliebe'.“
„Und jetzt eine Frage!“
„Dann fragen wir Liz ob sie auch Frauen begehrt“, schlug Georg begeistert vor.
„Kennst du die Antwort?“
„Nein.“ Aber ich würde es zu gerne wissen.
„Dann taugt die Frage nichts. Es muss eine Frage sein, deren Antwort du kennst, sonst kann von Kosewitz ja alles behaupten.“ Bettie nickte. Genau.
Georg überlegte. „Frag sie, was auf ihrem Amulett graviert ist.“
„Und was?“, wollte Luzie schreibend wissen.
„Possum, sed nolo.“
„Was heißt das?“ Sie hatte zu ihrem Unglück französisch gewählt und nach Lektion eins aufgehört, die Sprache begreifen zu wollen.
Georg lächelte. „Es bedeutet: Ich könnte, aber ich mag nicht.“
Bettie lachte lahm und Luzie spürte ihre Knochen schwer werden. Ein schwieriges Lebensmotto.

Liz saß mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Küchentisch, immer darauf bedacht sich einprägsam zu präsentieren und teilte Jonathan unaufgefordert mit: „Georg schummelt sich sieben Zentimeter größer mit Spezialschuhen und besitzt eine Röntgenbrille, die nicht funktioniert. Bestellt aus einem Frank-Kenney-Heft“, sagte Liz lapidar. Jonathan kicherte. „Frank Kenney“ war eine Groschenromanreihe aus den Fünfzigern.
„Frag Honey, warum sie kein Fleisch isst.“
„Okay.“ Er schrieb die Frage auf.
Liz flüsterte Jonathan die Antwort ins Ohr, der das Gesicht verzog.

„Liz trägt Strapse, aber kein Höschen“, informierte Honey Marvin.
„Mann, das gibt Blasenverkühlung!“ Marvin schüttelte tadelnd den Kopf. „Und was sollen wir Georg fragen?“
„Frag ihn nach seinem zweiten Vornamen. Er heißt Gaylord, weil sein Vater Engländer war.“
Marvin fiel fast vom Wannenrand vor Lachen. „Was für ein Scheißname!“
Honey schüttelte den Kopf. „Du amüsierst dich wahrscheinlich auch beim Wort 'Ausziehtisch'.“ Marvin brauchte zwei Minuten, bis er den Witz begriff und dann hielt er sich den Bauch vor Lachen. Honey stöhnte gequält. So ein Kindskopf.

Konrad fasste nicht, wie viel Unsinn in den Magazinen stand, die er gekauft hatte. „Nude ist das neue Schwarz“, „Vierzig das neue Dreißig“, „Hyaluronseren polstern die Haut auf“, man solle sich „schön essen“ und ein einfaches Sofakissen für 399 Euro war ein "Must Have". Wie bitte sollte man sich schön essen? Verschwanden der Riesenzinken, das fliehende Kinn oder die kurzen Beine vom Verzehr von Papayas, Blaubeeren oder Ananas etwa?
„Kannst du fassen, wie unglaublich dumm Frauen sind?“, rief Konrad aus und Manfred machte hmhm, er war in eine Werbung für Feinstrumpfhosen vertieft.
Konrad schleuderte frustriert die InStyle in eine Zimmerecke. Vielleicht ein Wellnesswochende? In den Zeitschriften war er öfter darüber gestolpert, schien eine beliebte Sache zu sein. Dazu ein Frauenroman von der Bücherseite, über Weiber die so hirnverbrannt waren, dass sie von Katastrophe zu Katastrophe stolperten, nur damit irgendein ein Arsch sie heiratete, eine Flasche Rosé Sekt und ein Besuch bei einer Männerstripgruppe? War das gut? Waren Frauen wirklich so unfassbar dümmlich?
„Frag doch mal Luzie“, empfahl Manfred, der begeistert über die Freizügigkeit der Hochglanzmagazine war.
„Luzie?“
„Ja, sie ist doch eine Frau.“
Unschlüssig verlagerte Konrad sein Körpergewicht von links nach rechts und umgekehrt. Was, wenn Luzie genauso doof war?
„Ich geh erst einmal mit Sniper spazieren.“
Zum ersten Mal war es Manfred egal. Er hatte hier zu tun.

Wenn er Luzie fragte, dann sähe er aus wie ein Idiot, der nichts von Frauen verstand. Konrad entschied sich für den lustigen Frauenroman, das Wellnesswochenende, einen Strauß Rosen und eine Faltencreme mit Hyaluronsäure.

Die Geister hatten die Fragen alle richtig beantwortet. Das Spiel, das die Angelegenheit für Jonathan und Marvin bis jetzt dargestellt hatte, wurde ernst. So ernst, dass beide kreidebleich am Tisch saßen und zum ersten mal die Möglichkeit in Betracht zogen, dass Gespenster tatsächlich existierten. Nur Luzie war genauso unerschüttert wie vorher. Selbstverständlich war ihr Verstand einweindfrei in Ordnung! Sie hatte nicht einmal daran gezweifelt. Nur Bettie wusste nicht recht, ob Wahnsinn nicht eventuell ansteckend war. In der Schule hatte sie mal ein Referat zum Thema „Kollektives Unbewusstes“ gehalten.
„Und jetzt?“, fragte Marvin ratlos.
Luzie kippte ihren Stuhl gefährlich nach hinten. „Warum? Georg, warum sind wir hier?“
Honey sah die junge Frau nachdenklich an, dann glitt ihr Blick zu Jonathan und schließlich auf Marvin. „Ihr müsst ein Leben retten. Aber bevor ihr das könnt, müsst ihr vollzählig sein.“
Der Maurer wiederholte ihre Worte. Er konnte Liz fragenden Blick und Georgs Stirnrunzeln nicht sehen, sonst hätte er tiefer gebohrt.
Luzie atmetet tief aus und dann klatschte sie in die Hände. „Vielleicht bin ich ja doch für irgendwas gut!“
„Oh, Mann, Luzie!“, stöhnte Marvin. Aber Georg senkte die Augen und hielt sich zurück ihr nicht über den Kopf zu streicheln.
Jonathan erhob sich. „Ich habe für so etwas keine Zeit.“ Er fühlte sich in keiner Weise bemüßigt sich zur Marionette irgendwelcher Geister machen zu lassen. „Es war nett euch kennenzulernen, aber ich muss jetzt los. Meine Verlobte ist bestimmt schon wütend. Viel Erfolg.“
„Ja klar, die ist ja auch viel wichtiger als ein Menschenleben. Am Ende lässt sie dich heute Nacht nicht ran – das wäre bitter!“, versuchte Luzie ihn zu provozieren.
Liz grinste: „Noch bitterer, wenn doch, was Johnny?“
Jonathan war es ernst. Das passte nicht in sein Leben. „Es tut mir leid ...“
Marvin war der Ansicht, man solle Reisende nicht aufhalten, bis Honey ihm in den Arm knuffte. „Lauf dem Knaben hinterher und überzeuge ihn.“
„Wieso ich?“, fragte er empört. Er würde viel lieber hier mit Bettie und Luzie sitzen, kiffen und über ihre Gespenster labern. Jetzt, wo er doch nicht schwul war, sondern einen echten Geist hatte.
„Mach es einfach und nerv mich nicht, sonst kuschele ich mich heute Nacht ganz eng an dich!“
„Mann!“ Er ließ den Kopf finster auf die Brust sinken. „Okay, ich versuchs.“
„Braver Junge!“ Honey strahlte.

Machtspiele




Er erwischte Jonathan noch, der telefonierend im Hauseingang stand. Marvin hielt inne und lauschte.
„A-also … das das ist se-sehr uninspiriert! We-wellness! Da-damit kann ich ihr ni-nicht kommen!“
Komisch: Einmal stotterte der Typ, dann wieder nicht.
„En-entweder es-es fällt Ihnen ga-ganz schnell was Be-besseres ein o-oder Sie müssen sich nach einem neuen Jo-job umsehen!“
„So ein Arsch“, flüsterte Marvin.
„Nein-nein. Er ist es einfach gewohnt, dass jeder macht, was er möchte.“
„Aber gleich jemanden rauswerfen!“
Honey gefiel dieser Charakterzug genauso wenig, aber sie musste ihm den Pianisten schmackhaft machen. „Vielleicht hat der andere was Schlimmes angestellt.“
„S-sie haben noch ei-eine Stunde, um sich eine adä-adäquate Ü-ü-überraschung einfallen zu lassen. Mei-meine Verlobte ist sehr an-anspruchsvoll.“ Marvin verzog verächtlich den Mund. Sich Geschenke besorgen lassen! Das war das Letzte.
„Reiß dich zusammen, wir brauchen ihn!“, ermahnte ihn Honey, die ahnte, was sich hinter den grünen Augen zusammenbraute.
Jonathan drehte sich um, lächelte verzückt und drückte die rote Taste. Marvin! Alles andere war jetzt unwichtig.

„Ich bin nicht Ihr Lakai, Herr von Kosewitz. Kümmern sie sich selbst um ihre Frau“, sagte Konrad ruhig in die tote Leitung und glotzte verdutzt in den Hörer. Dieser Schnösel hatte doch wahrhaftig aufgelegt.

„Ja?“ Jonathan blinzelte ihn erwartungsfroh an. Sag, dass du meinetwegen gekommen bist.
Marvin hatte überhaupt keine Ahnung, wie er Jonathan vom Mitmachen überzeugen sollte.
„Vielleicht überlegst du dir das nochmal? Ich mein, ey – Geister! Da sagt man doch nicht einfach nein! Am Ende verfluchen die dich oder so.“
„Liz erscheint mir nicht sehr gefährlich“, wandte Jonathan ein.
„Du hast … Angst.“ Was ja auch verständlich war.
Jonathans Angst war geringer als seine Lustlosigkeit, sich um Geisterbelange zu kümmern.
„Frag ihn, ob er darüber reden möchte“, befahl Honey.
„Möchtest du darüber reden?“
Liz presste die Lippen aufeinander. „Nein, willst du nicht!“
„Liebend gern!“, ging Jonathan begeistert auf das Angebot ein.
Marvin sah sich unschlüssig um. Reden war nicht seine große Stärke. Was brockte Honey ihm da nur ein?
„Wir könnten irgendwo etwas essen gehen“, nahm Jonathan die Sache in die Hand.
„Essen gehen?“ Marvin kam das komisch vor. Er ging nicht essen. Außer man bezeichnete den Currywurst-Stand, das Pizza-Taxi oder die Dönerbude als Restaurants.
„Ich kenne einen netten Spanier.“
Honey haute ihm mit der flachen Hand ins Kreuz. „Sag ja!“
„Okay. Okay. Wenn's sein muss.“

Um nichts in der Welt würde Konrad Herbst nur einen Finger krümmen, um Jonathan zu helfen. Unruhig lief er durch seine Zimmer. Er hasste es einfach Fehler zu machen! Er redete sich abwechselnd ein, dass dieser verzogene Pianist selber zusehen sollte, wie er seiner Braut das Maul stopfte und dann wieder, dass er kläglich versagt hatte. Sein Auftraggeber war unzufrieden und das passte Konrad nicht.
Es ging ihm keinesfalls um seinen Job; er würde ohnehin kündigen, weil er nicht plante Kindermädchen eines verblendeten Stars zu mimen, aber würde nicht gehen ohne perfekte Arbeit geliefert zu haben!
Manfred beobachtete das innere Ringen seines Schäfchens besorgt.
„Lassen Sie sich doch nicht so durcheinanderbringen. Eine Frau, die sich darüber nicht freut, freut sich über nichts.“
„Die Tante ist mir egal.“ Es ging nur darum einen Auftrag zu erfüllen.
„Frag Luzie.“
Konrad starrte in den dunklen Garten.

Marvin wollte nicht hier sein. Nicht in diesem Kraken-Restaurant und erst recht nicht mit Jonathan. Er stocherte appetitlos in der Tapas-Platte für zwei.
„Weißt du was komisch ist?“, setzte Marvin an.
„Was?“
„Als Poppe mir gesagt hat Honey wäre mein schwules Unterbewusstsein, da war ich erleichtert.“
Jonathan spannte sich an. Schwul? Es musste einen Gott geben! Danke!
„Aber jetzt bin ich vielleicht doch nicht schwul.“
Liz schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Man wusste doch, was man war! Das sagte einem doch der Körper.
„Mir hat Dr. Poppe das auch erzählt“, berichtete Jonathan leichthin, für den diese Erkenntnis keine Neuigkeit darstellte. „Das ist nichts Verwerfliches.“
Marvin kam nicht mehr mit. „Wie? Du bist doch verlobt! Mit einer Frau!“
„Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun.“
Marvin lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte Jonathan. Er hatte schon häufiger gehört, dass einige Prominente so taten, als seien sie heterosexuell. Bei Fußballern verstand er das ja noch, aber bei Klavierspielern? Für Marvin stand ein solches Doppelspiel nicht zur Debatte. Entweder stimmte Poppes Annahme und er stand auf Kerle, dann würde er damit leben. Und wenn nicht, dann auch. Aber keinesfalls würde er schwul sein und hetero vorspielen. Das war ja würdelos.
Er überlegte kurz ob er mit dem Klavierspieler darüber sprechen sollte, was in ihm vorging, aber Honey, Luzie, ja selbst Zellhaufen schienen ihm die bessere Wahl zu sein. Obwohl das waren alles Frauen und die dachten nun einmal anders und rieten ihm ständig Kram, den er nicht verstand. Marvin fiel wieder ein, warum er hier saß. „Egal jetzt. Ich hab keinen Bock mehr darüber zu reden. Viel wichtiger ist, dass wir Geister haben und dass wir einen Mensch retten müssen.“
„Ohne mich.“
„Ja, klar, es ist bestimmt merkwürdig und beängstigend, aber wie oft passiert so was?“
„Ich lasse mir nicht von Gespenstern vorschreiben, was ich machen soll.“
„Ich habe ja auch angst. Das ist komisch, voll die komische Sache ... Aber du bist ja nicht alleine...“
Jonathan klang sehr bestimmt, als er Marvin unterbrach: „Ich habe keine Angst. Mein Leben folgt einem strengen Plan, ich kann nicht einfach machen, was ich möchte. Jeder Atemzug, den ich tue, ist auf meine Leistung als Pianist ausgelegt, ich weiß das versteht jemand wie du oder Luzie nicht, ihr habt ja quasi keine Zukunft vor euch und keine Verantwortung zu tragen. Ihr könnt euch auf solche Spielereien einlassen. Ich hingegen ...“
Marvin pantschte in den Oliven und fragte scharf: „Was machst du, wenn du einen Verletzten auf dem Seitenstreifen siehst? Fährst du einfach weiter, weil du einen wichtigen Termin hast, oder wie?“
„Na-natürlich nicht!“
„Und was heißt: Luzie und ich haben keine Zukunft? Denkst du wirklich du bist was Besseres, du Arschloch?“
Jonathan hob beschwichtigend die Hände. „Nein, ich bin nichts Besseres. Beruhig dich.“ Und dann beging Jonathan einen großen Fehler, weil er dachte besonders schlau zu sein. „Ich könnte mir das ganze allerdings überlegen, wenn … na ja, wenn du und ich vielleicht in Zukunft etwas mehr Zeit miteinander verbringen könnten.“
„Wie jetzt?“
Jonathan errötete: „Vielleicht könnte ich dir helfen dir über deine Gefühle klar zu werden“, deutete er an.
Ein paar Minuten verdaute sein gegenüber das Angebot, dann beugte Marvin sich über die Tischplatte, fixierte Jonathan und fragte gereizt: „Seh ich aus wie eine Schlampe?“
„Ähm.“
Dann wiederholte er lauter und zorniger: „Seh ich aus wie eine gottverdammte Schlampe, die nur auf einen Scheiß Dirigentenpimmel gewartet hat?“
„Ich denke, du solltest das lockerer sehen ...“, wehrte Jonathan kleinlaut ab. Er verfluchte sich. Er war es gewohnt, dass man auf seine wenigen Angebote einging. Egal um was es sich handelte, aber speziell seine sexuellen Wünsche wurden ihm nie verwehrt. Die Welt war voller Groupies. „Außerdem bin ich Pianist und keine Diri...“
„Für was hältst du mich? Glaubst du, dass ich deine ausgelagerte Hand bin, weil du einen auf verlobt machen musst und zu faul zum wichsen bist? Glaubst du ein Marvin Peltzke hat keine Gefühle?“
Ein paar Leute vom Nebentisch starrten herüber, ein Gast kicherte.
„Entschuldige, ich habe nur einen Witz gemacht!“ Jonathan wischte sich mit der Stoffserviette über die Stirn, es war mit einem mal so heiß hier drin.
Leiser sagte Marvin gehässig: „Du willst mich erpressen, indem du nur dann einen Menschen rettest wenn ich … bäh! Ich will gar nicht darüber nachdenken.“
„Ich … Nein!“ So, wie Marvin das ausdrückte, klang sein kleiner Flirtversuch mehr als unmoralisch.
„Du willst mich erpressen?“ Marvin zeigte mit den Daumen auf seine Brust, „Mich?“ Dann verschränkte er die Arme lehnte sich zurück, und durchbohrte den Pianisten mit seinem Blick zwischen halb gesenkten Lidern.
„Hör zu und lerne was über Erpressung, Tastennutte. Ich weiß dass du schwul bist und das könnte bald die gaaanze Welt wissen.“ Marvin formte einen imaginären Erdball mit den Händen. Jonathan erbleichte.
„Und sie wird es erfahren, wenn du ab jetzt nicht nach meiner Pfeife tanzt.“
„Marvin ...“ Jonathans Stimme war fast nicht zu hören.
„Von jetzt an machst du was die Peltzke GmbH anordnet.“
Honey hustete. Was war denn in Marvin gefahren? Allerdings … wenn es funktionierte – warum nicht? Und immerhin hatte dieser überhebliche Bastard es nicht besser verdient. Ihr Marvin lutschte nämlich nur genau die Schwänze die er wollte, jawohl!
Liz wünschte sich einen Drink. „Kannst du nicht einmal vorher mit mir sprechen, bevor du dich um Kopf und Kragen redest?“, zischte sie ihm zu. „Wer hat dir erzählt, dass man Liebe erzwingen kann?“
„Ich weiß nicht“, erwiderte Jonathan traurig. Er war noch nie verliebt gewesen. Er wusste einfach nicht, wie man damit umging. Und auf diese Art hatte er immer alles bekommen, was er wollte.
„Du musst auch gar nichts wissen, ab jetzt weiß ich es für dich.“ Marvin pikste genüsslich vier Oliven auf einen Zahnstocher. Schmeckte doch nicht schlecht, wenn der scharfe Geschmack sich mit dem süßen Gefühl der Macht mischte. Er sah dass alles Leben aus Jonathan gewichen war.
Marvin hätte Mitleid haben sollen, aber stattdessen spürte er nur ein Kribbeln und Taubheit zugleich, als wäre seine Seele ein eingeschlafener Fuß.
„So, und jetzt zahlste den Mist hier und fährst nach Hause. Morgen um fünf habe ich Schluss, und danach komm ich zu dir und nehme ein Bad. Wir haben nämlich nur ne Dusche.“
„Zu mir?“ Jonathans Magen drehte sich um. „Wie soll ich das denn erklären?“
„Hmm...“ Gespielt nachdenklich schaute Marvin zur Decke: „Entweder sagst du: Das ist der Typ den ich zum Sex mit mir zwingen wollte oder du behauptest irgendwas anderes. Lass dir was einfallen. Nicht meine Sache.“
„Liz!“, rief Jonathan hilflos.
„Keine Panik, wir überlegen uns was.“

Vor der Stadt in seinem kleinen spartanischen Haus kämpfte Konrad mit sich und seiner Ehre. Luzie fragen oder sich eingestehen, dass er es nicht geschafft hatte.
Luzie fragen oder nicht.
Luzie.
Oder nicht.
„Was kann denn schon passieren?“, fragte Manfred, der mittlerweile Spezialist im Konrad-Lesen war.
„Hm?“
„Nichts kann passieren.“ Der große Mann stand noch eine Weile da, bevor er ihre Nummer wählte.
„Kaufh krin“ Er verstand Luzie nicht gut, sie schien sich an einem sehr geschäftigen Ort aufzuhalten. In der Tat hatten sich nach Marvins Abgang einige Leute in ihrer Wohnung eingefunden, von denen sie selbst nur die Hälfte kannte, aber mit denen man trotzdem feiern konnte. Luzie hatte keinen normalen Tag-Nacht-Rhythmus. Sie schlief manchmal bis nachmittags, zauberte sich durch die Nächte und beizeiten ging sie auch um neun Uhr schlafen, um pünktlich sechs Uhr morgens jeden in ihrer Umgebung - meistens Bettie - mit ihrer Wachheit zu nerven.
„Luzie?“
„Wer isn da?“
„Konrad.“
Luzie richtete sich automatisch auf und ordnete ihr Haar.
„Oh, hi!“
„Ich brauche deine Hilfe.“
„Um was geht’s dieses Mal“, fragte sie zwei Oktaven schlechter gelaunt, als noch beim 'Oh hi'.
„Um ein Geschenk für eine Frau.“
Luzie spürte Bitterkeit. Nicht dass es sie interessierte, ob Konrad eine Frau hatte oder nicht, aber dennoch, das war ja ehrabschneidend. Na bitte. „Oh wie nett!“
„Ich brauche deinen Rat“, wiederholte Konrad.
„Also Geschenke für Frauen brauchen lange Planung. Am besten wir treffen uns und machen einen Plan, ja?“ Ihre Stimme war zuckersüß um darüber hinwegzutäuschen, dass diese Frau das Geschenk aus der Hölle erwarten würde. Sie würde sich über einen Abgrund, mit schleimigem Gewürm und Schlangen, über dem sie an ihren Haaren aufgehängt baumeln würde, freuen, nachdem Luzie Kringel am Werk gewesen wäre. Und Konrad führe mit ihr dahin wo verschimmelte Koteletts wüchsen.
„Ja. Oh, danke“, erwiderte Konrad erfreut. Nicht nur, dass sie ihm half, sie wollte sich auch noch mit ihm verabreden. Sein Blick verdüsterte sich. „Ja, aber das Problem ist, es muss noch heute Abend sein.“
„Kein Thema“, flötete Luzie und ein Blick in den Flurspiegel verriet ihr, dass ihre Augen nur in ihrer Fantasie rot glühten.
„Super. Soll ich zu dir kommen?“ Luzie war toll! Kein Zögern, kein Murren. Ein echter Soldat.
Luzie warf einen Blick in die Küche, durch die blaue Dunstwand sah sie Beine, Menschen, Bettie knutschen und jemanden etwas aufwischen … Kotze?
„Nein, ich komme zu dir.“
„Ich wohne ziemlich außerhalb …“
„Warte kurz.“ Luzie legte die Hand auf den Hörer und brüllte durch die Musik: „Wer fährt mich mal eben zu einem Bekannten?“
Bettie fing ihren Blick und ordnete ihrem Knutschbuddie an: „Du.“
„Och nö.“
„Ich komm auch mit.“
Sie reckte ihren Daumen in Luzies Richtung in die Höhe, die Konrad daraufhin fragte, wo er wohnte.

„Was gibt’s zu lachen?“, wollte Marvin von Honey auf dem Rückweg wissen. Er saugte die frische Abendluft tief in seine Lungen. Er fühlte sich gut, denn er war nicht verrückt, er hatte einen Auftrag und nun einen privaten Diener.
„Ich lache über dich und deinen Ausbruch.“
„Das war kein Ausbruch. Ich meine das so.“
„Das ist sehr hart. So was macht man nicht.“
Marvin grinste. „Leben ist nicht fair. Frag mich.“
„Ich glaube ich bin einfach zu alt für so etwas“, murmelte Honey. Auch wenn sie Marvin in Bezug auf Jonathan nicht einschätzen konnte, freute sie sich, dass er zumindest die Möglichkeit in Betracht zog auf Männer zu stehen. Auch ohne Unterbewusstsein.

....................

Fortsetzung ist schon in Arbeit!!

Impressum

Lektorat: Aniya
Tag der Veröffentlichung: 07.02.2013

Alle Rechte vorbehalten

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