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"Wie geht es dir heute? " das war immer die erste Frage, ich starrte als Antwort aus dem Fenster und verharrte in meiner zusammen gekauerten Position auf dem Sessel.
"Nun gut, dann anders. " ich zog mir die Ärmel meiner Jacke weiter herunter, bis über die Knöchel meiner Hände, sie waren kalt, aber das waren sie eigentlich meistens.
"Wie hast du geschlafen? " das war dann immer die zweite Frage, egal ob ich auf die erste antwortete oder nicht.
"Gut, denke ich. " murmelte ich gegen mein Knie und ließ mich von dem, im Wind wiegendem, saftig grünem Laub, vor dem Fenster des Sprechzimmers, hypnotisieren.
"So. Gut also? Irgendwelche Träume? " Sein Stift kratze, mit einem unangenehm knackendem Geräusch, als sie frisch gespitzte Bleistiftspitze abbrach, über das Papier auf seinem Klemmbrett, er trug einen gemusterten Strickpullover. Er trug immer einen gemusterten Strickpullover.
Ein Klemmbrett, ein nadelspitz gespitzter Bleistift und ein Strickpullover mit großen Karos darauf, es interessierte ihn doch gar nicht, was ich erzählte, nicht wirklich.
Er war nur wahnsinnig auf seine Spießertur versessen, dabei waren alle seine Pullover schon so oft gewaschen und getragen, dass sich an dessen Oberflächen kleine Fusselnoppen gebildet hatten.
Vielleicht sollte ich mir zur Abwechslung mal etwas Mühe geben.
Aber es erschien mir so unerträglich schwer, die Augen von dem leuchtenden Grün abzuwenden, um dann auf das hässliche, mit Colorwaschmittel frisch gehaltene, Zitronengelb seines Pullovers sehen zu müssen.
Ich wollte das Rauschen der Blätter nicht nur sehen, ich wollte es hören.
"Ja. " sagte ich plötzlich in die Stille, zwang mich meinen Blick von Grün auf Zitronengelb zu richten, setzte mich aufrechter hin als zuvor und sah ihn wach an.
Oder zumindest versuchte ich meinen Blick wach wirken zu lassen.
Das schien ihn aus seinem, in den letzten Wochen festgefahrenem Schema unserer Sitzungen zu reißen.
"Wirklich? Möchtest du mir von dem Traum erzählen? " plötzlich war seine Haltung aufmerksam, auch er richtete sich weiter auf und erwiderte meinen Blick.
Aber nicht lange.
Ich wusste, dass es schwer war mit mir Augenkontakt zu halten, also sah ich zur Seite, auf die schemenhafte Spiegelung meiner gekünstelt gerade sitzenden Gestalt, in der Tür der Glasvitrine.
"Ich weiß nicht, es war nicht wirklich ein schlechter Traum. Seltsam. Aber nicht ... " begann ich und brach ab, um in meine kauernde Position zurückzukehren.
"Aber nicht was? " hakte er nach, aber meine Motivation doch zu reden, war innerhalb von Sekunden wieder von der Stille geschluckt worden.
"Er war nicht schlecht. " lächelte ich versteckt hinter meinem Knie, "Das ist alles was ich noch weiß. Als ich aufwachte war ich nicht schweißgebadet und ich habe bis zum Weckerklingeln durchgeschlafen. " durchgeschlafen hatte ich wirklich, von 5 Uhr an.
Eigentlich konnte ich mich auch an viel mehr erinnern, als dass es einfach nur kein böser Traum gewesen war. Aber einiges war nur verschwommen und verzerrt in meinem Gedächtnis geblieben. Bilder wie Geräusche.
Von der völligen Trägheit gepackt, die einen erfasste, wenn man schon eine endlos lang scheinende Zeit nichts zu tun hatte, und auch nichts tun wollte, merkte ich erst nach erneuten, minutenlangem Schweigen, wie enthusiastisch er mich auf einmal musterte.
"Also fühlst du dich doch bestimmt besser heute Morgen, nicht? " im Wirbel meiner kaum vorhandenen Gedanken stutzte ich, als ich mich dazu zwingen wollte zu antworten; durfte ein Therapeut beeinflussende Fragen stellen?
Ich zuckte mit den Schultern, bevor ich zu dem Schluss kam, es wäre nur von Vorteil für mich, diese Frage auszunutzen und nickte dann.
"Ich hab nur Heimweh. " nuschelte ich die Lüge, damit es nicht zu sehr nach einer Lüge klang.
"Nun, du scheinst Fortschritte zu machen. Du schläfst besser und länger, es fehlt nur noch, dass du wieder ein bisschen mehr Appetit entwickelst, dann darfst du deinem zu Hause einen Besuch abstatten. Natürlich nur wenn die Verbesserungen anhalten. " hatte er mir gerade zugezwinkert?
Er machte mir tatsächlich Versprechungen. Naja, nicht unbedingt schlecht für mich, ich hatte keine Lust mehr hier herum zu hängen.
Nach hause wollte ich auch nicht.

Meine Fingerkuppen fühlten sich nach wenigen Metern den Gang hinunter taub an.
Die Wand war rau und eher grau als weiß, in dem fensterlosen Flur.
Beim gehen ließ ich meine Hand an der Mauer entlang gleiten, das hatte ich mittlerweile so oft getan, dass es nicht mal mehr weh tat oder unangenehm war, bevor ich kein Gefühl mehr in den Fingern hatte.
Andauernde Schmerzen trieben einen in den Wahnsinn oder ließen einen einfach abstumpfen.
Bei mir schien Ersteres der Fall gewesen zu sein, bis das Zweite eintraf.
Es war Mittagszeit, durch die Gänge klangen Stimmengewirr, das Scharren von Stühlen auf Steinfliesen und das Klappern von Geschirr im Speisesaal.
Unter einem Anflug von Übelkeit, beim Geruch von Schnitzel und gebratenem Ei mit Kartoffelpüree, setzte ich mich an meinen gewohnten Tisch und zog das Wasserglas dem gefüllten Teller, der vor mir stand, vor.
Ein dicklicher Junge schob sich neben mich auf die Bank und machte sich sofort über seinen Teller her, ich kannte ihn.
Ohne es selbst zu registrieren, schob ich ihm meinen Teller ein Stück hinüber, er nahm es nickend zur Kenntnis, ich würde keinen Bissen hinunter kriegen.
Diese, die wegen Essstörungen hier waren, wurden beim Essen überwacht, aber für mich war es kein Problem, einfach den Teller des Jungen abzugeben, als wir schließlich wieder den Raum verlassen durften.
Gelangweilt wanderte ich weiter mit der Hand an der Wand entlang, nun bestand sie aus unverputztem Ziegelstein, bis ich zu den großen Fenstern am Ende des Flurs gelangte.
Das wiegende Laub, in den Zweigen und Ästen der Bäume, ließ gelb-grüne Lichtkleckse auf den dunklen Schieferfliesen tanzen.
Die Ruhezeit kehrte ein, das Scharren der Stühle verklang und die Gespräche, die beim Essen entstanden waren, wanderten weiter durch die Gänge und verloren sich dann.
Ich verspürte nicht einmal mehr den Drang nach draußen zu gehen, ließ mich stattdessen in einer der Sitzecken nieder, um aus dem staubig stickigem Flur, dessen Luft die Sonne in eine schwüle, drückendende und zähe Masse verwandelt hatte, die Welt draußen durchs Fenster zu betrachten.
Wie in einem Traum wurden die Staubpartikel golden, wenn das Sonnenlicht auf sie traf.

Wie in meinem Traum.

Mein Atem ging so langsam, dass sich die Zeit zu schleichen begann. Nichts regte sich.
Dass ich mich nicht mehr in dem stillen Flur befand, merkte ich gar nicht, als ich die Augen öffnete, ich wusste ohnehin, dass es ein Traum war.
Aber alles war so real.




Neben mir blitzte das weiße Scheinwerferlicht eines Lkws durch die Schlitze der Jalousien und flutete für Sekunden den langen, spärlich beleuchteten Raum, dass ich kurz die Augen zusammen kneifen musste, um wieder ohne weiße Flecken vor den Augen sehen zu können.
Meine linke Hand lag neben mir auf der Bank und ich spürte die Oberfläche des ehemals roten und durchgesessenen Kunstlederpolsters unter meinen Fingerkuppen nach.
Die Luft war noch schwül von der Hitze des Tages und geladen vom bevorstehenden Gewitter dass sich draußen über der weiten Landschaft zusammen zog.
Ich fuhr mit dem Zeigefinger der rechten Hand die Kratzer in der schwarz lackierten Holzplatte nach und sog Sauerstoff in meine Lungen bis sie gefüllt waren, um zu gähnen. Ich erinnerte mich an einen langen Tag im Auto und daran, dass ich eigentlich gerne duschen würde und meine Klamotten wechseln, aber wir hatten noch einiges an Weg vor uns und zum fahren waren wir mittlerweile alle zu erschöpft. Die Hitze hatte uns unsere Energie ausschwitzen lassen, aber das Sitzen den langen Tag über ließ mich nun nicht einmal müde werden.
"Rutsch mal! " forderte mich Chris auf und schob mich dann bevor ich reagieren konnte selbst ein Stück Richtung Fenster und ließ sich daneben plumpsen.
Einen kurzen Augenblick sah ich ihn erstaunt an, nahm sein Bild in mir auf und versuchte es mir so zurecht zu legen, dass ich es nie vergessen könnte, seinen Anblick in dem schummrigen Licht.
Dann bemerkte ich den Teller mit Pfannkuchen den er mir hin schob und ich konnte nicht anders, als mich mit Heißhunger darüber her zu machen.
Über die mir gegenüberliegende Banklehne sah ich, wie Lea aus der Toilettentür kam und mich mit einem erschöpft verschmitztem Lächeln bedachte als sie mich erblickte.
Den ersten Pfannkuchen in beiden Händen haltend, dass der Apfelmus heraus quoll und auf den Pfannkuchen darunter tropfte, grinste ich zurück. Sie kam auf uns zu, ihre Schritte setzte sie immer bedacht, während ihre großen, dunklen Augen sich nie auf die Gegenwart konzentrieren konnten.
Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen, manchmal hatte sie mit ihren Rehaugen, der geraden Nase und ihrem dunklem Teint umrahmt von langem schwarzes Haar etwas von einer Pocahontas.
Auch sie war müde, dass konnte man ihr ansehen.
Sie konnte sich kaum auf ihr Essen konzentrieren und trotzdem schaffte sie es meinem Bruder ein Lächeln zu schenken, als auch er an den Tisch kam, ihr einen Becher Kaffee zuschob und sich mit einem mit Unmengen von Rührei beladenem Teller, neben sie setzte.
"Es wird noch gewittern, seid ihr sicher, dass wir nicht hier bleiben sollen? " fragte ich und sah dabei von Jim zu Lea und zu den dunklen Wolken am Dämmerhimmel, die unheilvoll grollten.
Wieder wurde ich von Scheinwerfern geblendet. Dieses Mal bog der LKW in die kleine Tankstelle, in deren Gaststätte wir saßen, ein und das weiße Licht strahlte die Zapfsäulen an, die sich ohne Licht nur als blaue Schemen vor der Dunkelheit abzeichneten.
"Ach was! Es sind nur noch drei Stunden Fahrt von hier, dann sind wir zu hause. Das lohnt sich nicht sich hier extra einzumieten und statt im Auto zu schlafen könn‘ wirs auch gleich lassen. " kaute Jim mir vor und gab Lea einen Kuss auf die Wange.
"Ach du bist ja noch voll. " kicherte sie.
"Wir trinken alle noch einen Kaffee und wechseln uns ab, dann sind wir ratzfatz da! " stupste Chris mich an.
Statt etwas zu erwidern lehnte ich mich an ihn und machte die Augen zu, nach wenigen Augenblicken ließ mich die Türglocke wieder hoch fahren. Ich war tatsächlich eingenickt.




Als ich die Augen öffnete hatten sich die Sonnenstrahlen vom Mittag in goldene Reste verwandelt, die den Sonnenuntergang ankündigten. Ich war gegen die Seitenlehne des Sofas gesunken. Weder Chris, Jim noch Lea waren da. Ich war allein.
Beim aufstehen bemerkte ich, dass auch meine Beine eingeschlafen waren. Eigentlich war es schon längst Zeit gewesen sich auf den Weg in den Gruppenraum zu machen, aber dazu war es nun schon zu spät. Ohne Abendessen ging ich direkt auf mein Zimmer. Auf der Nordseite drang nie Sonnenlicht in die Zimmer. Das Schlafen hatte mich mehr geschafft als der ganze Tag zusammen. Aber wenn ich jetzt wieder einschlief, würde ich das heute Nacht nicht mehr schaffen. Das zweite Bett im Zimmer war seit vorgestern nicht mehr belegt. Das Mädchen, das sich das Zimmer mit mir geteilt hatte durfte wieder nach Hause, nach vier Monaten, dabei war sie erst nach mir gekommen.
Grade hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, da wurde sie auch schon wieder aufgerissen. Marie kam ins Zimmer spaziert, mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Bei so einer Frohnatur vergaß ich manchmal, warum sie hier war. Die mehr als offensichtlichen Narben an ihren Armen erinnerten mich sofort wieder daran.
"Kommst du spielen? " fragte sie, wie ein kleines Kind. "Was denn?" wollte ich wissen und hielt mir dabei die eine Hand vor Augen, während ich die andere ausstreckte und versuchte mein Schwindelgefühl auszugleichen.
"Giulia komm! Irgendwas, Mensch ärgere dich nicht! " strahlte sie und versuchte mich an meiner ausgestreckten Hand aus dem Zimmer zu ziehen.
Widerwillig ließ ich mich von ihr mitziehen, aber ich musste mich ja vom Schlafen abhalten. Beim Spielen sah ich nur zu, ich mochte keine Brettspiele. Das lag nicht daran, dass Brettspiele etwas waren woran ich keinen Spaß hatte, es lag daran, dass ich an nichts mehr Spaß hatte. Bald würde ich auch gar nichts mehr mögen.
"Wollen wir nicht raus gehen? " fragte ich, ohne vorher an dem Gespräch Teil gehabt zu haben oder überhaupt Interesse daran jemanden bei mir zu haben, Marie schüttelte den Kopf während sie sich darüber freute, jemanden raus geschmissen zu haben.
Im Garten war es frischer als ich es erwartet hatte.
Vor die Abendsonne hatten sich dicke Wolken gehangen und die Wärme des Tages unter ihrer Decke eingeschlossen, die Atmosphäre schien in seltsamer Erwartung auf etwas. Gedanken verloren und ohne etwas worum sich meine Gedanken drehen konnten, denn an meinen Traum wollte ich nicht denken, stolperte ich in meinen Puschen durch das Gras.
Vielleicht würde es ja heute noch regnen.




Grade als wir zum Auto gingen brach ein Platzregen über uns aus dem dicken, grauen Schleier hervor. Chris öffnete seine Jacke und hielt mir die eine Seite über den Kopf, sodass ich gebeugt darunter laufend Geleit zum Auto fand.
Als wir alle saßen und Lea den Motor startete, lachten wir über unsere nassen Haare und unsere Gute Laune und weil wir langsam überdrehten. Leider machte das warme Essen, das in einer großen Portion in meinem Bauch lag, gleichzeitig träge und so fielen mir, nachdem mein erster Lachanfall verklungen war, schon die Augen zu, während Chris mir auf seinem Schoß durch die Haare strich.
Eine Zeit lang nahm ich noch durch meine geschlossenen Lieder die Lichter wahr, die uns entgegen kamen, sowie das platschende Geräusch von spritzendem Wasser auf der Fahrbahn, wenn ein Auto an uns vorbei fuhr.
Irgendwann hörten Lea und die Jungs auf zu reden und lauschten nur noch der Musik die wir noch vor ein paar Stunden live gehört hatten. Manchmal verpasste ich das Ende eines Liedes und hörte dafür erst bei der Mitte des nächsten hin.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, aber irgendwann musste ich meine Stiefel ausgezogen haben, denn als wir anhielten, damit Lea und Jim Plätze tauschen konnten, weil sie zu müde war, lagen meine Beine in einen Schlafsack eingepackt auf der Rückbank.
Chris hatte sich einen Pullover zwischen Kopf und Fenster gestopft und schlief tief und fest, vorsichtig, um ihn nicht aufzuwecken, richtete ich mich auf, brachte mich in eine angenehmere Sitzposition und schnallte mich an, was ich wohl beim Einsteigen vergessen hatte, vielleicht hatte ich den Gurt auch im Halbschlaf gelöst, weil er mir zu unbequem gewesen war.
Chris wachte nicht richtig auf, aber er glänzte mich kurz aus seinen dunklen Augen durch die blonden Locken an und ich konnte nicht anders als ihn zu küssen und mich wieder an ihn zu kuscheln.




Als ich aufwachte war das Zimmer dunkel und die Nacht ließ ein unheimliches Grollen vernehmen, in diesem Moment war es schwer Traum und Wirklichkeit voneinander zu trennen. Mit aufgerissenen Augen starrte ich in die blaue Dunkelheit und wusste, dass da eine Bettdecke über mir lag und kein Schlafsack, dass ich ein Nachthemd trug und keine total verdreckten Klamotten die ich drei Tage lang, zwischen tausenden von Menschen stehend, getragen hatte, dass es nicht Chris‘ Schoß war auf den ich mein Kopf gebettet hatte, sondern ein Kissen, das bestimmt schon mehr als drei Personen genutzt hatten. Auf einmal war mir schrecklich kalt und ich zog meine Beine bis an den Oberkörper, rollte mich zusammen und begann in mich hinein zu schluchzen.
Ich lag lange so wach im Bett, bis das tosende Gewitter verstummte und mein Wecker klingelte als es hell zu werden begann und es erlaubt war, das Zimmer zu verlassen um duschen zu gehen.
Im hellen Licht der Waschräume sah mein Gesicht im Spiegel kränklich und ausgemergelt aus und die roten, geschwollenen Augen trugen nicht zur Verbesserung bei.
Ich duschte zu heiß und genoss das Schwindelgefühl und das Zwischending, welches sich irgendwo auf dem Grat zwischen Überhitzung und Übelkeit befand, die mich packten.
Mit einer Bewegung drehte ich die Dusche auf kalt und unterdrückte den Impuls zu schreien oder aus dem kalten Wasserstrahl heraus zu springen, bis es sich meine Haut zweimal so eng anfühlte wie zuvor. Meine Augen waren im Spiegel immer noch rot und mein Gesicht machte immer noch keinen gesunden Eindruck, aber ich befand ihn für besser als zuvor.
Beim Frühstück sah ich Marie dabei zu, wie sie munter ihren Joghurt mit Müsli auslöffelte, sie erwiderte meinen Blick mit einem Lächeln und wurde dann plötzlich ernst, stand auf und kehrte mit einer Schüssel Joghurt, geschnittenem Obst und einer Tasse Kakao zurück und schob es mir hin. Ich quälte mich zu einem Lächeln mit dem ich den Kopf schüttelte.
"Entweder du isst das oder -" ich dachte sie würde nach Worten suchen oder sich eine Drohung aus denken aber als sie ihre Ärmel hoch schob starrte ich nur geschockt auf ihre Handgelenke. Ich hatte mich immer noch nicht an den Anblick der beiden langen Narben gewöhnt und völlig unpassender Weise fragte ich mich wie sie im einen Arm noch genug Kraft gehabt hatte sich den gleichen Schnitt am anderen zuzufügen.
"Oder- oder du wirst bald auch kurz davor sein! " sie blickte selbst hinunter auf ihre Arme und ich wusste, wie schwer es für sie war, dem Drang zu widerstehen die Ärmel wieder darüber zu schieben.
"Vielleicht klingt das jetzt unlogisch für dich, aber wenn du leben willst, dann willst du auch essen! Und deshalb isst du jetzt das da! Damit du merkst, dass du leben willst! " sie machte eine über deutliche Geste auf den Joghurt mit den Früchten, ihre Augen hatte sie aufgerissen und sie schauten mich wirr aus ihrem Lockenkopf heraus an.
Ich sah nicht hin, ich starrte Marie an und nahm einen Löffel Joghurt in den Mund. Es fühlte sich so ungewohnt an, dass ich es am liebsten ausgespuckt hätte. Aber das tat ich nicht.
"Schlucken. " forderte sie mich auf. Als ich ihren Befehl befolgte grinste sie zufrieden und ließ sich nicht einmal einfallen ihre Aufmerksamkeit von mir und meinem Essen abzulenken.
Nach dem Essen fühlte ich mich nicht gut, mir war schlecht, weil ich lange nichts mehr gegessen hatte und dennoch konnte ich nicht abstreiten, dass Marie irgendwo recht gehabt hatte. Auch wenn ich mich nicht gut fühlte, ging es mir doch besser.
"Giulia? Könntest du mir nicht bitte ein wenig Aufmerksamkeit schenken? " heute trug er doch tatsächlich ein Hemd, so ganz fassen konnte ich das nicht.
"Du siehst müde aus, wie geht es dir heute? " ich zuckte mit den Schultern. Am Himmel hingen immer noch Regenwolken von heute Nacht, aber sie schienen um einiges leichter.
"Giulia. Du bist jetzt seit einem halben Jahr hier und dein Zustand ist schon lange, wie wir sagen; stabil, aber er hat sich nicht großartig verbessert. Bitte rede mit mir, sag mir wie du geschlafen hast. Hast du geträumt? " er sah mich direkt an und das war ungewohnt, alles fühlte sich anders an heute. Langsam bewegte ich den Kopf hin und her und starrte weiterhin ins Leere.
"Du warst gestern nicht bei der Gruppentherapie. Warum ni--"
"Doch. "
"Aber Dr. Behn sagte mir-"
"Nein. Ich meine doch! Ich habe geträumt. " verwundert sah er mich an, "Und davon habe ich noch nie geträumt, immer habe ich nur das Ende geträumt. " beim dem Wort Ende brach meine Stimme und ich schüttelte den Kopf, fuhr mir mit den Händen übers Gesicht und durch das Haar.
"Chris hat mich angesehen und ich hab ihn geküsst, dann sind wir wieder los gefahren.
Chris und ich hinten, Jim am Steuer und Lea neben ihm. Wir waren alle müde.
Es war dunkel und ich versuchte mich wach zu halten, aber selbst Lea konnte nicht genug Konzentration aufbringen um mit mir vernünftig zu reden.
Es war so finster draußen, nur immer mal wieder zuckten weiße Blitze den Himmel hinunter angekündigt oder begleitet durch Donner. Das Wasser floss in praktisch die Windschutzscheibe hinunter und die Scheibenwischer kamen kaum dagegen an, in der Ferne konnte ich mehrere Lichter sehen. Aber es war keine weitere Tankstelle, wie ich erst dachte, nur ein Lastwagen.
Leas Kopf hing auf der Seite und ich spielte hinter ihr mit der Spitze ihres Zopfes.
Es Donnerte und Blitze wieder und in diesem Moment sah ich wie Jims Kopf zur Seite kippte und-"
ich hatte vergessen zu atmen und rang nach Luft.
"Und was? " fragte er erbarmungslos, ich hatte es ihm nie erzählt, aber ich wusste, dass er das Ende kannte.
"Sein Kopf kippte zur Seite und dann rutschten seine Hände vom Steuer. Er war aufgedrehter als wir alle gewesen, aber er war auch der gewesen, der noch am meisten Alkohol intus hatte. Er hätte nicht fahren dürfen. Er hat es mir versprochen. Chris ist betrunken in unsere Gartenmauer gefahren und beide mussten es mir versprechen. Aber ich habe ´nicht mal daran gedacht als Jim sich hinters Steuer setzte. " murmelte ich und schloss die Augen, die Knie wieder an meinen Oberkörper gezogen und meinen Kopf darauf abgelegt.
"Und dann kam der Lastwagen. " es hörte sich so simpel und gleichzeitig so dramatisch an. Nur das war das Ende meines Traums.
Zwei Tage später wachte ich mit einer Platzwunde, Prellungen, zwei gebrochenen Rippen und einem gebrochenem Arm auf. Lächerliche Verletzungen, an die heute nur noch eine kleine Narbe unterm Haaransatz erinnerte.
Diese andere in mir, die blieb für andere unsichtbar. Ich war mit einem gebrochenem Arm und blauen Flecken davon gekommen, ich wachte allein auf.
Er nickte nur. Vielleicht nicht zufrieden, aber irgendwie erleichtert.
Sein Hemd war Zitronengelb.
Wie erleichtert ich war, dass ich überhaupt erleichtert war, merkte ich erst, als er mich aus unsrer Sitzung entließ und Marie traf, die mich zwar nicht anstrahlte aber ein wissendes Lächeln in ihre Augen legte.
"Jetzt bist du auf dem richtigem Weg. Komm wir gehen Mittag essen, ich guck dir auch zu. " grinste sie und kniff mir in die Wange.
Meine Augen waren immer noch traurig, aber mein Lächeln dieses Mal ehrlich.

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Tag der Veröffentlichung: 22.09.2010

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