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"...und der Rubinring ist seitdem verschollen. Die hilfreichen Diebe und selbst der König der Masken haben noch einige Zeit danach gesucht, aber er ist nie wieder aufgetaucht."
Die Geschichtenerzählerin lehnte sich zurück, und ihre Zuhörer applaudierten anerkennend, während einige der Älteren das traditionelle "Vermutlich besser so!" murmelten.
Ja, Tradition galt noch etwas in Mersabran, der kleinen Stadt, die trotz ihrer Lage am Rand des unheimlichen Lithnir-Waldes ein zunehmendes Gemisch aus alten und neuen Baustilen, weitgereisten Bewohnern, neuartigen Lehren und den verschiedensten Einflüssen zu werden begann. Hier war es gewesen, wo man die Provinzverfassung neu geschrieben hatte, wo Gladorn Erretoret in den Brunnen gestiegen war und wo Rurianne aus Shavarand die Idee der ersten freien Akademie hatte. Doch trotz allem waren die alten Sitten für die Bewohner der Stadt so lebendig wie eh und je.
So war es selbstverständlich gewesen, die reisende Erzählerin einzuladen, kaum daß sie an der eichenen Tür von Lycaldurs Rast

erschienen war, ihr ein warmes Getränk zu reichen und sie dann, als sie sich aufgewärmt hatte, nach neuen Geschichten zu fragen. Auch wenn mittlerweile Herolde, Boten und bisweilen gar Kuriere für den Austausch unter den Städten sorgten - so manches erfuhr man doch erst von den Bänkelsängern und Barden, und besser zu erzählen als jene vermochten sie obendrein.
Die buntgekleidete Frau, deren Gepäck nur aus einem großen Stoffbeutel und einer Harfe bestand, hatte das Angebot dankend angenommen und nach dem Stimmen ihres Instru- ments einige Lieder vorgetragen, bevor sie mit dem "Fluch des Rubinrings" den Auftakt ihrer Erzählungen gemacht hatte. Trotz des Titels war es eine eher lustige Geschichte mit allerlei Verwirrungen, Verwechslungen und sogar einer kleinen Romanze gewesen. Doch in Lycaldurs Rast

waren schon viele derartige Künstler abgestiegen, und das Publikum, zusammen- gesetzt aus Händlern, Handwerkern und einigen Besuchern der nahegelegenen Akademie, ahnte schon, daß es späterer Stunde durchaus ernster und unheimlicher zugehen mochte. Auch das war Tradition.
Die Erzählerin strich sich durch die hellblonden Haare und blickte mit nußbraunen Augen verschmitzt in die Runde. "Was wollt Ihr nun hören? Drei Lieder und drei Geschichten sollten es sein, so ist es mit dem Wirt abgemacht. Aber wenn ihr nachher Eure Begeisterung in gutem Silber ausdrückt, dann fallen mir vielleicht noch einige Melodien oder Begebenheiten ein... nun aber erst mal zur zweiten Geschichte. Also - sagt an!"
"Etwas mit Drachen!" rief ein Mann an der Theke, der wie ein Söldner aussah. Einer von den Händlern murrte. "Nicht schon wieder Drachenkram, das hört man doch alle Tage..."
"Schlimme Hexen!" kam es von einem jungen Mann, der mit zwei Freunden an einem Tisch weiter hinten saß. Anhand der Bücher vor ihm konnte man vermuten, daß es sich um einen Scholaren der Akademie handelte. Die Kumpane johlten und prosteten sich zu. Eine dralle Frau mittleren Alters, die gerade einige Kräuter aus einem Korb zum Verkauf anbot, verzog das Gesicht. "Übertreibungen, Lügen und Wunschdenken, mehr ist das doch nicht!" rief sie aus.
"Du mußt es ja wissen!" warf der Söldner lauthals ein, grinste und gab der Schankmaid das Zeichen zum Nachfüllen seines Kruges. Diese, eine untersetzte Frau Anfang zwanzig und Tochter des Wirts, brachte gerade der Harfenspielerin einen weiteren Becher mit Wasser.
"Sie werden sich nie einig, Ailyn", merkte sie an, "schlagt einfach irgendwas vor."
Die Angesprochene, die sich als Ailyn Unbecca aus Aendh vorgestellt hatte, lächelte und schlug einen Akkord an. Die meisten Gäste verstummten.
"Wie wäre es mit der Geschichte vom unsichtbaren Turm?" fragte sie. "Von einer weisen Nixe? Oder soll es etwas ganz Düsteres sein, daß euch ein Schrecken überkommt?"
"Ja!" riefen einige von der Theke, und "Nur zu!" erscholl es auch an etlichen Tischen.
"Untote!" raunte ein verwittert wirkender Kerl in schäbiger Kleidung, und irgendwo aus dem Halbdunkel ganz hinten kam das Wort "Correlan!" auf, wurde hier und da aufgegriffen und nach vorne gerufen, bis alle anderen Vorschläge verstummt waren.
Ailyn lächelte nur. "Das trifft sich gut. Ich habe tatsächlich zwei neue Geschichten über den Correlan mitgebracht, die in dieser Gegend nicht sehr bekannt sein dürften."
Diese Ankündigung war eine kleine Sensation. Die Legenden über den Correlan waren uralt, und obwohl immer wieder einige seiner Reiseepisoden hinzukamen, in denen er auf mysteriöse Weise bei irgendeiner grauenhaften Situation erschien, das Notwendige tat und wieder verschwand, gab es nicht allzu viele dieser Spukgeschichten; die meisten Barden beschränkten sich auf dramatische Wiederholungen davon.
Wie seine Gäste, blickte auch der Wirt überrascht zu Ailyn hinüber. Eine Erzählerin, die gleich zwei dieser gefragten Geschichten zum Besten geben konnte, kam genauso gelegen wie der Fund einer Goldmünze. Man würde davon berichten, daß diese Frau, die am frühen Abend still und durchnäßt eingetroffen war, bei ihm aufgetreten war, in seiner Schänke! Man würde Lycaldurs Rast

gewiß weiterempfehlen.
Die Erzählerin zupfte gedankenverloren ein paar Noten, und eine untypische Stille setzte ein.
"Ich muß vorausschicken," meinte sie, "daß die erste Ge- schichte, die mit den Nüssen, zwischendurch ein wenig abstrakt klingen mag. Ich habe sie vor einem Monat auf Burg Telyn erzählt, und da hat sich niemand beschwert, aber ihr wißt ja, welche hohen Leute sich da bisweilen aufhalten. Nun, ich werde alles so gut erklären, wie ich kann.
Es war also einmal ein Magier, und... oh, ich sehe schon, einige von euch ahnen schon jetzt, was kommen wird. Aber gähnt nicht, sondern bestellt noch ein Getränk, der Wirt wird es euch danken.
Der Name des Magiers war Urgur Nakenblug, und wer wäre bei solch einem Namen nicht schrullig und eigenbrötlerisch geworden? Er lebte zurückgezogen in einem kleinen fernen Land, dessen Name gewiß niemandem hier geläufig sein wird. Und obwohl er die Welt mied und sie ihn, hatte er doch ein weiches Herz, das von einem vorbeiziehenden Bettler gerührt wurde.
Denn als er ihn sah, fielen ihm all die armen und hungernden Leute ein, die es auch in seinem Lande zur Genüge gab; an den Hausecken, in den Gassen und in schlechten Unterkünften konnte man sie finden, so wie hier. Er beschloß also, deren Not ein für alle Mal zu beenden, und zwar mit der Variante eines Zaubers, den er soeben erst entwickelt hatte.
Nun, Urgur war ein belesener Theoretiker und auch ein vorsichtiger Mann, der sich bis dahin in Fachkreisen eines tadellosen Rufes rühmte. Obgleich seine Idee kühn war, wollte er doch ganz klein damit anfangen, und daran merkt ihr schon, daß es sich bei ihm nicht um den landläufigen größenwahn- sinnigen Zauberer handelt, der sein Umfeld ins Chaos stürzt, was ja ein beliebtes Motiv bei Geschichtenerzählern darstellt. Aber macht das wirklich einen Unterschied? Wir werden sehen.
Sein Plan war nicht weniger, als die Hungernden satt zu machen, indem genug zu essen für alle da sein sollte. Doch woher nehmen, wenn doch Brot und Käse nicht auf den Bäumen wuchsen?
Immerhin waren die Bäume schon einmal ein guter Ansatz. Denn dort wuchsen Nüsse. Da er wußte, daß Nüsse fast jedem schmecken und auch recht sättigend sind, wollte er zunächst damit anfangen und beschaffte sich einige Haselnüsse zum Ausprobieren seines Zaubers. Und zwar wollte er eine einzige Nuß magisch machen, so daß sie sich innerhalb einer Stunde verdoppelte.
Nun sind zwei Nüsse nicht als bemerkenswerter Erfolg zu betrachten, und so richtig satt machen sie auch niemanden, aber der Kniff war natürlich, daß sich der Duplikationszauber, der auf der ersten Nuß lag, ebenfalls mit auf die Kopie übertrug. Die arkane Theorie dahin war recht weitreichend, und einige von euch wissen sicher, daß die echte Erschaffung von Dingen ein Bereich ist, der den Göttern und ihren Klerikern vorbehalten ist. Alle anderen vermögen nur, das Eine in das Andere umzuwandeln, so wie der Müller Gerste zu Mehl und der Bäcker Mehl zu Brot macht. Jener Magier jedoch hatte mit einem kleinen Stück aus der Natur angefangen, und die erforderliche Substanz für die Kopie der Nuß als auch die Kraft für die Kopie des Zaubers leitete er aus der Natur ab; der allgemeinen Magie, die uns alle unsichtbar umgibt.
Und so gelang es ihm tatsächlich, daß sich die Original-Nuß duplizierte. Er begann gleich einen Bericht darüber zu schreiben, und während er noch in sein Tagebuch kritzelte und sich über das Ende des Hungers freute, verging eine weitere Stunde, und es waren vier Nüsse. Denn natürlich hatte sich die erste Nuß abermals verdoppelt, und die Kopie zum ersten Mal.
Urgurs Freude wurde noch größer. Er legte die Nüsse in einen Beutel und ging zu Bett.“
Ailyn nahm einen Schluck Wasser und blickte in die Runde. Der Scholar hatte eine Feder aus seiner Tasche geholt und machte Notizen auf ein Stück verknittertes Pergament. Eine junge Frau auf der anderen Seite der Schankstube nippte an ihrem Becher und meinte: „Der wird sich am nächsten Morgen ganz schön gewundert haben.“
„Stimmt“, lächelte die Erzählerin, „denn als er erwachte, war der Beutel voll. Über tausend Nüsse waren nun darin, und er verbrachte den Morgen damit, sie an die Bettler zu verschenken. Einige aber behielt er für sich – es waren ja genug da – um sie für weitere Speisungen aufzuheben. Und es kam, wie es kommen mußte. Die Bettler hatten nicht alle Nüsse verzehrt, sondern sich ihrerseits einige zurückbehalten. Bei ihnen und erst recht bei dem Magier ging die wunderbare Nußverdoppelung munter weiter. Es war nicht mehr festzustellen, wie viele er ursprünglich noch hatte, aber es war kein weiterer Tag vergangen, als sich die ersten Leute bei ihm beschwerten. Und gleichzeitig ging sein eigener Beutel aus allen Nähten.
Der alte Urgur Nakenblug war kein schreckhafter Mann, aber er erkannte allmählich, was er angerichtet hatte. So begann er sofort damit, den Zauber aufheben, aber er konnte immer nur einige wenige Nüsse auf einmal davon befreien. Akkurate Duplikation ist ein schwieriger Zauber, und somit ist das Bannen fast ebenso schwierig. Er saß die ganze Nacht über den Nüssen, aber während er noch arbeitete, begannen sie den Fußboden zu bedecken. Irgendwann, als es schon tagte, wurde er doch müde und schlief ein. Die Haselnüsse aber kannten keine Ruhe und vervielfältigten sich weiter.
Gegen Mittag war die Stadtwache an seiner Tür, um ihn zu verhaften. Die Nüsse füllten bereits fast das ganze Haus, und Urgur konnte gerade noch von der Wache gerettet werden. Die Garde teilte ihm erbost mit, daß die verzauberten Nüsse bis ins Schloß gelangt waren und auch dort für Unruhe sorgten. Man hatte eine Menge davon schließlich mit Hämmern zertrümmert, aber in der Stadt konnte man der Lage nicht so leicht Herr werden. Noch während sie redeten, barsten die Fenster des Hauses, und es regnete Nüsse aus ihnen.“
„Eine geometrische Progression“, warf der Scholar enthusias- tisch ein, „meinen Berechnungen nach müßte es zu diesem Zeitpunkt mehr als 270 Milliarden Nüsse gegeben haben…“
„Mehr oder weniger“, räumte die Bardin kühl ein, „aber vielleicht wollt Ihr die Geschichte ja weiter erzählen?“
„Oh nein!“ Der junge Mann entschuldigte sich und steckte sogar das Schreibzeug weg.
„Jedenfalls entstanden Berge aus Nüssen, in den Häusern, den Straßen, sogar auf den Wegen zu anderen Siedlungen, denn wer auch nur eine Nuß, ohne es zu wissen, auf die Reise genommen hatte, der trug das Unheil nun in die Welt. Die Städter wußten weder ein noch aus, die Magier versammelten sich und stellten fest, daß es für jegliche Maßnahme zu spät war, und auch die Armee, welche Gruben aushub und Nüsse verbrannte, kam mit ihren Mühen einfach nicht nach. Das Land war in ernsthafter Gefahr. Kein Priester, kein Gelehrter, kein Zauberer wußte noch Rat.
Schließlich kam ein Correlan vorbei und sah sich die Lage an. Doch was sollte er tun?“
„Alle Nüsse vernichten, natürlich!“ brummte der Söldner.
„Dafür hätte er die Position jeder einzelnen Nuß kennen müssen“, wandte Ailyn ein.
„Diesen komischen Doppelungszauber aufheben“, vermutete das Mädchen mit dem Becher.
„Das hätte man auch einzeln machen müssen, genau wie es Urgur versucht hatte. Nein, der Correlan brauchte einen übergreifenden Ansatz.“
„Konnte er das alles nicht einfach rückgängig machen?“ fragte die Schankmaid, während sie routiniert einem frechen Gast auswich.
„Eine klassische Idee, aber an den Punkt zu gehen, an dem der Magier den Zauber vorbereitete, und ihn daran zu hindern, wäre ein Eingriff gewesen, den ein Correlan nur bei ganz furchtbaren Folgen ausführt. Erinnert euch, daß er selbst auch nur der Diener höherer Mächte ist und nicht jedesmal auftauchen kann, wenn irgendwer eine Waffe oder eben einen Zauber erfindet. Oder denkt an die Sarbana-Legende. Nicht einmal da hat er…“
„Und das mit den Nüssen war nicht schlimm genug?“ unterbrach der Scholar. „Also wirklich… was hat er denn nun unternommen?“
Ailyn zögerte die Spannung noch einen Moment hinaus, doch als keine weiteren Ideen mehr aufkamen, verriet sie die Lösung. „Er änderte die magische Konstante. Daraufhin…“
Der junge Mann sprang auf. „Unmöglich! Die arkane Konstante ist ein Naturgesetz!“
„Ihr werdet doch wissen, daß sich ein Correlan seine eigenen Gesetze macht“, gab die Erzählerin zurück, „und an den fragenden Gesichtern einiger Gäste sehe ich, daß ich ein paar Worte dazu sagen muß. Die arkane Konstante kennzeichnet das Verhältnis der Intensität - oder auch Stärke - eines Zaubers zu seinem Inhalt. Kurz gesagt, je schwieriger ein Zauber, desto mehr Magie benötigt er.
Urgur hatte die benötigte Magiemenge des Zaubers genau bestimmt, weil er natürlich nicht mehr aufwenden wollte als unbedingt nötig. Durch die Erhöhung der arkanen Konstante stieg nun aber der Magiebedarf des Zaubers, der auf jeder Nuß lag. Indem der Zauber also um eine Ebene angehoben wurde, war er damit zu komplex für die vorhandene Kraft, die ihm zugrundlag. Er konnte nicht mehr wirken. Und so gab es keine Verdoppelungen mehr.“
„Hab ich nicht verstanden“, murmelte der Söldner und trank seinen Krug leer.
„Eine sehr elegante Lösung“, sagte der Scholar beeindruckt.
Ailyn nickte. „Das dachte der Correlan auch und korrigierte die Konstante sofort wieder, nachdem eine Stunde vergangen war und der Zauber endete. Nur die Duplikation war es gewesen, welche ihn immer wieder von vorne aufgerufen hatte.
Doch ach, eines hatte der Correlan nicht bedacht: da es eine landesweite Änderung war, scheiterten in dieser Stunde überall auch bestehende statische Zauber.“
Die junge Frau, welche die Aufhebung vorgeschlagen hatte, zuckte mit den Schultern. „Na und? Länger bestehende Zauber sind doch ziemlich selten. Was sind ein paar Verzauberungen gegen ein ganzes Land, das in Nüssen versinkt?“
„Zu den betroffenen Zaubern gehörten leider auch etliche Siegel“, antwortete die Bardin, „mehrere gefährliche Monster, eingesperrte Geister und uralte Zauber sind freigeworden. Und der Correlan hat Jahrzehnte damit verbracht, das alles wieder in Ordnung zu bringen.
Merkt euch also – eine schöne Lösung ist nicht immer auch eine gute Lösung.“
Damit verbeugte sie sich und spielte einige Klänge auf ihrer Harfe. Die Gäste klatschten Beifall, und der Wirt überschlug schon einmal die zu erwartenden Einnahmen, denn niemand machte Anstalten zu gehen, obwohl der Abend schon fortgeschritten war.
Am Tisch der Händler entspann sich eine kleine Diskussion, wie der Correlan eigentlich aussah. Zwei schworen auf die älteste Variante, nach der es sich um einen hageren Mann mittleren Alters handelte, der einen schwarzen Kapuzenumhang trug. Einer meinte gehört zu haben, daß der Correlan stets in der unauffälligsten Form auftrat, und der vierte vertrat die Ansicht, die sagenhafte Gestalt sei einfach unsichtbar und daher ohnehin unbeschreiblich.
Ailyn ließ den Zuhörern Zeit, ihre Bestellungen aufzugeben, und sang derweil das Lied vom Nordwind, der sich in eine wandernde Elfe verliebt hatte; ein trauriges Lied aus alter Zeit. Schließlich strich sie leicht über den klobigen Fuß ihres Instruments und wandte ihren Blick der Menge zu. Es wurde noch ruhiger.
"Meine dritte Geschichte dreht sich um 'Die Kinder der Seherin'", verkündete sie dann. "Und keine Sorge, sie kommt ganz ohne Magietheorie aus."
Einige Gäste lachten erleichtert auf.
"Die Kinder der Seherin", begann Ailyn, "waren nicht die Nachkommen einer seherisch begabten Frau, wie man vielleicht annehmen mag, sondern eine Sekte, die sich diesen Namen aus einem einfachen Grund gegeben hatte. Einige Jahre zuvor hatte nämlich eine Alchimistin eine Substanz erfunden, welche Visionen verleiht. Und das waren nicht irgendwelche nebulösen Traumgebilde oder vage Erscheinungen, sondern ganz konkrete Bilder von Vorkommnissen, die sich zur selben Zeit an einem anderen Ort oder in naher Zukunft ereigneten. Das warf natürlich die bisherigen Annahmen über die Natur der Seher über den Haufen. Glaubte man bisher, daß ein Seher eine Person mit besonderer Weisheit war oder jemand, der gar in der Gnade der Götter stand, stellte sich so heraus, daß im Prinzip jeder die Fähigkeiten eines Sehers erlangen konnte: und das lediglich durch einen Trank, der aus einer Mischung aus Sartelholzrinde, Zwelgenkraut und dem Extrakt des Gazorpilzes bestand, destilliert und mit Hentispulver versetzt, natürlich.
Dieser Trank veränderte alles. Zunächst einmal wollte jeder davon kosten, denn bei ungefähr der Hälfte aller Leute schlug er an, die andere Hälfte war aus unbekannten Gründen nicht von der Wirkung betroffen. Am Anfang konnte man das Gewicht eines Fläschchens in Gold aufwiegen lassen; einige Zeit später hatten etliche Leute durch Visionen von der genauen Rezeptur des Trankes erfahren und begannen, ihn selbst herzustellen. Der Regierung kam die ganze Sache mehr als verdächtig vor, und es wurden Planungen gefaßt, die ganze Seherei zu verbieten. Da aber auch dies bereits durch Visionen im Vorfeld bekannt wurde, bildeten die frischgebackenen Seher eine Sekte und stellten sich damit unter den Schutz der Religionsfreiheit, die in jenem Lande vom Staate garantiert wurde, abgesehen natürlich von den staatsfeindlichen Reli- gionen. Die Sekte erhob die Alchimistin, der die Entdeckung des Trankes zu verdanken war, in den Rang der Ersten Seherin und bezeichnete alle Mitglieder als deren geistige Kinder, denn die Visionen hatten deren Wahrnehmung der Welt entschieden verändert. Keine Entscheidung wurde getroffen, bevor man nicht deren Folgen durch Vorausschau geprüft hatte. Keine Reise wurde angetreten, bevor man sich nicht wieder glücklich heimgekehrt sah, und keine Ehe wurde geschlossen, die nicht der Prüfung der Verlobten über den zukünftigen Verlauf standhielt... was bedeutete, daß die Zahl der Verheiratungen merklich zurückging.
Bei immer geringfügigeren Anlässen nahmen die Menschen den Trank zu sich. Hatte man anfangs noch Zurückhaltung im Einsatz geübt, schienen die Ergebnisse später so praktisch und nützlich, daß man schwere Nachteile befürchtete, wenn man sich nicht auf die neue Informationsquelle eingelassen hatte. Allerdings waren die Visionen nur in einem Teil der Fälle steuerbar; oft gewahrte man auch ganz andere Dinge, als man eigentlich hatte sehen wollen. Ihr könnt euch denken, daß dies nicht in allen Fällen langweilig war. Es gab sogar Leute, die ihr ganzes Geld für diese Fläschchen ausgaben, nur um immer mehr zu sehen.
So breitete sich die Fähigkeit der Seher, einst geheimnisvoll und schwierig auszulegen, immer weiter aus, bis schließlich das halbe Land hellsehen konnte. Es gab keine Geheimnisse mehr. Geldverstecke wurden geplündert, geheime Parolen bekannt, Kriegspläne verraten, das Vertrauen in den König und seinen Hof sank auf ein lächerliches Maß. Der Handel brach zusammen, nachdem unverschämte Preisaufschläge, illegale Absprachen, Mängel an Waren und die Zutaten gewisser Speisen bekannt wurden. Verbrecher wurden von wütenden Menschenmengen gejagt und ohne Prozeß gehängt, aber auch Untreue war nicht mehr geheimzuhalten, und zudem wußten die vielen, vielen Seher nun um jeden Tratsch, jede üble Nachrede, jede Gemeinheit, nahezu jeden Hintergedanken Bescheid. Freunde vertrauten sich nicht mehr, Ehen gingen reihenweise zu Bruch, Eltern entfremdeten sich ihren Kindern, die ganze Gesellschaft zerfiel.
Die Nachbarländer, welche die Entwicklung erst mit Erstaunen, dann mit wachsendem Entsetzen beobachtet hatten, schlossen sich zu einem Pakt zusammen. Sie befürchteten, daß dieses Chaos auch auf ihr Gebiet übergreifen würde, und an ihren Grenzen gab es schon Massen an Flüchtlingen, die Einlaß begehrten; sei es, weil jene durch eine Vision entlarvt worden waren und nun die Vergeltung der Opfer fürchteten, sei es, weil sie immun gegen Trank waren und sich nicht gegen die Kinder der Seherin zu schützen wußten. Denn eines war klar: wer nicht zu der Sekte gehörte, konnte sich nicht durch eigene Hellsicht gegen Spionage und Übergriffe wehren. Er war nicht in der Lage, gegen ihn gerichtete Maßnahmen vorherzusehen und ihnen auszuweichen, und er konnte auch nicht mit eigenem Wissen über die Geheimnisse seiner Peiniger verhandeln und sich so eine Abwehr schaffen.
Die Nachbarländer sahen schließlich keine andere Möglichkeit, als das Land der Seher anzugreifen, schon um ihre eigenen Geheimnisse zu schützen und nicht auch dem Irrsinn, der sich dort mittlerweile abspielte, anheimzufallen. Und obwohl die Kinder der Seherin natürlich auch dies vorhersahen, war ihre Verteidigung letztlich doch den verbündeten gegnerischen Streitkräften unterlegen. Der Pakt der Blinden, wie er später genannt wurde, vernichtete das Land vollends: all seine Einwohner wurden getötet, und noch Jahre später suchte man in den Trümmern nach weiteren Tränken und Rezepten, um sie zu vernichten. In der gesamten Geschichte des Kontinents hatte es noch keinen derart furchtbaren Krieg gegeben."
Ailyn machte eine Pause. In den Gesichtern ihrer Zuhörer sah sie Staunen und Ratlosigkeit.
"Und der Correlan?" warf der Scholar schließlich ein.
"Was soll er tun?" fragte die Geschichtenerzählerin leise zurück, "bei den Nüssen hatte es gereicht, den Zauber, der auf ihnen lag, zu beenden, und die Bevölkerung stand zwar mit einer Unmenge davon da, aber mit der Zeit ist man sie halt losgeworden. So ein Rezept aber hat eine ganz andere Brisanz: es kann jederzeit aufs Neue verwendet werden. Zu dem Zeitpunkt, als der Correlan eintraf, waren schon tausende zu Sehern geworden, die einstige Sehergilde war aufgelöst, die Magier zerstritten, die meisten Tempel verlassen. Schon da war die Sache nicht mehr in den Griff zu bekommen."
"Aber was hat er getan?" hakte die junge dunkelhaarige Frau nach, deren Becher längst leer war.
Die Bardin zupfte eine einsame Note und ließ sie verklingen. "Er ist gegangen", sagte sie dann.
"Was?" rief die Tochter des Wirts. "Ich dachte, ein Correlan gibt nie auf und findet immer eine Lösung!"
"Mag sein", meinte Ailyn, "aber man hat ihn nicht wieder gesehen. Wenn Ihr das Ende der Geschichte kennt, berichtet mir davon. Mehr ist nicht überliefert."
Sie zog die Harfe näher zu sich heran und spielte eine monotone kleine Melodie, während die allgemeine Lautstärke in der Schänke wieder zunahm. Einige spekulierten über den Schluß der Geschichte, denn ansonsten endeten jene Erzäh- lungen mit einer Rettung oder wenigstens Korrektur der Geschehnisse. Die meisten der Gäste aber wandten sich anderen Themen zu; manche winkten schon die Schankmaid heran, um zu zahlen.
Ailyn blickte von ihrem Instrument auf, und kurz entschlossen nahm sie es unter den Arm, griff nach ihrem Beutel und strebte wie einige andere zur Tür.
Der Wirt trat ihr in den Weg. „Gut vorgetragen habt Ihr das alles, und das versprochene Abendessen wird schon bereitet. Sagt, möchtet Ihr morgen Abend nicht wieder bei mir auftreten?“
„Vielleicht“, erwiderte die Bardin knapp, nickte höflich und drückte sich an ihm vorbei. In der Nähe der Tür war das Gedränge größer, und sie stolperte mit der unhandlichen Harfe gegen einen Tisch. Die Schankmaid kassierte hier gerade die Getränke der jungen dunkelhaarigen Frau ab. Ailyn packte die Harfe fester und stammelte eine Entschuldigung.
„Ist ja nichts passiert“, gab die Dame zurück, „ach, gehst Du jetzt auch?“
Die Erzählerin nickte bloß, und so verließen sie gemeinsam Lycaldurs Rast

. Draußen war es längst vollends dunkel geworden; die kühle Nachtluft war allerdings erfrischend nach den Gerüchen von Bier, Essen und Kaminrauch.
Die fremde Frau nestelte an der Schließe ihres grünen wollenen Umhangs. „Ich muß sagen, diese Geschichten waren mir unbekannt. Du kommst sicher weit herum, während ich nur jeden Tag da drüben in der Akademie sitze.“
„Das Reisen wird überschätzt“, meinte Ailyn spröde.
„So? Ich wäre gern wieder mal unterwegs… aber nicht als Bardin. Ich bin nämlich ganz unmusikalisch.“ Sie lachte.
Ein Pulk Halbbetrunkener kam aus der Schänke, und die beiden Frauen machten schnell einige Schritte zur Seite. Die Einhei- mische deutete mit einer Geste den Weg zum großen Akademiegebäude an; Ailyn zuckte mit den Schultern und begleitete sie ein Stück.
„Hmm… bevor Du jetzt weiterziehst…“ sagte die Grüngekleidete nachdenklich, „mir ist in der dritten Geschichte eine Sache aufgefallen…“
Die Bardin musterte sie ruhig. „Ja?“
Ihr Gegenüber lächelte. „Ja. Die Erzählung ist offensichtlich erfunden… vielleicht sogar von Dir? Es kann keine echte Correlan-Geschichte sein.“
„Ich habe sie nicht erfunden“, gab Ailyn überrascht zurück. „Wie kommst Du darauf?“
„Weil die beschriebene Substanz aus völlig nutzlosen Kräutern besteht. Ich lerne gerade Alchimie, und was Du beschrieben hast, Gazorpilz und so weiter, ergibt höchstens ein bitteres Getränk, bei dem einem schlecht wird. Die Bestandteile sind längst erforscht.“
Ailyn lächelte. „Ah, Du hast mich erwischt. Natürlich habe ich nicht die echten Zutaten genannt – das wäre ja töricht. Was ich beschrieben habe, ist ein recht durchschnittlicher Abführtee. Er soll neugierigen Kräutermischern eine kleine Lehre sein.“
Inzwischen hatten sie den Marktplatz überquert und standen allein am Anfang einer Gasse, die zur „Straße der Rurianne“ führte. Das Mädchen im grünen Umhang blieb stehen.
„Die echten Zutaten? Du nimmst mich auf den Arm, nicht wahr?“
Ailyn schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe die Geschichte heute Abend nur für Dich erzählt, Shenwyn. Damit Du verstehst.“
Shenwyn Rormall blinzelte irritiert. „Damit ich was

verstehe? Woher kennst Du meinen Namen?“
„Was ich jetzt tun muß“, flüsterte Ailyn. Sie drückte auf eine Stelle an der Seite des Harfenfußes. Vorne sprang eine unauf- fällige Klappe auf, die einen Hohlraum verdeckt hatte. Mit einer fließenden Bewegung zog die Erzählerin einen Dolch aus dem Fach, ließ die wertvolle Harfe achtlos fallen, machte einen halben Schritt auf die Alchimistin zu und stieß ihr die Waffe in die Brust. Dann ließ sie Shenwyn langsam zu Boden gleiten.
„Der Name der Ersten Seherin wurde von tausenden verflucht“, sagte sie dicht neben ihrem Ohr, die linke Hand auf dem Mund der Verletzten, „ich habe ihn so oft gehört, daß er nun stets in meinen Gedanken ist. Du wärst in zwei Wochen nach einer Exkursion in die Wälder auf das wahre Rezept gekommen, und es muß mit Dir untergehen, bevor es jemals ausgeführt wurde. Entschuldige die unsaubere Todesart und mein ungewöhnlich konventionelles Vorgehen, aber die Reise hierher war anstrengend, und jetzt verstehst Du es, nicht wahr?“
Shenwyn bäumte sich auf, aber Ailyn hob den Dolch abermals und jagte ihn ihr diesmal direkt ins Herz. Es war ein Endgül- tigkeitsdolch; kein Heiler, kein Magier und kein Priester konnten jetzt noch etwas für die Alchimistin tun.
Ailyn brachte sich damit einen Schnitt am Arm bei, zerriß ihren Ärmel, legte den Dolch zurück in sein Versteck, packte die Harfe und rannte zurück in die Taverne.
„Hilfe!“, schrie sie, „wir sind überfallen worden… eine Frau ist verletzt…“
Etliche Gäste sprangen auf, um ihr zu Hilfe zu eilen.
„Kümmert euch nicht um mich“, wehrte Ailyn ab, der das Blut über den Ärmel floß. „Da drüben, bei der Gasse…“
Vier Männer rannten los; einer mit einer Fackel, die drei anderen mit gezogenen Schwertern. Die Wirtstochter kümmerte sich derweil um Ailyns Wunde.
„Was ist denn passiert?“ fragte sie, während sie ihr einen sauberen Stoffstreifen um den Oberarm wickelte. Lycaldurs Rast

war für kleinere Wunden hinreichend ausgestattet.
„Es ging alles so schnell“, schluchzte Ailyn, „ein Mann, dunkel gekleidet, kam auf mich zu und wollte die Harfe haben. Die freundliche junge Frau eilte hinzu, um mir beizustehen, und dann hat er ein Messer gezogen… ich bin hergelaufen, um Hilfe zu holen…“
Die Schankmaid murmelte einige beruhigende Worte. Einige Augenblicke später kam einer der drei Schwertträger wieder herein. „Das Mädchen ist tot. Ich werde jetzt die Stadtwache benachrichtigen. Aber große Hoffnungen habe ich da nicht. Wer das getan hat, ist sicher schon über alle Berge.“
„Danke für die Hilfe“, sagte der Wirt, „leider sind die Straßen nicht mehr so sicher wie früher.“
„Ein Mann in dunkler Kleidung soll es gewesen sein“, platzte seine Tochter heraus.
„Ich geb’s weiter“, versprach der Kämpfer und verließ die Schänke.
„Sie war eine Heldin, diese junge Frau, fast so wie Lycaldur“, sagte die Schankmaid nachdenklich.
Ailyn straffte sich. „Es wäre schön, wenn man sie nun so in Erinnerung behält…“ meinte sie.
Sie bedankte sich noch bei den Wirtsleuten, dann nahm sie ihre Sachen und ging davon, Richtung Tor. Das Problem mit den Kindern der Seherin war endlich gelöst.
Und tausend Schritte jenseits der Stadtgrenze, auf einem einsamen Weg, verschwand der Correlan, als sei er nie dagewesen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.01.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Der Fluch des Rubinrings Die verdoppelten Nüsse Die Kinder der Seherin

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