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Inhalt




Vorwort

Kapitel 1: Die Auswahl

Kapitel 2: Der erste Tag der Lehre

Kapitel 3: Bei den Hexen

Kapitel 4: Rückkehr

Kapitel 5: Küchenphilosophie

...

Kapitel 27: Das Singen der Särge


Vorwort



Dieses Manuskript, gefunden in einem dreieckigen Holzbehälter, wie er üblicherweise für Schriftrollen verwendet wird, ist leider nicht vollständig erhalten. Glücklicherweise konnte das historisch wichtige 27. Kapitel über Das Singen der Särge

rekonstruiert werden, außerdem etliche frühere Kapitel, welche Aufschluß über die Hauptbeteiligten der damaligen Vorkommnisse geben. Es lohnt sich also, die Kapitel in der chronologischen Reihenfolge zu lesen.

Für Personen, die mit Magietheorie nicht so vertraut sind, daß sie über Finslor Grevindorcs „Kleine Einführung in die Grundlagen der Magie“ hinaus sind, hier eine kurze Übersicht über die gängigsten Varianten.
Runenmagier beschäftigen sich mit dem Schicksal, Beschwörer vermögen außerweltliche Wesenheiten herbeizurufen, Kampfmagier können – meist mittels elementarer Kräfte – großen Schaden anrichten, Nekromanten beschäftigen sich mit dem Tod, Untoten und damit in Verbindung stehenden Objekten wie Knochen und Blut, Abwender sind für die Bekämpfung magischer Phänomene zuständig, Erkenntnismagier widmen sich der Analyse von Zaubern und arkanen Objekten, Druiden wenden Naturkräfte an, und Heiler… nun ja, sie heilen.
In Wirklichkeit ist es natürlich wesentlich komplizierter, aber wenn man die Schnörkel und Anekdoten aus Grevindorcs Brevier weglassen würde, käme es auf recht genau diese Übersicht hinaus. Oder weniger.


Kapitel 1: Die Auswahl



Jastra stand auf dem Marktplatz und war entsetzt. Gerade war ihre letzte Chance an ihr vorbeigegangen, Magierin zu werden - wortwörtlich vorbeigegangen, denn nicht einmal der düstere Padragan, der hagere Nekromant aus Rhi Vennod, war beim Abschreiten der Reihe der Anwärter stehengeblieben oder hatte ihr auch nur einen Blick zugeworfen. Nun gut, man sagte, er hätte seit über einem Jahrzehnt keinen Adepten mehr ausgewählt und sei überhaupt nur aus traditionellen Gründen dabei, aber die anderen...?
Da waren die geheimnisvolle Runenmagierin Ysinthe Ven'Gyr aus Corast, die kundige Heilerin Jovothea von Cyrten, der umstrittene Beschwörer Rothos Chrualed, der verschlossene Abwender Noghair, die schweigsame Druidin Echormina und der kühne Kampfmagus Deljash. Bei jedem von ihnen hätte sie mit Freude ihre Lehre begonnen; nun ja, vielleicht nicht gerade mit großer Freude bei Chrualed, denn über Beschwörer gab es allerlei Gerüchte, aber er wäre immer noch eine weit besseres Los gewesen als der alte Nekromant. Doch nun schien es so, als würde sie bei keinem der Meister einkehren und die Grundpfeiler der arkanen Kräfte erlernen können. Die bereits Ausgewählten, alle ungefähr in ihrem Alter und sechs an der Zahl, begannen zu tuscheln. Die vier anderen Jugendlichen, die gleich ihr stehen gelassen worden waren, blickten teils betreten zu Boden, teils mit letzter Hoffnung zum Befürworter des Dorfes; dem Mann, der sich in seiner Vorstellung der Anwärter vergeblich für sie eingesetzt hatte.
Jastra fand das Verfahren zweifelhaft, gelinde gesagt. Alle paar Jahre die potentiell Begabten unter den jungen Leuten der Gegend zusammenzubringen, damit sich die Meister neue Lehrlinge aussuchen konnten, schön und gut. Die Handwerker machten es ja nicht wesentlich anders. Aber die vermeintlichen Qualitäten der einzelnen von einem Befürworter auflisten und vortragen zu lassen - was sollte das? Als ob die Betroffenen nicht für sich selbst sprechen konnten!
Naja, manche schienen es wirklich nicht zu können. Das Mädchen neben ihr, zierlich und blond, hatte nur hilflos zu Jovothea geblickt, und wer hatte sie zu sich gerufen? Noghair. Der Abwender hatte gleich darauf noch einen schlaksigen Jungen ausgewählt, der nur vor sich hingestottert hatte. Großartig.
Die Runenmagierin hatte überhaupt niemanden ausgesucht, offenbar war ihr keiner gut genug. Wer wußte schon, was in Leuten vor sich ging, die sich das Schicksal zum Beruf gemacht hatten?
Deljash hatte sich, wie zu erwarten war, Rogas ausgesucht, einen großen und kräftigen jungen Mann. Echormina hatte schlicht auf die dunkelhaarige Listred gezeigt, Rothos hatte den wieselflinken Berod angenommen, und die Heilerin, nach einigem Zögern, sich für Zildra entschieden, die zu Jastras Jugendfreundinnen gehört hatte.
Der Befürworter, ein Mann mittleren Alters, rang die Hände, sagte aber nichts. Offensichtlich fielen ihm keine Argumente mehr ein, die restlichen vier unterzubringen.
Jastra blickte verzweifelt von einem der Magier zum anderen. Sie alle waren an ihr vorbeigeschritten. Vielleicht hielt keiner der versammelten Meister sie für alt oder begabt oder wenigstens schön genug, sie für eine Ausbildung auszuwählen. Es war aus. All ihre Hoffnung von einer Entfaltung ihrer zumindest wahrscheinlich vorhandenen magischen Kräfte schien ins Nichts zu fallen.
Oder gab es eine letzte Chance?
Sie zermarterte sich den Kopf, was sie noch, wenn auch außerhalb des Protokolls, äußern konnte, und rief das erstbeste, was ihr einfiel: "Wenn die Welt auch zugrunde geht, wird doch die Magie bleiben."
Der Nekromant, der gerade langsam zu seinen Kollegen zurückging, blieb stehen. Nach einigen Augenblicken drehte er sich um. "Ich nehme die da." Und er zeigte auf sie.
Ausgerechnet auf sie. Ausgerechnet er.
Immerhin er.
Immerhin jemand

.
"Seid Ihr sicher, Meister Muir?" stammelte der Befürworter. "Ein so junges Mädchen? Eure Arbeit ist gewiß nichts für sie."
Muir näherte sich ihm gelassenen Schrittes. "Sie hat eine Einstellung. Eine falsche Einstellung zwar, aber immerhin eine Einstellung. Was man von den restlichen Duckmäusern und Schönlingen nicht behaupten kann."
"Ihr wagt es..." brauste Deljash auf, der gerade den jungen Rogas unter seine Fittiche genommen hatte.
"Aber meine Herren...", mischte sich der Befürworter ein, um den Marktplatz fürchtend. Die Magier ignorierten ihn.
"Ich habe meinen Worten nichts hinzuzufügen", meinte Padragan Muir, winkte seine neue Schülerin zu sich und ging davon.
Normalerweise gab es nach einer Auswahl ein kleines Fest, und dazu waren nicht nur die unmittelbar Beteiligten eingeladen, sondern auch deren Eltern und Freunde, da ja ein Abschied bevorstand - die Lehrlinge folgten gewöhnlich dem Meister in seine Stadt, wohnten und lernten bei ihm für etliche Jahre, bevor sie die Abschlußreise machten und ihre Prüfung ablegten. Die Feierlichkeiten interessierten Muir offenbar herzlich wenig, und so lief Jastra ihm schließlich hinterher, nachdem sie sich mit einer kurzen Umarmung von ihren Eltern verabschiedet hatte. Diese wußten auch nicht recht, ob sie über das überraschende Ergebnis der Auswahl nun glücklich sein sollten oder nicht, aber immerhin war ihre fünfzehnjährige Tochter nun in einer Lehre, das war besser als nichts. Sie winkten ihr noch nach und fragten sich etwas bange, was sie bei dem alten Magier erwarten sollte.

***


Muirs Anforderungen an eine Schülerin waren zumindest ungewöhnlich. Kaum daß sie in seinem Wohnsitz, einem uralten baufälligen Haus am Rand von Rhi Vennod, angelangt waren, hatte er sie in sein Studierzimmer beordert. Jastra hatte noch nie so viele Bücher auf einmal gesehen, nicht einmal in dem kleinen Buchladen der Kleinstadt, die ihrem Heimatort nahelag. Neben Büchern gab es hier Schriftrollen, obskure Artefakte, seltsam geformte Lampen, eine Schiefertafel, einen Schreibtisch, und in der Ecke stand ein Skelett! Sie hoffte, daß es nicht irgendwann ein Eigenleben entwickeln würde, bei Nekromanten wußte man ja nie!
Muir setzte sich in den Sessel am Fenster und musterte das Mädchen, das immer noch sein Gepäck umklammerte, eine Zeitlang, bevor er sprach.
"Deine Haare müssen mindestens eine Elle lang sein", begann er, "und schwarz."
"Das sind sie aber nicht, leider", wandte Jastra zaghaft ein. Sie zupfte verlegen an einer dunkelblonden Strähne.
"Grundlagen der Alchimie, Band 3, Kapitel 14", brummte er, "es gibt Tinkturen dafür. Eine ist noch da; weitere wirst Du selbst zusammenmischen. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja. Deine Dienstkleidung besteht aus langen schwarzen Kleidern; überhaupt alles, was Du trägst, sollte standesgemäß schwarz sein. Und Deine Augen müssen mit diesem schwarzen Zeug hervorgehoben werden. Frag die Hexen, was das ist und wie das geht."
"Ja, aber warum?"
"Ist das Aufmüpfigkeit oder Wißbegier, dass Du das fragst?"
"Wißbegier?" versuchte das Mädchen.
Er krächzte. Oder hatte er etwa gelacht? "Das hätte jetzt wohl jede gesagt. Aber das andere hätte ich Dir auch durchgehen lassen, Du scheinst mir etwas schüchtern zu sein."
"Und das ist schlecht?" erkundigte sie sich. Ihre Mutter hatte damals gesagt, vornehme Zurückhaltung stünde einer jungen Dame gut an.
Der Meister fixierte sie mit kaltem Blick. Sie wich unwillkürlich einen halben Schritt zurück.
"Siehst Du, so geht das!" erklärte er. "Nekromanten sind unheimlich, mächtig, mißverstanden, gehasst, mitunter wahnsinnig - aber sie sind niemals schüchtern! Hast Du das verstanden?"
"Ich glaube schon", murmelte sie.
"Die korrekte Erwiderung lautet Ja, Meister

", meinte er tadelnd.
"Ja, Meister."
"Gut so. Und jetzt zu Deiner Frage. Durch die Betonung der Augen wird der Betrachter erinnert, daß Deine Wahrnehmung eine besondere ist, und daß er sich vorzusehen hat. Außerdem hat es Tradition, und keine andere magische Ausrichtung ist der Tradition und der Vergangenheit so verpflichtet wie die unsere."
"Wieso das?"
"Ich sehe schon, es wird unterhaltsam mit Dir, wenn Du stets nach dem Grund fragst. Fühle Dich ermutigt. Und die Antwort lautet: weil wir uns mit den toten Dingen, also Subjekten der Vergangenheit beschäftigen. Und viel Zeit auf Friedhöfen verbringen, wo uns die früheren Jahrhunderte gleichsam umgeben und uns stets an unsere Vergänglichkeit gemahnen."
Jastra faßte mehr Zuversicht und wagte es, ihre beiden Beutel abzulegen, bevor sie die nächste Frage stellte.
"Aber heißt es nicht, Nekromanten könnten selbst ihrer Sterblichkeit oder ihrer Alterung trotzen?"
"So heißt es bisweilen, ja", gab Muir mit einem dünnen Lächeln zurück, "aber das sind Themen, die so fortgeschritten sind, daß Du sie getrost ignorieren kannst, solange Du nicht selbst eine Meisterin bist."
Das Mädchen schnappte nach Luft.
"Glaubt Ihr denn, daß ich es wirklich schaffen kann?"
"Es hängt nicht davon ab, was ich

glaube", gab der Nekromant zurück, "sondern was Du

glaubst. Wenn Du nicht selbst daran glaubst, wirst Du es nicht schaffen, so viel steht fest. Nun zu Deinen Aufgaben. Bei den meisten Lehrherren - nicht nur in der Magie - ist es üblich, daß sich die Schüler um die Ordnung im Hause kümmern, niedere Arbeiten verrichten und anfangs durch Beobachtung erste Einblicke in die Tätigkeiten des Meisters gewinnen."
Jastra nickte. Brenefred, ein Bekannter von ihr, hatte letztes Jahr beim Schlosser angefangen und ihr Ähnliches von seiner Arbeit erzählt.
"Das ist alles Unsinn", fuhr Muir ungerührt fort, "seit wann hat ein Adept durch Fegen und Aufräumen etwas über Magie gelernt? Du bist hier nicht die Hausmagd, merk Dir das! Und durch Zusehen kannst Du ohne Vorbildung, ohne die elementarsten Grundlagen der Wissenschaft, rein nichts von dem verstehen, was ich mache. Magie unterscheidet sich wesentlich vom Holzhacken, ist Dir das schon aufgefallen?"
"Äh... ja." Offenbar wurde hier viel von dem, was sie sich hinsichtlich der Lehre vorgestellt hatte, über den Haufen geworfen.
Er legte den Kopf schief. "Wie heißt es richtig?"
"Oh. Äh - ja, Meister!"
"Du bist heute ein wenig verwirrt, scheint mir. Ich komme nur noch kurz zu den anderen Pflichten, dann kannst Du ruhen. Für Tagleute ist es wohl schon etwas spät... also, Du wirst nicht aufräumen oder so etwas. Das Haus muß sich in einem Zustand fortgeschrittener Verwahrlosung befinden... was schaust Du denn so?"
"Habt Ihr gerade Verwahrlosung

gesagt?" fragte das Mädchen fassungslos.
"In der Tat. Auch wenn ich erst später darauf zu sprechen kommen wollte, ich bin ein recht konservativer Vertreter der Nekromantie und halte nicht viel von den neumodischen Ansätzen, alle Varianten der Magie und auch der Magier über einen Kamm zu scheren. Dazu gehört auch der Zustand des Hauses. Man kann sich nicht ernsthaft mit Zerfall beschäftigen und in einem blitzblanken Haus wohnen. Das würde auch die gesamte Symbolik stören. Es gibt ein paar Ausnahmen, die Du noch herausfinden wirst. Wenn Du Dich oder Deine Kleidung beispielsweise waschen willst, geht das in Ordnung. Aber der Staub in diesem Zimmer ist absolut tabu, er gehört zu meinem Ordnungssystem... was gibt es noch? Von Zeit zu Zeit werde ich Deine Fortschritte überprüfen, natürlich nicht in schriftlichen Tests, wie es die meisten machen. Ansonsten bist Du natürlich zum Selbststudium aufgefordert. Bücher sind ja genug da. Neben dem schon erwähnten Werk über Alchimie möchte ich Dir die Historie von Avonna empfehlen. Die kann recht inspirierend für Dich sein."
"Ist das ein Land?" erkundigte sich das Mädchen unsicher.
"Nein, die bedeutendste und wagemutigste Nekromantin, die das Land je gesehen hast. Ich merke schon, Du hast umfangreiche Wissenslücken, die es zu füllen gilt. Aber dazu morgen. Jetzt geh in Deinen Schrank. Er ist da drüben."
Er zeigte auf einen großen Kleiderschrank, der im Flur stand.
"Ich soll in einem Schrank

übernachten?" rief Jastra entsetzt.
"Wieso wiederholst Du alles, was ich sage? Ja. Der ist für Dich. Und jetzt belästige mich nicht mehr, ich habe noch zu arbeiten."
"Meister Muir..." klagte sie leise.
"Wenn Du meinen Anweisungen nicht folgst, kannst Du gleich wieder gehen. Da ist der Schrank, da ist die Tür. Was wählst Du?"
Den Tränen nahe, ergriff das Mädchen ihre Bündel, ging zum Schrank und öffnete ihn. Darin hing ein alter zerschlissener Umhang. Sonst war er leer.
Jastra drehte sich zu Muir um, der hinter sie getreten war.
"Keine Sorge, Du paßt hinein", meinte er leichthin.
Sie mußte sich beherrschen, um nicht zu schreien, aber schließlich trat sie in den Schrank. Was sollte sie auch sonst machen? Daß der Nekromant wahnsinnig war, war jetzt offensichtlich. Vielleicht hielt er es auch nur für eine althergebrachte Tradition, aber sie wollte ihn nicht mit Widerworten reizen. Eine Nacht würde sie es wohl aushalten - und dann am frühen Morgen abreisen. Das war sicher das Beste.
"Schläfst Du immer bei offener Tür?" fragte er aus dem Nebenzimmer.
"Muß ich die Tür wirklich zu machen?" fragte sie zurück.
"Läßt Du bei Schränken immer die Türen auf?" konterte er.
Allmählich begriff sie das Spiel. "Gehört das nicht zur Verwahrlosung?" Sie konnte das bis zum Morgen spielen, oder?
"Ein interessanter Aspekt. Reden wir darüber, wenn Du ausgeschlafen bist, ja?"
"Wie soll ich in einem Schrank schlafen können? Im Stehen?"
"Wer hat was von Stehen gesagt? Setz Dich ruhig hin."
Ihr fiel keine weitere Frage mehr ein, mit der sie ihre Situation hätte hinauszögern oder gar verbessern können. Und da sie wirklich müde war, ließ sie sich auf den Boden rutschen, die Bündel auf den Beinen. Da saß sie nun, die angehende Magierin. In einem Schrank! Das konnte doch nicht wahr sein!
"Jastra?"
"WAS?" schrie sie dann doch.
"Im ganzen Satz?" Seine Stimme klang amüsiert, oder bildete sie sich das nur ein?
"Hm. Ja, Meister?"
"Die Tür?"
"Die verdammte Tür..." murmelte sie und zog, damit er endlich Ruhe gab, die Schranktür zu. In der Dunkelheit ließ sie den Kopf auf die Knie sinken. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Morgens, die Vorbereitungen auf die Auswahl, die Ermahnungen der Eltern, das Hübschmachen, die Freundinnen, die bange Erwartung. Dann, die Auswahl selbst, erst voller Hoffnung, dann die Enttäuschung, dann die überraschende Wendung. Und schließlich der lange Weg hierher, teils auf einem Karren. Sie war staubbedeckt (immerhin ein erster Schritt zur Verwahrlosung, würde der irre Meister wahrscheinlich sagen) und erschöpft. Es war sicher nach Mitternacht, weit danach.
"Gute Nacht", sagte er ganz nah am Schrank und löschte das Licht im Flur. Nun war es stockdunkel um sie herum. Sie wollte sich strecken, stieß mit den Ellenbogen aber sofort an die Tür und die Rückwand. Was hinderte sie eigentlich, den Schrank zu verlassen und in der Küche zu schlafen?
Nur seine unmißverständliche Anweisung - aber die war deutlich und bindend genug gewesen. Seine Schritte verhallten im Knarren einer Treppe. Dann war es still. Sie wischte sich über das Gesicht. An ihren Augen spürte sie Tränen. Sie schniefte und versuchte sich bequemer hinzusetzen. An Liegen war nicht zu denken, dafür war der Schrank nicht breit genug.
Sie dämmerte einige Zeit dahin, aber zum Schlafen war es einfach zu unbequem und außerdem auch zu kalt. Vielleicht konnte sie sich wenigstens mit dem Umhang zudecken oder ihn als Kopfkissen benutzen? Sie zog daran. Er rutschte von seinem Bügel herunter und landete auf ihr. Es staubte gewaltig. Jastra hustete und wäre um ein Haar aufgesprungen, um den Schrank und auch gleich das Haus zu verlassen. Nur daß sie nicht wußte, wohin sie hätte gehen können, hinderte sie daran. Zu ihren Eltern konnte sie kaum zurück, die hielten sie nun für gut versorgt und hätten sie wohl auch gescholten, daß sie nach einer halben Nacht schon aufgegeben hatte. Nun, vielleicht brachte der Morgen eine Verbesserung. Hoffentlich. Dieser Schrank war furchtbar.
Jastra rollte den Umhang zusammen und legte ihn hinter ihren Kopf. Ihr Kleiderbündel, das nach seiner Anforderung nach schwarzer Kleidung ohnehin nutzlos geworden war, benutzte sie als Sitzkissen. Das war immerhin besser als nichts.
Während sie im Schrank noch die beste aller grausamen Sitzpositionen suchte, fiel ihr ein Schimmern auf, das von links kam, also durch die Rückwand fiel. Diese bestand offenbar aus mehreren Paneelen, die haarfeine Lücken aufwiesen. Man konnte zwar nichts erkennen, aber eigentlich hätte es hier im Erdgeschoß doch völlig dunkel sein sollen? Woher kam dann das Licht?
Sie schlug ein paarmal gegen die Rückwand des Kleiderschranks, aber diese gab nicht nach. Sie schien sogar solider als die Tür zu sein. Einen Moment lauschte sie, ob sich Muir nicht wegen des Krachs beschweren würde, aber es war nichts zu hören. Aber mit dem Licht mußte es doch eine Bewandtnis haben!
Das Mädchen stand auf und tastete die ganze Rückwand ab, doch sie war glatt und, wie es sich anfühlte, staubbedeckt. Wie offenbar alles in diesem gräßlichen Haus, sagte die Schülerin zu sich. Sie stand halbgebückt in ihrem Verließ - aufrecht stehen ging auch nicht, dafür war der Schrank nicht hoch genug - und befühlte die Seitenwände. Mehrmals stieß sie dabei mit dem Kopf gegen die waagerechte Stange, an der noch der Bügel hing.
Absurd! Hier war nichts! Und vermutlich stand der Schrank nur vor einem Fenster, durch das der Mond schien. Aber da - unterhalb der Stange, vor ihr an der rechten Wand, war eine Erhebung, etwas Metallisches. Sie drückte darauf, zerrte und schob: nichts. Womöglich nur eine Leiste für einen Einlegeboden. Fast hätte sie sich wieder hingesetzt, als sie auf die Idee kam, das Ding zu drehen.
Das klappte immerhin, und ein klackendes Geräusch ertönte. Das war alles.
"Na großartig!" zischte Jastra. Was hatte sie auch erwartet? Sie wollte nach ihrem zweiten Beutel greifen, stieß gegen die Rückwand... und diese gab plötzlich nach! Das Mädchen fand keinen Halt an dem glatten Holz und stürzte... in ein erleuchtetes Zimmer.
Es rappelte sich auf und sah sich überrascht um. Der Raum war völlig anders als das, was es bisher von Muirs Haus gesehen hatte. Er ähnelte mit dem Bett, dem Tisch, den Stühlen und Schränken ein wenig dem eigenen Zimmer im Elternhaus und war nicht nur völlig sauber, sondern auch mit unbeschädigten Möbeln, einem Spiegel und sogar einer Waschschüssel ausgestattet. Auf der Kommode neben dem Bett sorgte eine Öllaterne für das Licht, das Jastra aufgefallen war. Das Mobiliar wirkte zwar altmodisch, aber stabil. Der Boden war mit einem dunkelroten Teppich ausgelegt. Zwei Gemälde zeigten Landschaften, ein drittes eine dunkel gekleidete Frau, die mit einer Fackel in der Hand in einem Gewölbe vor einem großen Steinblock stand. Insgesamt war das Zimmer sogar luxuriöser als ihres daheim und obendrein größer.
Sie holte ihre beiden Beutel aus dem Schrank und legte sie auf den Tisch. Dann schloß sie die Geheimtür wieder. Sie schnappte ein, aber auf dieser Seite gab es nicht nur eine ähnliche Vorrichtung zum Drehen, sondern auch einen Riegel, den man vorlegen konnte. Vorsichtshalber verriegelte sie die Tür damit. Ob dieser Raum wirklich für sie gedacht war? Jastra war sich zunehmend sicher. Muir hatte ja von Tests gesprochen, die man nicht schriftlich ablegte. Vermutlich war dies der erste gewesen.
Das Bett sah einladend aus. Aber nach der Zeit im Schrank hätte sie sich wohl auch mit dem Fußboden zufriedengegeben. Hauptsache, sie konnte sie ausstrecken. Rasch warf sie noch einen Blick in die Schränke. Beide waren einen Schritt breit. Der linke enthielt schwarze Männerkleidung, der rechte die angekündigten schwarzen Kleider und eine Flasche Haartinktur. Also war es wohl wirklich der Raum für die Adepten. Ansonsten gab es noch Regale mit Schreibzeug und Dingen, die man auch später noch genauer untersuchen konnte.
Endlich ließ sich das Mädchen aufs Bett fallen und schlief sofort ein.


Kapitel 2: Der erste Tag der Lehre



Wann der nächste Morgen kam, vermochte Jastra nicht genau zu sagen, denn es fiel nur trübes Licht in das Zimmer. Obwohl es zwei Fenster gab, trugen sie kaum zur Beleuchtung bei, denn sie waren mit Efeu überwuchert und wohl seit langem nicht mehr geputzt worden. Sie stand auf, wusch sich und probierte die Kleider an. Von den dreien, die alle den gleichen Schnitt aufwiesen, paßte ihr nur das mittlere; eines war zu klein, das andere viel zu groß. Sie besah sich im Spiegel und erschauderte. Es war fast bodenlang, an den Schultern verstärkt, und die weiten Ärmel liefen an den Handgelenken wieder zusammen. Vielleicht hatte man so etwas in der Jugend ihrer Großmutter getragen - ihre Freundinnen würden sie nur auslachen, wenn sie mit diesem rüschenbewehrten Alte-Frauen-Kleid umherlief. Aber ihre Freundinnen waren weit weg.
Auf jeden Fall war ihre Laune nach der bestandenen ersten Prüfung (obwohl "Mädchen, finde Dein Zimmer" bei Licht betrachtet nicht sonderlich bahnbrechend wirkte) besser als am Vorabend, und ausgeschlafen war sie jetzt auch. Letzteres machte ihr ein wenig Sorge, denn dann konnte es nicht mehr früh am Tage sein. Sollte sie gleich Muir aufsuchen? Ihr Blick fiel auf die Flasche mit der alchimistischen Tinktur. Nein, er würde erwarten, daß sie vor ihm erschien, wie er es angeordnet hatte. Wenn er schwarze Haare wollte, dann sollte er sie haben. Sie hatte von Magiern gehört, die wesentlich höhere Anforderungen an ihre Schüler stellten als eine neue Haarfarbe und ein häßliches Kleid.
Sie brauchte über eine Stunde mit den Haaren, und hinterher waren diese tatsächlich schwarz, die Hände und das Waschwasser ebenso und das Kleid ohnehin. Jetzt war es an der Zeit für Frühstück, befand sie, und für neues Wasser.
Also entriegelte sie die Tür, nahm den Bottich und ging durch den Schrank. Der Flur und das Studierzimmer sahen im Kontrast zu dem freundlichen Raum, in dem sie eben noch gewesen war, besonders desolat aus. Hinter der geschlossenen Tür rechts von ihr mußte die Küche sein, oben wahrscheinlich die Räumlichkeiten des Magiers. Wie viele Stockwerke gab es eigentlich? Am Abend hatte sie gar nicht darauf geachtet.
Jastra ging zur Vordertür hinaus und schüttete das schwarze Wasser diskret auf die unkrautüberwucherte Fläche, die man bei anderen Häusern Vorgarten genannt hätte. Von einem Garten konnte hier allerdings keine Rede sein. Brennesseln, Gräser und Disteln reichten ihr bis zur Hüfte. An der Hauswand rankte sich Efeu unregelmäßig bis aufs Dach. Keines der erkennbaren Fenster sah irgendwie durchsichtig aus.
Das Haus selbst war gewiß Jahrhunderte alt; teils mit Fachwerk erbaut, einem graubraunen Anstrich versehen und mit allerlei Giebeln und Türmchen ausgestattet, auf denen schemenhaft unbewegliche Kreaturen hockten.
"Ich wohne in einem Spukhaus", flüsterte das Mädchen erschüttert. Was konnte man bei einem Nekromanten anderes erwarten? Ihre gute Laune verflog zusehends. Um sich wenigstens etwas zu orientieren, ging sie um das Gebäude herum. Hinten im Hof fand sie einen Brunnen, den sie gleich zum Auffüllen ihrer Waschschüssel nutzte, und weiter hinten ein Holzhäuschen, dessen Zweck offensichtlich war, ohne daß sie hineinzublicken brauchte. Es gab eine Hoftür, die wieder ins Haus führte. Jastra probierte sie aus und landete in der Küche - genauer gesagt dem Raum, der einst als Küche gedacht gewesen war. Zwar türmten sich hier Töpfe und Teller, aber alles lag wild durcheinander. Die Geschirrschränke waren halb gefüllt; die Fächer und Regale, die bei anderen Leuten normalerweise für Nahrungsmittel genutzt worden, standen leer. In diesem Raum war zudem mit Sicherheit seit Jahren nichts mehr saubergemacht worden.
Jastra schüttelte sich und entkam in den Flur, wo sie auf Muir prallte.
"Na, schon so früh wach?" begrüßte er sie.
"Früh? Ist es nicht schon nach der Mittagsstunde?" Das Mädchen schielte irritiert zur schmutzigen Glasscheibe über der Haustür, durch welche ein wenig Tageslicht fiel.
"Richtig beobachtet, aber Nekromanten haben einen anderen Tagesrhythmus als die meisten Menschen. Du hättest ruhig bis zum Abend ausschlafen können - Du siehst schon wieder etwas verwirrt aus. Aber immerhin schon wesentlich seriöser als gestern."
Jastra machte einen Schritt zur Seite und betrachtete sich im halbblinden Spiegel, dessen Oval im Flur kaum auffiel. Sie hatte sich schon vorhin beim Färben kaum wiedererkannt, und dieser größere Spiegel zeigte nahezu eine Fremde - ein schlankes mittelgroßes Mädchen, das wirre, noch feuchte dunkle Haare sowie blaue Augen hatte und aus einem Märchenbuch zu stammen schien. In ihrem Heimatort hätte man wahrscheinlich gleich die Mistgabel hervorgeholt oder einen Priester gebeten, die Hexe zu vertreiben. Was das alles mit dem Studium der Magie zu tun hatte, entzog sich ihr vollends.
"Wenn Ihr meint, Meister Muir..." brachte sie schließlich hervor.
"Mach Dir nur keine Sorgen über Dein Aussehen", meinte er, "wenn Du erst etwas blasser bist und bei den Hexen warst, wirst Du zumindest äußerlich vollständig konform mit den Traditionen der Altehrwürdigen sein. Das Volk wird Dir entsprechend begegnen, und Du kannst unbehelligt unter den Menschen wandeln."
"Das konnte ich bisher auch", gab sie trotzig zurück.
"Bisher warst Du auch keine Schülerin der Nekromantie. Das Volk hat da eben seine Vorbehalte. Entweder die Leute respektieren Dich, oder sie fürchten Dich. Mehr Optionen gibt es nicht."
"Respekt wäre mir lieber als Furcht."
Er nickte. "Aber den mußt Du Dir erst verdienen, und Deine Ausbildung hat gerade erst begonnen. Und ich werde nicht immer da sein, um Dich aus einer Gefahr zu holen. Lerne frühzeitig, auf eigenen Beinen zu stehen. Nicht umsonst gelten die Nekromanten als die selbständigsten Magier: kaum jemand steht ihnen bei, wenn es zu Schwierigkeiten kommt. Im Gegenteil, mancher hofft, daß sie untergehen. Willst Du untergehen?"
"Nein." Jastra ließ bei dieser morgendlichen Maßregelung, noch vor dem Frühstück, die Schultern hängen.
"Wie sagt man?"
"Ach, das. Nein, Meister

."
"Gut. Womit fangen wir nun an? Hier ist schon mal die Karte, die Dich zu den Hexen führen wird. Du wirst für die gesamte Reise wohl einen Tag brauchen. Melde Dich dann wieder bei mir." Er drückte ihr einen Zettel in die Hand, der mit unleserlichen Symbolen beschriftet war. Jastra blickte verständnislos zu ihm auf.
"Die Rückseite, Kind!" brummte er, "vorne sind Notizen über Grabsteinwinkel und Mondphasen verzeichnet. Dazu kommen wir erst im zweiten Lehrjahr." Er wandte sich ab und ging zur Treppe.
"Meister Muir..."
Der Nekromant blieb stehen. "Was gibt es noch?"
"Ich habe Hunger."
Er wandte sich überrascht um. "Ach ja. Die Schwäche des Fleisches. So grundlegend wie lästig. Nun, ich empfehle Dir, etwas zu essen." Damit schickte er sich an, in den ersten Stock zu verschwinden.
"Aber hier ist nichts!" rief Jastra ihm nach.
Für einen Moment erfolgte keine Reaktion, dann kam er tatsächlich zurück und winkte sie ins Studierzimmer. "Kind, wie unachtsam von mir. Du bist noch so jung... also, Du kannst die Küche für Deine Zwecke nutzen, solange Du sie nicht mehr als nötig durcheinanderbringst... Essen mußt Du einkaufen, Geld liegt im Brotkasten. In meinen Räumlichkeiten, und das sind alle außer der Küche, dem Flur und dem Schrank, ist der Verzehr allerdings untersagt, der Verkehr sogar im ganzen Hause."
"Was meint Ihr denn damit?" Hatte sie sich verhört oder war das ein Themenwechsel?
"Ich glaube mich zu erinnern, daß es da Dinge gibt, die Schülern in Deinem Alter relevant erscheinen. Vielleicht wirst Du in den nächsten Jahren den Wunsch verspüren, Dich irgendwelchen Jungen hinzugeben. Solange Deine Studien davon nicht beeinträchtigt werden, ist mir das völlig gleichgültig, und ich rechne es dem jugendlichen Überschwang zu, sich mit nutzlosen Dingen zu beschäftigen. Aber diese Unternehmungen haben außerhalb dieses Gebäudes stattzufinden. Verstanden?"
Das Mädchen war so sprachlos, daß es bloß nicken konnte.
"Eines gilt es aber zu beachten", fuhr er ungerührt fort, "ich betrachte die Erzeugung neuen Lebens als groben Verstoß gegen die Berufstradition. Bitte nimm daher Abstand davon. Ich würde mit einer Entlassung aus meinen Diensten reagieren müssen. Wenn Du erst den Meisterrang erworben hast, kannst Du es natürlich halten, wie es Dir beliebt. Um Dir bis dahin die Praxis zu erleichtern, liegt in der untersten Schublade des rechten Schrankes, in welchem Du das Kleid gefunden hast, eine Formelsammlung, die von Vessidia der Unersättlichen erstellt wurde. Sie hat diese in jahrelanger Feldforschung entwickelt, um unliebsame Nachfolgen zu unterbinden. Sie war schließlich erfolgreich, wurde aber zur meistgehaßten Nekromantin ihres Jahrgangs. Jaja, die gute alte Zeit..."
Jastra verstand, was er meinte, aber seine letzte Bemerkung ergab für sie keinen Sinn.
"Wieso war sie so verhaßt, wenn sie doch erfolgreich war? War es Neid?"
"Nein. Weil den betroffenen Männern am Anfang auch irgendwas abgestorben ist." Er kicherte, wurde jedoch gleich wieder ernst. "Aber die finale Formel ist perfekt. Keine Nebenwirkungen. Die Heiler und Hexen flößen den Frauen heute noch furchtbare Tränke und Mittel ein, um dasselbe Ziel zu erreichen, und dabei wirkt es nicht immer, und selbst wenn es wirkt, können noch ein paar Sachen nebenbei passieren. Aber den Nekromanten traut man ja nicht. Nun ja, studiere die Formel selbst. Sie wirkt für drei bis vier Wochen, dann muß sie erneut gesprochen werden.
Aber lassen wir das. Wie war es im Schrank?"
Jastra atmete auf. Das war ein angenehmeres Thema. "Anfangs recht beengt, aber dahinter..."
"Das dahinter

ist arkan nur eine Erweiterung des Schrankes", unterbrach er, "beachte dies. Die Gesamtsymbologie des Hauses sollte nicht einmal durch eine Erwähnung solcher Zonen gefährdet werden. Daher sprich mit niemandem darüber, ansonsten wird der Zugang verwehrt."
"Oh. Tja, das wäre mir nicht recht. Also gut", stimmte sie zu, obwohl es bedeutete, daß sie nun jeden im Glauben lassen mußte, in einem Schrank zu wohnen. Aber besser das, als tatsächlich darin zu hausen. Und das mit der Symbolik würde sie nachschlagen müssen.
"Und welche Lehre hast Du aus dem Erlebnis gezogen?" hakte er nach.
"Daß ich nicht so schnell aufgeben soll?" vermutete sie.
"Das auch", räumte er ein, "im Wesentlichen ist die Prüfung des Schranks aber eine Metapher auf das Leben. Wenn Du Dich mit einer gegebenen Situation abfindest, wirst Du Dein Leben lang nur in einem dunklen Schrank sitzen. Wendest Du aber Beobachtung und Forschung an, dann wirst Du Fortschritte machen und neue Dinge entdecken, welche die ganze Zeit da waren. Du hattest sie vorher nur nicht gesehen. Das ist der Kern der Wissenschaft, und Magie ist letztlich auch nur eine Wissenschaft - eine besondere und großartige zwar, und manche vermeinen sie zur Kunst erheben zu müssen, aber an die wahren Erkenntnisse gelangt man nur durch eigene Erfahrungen, Messungen, Studien und Experimente."
"So habe ich das noch gar nicht betrachtet", gab die Schülerin zu.
"Dann ist das ein guter Zeitpunkt, damit zu beginnen. Damit dürfte für heute alles gesagt sein", befand Muir. "Essen kannst Du auf dem Weg. Ich erwarte Dich morgen Nacht zurück." Ohne eine Antwort abzuwarten, wendete er sich ab und ging zu seinen Räumlichkeiten nach oben.
Jastra war froh, das schreckliche Haus für einige Zeit verlassen zu können. Sie packte noch einige Dinge für die Reise in einen ihrer Beutel und ging zur Küche, um das Essensgeld abzuholen. Im Brotkasten befand sich tatsächlich eine metallene Schatulle, die mit Münzen gefüllt war. Das Mädchen machte große Augen. Mit diesem Geld hätte man das ganze Haus renovieren können! Aber Muir wollte es ja so haben.
Fünf Silbermünzen nahm sie mit, das würde für Mahlzeiten und Übernachtungen reichen. Mehr zu beanspruchen, wagte sie nicht; vielleicht war es wieder eine Prüfung, und der Nekromant zählte nach, um ihre Gier zu testen. Nein, das war schon in Ordnung so.
Beim Verlassen des Hauses warf sie einen Blick auf die Karte. Ihr Ziel lag nördlich, tief im Wald. Zunächst aber mußte sie nach Osten, in die Siedlung, um Proviant einzukaufen. Ihr Magen knurrte schon.
Da sie Rhi Vennod nicht kannte, schien es am einfachsten, den Marktplatz aufzusuchen. Selbst wenn da um diese Zeit keine Stände mehr aufgebaut waren, würde es doch einige Läden geben, in denen sich das Erforderliche erwerben ließ. So folgte sie den immer breiter werdenden Gassen, bis sie den Platz erreicht hatte. In dessen Mitte befand sich das Standbild eines feisten Mannes in Händlerkleidung, der allerdings ein Schwert an der Seite trug. Eine Plakette an seinem Sockel verkündete, daß dies "Falstreus der Milde" war, der die Stadt vor einer lang zurückliegenden Invasion gerettet hatte - auf welche Weise er dies auch angestellt haben mochte. Wie zu erwarten gewesen war, war der Markt schon beendet (oder es war einfach kein Markttag); der Platz war jedenfalls im Wesentlichen leer. Die wenigen Leute, die ihn überquerten, warfen ihr jedoch lange, mißtrauische Blicke zu.
Jastra fuhr sich nervös mit den Fingern durch die Haare und eilte auf eine Bäckerei zu. Ein Einbeiniger hinkte auf Krücken auf sie zu und hielt ihr fordernd einen leeren Becher entgegen. Von ihren fünf Münzen konnte sie schlecht eine ganze abgeben (oder doch?)... sie floh förmlich in das Geschäft, während ihr der Bettler noch mit tiefliegenden Augen nachstarrte.
Die Bäckersfrau machte einen freundlichen Eindruck, der sogar dann nicht schwand, als sie Jastra verblüfft musterte.
„Du bist wohl neu in der Stadt, wie?“
Die Schülerin lächelte verlegen. „Sieht man das so deutlich? Es ist das Kleid, nicht wahr?“
Ihr Gegenüber schüttelte den Kopf. „Solche Kleider trägt man zu formalen Anlässen drüben in Rhi Thelney und weiter westlich immer noch. Es ist mehr, daß ich Dich noch nie gesehen habe, außerdem gibt es nur zwei Backstuben im Ort. Und mein Brot ist das Bessere.“ Sie zwinkerte der Kundin verschwörerisch zu. „Was soll’s denn sein?“
„Hm, ich wollte etwas fürs Frühstück kaufen und dazu noch Proviant für eine… äh, Wanderung nach Norden…“ Es war vielleicht besser, nicht allen Leuten auf die Nase zu binden, daß sie Hexen aufsuchen wollte. Hexen waren mancherorts wenig beliebt.
Die Bäckerin suchte etwas vom ausliegenden Backwerk zusammen und wählte ein Brot dazu aus. „Ist das so recht? Das Krustenbrot ist noch warm, so frisch ist es.“
Jastra nickte. „Genau richtig. Was bin ich Euch schuldig?“
„Hm. Beiß mal vom Brot ab.“
Irritiert kam sie der Aufforderung nach. Das Brot duftete nicht nur köstlich, es schmeckte auch besser als manch anderes Brot, das sie von zuhause kannte. Und genau das sagte sie auch.
Die Bäckersfrau strahlte zufrieden. „Du hast einen guten Geschmack, junge Dame. Gib mir drei Kupfermünzen für das Brot, der Rest ist ein Geschenk. Soll keiner sagen, wir in Rhi Vennod wären nicht gastfreundlich zu Fremden!“
„Ich danke Euch vielmals und werde bestimmt wiederkommen“, versprach die Schülerin.
„Na wenn Du erst mal wieder aus dem Wald herauskommst“, erwiderte die Frau halblaut, während sie die Ware einpackte, „das ist kein guter Ort für Mädchen wie Dich. Die Rhi-Kette ist Grenzland, die Wälder sind tief, und es gibt nicht nur Wölfe da. Hüte Dich!“
„Ich werde mich schon zurechtfinden“, meinte Jastra und versuchte tapferer zu klingen, als sie war. Sie bezahlte, nickte der Bäckerin noch einmal grüßend zu und verließ den Laden, während ihr die Inhaberin noch einige Zeit nachblickte.
Das Mädchen folgte der Karte aus der Stadt nach Norden, während sie das Backwerk verzehrte. In ihrem Beutel war noch ein Trinkschlauch mit Quellwasser, den sie am nächsten Bach auffüllte, nachdem sie getrunken hatte. Obwohl nun eigentlich alles den Lauf nahm, den sie seit Jahren angestrebt hatte – seit dem Zeitpunkt, als sich bei ihr zum ersten Mal das magische Talent angedeutet hatte – fühlte sie sich doch unsicher, was die Zukunft bringen mochte. Zumindest hatte sie sich ihre Ausbildung ganz anders vorgestellt, eher in einer Art gemeinsamen Unterweisung mit Gleichaltrigen, angeleitet von freundlichen und weisen Meistern. Stattdessen war die erste Aufgabe, zu der sie ihr Meister (ein Nekromant!) aufgefordert hatte, eine Reise in einen finsteren Wald, um Hexen zu suchen, die ihr irgendetwas ins Gesicht schmieren sollten! Wozu das Ganze? Was sollte sie daraus lernen?
Mißmutig schlang sie den Rest des Frühstücks herunter und folgte dem einsamen Weg immer tiefer in den Erley-Wald, ohne zu ahnen, daß ihre Schritte längst von verborgenen Augen beobachtet wurden.


Kapitel 3: Bei den Hexen



Es mag seine Bedeutung haben, daß gerade dieses Kapitel in den gefundenen Papieren völlig fehlt. Möglicherweise waren Details über Personen und magische Verfahren enthalten, die vorläufig noch geheim bleiben müssen. Für das weitere Verständnis der Aufzeichnungen erscheint das Kapitel allerdings nicht sonderlich relevant. Im Wesentlichen lernt Jastra hier, wie sie ihre Augenpartie schminkt und einen kühlen „nekromantischen“ Blick aufsetzt. Dies wird später mitunter auch als „die Maske“ bezeichnet.




Kapitel 4: Rückkehr



Auf dem Rückweg nach Rhi Vennod traf sie auf Rogas. Es war kaum zu glauben, daß sie sich noch vorgestern auf dem Marktplatz bei der Auswahl gegenübergestanden hatten, ganz im Unklaren über ihr weiteres Schicksal. Nun war er ein Schüler des Kampfmagiers Deljash, sie die Schülerin des Nekromanten Muir.
Rogas war mit einem Bündel trockener Hölzer und Reisig bepackt, als er aus dem Unterholz auf den Weg zurückkam und zielstrebig nach Süden marschierte. Jastra winkte und rief seinen Namen.
Der junge Mann fuhr herum. „Wer seid Ihr?“ In seinem Blick lag Mißtrauen.
„Ich bin es - Jastra. Du kennst mich doch, Rogas.“ Was war nur mit ihm los?
Er starrte sie einige Augenblicke an, dann ließ er das Bündel fallen. „Jastra? Bist Du es wirklich?“
Sie blickte an sich herab. Natürlich – sie sah ja ziemlich verändert aus, hatte sich selbst im Spiegel kaum wiedererkannt. Sie nickte langsam.
„Das kann doch nicht wahr sein!“ rief er aus. „Du siehst plötzlich viel älter aus, und unheimlich obendrein.“
„Danke, sehr galant von Dir“, gab sie verärgert zurück.
„Äh, so meinte ich es nicht. Es ist nur so… ungewohnt. Was ist passiert?“ Er merkte gar nicht, daß er sich immer tiefer hineinritt.
„Ich bin Adeptin des Nekromanten Muir geworden, und so sehe ich jetzt halt aus.“ Sie hatte es irgendwie würdevoller sagen wollen, aber besser bekam sie es nicht hin. Sollte er doch denken, was er wollte!
„Tja…“ Er starrte sie immer noch an.
„Was machst Du hier?“ fragte sie, um ihn vom Grübeln über ihr Aussehen abzubringen.
„Ich? Äh, ich hole Holz.“
Jastra lachte. „Ja, das sehe ich. Aber warum hier? Wo ist Deljash? Solltest Du nicht bei ihm sein und lernen, wie man Feuerbälle wirft?“
Rogas verzog das Gesicht. „Er ist da hinten und schlägt gerade das Lager auf. Bevor wir mit dem Training anfangen, meinte er, er wolle noch einen Kollegen in Rhi Bryell besuchen und außerdem sehen, wie ich in der Wildnis zurechtkomme. Wegen der Gefahren und so. Ich habe bisher noch nichts Magisches gelernt, aber dafür von früh an Sachen geschleppt, mir die Füße wundgelaufen und Holz gehackt.“
„Ach“, meinte Jastra schnippisch, „Magie unterscheidet sich wesentlich vom Holzhacken…“
„Was Du nicht sagst!“ schnappte Rogas. „Anscheinend hat Dein Meister mit Dir auch noch nicht viel gemacht, als Deine Haare umzufärben und Dich allein in einen Wald zu schicken. Vielleicht will er Dich loswerden?“
Der Gedanke war plausibler als es Jastra lieb war. Aber jetzt wollte sie nicht kneifen.
Mein

Meister hat mich bereits einer Prüfung unterzogen und mich auf eine Mission geschickt“, erklärte sie in hochmütigem Tonfall, „außerdem kann ich lange ausschlafen und verwalte das Geld für alle Einkäufe des Hauses.“ Letzteres war sicher etwas hoch gegriffen, aber auch nicht ganz gelogen. „Und er hat mir schon Sprüche gegeben für die… äh, Abtötung kleiner Dinge.“
Der Junge blickte sie bewundernd an. „Alles am ersten Tag? Der muß ja viel von Dir halten.“
„So ist es“, nickte sie. Wenn sie darüber nachdachte, war es wirklich nicht so übel. Und es tat gut, in diesem Streitgespräch die Oberhand gewonnen zu haben. Bei Muir war das ja unmöglich.
„Du hast Dich ganz schön verändert in der kurzen Zeit“, murmelte Rogas.
Jastra hätte ihm fast von all ihren Erlebnissen und Zweifeln erzählt, aber schließlich meinte sie nur leichthin: „Wirklich?“
Der Schüler von Deljash nickte. „Ja. Du bist selbstbewußter… und kühler… geheimnisvoller… und diese Augen…“ Er verstummte.
„Das mußte ja kommen“, dachte sie, „ich sehe eben so aus wie eine Nachteule. Natürlich macht er sich darüber lustig.“
„Besser Nachteule als Holzfäller“, sagte sie laut.
„Aber… ich meinte doch gar nicht…“ stammelte Rogas.
Jastra hatte von seinem Spott genug und winkte ab. „Erspar mir das. Ich muß weiter. Gut Holz.“ Und damit ging sie davon, ohne weiter auf ihn zu achten.
Er murmelte etwas Unverständliches über arrogante Nekromanten, aber es war unter ihrer Würde, darauf einzugehen. Ohne weitere nennenswerte Begegnungen oder Zwischenfälle erreichte sie einige Stunden später Rhi Vennod, und als sie schließlich bei Muirs Haus ankam, war es für sie wie eine Heimkehr.


Kapitel 5: Küchenphilosophie



Muir war nirgends zu sehen, als sie den Flur betrat. „Ich bin wieder da… Meister“, fügte sie hastig an, aber als keine Reaktion erfolgte, zuckte sie mit den Schultern und brachte erst einmal die Vorräte in die Küche. Zwei Silber waren noch übrig, aber dafür hatte sie jetzt Brot, Wurst, Käse, Milch, ein paar Mohrrüben, Äpfel und Kartoffeln. Sie wischte ein Regal aus und legte ihre Schätze hinein. Danach holte sie Wasser und begann, einige Teller und Töpfe zu reinigen. Zumindest einen Teil der Küche würde sie brauchbar machen. Wie mochten die anderen Adepten es gehalten haben?
Die Treppe knarrte, und als sie sich umdrehte, stand der Nekromant im Türrahmen. Mißbilligung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Typisch“, sagte er nur.
Jastra ließ den Teller sinken, den sie gerade abtrocknete. „Guten Abend, Meister Muir. Was meint Ihr?“
„Du kommst von einer Exkursion zurück, und wie finde ich Dich vor? Mit einem Putzlappen in der Hand. Man sieht also, was Dir das Wichtigste ist.“
Sie hatte keine Ahnung, was sie nach seiner Vorstellung nach stattdessen hätte machen sollen und wollte ihn schon danach fragen, aber da fiel ihr Blick auf die trübe Fensterscheibe, in der sie sich mäßig spiegelte. Das Mädchen da sah härter und düsterer aus als das, welches vorgestern hier eingetroffen war. Vielleicht sollte sie diesem Bild gerecht werden.
„Meister Muir. Offenbar eßt Ihr nicht – ich schon. Und wenn Verhungern nicht auf Eurem Lehrplan steht, dann laßt mich die notwendigen Vorbereitungen treffen. Dazu gehört auch, daß ich einen Teil der Küche so benutze, wie es ursprünglich vorgesehen war.“
Kaum waren die Worte heraus, erschrak sie über ihre Kühnheit. Vielleicht war er doch wahnsinnig und würde sie verdorren lassen, weil sie ihm widersprochen hatte?
„Frauen verbringen ohnehin zu viel Zeit in der Küche“, murrte er, „doch wenn Du nicht anders kannst, dann verwende einen Teil davon. Denke aber daran, daß jeder Moment, in dem Du putzt und wischst und ißt, kein Moment des Studiums ist.“
„Ja, Meister“, erwiderte sie gehorsam, aber triumphierend über ihren kleinen Erfolg.
„Nachdem das geklärt ist, kann ich Dir bestätigen, daß die Hexen gute Arbeit geleistet haben“, wechselte er das Thema, „Du wirst dies nun täglich nach dem Aufstehen reproduzieren, bevor Dich jemand zu Gesicht bekommt.“
Jastra nickte; sie hatte schon damit gerechnet. „Die drei haben mir alles erklärt und auch einige Tiegel mitgegeben. Die meisten Substanzen kann ich später wohl selbst zusammenmischen.“
Der Meister nickte anerkennend. „Gut so. Für alles andere dürfte genug Geld da sein. Wenn Du gespeist hast, suche mich im Studierzimmer auf. Dann werde ich Dir Deine morgige Aufgabe erklären.“
„Ja, Meister.“ Inzwischen klang es gar nicht mehr so furchtbar, fand sie. Verglichen mit Rogas, der nun wohl im Wald saß, umgeben von Getier und begleitet von einem Meister, der ihn offenbar erst einmal beobachten wollte, ging es ihr sogar doch recht gut.
Dann ärgerte sie sich, weil sie an den Adepten gedacht hatte, und machte sich zwei belegte Brote. Schließlich fand sie sich im Nebenraum ein, wo Muir in seinem Sessel saß und in Glotharts „Philosophie im Lichte arkaner Erkenntnis“ blätterte. Er gab ihr einen Wink, auf dem Stuhl am Schreibtisch Platz zu nehmen, und klappte das Buch zu.
„Du brennst sicher darauf, diese Bibliothek durchzuarbeiten und Dir die gesammelten Formeln zu eigen zu machen“, begann er ohne Umschweife – und auch ohne Rücksicht auf das leichte Kopfschütteln seiner Schülerin. „Aber zuvor muß ich Dich noch von den geistigen Lasten, welche Dir die eingeengte Erziehung in einem nichtmagischen Umfeld auferlegt hat, befreien. Der…“
„Entschuldigt… Meister… aber ich halte meine Erziehung für keineswegs eingeengt“, wagte Jastra schon zum zweitenmal an diesem Abend zu widersprechen, „wieso wäre ich sonst überhaupt mit Euch mitgegangen?“
Der Nekromant legte die Fingerspitzen aneinander und kniff die Augen zusammen. „Auf diesen traurigen Punkt wollte ich eigentlich nicht zu sprechen kommen, aber da Du selbst damit angefangen hast: Du bist mitgegangen, weil die anderen Magier Dein Potential nicht zu sehen vermochten, und wenn ich Dich schrubbend und kauend sehe, dann fällt es mir auch schwer, mehr in Dir zu entdecken als die Zukunft einer angehenden Magd oder bestenfalls Heckenhexe.
Magie ist nicht nur eine Gabe, sie ist eine Berufung, und um ihr zu folgen, sollte ihr jeder Moment des Tages, der Nacht und allem dazwischen gewidmet sein. Es ist diese Hingabe, die einen wahrhaften Meister von einem unterscheidet, der einen Beutel voller Sprüche aufrufen kann.
Wie oft hast Du heute über Magie nachgedacht, und spezieller: über Nekromantie?“
„Nicht sonderlich viel“, gab das Mädchen kleinlaut zu. Bei den Göttern des Mondes, sie hatte sogar mehr an Rogas gedacht als an ihre Lehre!
„Das ist anfangs normal, denn die übliche Erziehung, um auf mein eingangs erwähntes Thema zurückzukommen, stellt Magie als zweifelhaft und Nekromantie als ketzerisch dar. Die guten Bürger versuchen sich von derlei Dingen natürlich fernzuhalten, und dies führt zu einer distanzierten Grundeinstellung, welche schließlich die Gedankenwelt des Einzelnen prägt. Kannst Du mir darin folgen?“
„Ja, Meister.“
„So nenne mir einige Eigenschaften, die im Volksmund mit jener Lehre verbunden werden“, verlangte er, „nimm kein Blatt vor den Mund, vermutlich habe ich alle längst gehört und kenne ohnehin mehr davon als Du.“
„Also, man sagt… Nekromantie sei unheimlich, schrecklich, düster…“ Sie verstummte.
„Ist das schon alles?“ fragte Muir. „Was ist mit entsetzlich, abscheulich, widernatürlich?“
„Das habe ich auch schon vernommen“, räumte Jastra leise ein. Die Vorstellung, daß sie sich bald tiefer in diesem Bereich bewegen würde, erschreckte sie insgeheim noch immer. Wäre es doch nur Heilung oder Runenmagie oder Abwenderei gewesen! Aber es gab kein Zurück. Ihre einzige Chance, ihr einziger Meister war Muir.
„Nicht zu vergessen gottlos, krankhaft und ekelerregend, nicht wahr?“ fuhr er ungerührt fort.
„Ja, Meister“, flüsterte sie, „aber ist sie nicht auch notwendig?“
Er beugte sich vor. „Danke für Deine Ehrlichkeit, Jastra. Das ist also Deine Sicht der Nekromantie: ein notwendiges, aber grauenvolles Übel. Und Du willst mir erzählen, daß Deine Erziehung Dir keine Last auferlegt? Das sind Mühlsteine in Deinem Geist!“
„Aber sollte man die Toten nicht ruhen lassen?“ platzte sie heraus und bemerkte im selben Moment, daß sie damit den gesamten Magiezweig beleidigt hatte.
„Niemand hat mehr Respekt vor den Toten als die Nekromanten“, erwiderte Muir scharf, „und bevor Du lediglich Priestergewäsch nachplapperst, denke mal über die Bigotterie derer nach, die uns verurteilen. Du hast vorhin von der Wurst gegessen, nicht wahr? Ich kann riechen, daß sie angeschnitten ist.“
Die Schülerin nickte, verblüfft über den plötzlichen Themenwechsel.
„Wie Du sicher weißt, wird Wurst aus toten Tieren gemacht“, fuhr Muir fort. „Du hast in Kauf genommen, daß jemand ein Tier tötet und verarbeitet, um Deinen Bedarf an Nahrung zu stillen. Wo ist da die Regel, daß man Totes ruhen lassen sollte? Mehr noch, das Tier selbst wäre sicherlich gern noch am Leben.“
„Aber man muß doch essen!“ wandte Jastra verzweifelt ein.
„Ach, wenn es ums Essen geht, ist plötzlich alles anders? Du hättest auch den Käse nehmen können, ich habe ihn im Regal gesehen. Offenbar bist Du doch nicht so zimperlich, wenn Du nur glaubst, einen hinreichenden Grund zu haben.“
„Es sind Tiere“, versuchte sie zu erklären.
„Die meisten Priesterschaften lehnen Nekromantie aber grundsätzlich ab, auch an Tieren. Wo ist Deine Argumentation jetzt?“
Das Mädchen ließ die Schultern hängen. „Ich bin keine Priesterin.“
Er lächelte dünn. „Wenigstens etwas. Dir sind aber die Berufe der Jäger, Kürschner, Gerber und Metzger vertraut?“
„Selbstverständlich.“
„Dann wirst Du bemerkt haben, daß sie alle vom Umgang mit toten Tieren leben. Jäger und Schlachter tun sogar noch mehr. Sie sorgen erst für das Ableben des Wildes. Dennoch rümpft niemand die Nase über den Tod, der sie umgibt, und man akzeptiert sie als übliche Bürger der Bevölkerung. Doch was uns angeht, da wird mit einem anderen Maß gemessen.“
„Ich glaube, man fürchtet vor allem den Umgang mit Leichen… von Menschen“, meinte Jastra.
„Wenn man solche Leichen vermeiden will, soll man keine Kriege führen“, gab der Nekromant ohne zu zögern zurück, „Alter und Krankheit haben noch nie zu den Leichenbergen geführt, die man auf einem Schlachtfeld vorfindet. Nebenbei gesagt sind die allseits geachteten Kampfmagier auch für eine Menge an Leichen verantwortlich.
Aber ich weiß schon, was Du sagen wolltest. Nicht das Töten wird verurteilt, sondern die posthume Forschung. Ist das nicht grotesk?“
Jastra wollte sich lieber nicht auf eine tiefere philosophische Diskussion darüber einlassen. „Im Krieg ist doch sowieso manches anders.“
„Also ist das Töten eines Feindes gerechtfertigt, aber ihn wieder aufstehen zu lassen, damit er auf der eigenen Seite weiterkämpfen kann, ist Ketzerei? Das ist nämlich die herrschende Meinung.“
„Ich glaube, die Menschen haben einfach Angst vor allem, was tot ist“, meinte die Schülerin schlicht. Mehr fiel ihr dazu nicht mehr ein.
„Außer, man kann es essen“, fügte Muir grimmig hinzu. „Daher wirst Du morgen zum Metzger im Ort gehen und ihm bei der Verarbeitung der Kadaver zusehen. Achte besonders darauf, was mit den Knochen geschieht, und bringe einen für spätere Untersuchungen mit.“
„Und wenn er etwas dagegen hat?“
„Dann sag ihm, daß es zu Deiner Ausbildung gehört.“
Jastra hatte den Metzger als großen, bulligen und kurz angebundenen Mann in Erinnerung. Ob das Argument ausreichen würde?
„Aber…“
„Wenn er dann noch Einwände hat, dann kann er gerne herkommen und sich bei mir beschweren“, fügte Muir hinzu, „aber so weit wird es gewiß nicht kommen. Ah, noch etwas: ich würde begrüßen, wenn Du mit einem Forschungstagebuch beginnst, in das Du Deine Untersuchungen und Fortschritte einträgst. Das ist wissenschaftliches Vorgehen; bei künftigen Studien wirst Du ohnehin Aufzeichnungen machen müssen, und für die Protokollierung von Experimenten ist die Schriftform unerläßlich. Außerdem sollst Du Dich daran gewöhnen, nicht nur zu lesen, sondern auch eigene Gedanken niederzuschreiben.“
„Wenn Ihr meint… also - ja, Meister.“
„Und ich will das Buch gar nicht sehen, denn wenn ich merken würde, daß Du da auch Herzchen und Ponys reinmalst, dann käme mir die Galle hoch. Also, das Tagebuch ist nur für Dich selbst. Du kannst es auch verschlüsseln wie… aber das ist Deine Sache.
Abweichend vom hier üblichen Standard wirst Du morgen früh aufstehen. Das wäre alles. Es wird schon spät; ich empfehle Dir, bald in den Schrank zu gehen.“
Jastra hatte sich gerade an die Idee des langen Ausschlafens gewöhnt. „Wieso denn morgen früh?“
Muir hob eine Augenbraue. „Weil der Metzger tagsüber

arbeitet, Kind.“

***


Als die Schülerin am folgenden Abend von ihrer Exkursion heimkehrte, war sie reichlich niedergeschlagen. Sie hatte das Schlachten eines Schweines miterlebt, das Abziehen von Häuten, die Entfernung von Eingeweiden, das Abhängen, das Räuchern und das Zerteilen. Die Knochen waren teils weggeworfen worden, teils wurden sie zum Zerkochen weggebracht, um Leim daraus zu gewinnen, und die größeren Stücke wurden für verschiedene Handwerker gesammelt, um daraus Verzierungen und Schnitzwerk zu machen.
Der Metzger hatte ihre Anwesenheit widerwillig geduldet, nachdem sie ihre Aufgabe erklärt hatte, und sie hinterher aus dem Restehaufen auch einen Knochen aussuchen lassen. Sie hatte sich für einen Beinknochen entschieden; wahrscheinlich stammte er vom Lauf eines Rindes. Sie hatte nicht zu fragen gewagt.
Noch überwältigt von den Eindrücken machte sie sich eine Kartoffelsuppe und aß dazu ein Käsebrot. Auf Fleisch hatte sie nun wirklich keinen Appetit mehr. Während sie noch kaute, kam Muir die Treppe herab.
„Nun, wie war der Ausflug?“ fragte er anstatt einer Begrüßung.
„Lehrreich“, brummte sie, unwillig, in die blutigen Details zu gehen.
„Ausgezeichnet. Was war Dein Haupteindruck?“
„Das Töten von Tieren zu Speisezwecken ist gesellschaftlich anerkannt“, das wollte er doch hören, oder? „Die Tiere sind dabei allerdings anderer Meinung.“
„Bei dieser Erkenntnis waren wir gestern Abend schon. Feldforschung ist natürlich nützlich, um eigene Erfahrungen zu gewinnen und Thesen zu bestätigen.“
„Ah, so wie bei Vessidia, ja?“
„Manchmal kommt man ohne das Experiment nicht weiter“, gab er trocken zurück, „doch beim heutigen Lehrstoff ging es nur darum, Dir zu zeigen, daß es keineswegs ketzerisch und grausig ist, sich Totes dienstbar zu machen. Das passiert andauernd. Ob das Wildbret auf dem Tisch, die Lederweste, der Pelzmantel, der Messergriff, der Knopf, das Trinkhorn, der Leim: überall werden durch die sinnreiche Nutzung einer Leiche neue Werte geschaffen, die niemand missen möchte. Und dabei rede ich nur von nützlichen Dingen. Was den Bereich der Kunst angeht, da gibt es noch ganz andere Sachen.“
Jastra hätte sich fast verschluckt. „Der Kunst?“
„Also bitte. Hast Du noch nie ein Geweih an der Wand hängen gesehen? Knochenwürfel? Kerzenständer aus Schädeln kleiner Tiere? Es gibt vieles, das gerade die Reichen als Dekoration bevorzugen. Nekromanten denken hingegen praktisch. Außer ein paar sentimentalen Stücken dient jeder Gegenstand bei ihnen nur dem Zweck des Studiums. Nun, ich hoffe, daß Du einige Deiner Vorbehalte nun abgebaut hast. Die Wissenschaft sollte nicht von überholten religiösen Dogmen behindert werden. Nein, wir Magier bevorzugen den offenen Geist, dessen Grenze nur unsere eigene Ethik sei.“
„Es gibt eine nekromantische Ethik?“ Das war ihr neu.
„Was glaubst Du denn?“ erwiderte Muir etwas pikiert. „Hast Du uns bislang für Monster gehalten, die sich jede Leiche unter den Nagel reißen, die sie kriegen können, und sie dann zu ihrem Vergnügen zerlegen?“
Ihr Schweigen sprach Bände.
„Ich sehe schon, wir haben noch einen langen Weg vor uns“, meinte der Meister, „und solange Du noch ein Unbehagen in Dir hast, wird sich Dein Geist gegen die Lehre sperren. Ich würde sagen, wir besuchen daher morgen den Friedhof.“


Kapitel 27: Das Singen der Särge



„Es ist kein Nekromantenball!“
Das sagte Muir nun schon zum dritten Mal, aber Jastra konnte nicht aufhören, ihn mit dieser Bezeichnung für die „17. Konferenz der Arkanen Künste zu Corast“ aufzuziehen. Vor drei Jahren hätte sie nicht daran zu denken gewagt, mit ihrem Meister irgendwelche Scherze zu machen, aber seitdem hatte sie nicht nur den Keller erobert, sondern auch das Geheimnis des dritten Grabes gelüftet und das Gharaxon-Mysterium gelöst. Nach ihrem Dafürhalten berechtigte sie das zumindest hin und wieder für etwas Abwechslung von der strengen Maske der Ungerührtheit, die man als Nekromant zu pflegen hatte.
In dieser Zeit hatte sich ihr Meister auch so weit an sie gewöhnt, daß er es nicht als Zeichen der Unbotmäßigkeit nahm, sondern üblicherweise darüber hinwegsah, solange sie nicht in der Öffentlichkeit waren. Aber jeder Spaß hatte seine Grenzen.
„Na gut, es ist eine akademische Veranstaltung, die wegen interdisziplinärer Studien und fachlichem Austausch alle fünf Jahre durchgeführt wird“, gab sie zu, „aber das klingt wesentlich langweiliger.“
„Du hättest ja nicht mitkommen brauchen“, meinte Muir nur und pochte mit seinem Stab an die Tür des Nebeneingangs von Burg Telyn. Man hatte diesen Eingang erst vor einigen Jahrzehnten eingerichtet, als das Haupttor beim Rekurian-Zwischenfall schwer beschädigt worden war. Inzwischen war es allerdings wiederhergestellt, doch stand dort noch eine lange Schlange von Lieferanten, die zwischen ihren Kisten und Körben auf den Zugang warteten.
„Eine Burg mit Vergangenheit“, merkte der Nekromant an, als die Adeptin still blieb, „sie läßt sich zum Teil in Telyn und Xydra

nachlesen.“
Ihre Erwiderung ging unter, als sich die Klappe hinter dem Eisengitter der Tür öffnete und ihnen jemand „Wer da?“ entgegenkrächzte.
„Padragan Muir und seine Adeptin Jastra“, meldete sich der Meister an.
Hinter der Tür war ein Geräusch zu vernehmen, das wie ein Schnauben klang. „Und wie lautet die Parole?“
„Wenn Du nicht willst, daß ich Dir Deine Halswirbel neu anordne, dann machst Du jetzt die Tür auf“ gab Muir gleichmütig zurück. Jastra sah ihn überrascht an, unsicher ob das nun die Parole war oder ob er sich einen seiner seltenen Scherze erlaubte.
Auf jeden Fall schwang die Tür unverzüglich auf. Ein älterer Mann in steingrauer Robe stand da und rieb sich mißmutig den Hals. „Du bist immer noch der gleiche harte Brocken wie früher, Muir, und Deine Manieren haben sich auch nicht gebessert.“
Die beiden Neuankömmlinge traten ein.
„Nichts ändert sich wirklich, Orlac“, meinte Muir, „aber was machst Du hier unten? Hat Artricus Dich zum Tordienst verdonnert, weil Du wieder einen Succubus beschworen hast?“
Orlac strich sich verärgert über seinen Bart. „Nichts dergleichen. Hör doch endlich mit dieser alten Geschichte auf. Außer Dir weiß kaum noch einer etwas davon.“
Muir nickte. „Vor allem, weil Samzee die meisten zerfetzt hat, die sie zurückschicken wollten.“
„Ja, schon gut, und ich bin Dir immer noch dankbar, aber es ist vierzig Jahre her“, murmelte der Beschwörer, „sogar Artricus wirft es mir nicht mehr vor.“
Jastra hielt sich dezent im Hintergrund. Hier erfuhr sie mehr über ihren Meister als in ihrer gesamten Ausbildung.
„Er war nicht dabei“, erwiderte Muir knapp, „außerdem wurde er erst später zum Erzmagus berufen.“
„Wie dem auch sei – was Frauen angeht, da hast Du ja gerade keinen Grund, Dich zu beschweren.“ Er deutete mit dem Daumen auf die Adeptin. „Man könnte glauben, Avonna sei wiedererstanden… ich meine, sie ist es doch wohl nicht, oder?“
Er blickte sie skeptisch an.
„Ich bin Jastra“, erklärte die Schülerin zur Beruhigung des Magiers und hielt ihm die Hand hin.
Er schüttelte sie erleichtert. „Und ich Orlac – Orlac Sibalicus. Willkommen in Burg Telyn, meine Dame.“
Die Schülerin unterdrückte ein Kichern; noch nie hatte sie jemand meine Dame

genannt. Der Beschwörer wandte sich an seinen Kollegen. „Du hast sie wirklich sehr klassisch zurechtgemacht. Für einen Moment habe ich geglaubt… aber davor würdest sogar Du zurückschrecken.“
„Für die Wissenschaft wäre es sicher von unschätzbarem Wert, einen näheren Einblick in ihre Zeit zu erhalten“, meinte Muir in neutralem Tonfall.
„Und Du glaubst, Dich würde sie verschonen, wenn ihre Armeen wieder marschieren?“ ereiferte sich Orlac.
„Entschuldigt, meine Herren, geht es um Avonna?“ erkundigte sich die Adeptin. Muir hatte ihr zwar erzählt, daß sie die bedeutendste historisch belegte Nekromantin gewesen sei, aber seine Angaben hatten sich lediglich auf Forschungen und Reisen bezogen. Daß sie Armeen angeführt hatte, davon war kein Wort gefallen.
„Selbstverständlich“, gab der Beschwörer ungehalten zurück, „bei ihm geht es immer nur um Avonna. Das ist ein Spleen von ihm, schon seit der Universität.“
„Das reicht, Orlac“, warf Muir ein, „und Du hast uns immer noch nicht erklärt, weshalb Du hier herumlungerst, anstatt die Aufgabe einem jungen Kampfmagier oder Abwender zu überlassen.“
„Na schön, lassen wir die alten Zeiten“, räumte Orlac ein, „es ist ja auch ernst. Die Runenmagierin Ven’Gyr hat mitgeteilt, daß sie eine Wiederkehr in ihren Runen gesehen hat, und bittet alle Meister um besondere Aufmerksamkeit.“
„Könnte es um Avonnas Wiederkehr gehen?“ meldete sich Jastra. Das schien ja eine schillernde Persönlichkeit gewesen zu sein.
Sibalicus schüttelte den Kopf. „Das ist sehr unwahrscheinlich. In diesem Fall hätten wir eine wesentlich klarere Voraussage…“
„…und außerdem ist sie hinreichend tot“, ergänzte Muir, „da siehst Du, was Du dem Kind für Flausen in den Kopf gesetzt hast. Wir stehen noch am Eingang, und schon denkt sie über Avonnas Rückkehr nach!“
Er hatte sie lange nicht mehr „Kind“ genannt. Das Thema mußte ihm ziemlich nahegehen.
„Schon gut“, erwiderte Orlac beschwichtigend, „geht nun einfach den Gang hier links lang bis zur Wendeltreppe, dann hinauf in den zweiten Stock…“
„Danke, ich kenne mich aus“, brummte der Nekromant, „komm, Jastra.“
Sie folgte ihm durch das steinerne Labyrinth der zahllosen Gänge von Burg Telyn; nach der Treppe auf der Burgmauer um einen Innenhof herum, dann durch eine Halle, wieder über eine Treppe, durch einige Gänge, in einen Nebentrakt, durch eine Geheimtür, zurück in den Haupttrakt, zwei Treppen nach oben und um drei Ecken zu einem Zimmer.
„Das ist Dein Raum“, sagte er nur.
Jastra öffnete die Tür. Vor ihr eröffnete sich ein reich ausgestattetes Zimmer mit Teppichen, Tapeten, Wandbehängen, zwei kleinen Tischen, einem bequem aussehenden Bett und einem geräumigen Kleiderschrank.
„Sieh an, ein Schrank ist auch da“, meinte Muir trocken, „ dann hast Du ja alles zum Schlafen, was Du brauchst.“
Früher hätte er sie damit noch provozieren können, aber sie lächelte nur und antwortete: „Ja, Meister.“
Er nickte und schickte sich an, weiterzugehen, doch sie hielt ihn auf. „Und Ihr?“
„Ich habe ein Zimmer nebenan, aber ich werde es wohl kaum aufsuchen. Wenn eine Krise zu befürchten ist, werde ich unten bei den anderen gebraucht. Wir treffen uns nachher im Rittersaal im zweiten Stock. Du kannst ihn nicht verfehlen.“
„Und mich laßt Ihr hier?“
„Ich dachte, Du wolltest Dich nach der Reise noch umziehen. Daher haben wir den kürzesten Weg genommen. Viele der anderen Magier kennen Dich noch nicht, und das Äußerliche scheint Dir ja wichtig zu sein.“
„Danke, Meister“, sagte sie Adeptin überrascht. So viel Rücksichtnahme hatte sie nicht erwartet. Aber dann fiel ihr noch etwas ein. „Woher wußtet Ihr, welche Zimmer wir haben?“
„Ich bin nicht zum ersten Mal hier. Bei den Konzilen werden die Räume üblicherweise stets gleich vergeben. Dies ist normalerweise der Raum von Meister Ailberth, aber er ist noch im Ausland. Normalerweise belegen Meister und Schüler dasselbe Zimmer, aber das wäre in unserem Fall unschicklich gewesen. Das alles habe ich schon im Vorfeld abgeklärt… und jetzt mach Dich fertig, wir haben zu tun.“
Mit langen Schritten ging er davon. Jastra brachte ihre beiden ledernen Taschen in ihr Zimmer und schloß die Tür. Das Zimmer eines Meisters! Ihre Eltern wären sicher stolz auf sie. Rasch packte sie ihre Sachen aus, wusch sich und zog ein anderes Kleid an. Da jedoch alle denselben Grundschnitt hatten – einen, der offenbar schon zu Avonnas Zeiten gängig gewesen war – kam sie sich nicht sonderlich verändert vor, als sie sich im Spiegel betrachtete und kämmte. Dann zog sie noch die Linien unter ihren Augen nach, prüfte ihre Gürtelbeutel und trat auf den Gang. Wo ging es nun zur Treppe?
„Habt Ihr Euch verlaufen, Magistra?“ ertönte eine jugendliche Stimme. Sie fuhr herum. Ein Page, vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, kam ihr aus einem Gang entgegen. Er hatte kurze braune Haare, war eine Handbreit kleiner als sie und trug ein Wams in den Wappenfarben von Telyn: blau und gold. Das Gold wurde natürlich durch die Farbe Gelb dargestellt.
„Ich hoffe, nicht“, gab Jastra zurück, „außerdem bin ich noch keine Magistra, sondern nur Adeptin.“ Aber es hatte sich gut angefühlt, für eine Meisterin gehalten zu werden…
„Auch gut“, grinste der Page, „ich bin übrigens Duwig.“
„Schön, Duwig… kannst Du mich zum Rittersaal bringen? Und ich heiße Jastra.“
Er strahlte. „Sofort, Adeptin Jastra! Folgt mir.“
Der Junge sprang eilfertig voran. Im Nachhinein hätte sie seine Hilfe überhaupt nicht nötig gehabt, denn die Treppe war gleich um die Ecke, und im zweiten Stock kam nach einer Vorhalle gleich der gesuchte Saal, aber es war dennoch angenehm, daß mal jemand zu ihren Diensten stand und nicht umgekehrt.
„So muß es sein, wenn man einen eigenen Adepten hat“, dachte sie. Aber bis zur Meisterprüfung würde noch einige Zeit vergehen.
Der Page hielt ihr noch die Tür auf, dann verschwand er in einem der Gänge. Der Saal, der ansonsten vermutlich eher Feiern und Gelagen diente, war mit Gobelins geschmückt, die linker Hand Kampfszenen von Rittern zeigten, auf der rechten Seite arkane Symbole, Sternbilder und Szenen aus Lendgasters Historie magischen Wirkens

. Sogar Avonna war recht deutlich zu erkennen.
Vor ihr wimmelte es vor Geschäftigkeit. Mindestens zwei Dutzend Personen waren anwesend; rund die Hälfte in ihrem Alter, die anderen mindestens doppelt so alt. Muir schien der Älteste zu sein. Er war gerade ins Gespräch mit einer Frau vertieft, deren Gesicht, Hals und Hände so mit Runen übersät waren wie ihre hellgraue Robe. Das war Ysinthe Ven'Gyr; die Schülerin erinnerte sich noch genau an ihren prüfenden Blick bei der Auswahl. Auch Chrualed und Noghair waren da, einige Adepten saßen im Hintergrund und unterhielten sich. Andere, ihr unbekannte Personen, trugen Kästchen und alchimistische Gefäße hin und her, bauten Klapptafeln und Spiegel auf.
Als Jastra näher trat, hielten einige mit ihrer Arbeit inne und blickten zu ihr herüber. Eine blonde junge Frau in weißem Kleid machte in ihre Richtung eine abwehrende Geste, die sie als Lehrlingsspruch der Abwender erkannte: Schutz vor Bösem. In ihrem ersten Jahr hätte sie so etwas tief bedrückt, aber als höhere Adeptin wußte sie inzwischen, daß es nur zwei Optionen gab: Respekt oder Furcht. Das Mädchen empfand letzteres vor ihr. Vielleicht konnte sie es das andere lehren.
Jastra trat auf die Abwenderin zu und erinnerte sich. War das nicht diejenige gewesen, die bei der Auswahl neben ihr gestanden hatte und eigentlich für Jovothea arbeiten wollte?
Sie setzte ihre kühle Miene auf. „Das funktioniert fast nie“, meinte sie zu der Frau, „das hätte Noghair Dir beibringen sollen.“ Sie ging noch näher, bis sie nur eine Armeslänge von der anderen Adeptin entfernt stand. „Du wolltest ursprünglich Heilerin werden, aber inzwischen hast Du Dich mit Deiner Berufung abgefunden.“
„Du kennst mich?“ fragte die Abwenderin verunsichert, „was bist Du? Erkenntnismagierin? Runenmagierin? Du siehst aus wie…“
„Ich bin Nekromantin“, flüsterte Jastra - und vielleicht zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer Ausbildung fühlte sie sich auch so, hatte den Eindruck, daß das richtig war. Doch ihr Gegenüber wirkte nur um so mehr erschreckt. Den Leuten Respekt statt Furcht einzuflößen, war schwieriger, als sie gedacht hatte. Spontan entschied sie sich, es wie Muir zu machen.
„Sei nicht töricht, Kind“, sagte sie in herablassendem Tonfall, „wir sind hier alle Kollegen und sollten zusammenarbeiten. Deine Zauber kannst Du an jemand anders ausprobieren.“
Sie streckte die Hand aus.
Noghairs Adeptin blinzelte erstaunt, zögerte – und schüttelte dann ihre Hand. „Einverstanden. Ich bin Valdisha.“
„Jastra.“
„Die Schülerin von Padragan Muir?“
„Ja. Du hast schon von mir gehört?“
Valdisha kicherte mädchenhaft. „Natürlich. Die Gharaxon-Sache hat sich herumgesprochen. Kannst Du mir sagen, ob die…“
Ihre Frage ging in einem Gongton unter, der von einem stattlichen Mann mittleren Alters am Kopfende der Tischreihe angeschlagen worden war. Die Anwesenden beendeten ihre Gespräche und setzten sich.
„Geehrte Kollegen,“ begann der Sprecher seine Rede, „ich bin Istavar Santhoros, Gesandter der Universität zu Corast und der Leiter dieses Konzils für die nächsten drei Tage. Ich möchte mich schon jetzt bedanken für die Gastfreundschaft des Hauses Telyn, das auch diesmal wieder seine Burg mit uns teilt. Zunächst aber begrüße ich Sie alle hier recht herzlich und darf die Hoffnung aussprechen, daß es eine interessante und lehrreiche Veranstaltung wird. Das ist bisher jedesmal gelungen.
Aufgrund des Wetters sind noch nicht alle Utensilien, die für die anstehenden Präsentationen benötigt werden, an ihrem Platz; auch erwarten wir noch einige Gäste, die eine längere Anreise haben.
Dennoch sollten wir keine weitere Zeit verlieren, denn wir haben einen knappen Zeitplan. Für heute Abend stehen noch fünf Punkte auf dem Programm: vier davon sind Vorträge, gefolgt von einer Vorführung im Innenhof. Meine Damen und Herren, geschätztes Kollegium, bitte beginnen Sie!“
Verhaltener Applaus kam auf. Muir winkte Jastra zu sich und beugte sich zu ihr hinunter. „Das war souverän“, sagte er leise, „aber Du solltest dem alten Herrn nicht alles bloß nachmachen.“
„Ja, Meister“, gab sie ebenso leise zurück und lächelte. Ein so direktes Lob war selten.
Die angekündigten Vorträge bezogen sich auf Geomantie, Vermeidung von Paradoxa, Illusionsschrift und eine kritische Betrachtung der Vorhersehung, letzteres aus einem Manuskript zur Fortsetzung von „Vorhersage und Vorhersehung“. Jastra fand von den vier Reden nur diejenige über die illusionäre Schrift interessant, weil sich daraus praktische Folgerungen ableiten ließen, der Rest kam ihr zu abstrakt und theoretisch vor.
Dann ging es nach einer kurzen Pause, bei der von Pagen Erfrischungen gereicht wurden, in den Hof. Hier brannten etliche Fackeln, und in der Mitte des Platzes war eine Art kniehoher Sockel von rund fünf Schritt Breite zu sehen, der mit einem großen schwarzen Tuch bedeckt war. Wahrscheinlich eine leere Bühne, mutmaßte die Schülerin.
Aus dem Dunkel trat eine große, berobte Gestalt zwischen die Fackeln. Sie behielt die Kapuze auf, aber am Körperbau konnte man erkennen, daß es sich um einen Mann handelte. In seiner rechten Hand führte er einen schlanken schwarzen Stab, der ihn noch etwas überragte. Er stieg auf die Bühne.
„Liebe Kollegen, verehrtes Publikum!“
Die Stimme klang rauh, aber es war nicht die eines alten Mannes.
„Dies wird eine Vorführung werden, wie ihr sie noch nie erlebt habt – eine Kunst, die Neidern ein Dorn im Auge war und die sich nun doch verwirklichen ließ. Kommt her und seht! Kommt her und hört!“
„Hört sich an wie ein Marktschreier“, murmelte Noghair. Santhoros trat vor den Aufbau. „Nur fürs Protokoll, werter Kollege: Euer Name war…?“
„Mein Name ist Malvolion!“ rief der Magier.
„Pathetisch“, brummte Muir.
Malvolion machte einige Gesten, dann ertönte unter ihm eine gesummte Tonleiter, die sich zu einer Melodie verdichtete. Dann wurden Stimmen laut - mehrere unterschiedliche, dumpfe Stimmen – die schließlich gemeinsam „Malvolion“ skandierten.
Jastra runzelte die Stirn. Offenbar hatte der Mann ein paar Leute unter der Bühne versteckt, die nun für ihn sangen. Das war nicht mal ein billiger Taschenspielertrick, sondern einfach nur dreist. Sie sah zu Muir auf, um dessen Reaktion zu sehen. Zu ihrem Erstaunen war der Nekromant bleich geworden, so weit man das im Licht der Fackeln beurteilen konnte. Er begann in seinen Komponententaschen zu kramen.
Santhoros blätterte in seinen Papieren. „Unter diesem Namen finde ich hier niemanden. Die angekündigte Vorführung bezog sich auf Multispektrale Illumination

.“
Malvolion sprang nach hinten von der Bühne ab, während der Gesang weiter andauerte. „Ihr Narren! Ihr lauscht dem Singen der Särge

!“
Mit diesen Worten packte er den schwarzen Stoff und riß ihn weg. Zum Vorschein kamen acht Särge, nebeneinander aufgereiht.
„Was hat das alles zu bedeuten, Malvolion?“ fragte der Konferenzleiter empört.
„Was es bedeutet?“ Der Mann lachte auf. „Nekromantie höchster Güte! Mehrfache Belebung mit gleichzeitiger Kontrolle des Stimmapparates! Und das sollte nicht gehen? Was sagt Ihr jetzt, Padragan?“
Mit einer Geste brachte er den Gesang zum Verstummen. Die Zuschauer sahen verblüfft zu Muir hinüber, der nun vortrat.
„Malvolion?“ rief er verächtlich. „Wann hast Du diesen Namen angenommen? Als Du noch mein Schüler warst, lautete er schlicht Kuono. Das ist dreizehn Jahre her – und Du hast mit der Zeit nichts Besseres angefangen, als diesen nutzlosen Zauber zu entwickeln?“
„Nutzlos? Ich führe die Nekromantie endlich in die Kunst, was ihr zuvor versagt blieb!“ Malvolion klappte die Kapuze nach hinten. Zum Vorschein kam das Gesicht eines glatzköpfigen Mannes um die dreißig. Seine tiefliegenden Augen wirkten jedoch älter, sie waren von Runzeln umgeben.
„Das ist nicht ihr Zweck“, widersprach der Meister, „es sind Menschen, die Du da befehligst, keine Musikinstrumente!“
Der junge Nekromant hob triumphierend seinen Stab. „Sie sind tot, und was tot ist, gehört mir!“
„Du hast nichts von der wahren Nekromantie verstanden. Daher habe ich Dich damals auch entlassen. Ich werde diesen Unsinn jetzt beenden.“ Muir schleuderte magisch aktiven roten Staub in Malvolions Richtung, aber das Pulver blieb vor den Särgen in der Luft hängen und rieselte herab.
„Niemals ohne Schutzkreis“, grinste der ehemalige Schüler, „so habt Ihr es mir doch beigebracht.“
Noghair gab Valdisha und Ulloc, seinem zweiten Adepten, ein Zeichen. Die drei Abwender verteilten sich in Dreiecksformation um den Nekromanten und die Särge. Alle anderen zogen sich ein Stück zurück und griffen in ihre Taschen, um ihre Komponenten hervorzuholen.
„Wo ist Deljash?“ fragte Rothos. „Den könnten wir jetzt gut brauchen.“
„Noch in Rhi Bryell“, stieß Santhoros, der hinter einem Mauervorsprung in Deckung gegangen war, hervor. „Er wird erst morgen eintreffen, frühestens.“
„Wenn man schon mal einen Kampfmagus braucht…“ zischte der Beschwörer.
„Könnt Ihr nicht irgendwas herbeschwören?“
„Niemand beschwört hier irgendwas

“, ordnete Orlac an, der gerade erst auf dem Hof erschienen war. „Hinterher macht es Ärger und man bekommt es nicht mehr weg.“
Jastra wußte, daß eine reguläre Beschwörung ein längeres Ritual erforderte. Es diente einerseits dazu, die richtige Ebene und die richtige Kreatur zu definieren, die Rahmenbedingungen des Aufenthalts festzulegen und den Beschwörer selbst vor Übergriffen zu schützen. Kein Wesen wurde gerne aus seiner Domäne herausgerissen; die meisten versuchten sogleich zu entkommen und sich dafür zu rächen. Es mochte gut sein, daß eine unkontrollierte Kreatur wesentlich gefährlicher war als ein wildgewordener Nekromant. Nein, spontane Beschwörungen schieden aus.
Noghair und seine Leute hatten die Grundstruktur des Schutzkreises inzwischen erfaßt und lösten ihn auf. Es gab ein Knistern und Funkeln, als die magische Form zusammenbrach.
Malvolion verneigte sich spöttisch. „Ihr seid alle so vorhersehbar!“
Er warf die Arme hoch und schrie einige Silben, die Jastra vage bekannt vorkamen. Sie wurden für die Aktivierung eines Kontrollzaubers verwendet. Jemand packte sie und zerrte sie nach hinten. Sie wehrte sich instinktiv dagegen, bis sie merkte, daß es Muir war, der sie in eisenhartem Griff hatte.
„Organisiere die Abwender!“ befahl er ihr. „Sie sollen alle, die nicht mitkämpfen, mit einem Schutzkreis abschirmen und deren Rückzug sichern.“
„Ja, Meister“, versicherte sie. Aus dem Augenwinkel sah sie, daß einige magische Geschosse auf Malvolion zurasten. Etliche der anderen Magier hatten den Kampf aufgenommen. Zu ihrer Überraschung trafen die rot leuchtenden Kugeln den Nekromanten jedoch nicht, wie es hätte der Fall sein müssen, sondern wurden von dessen Stab aufgesaugt.
Im gleichen Moment wurden die Sargdeckel von innen aufgestoßen, und acht Leichen kletterten heraus. Es handelte sich um vier männliche und vier weibliche Untote, jeweils von alt nach jung geordnet. Sie mochten erst einige Tage tot sein, höchstens eine Woche.
„Das ist seine Oktave gewesen“, erkannte Jastra. Obwohl sie keinen Ekel mehr vor Toten hatte, widerte sie dennoch die Idee an, mit den Leichen Musik zu machen. Womöglich hatte der Kerl die Leute zu diesem Zweck erst umgebracht… aber diese Überlegungen konnten warten. Sie lief zu Noghair und erklärte ihm Muirs Auftrag. Der Abwender nickte nur, gab seinen Adepten einen Wink und rannte Richtung Hoftür. Einer der Zombies trat ihm in den Weg und wollte ihn packen. Noghair wich geschickt aus und zog seinen Ritualdolch. Als Waffe war dieser zwar nutzlos, doch als magischer Fokus hervorragend geeignet. Er hielt ihn vor sich, die Spitze nach unten gerichtet, und rief einen Spruch der Magieaufhebung. Gleichzeitig packte der Zombie – die A-Note, wie Jastra feststellte – seine Hand, entriß ihm den Dolch und versetzte ihm einen furchtbaren Schlag mit der anderen Hand. Noghair wurde nach hinten geschleudert, doch sein Zauber hatte gewirkt: auch die untote Frau brach zusammen. Die beiden Schüler eilten zu ihm, um ihn aus dem Gefahrenbereich zu schaffen.
Jastra warf sich zur Seite, als einige Wurfdolche nah an ihr vorbeizischten. Das Ziel war Malvolion. Sicher, jeder Magier kannte die erste Regel im Kampf gegen Untote: nicht die Geschöpfe sind die eigentliche Gefahr, sondern derjenige, der sie kontrolliert.
Doch der Nekromant wehrte alle Klingen mit schnellen Drehungen seines Stabes ab. Jastra rappelte sich auf und suchte nach Muir. Ihr Meister mußte doch leicht mit seinem ehemaligen Schüler fertigwerden, oder?
Muir stand weit vor den anderen, in Konzentration versunken. An seinen Gesten erkannte sie, daß er eine Kontrollübernahme ausführte. Sie lächelte. Malvolion die Untoten einfach wegzunehmen und gegen ihn selbst zu schicken, wäre natürlich die eleganteste Lösung. Aber das tiefe C und das D, die beiden älteren männlichen Zombies, waren schon fast vor ihm. Wenn das so ablief wie bei Noghair, dann gute Nacht. So weit würde sie es nicht kommen lassen.
Jastra rannte über den Hof und riß die beiden Untoten mit ihrem Schwung um. Niemand sonst hatte sich so nah an die Kreaturen gewagt; die restlichen Magier blieben lieber auf Distanz und arbeiteten mit Fernzaubern, die jedoch bei den Zombies wenig Schaden anrichteten und bei ihrem Herrn völlig wirkungslos blieben, da der Stab sie weiterhin absorbierte. Die Nähe zu den Untoten machte ihr nichts aus - es waren Zombies, niedere Untote… na und? Nur die Anzahl machte ihr Sorgen. Sieben Angreifer, die immun gegen mentale Zauber und resistent gegen etliche Offensivzauber und Waffen waren, durfte man nicht unterschätzen.
Muir stand verblüfft über ihr. „Es funktioniert nicht“, stieß er hervor, „er hat seine Kontrolle über sie geschützt! Ich bräuchte einen Abwender dazu, um hineinzukommen.“
Jastra warf einen Blick zu Noghair, der von seinen Schülerin getragen wurde. Diese wiederum würden nicht ohne weiteres mit einem Nekromanten zusammenarbeiten können. An Muirs Blick sah sie, daß er zu derselben Schlußfolgerung gekommen war.
„Geht nicht“, sagte sie trotzdem, „wie wäre es mit Knochenkontrolle, auf Malvolion?“ Das war einer der wenigen offensiven Nekromantensprüche. Man konnte Furchtbares damit anrichten, wenn man es richtig machte, aber sie war sehr schlecht darin.
„Schon probiert“, gab ihr Meister knapp zurück, „war meine erste Idee, ihm den Schädel umzudrehen. Dieser Stab schluckt alles, das ist schier unmöglich!“
Die beiden Untoten, die sie umgeworfen hatte, erhoben sich wieder. Muir verzog das Gesicht, streckte die Hand aus, berührte den älteren der beiden und flüsterte einige Worte. Jastra erkannte die Formel des Verdorrens in der gesteigerten Form. Der Untote schien vor ihren Augen geradezu zu vertrocknen, selbst seine Kleidung verlor an Farbe. Als Muir die Hand zurückzog, stürzte der Zombie hin und zerfiel zu Staub.
Der andere, der während Muirs Wirken von Jastra durch einige Tritte ferngehalten worden war, fegte sie jetzt zur Seite und schlug nach dem Meister. Dieser taumelte zurück. Jastra wollte ihn auffangen und stützen, aber ein anderer Schlag erwischte sie an der Schulter, und so stürzten beide hin. Schon war der Zombie über ihr. Er packte sie, um sie zu beißen…
…als der Boden erbebte und niemand mehr auf den Beinen bleiben konnte, bis auf Lithirlyn, die Geomantin, welche das Erdbeben ausgelöst hatte. Jastra rollte sich rasch von ihrem Angreifer weg; Muir lag immer noch reglos da.
„Adepten: Licht!“ schrie sie. Irgendwer mußte der Sache ein Ende setzen. Es war zwar selten, daß ein Nekromant die anderen anführte, aber das war ihr jetzt egal. Sie würde ihren Meister nicht von Zombies zerreißen lassen.
Hier und da flammten Lichtzauber auf, während die Bedrängten wieder auf die Füße kamen. Jetzt erst konnte man das Ausmaß des vorangegangenen Kampfes sehen. Etliche Magier lagen bereits regungslos da, auf dem Boden sah man Blutlachen. Jastra hob einen Dolch auf und rammte ihn dem nächstbesten Zombie in die Brust. Aber der zeigte keine Reaktion, sondern marschierte weiter. Sie sprang weg und half Muir, aufzustehen.
„Malvolion ist der Schlüssel“, krächzte dieser, „halte Dich nicht mit seinem Gesindel auf!“
„Ja, Meister. Kommt Ihr zurecht?“
Statt einer Antwort trat er einen Schritt zur Seite und streckte seine Hand in Richtung seines ehemaligen Schülers aus. Ein dunkelviolettes Licht blitzte auf und jagte auf Malvolion zu. Dieser wurde zurückgeworfen und schrie auf.
Jastra hatte negative Energie noch nie wirken gesehen; eigentlich hatte sie deren Beschreibungen in den Zauberbüchern immer für Übertreibungen gehalten; daß sich jemand die Kräfte zwischen den Ebenen zunutze machen konnte, war so phantastisch wie wahnsinnig. Eine einzige Abweichung, ein minimales Verlieren der Kontrolle über den Zauber, und die Folgen mochten verheerend sein.
Malvolion wälzte sich schreiend auf dem Boden, aber es gelang ihm, den schwarzen Stab zwischen sich und den glimmenden Strahl zu bringen. Er vollführte eine Geste, und das Leuchten verblaßte. Dann schüttelte er den Stab, dem drei magische Geschosse entstiegen, auf Muir zuschnellten und ihn zu Boden streckten. Ihre zerstörerische Energie hatte seine Robe durchlöchert, die Haut versengt und seinen Brustkorb perforiert. Er war dem Tode nahe; näher als es sogar die meisten Nekromanten je sein wollten. Jastra packte ihren Meister und schleifte ihn nach hinten, zu den anderen. Vielleicht war jemand mit Heilkräften dabei.
Malvolion stand mühsam auf. „War das schon alles, was ihr zu bieten habt? Negative Energie, das war originell. Aber der alte Meister ist jetzt tot, und alles andere wirkt nicht bei mir. Erkennt ihr mich endlich als den größten Nekromanten an?“
Jastra sah ihn wütend an. Dabei bemerkte sie, daß sein dunkler Stab an mehreren Stellen weiße Schrammen aufwies – vermutlich dort, wo ihn vorhin die Dolche getroffen hatten. Bedeutete das, der mächtige Stab war nur schwarz angemalt? Wieder eine Eitelkeit des Größenwahnsinnigen oder…?
Sie hatte eine Idee. Aber alles der Reihe nach. Sie durfte jetzt keinen Fehler machen.
„Valdisha: kümmere Dich um Muir“, ordnete sie an, „ich weiß, Abwender beherrschen auch ein paar einfache Heilsprüche. Er soll mir nicht verbluten, klar?“
Die Adeptin nickte. Ihr Kollege Ulloc und die meisten anderen waren in Kämpfe mit den Zombies verstrickt. Die Stäbe der Magier richteten bei ihnen aber nur wenig Schaden an. Es genügte gerade, die Angreifer von der Treppe fernzuhalten, auf die sich der Rest zurückgezogen hatte. Die Runenmagierin lief zwischen den Kämpfenden umher und sammelte immer noch ihre Runensteine ein, die beim Erdbeben verstreut worden waren. Jastra erinnerte sich, daß Runenwirker für ihre Zauber einen vollständigen Runensatz benötigten, wenn es nicht gerade um geringfügige Magie ging.
Es mutete absurd an, daß erfahrene Magier samt ihren Adepten in ihrer eigenen Hochburg von einem einzigen Nekromanten und einigen Zombies in diese Lage gebracht werden konnten. Natürlich hatte Malvolion viel Zeit gehabt, sich vorzubereiten und diese Falle aufzubauen. Ohne den Stab hätte er die ersten Augenblicke nicht überlebt. Und deshalb war der Stab der Schlüssel zu allem.
Jastra nahm sich den Stab von Rothos und den Dolch von Orlac. Die beiden Beschwörer waren längst bewußtlos, vielleicht sogar tot. Hätte sie mehr Zeit gehabt, hätte sie vielleicht einen von ihnen beleben können, um ihn gegen Malvolion zu schicken, aber sie hatte ja keinen Schutz gegen Kontrollübernahme, und so würde sich dieser Plan eher als fatal erweisen.
„Ich brauche eine Gasse!“ rief sie. Die restlichen Magier auf der Treppe reagierten und warfen ihre verbliebenen Fernzauber den Zombies entgegen, die Kämpfenden drängten jene nach außen ab. Jastra lief durch den entstandenen Korridor bis zu Malvolion, der sie spöttisch ansah.
„Was willst Du mir tun, kleine Adeptin?“ höhnte er, „hättest Du auch nur einen einzigen Kampfzauber, hättest Du ihn mir schon gezeigt.“
Als Muir ihr beigebracht hatte, mit dem Stab zu kämpfen, hatte er Deljash zitiert: „Im Kampf zu reden kostet Dich Atem, Zeit und Kraft. Kämpfe, wenn Du kämpfen willst, und rede, wenn Du reden willst – aber beides gleichzeitig bringt Dich um.“
Daher verlor sie keine Worte, sondern stieß mit der Rechten, ihrer Dolchhand, zu. Bevor sie die Bewegung aber vollendet hatte, hielt sie inne. Eine fremde Kraft hatte sich ihres Armes bemächtigt: Knochenkontrolle. Und mit Entsetzen sah sie, daß ihre eigene Hand den Dolch gegen sie richtete und sich auf ihren Bauch zu bewegte. Aus Übungen mit Muir wußte sie, daß sie mit Willenskraft nicht dagegen ankam.
„Profaner Kampf gegen einen Nekromanten wirkt fast nie“, erklärte Malvolion, „und man schlitzt sich dabei leicht selber auf.“ In dieser Formulierung konnte sie Muir heraushören. Vielleicht glaubte der Schüler sie zu kennen, weil sie nun seine Nachfolgerin war, aber da hatte er sich geirrt.
Sie ließ ihren Stab, den sie immer noch in der linken, nicht kontrollierten Hand trug, nach vorne schnellen, auf Malvolions Handgelenk. Der Schmerz unterbrach nicht nur seine Knochenkontrolle, er lockerte auch den Griff um seinen eigenen Stab. Jastra ließ den Dolch fallen, ergriff ihren Kampfstab zweihändig, drehte ihn schwungvoll und fegte den merkwürdigen schwarzen Stab aus seinen Händen. Als er seinen Zauber mit einer Geste wieder aufnehmen wollte, um sie außer Gefecht zu setzen, erreichte sie ihn mit einem Schlag aus der Hüfte für den Bruchteil eines Momentes schneller und erwischte seine Schulter. Malvolion setzte noch ein paarmal zu einem Zauber an, doch mit Hilfe ihres Stabes gelang es ihr jedes Mal, ihn zu unterbrechen.
„Jetzt ein paar magische Geschosse oder Blitze von den Meistern, dann ist er erledigt“, dachte Jastra, aber nichts dergleichen geschah. Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter: die Verteidiger hatten mit den Zombies immer noch genug zu tun, daß sie keine Gelegenheit für Fernzauber hatten. Oder vielleicht hatten sie ihre magischen Kräfte auch bereits erschöpft.
Malvolion drehte sich um und begann zu rennen, um Zeit zu gewinnen. Er war größer als die Adeptin und hatte sie rasch abgehängt. „Wenn er nochmal meine Knochen kontrolliert, hat er mich“, schoß ihr durch den Kopf. Verzweifelt schleuderte sie ihm den Kampfstab nach. Der Nekromant stolperte darüber, rappelte sich aber wieder auf.
Jastra war inzwischen umgekehrt und suchte den schwarzen Stab. Da lag er, nicht weit entfernt! Sie hechtete darauf zu, und gerade als sie ihre Beine nicht mehr beherrschen konnte, schlossen sich ihre Finger um das Fundstück. Das klamme Gefühl in den Beinen schwand sofort. Sie sah Malvolion gestikulieren, aber ihr geschah nichts. Jetzt sah die Sache doch schon anders aus!
Oder doch nicht? Der Nekromant hatte zwei Wurfmesser gezogen und ließ sie in ihre Richtung schnellen. Eine Messerabwehr mit dem Stab, wie er es vorhin vorgemacht hatte, beherrschte sie nicht, und so ließ sie sich einfach fallen. Die Klingen zischten knapp über sie hinweg.
Der Stab in ihrer Hand fühlte sich vertraut an. Das war kein Holz! Und auch das Gewicht sowie die leicht geschwungene Form ließen nur auf eines schließen, das sie bereits vermutet hatte: es war ein Knochen. Die schwarze Farbe hatte davon nur abgelenkt. Ein Knochen dieser Größe und Form konnte nur von einem Drachenflügel stammen, was auch die hervorragenden magischen Eigenschaften erklärte. Jastra war froh, daß Muir sie durch all seine Anatomiebücher gehetzt hatte, denn nun konnte sie ihren Zauber genau auf sein Ziel abstimmen.
Malvolion, der wußte, daß er mit Magie nun nichts mehr bei ihr ausrichten konnte und offenbar keine weiteren Waffen mehr hatte, lief zurück zu ihr. Aber diese Zeit genügte für Jastras Zauber, einen relativ einfachen Lehrlingszauber, der nur das genaue Wissen um das Objekt und dessen Berührung erforderte: Knochenmehl. Er funktionierte nur bei einzelnen Knochen und war daher nutzlos gegen Untote mit ihren über zweihundert Knochen. Aber hier paßte er genau: der Flügelknochen zerfiel zu Staub.
Muirs ehemaliger Schüler, noch drei Schritte von ihr entfernt, heulte entsetzt und wütend auf. „Weißt Du, was Du da getan hast?“
„Er redet schon wieder“, stellte Jastra in Gedanken lakonisch fest und hob rasch Orlacs Dolch auf. Nachdem sie der Stab nun nicht mehr schützte, war sie Malvolions Kräften wieder ausgeliefert. Aber er war auch schutzlos. Als ihm das einen Augenblick später bewußt wurde, begann er einen neuen komplexen Zauber zu weben. Seine Hände bewegten sich zu schnell, als daß Jastra eine Kontrolle auch nur über den kleinsten Fingerknochen hätte aufbauen können; sie benötigte dafür ein unbewegliches Ziel und hatte bisher nur mit ganz kleinen Knochen Erfolg gehabt. Aber es gab Alternativen. Nahezu gleichzeitig mit seinem Zauber baute sie eine Kontrolle seiner rechten Zehe auf und bog sie im rechten Winkel nach oben, dann weiter zurück.
Malvolion schrie vor Schmerz auf, und das halbfertige Muster seines begonnenen Zaubers brach zusammen. Die Adeptin glitt nach vorne und stieß mit dem Dolch zu. Er versuchte, sich wegzudrehen, und statt der Brust traf sie die linke Schulter, wo der Dolch tief eindrang und steckenblieb. In seinem Gesicht zeichnete sich Überraschung ab – endlich schien er zu begreifen, wie entschlossen sie war, und daß er sie unterschätzt hatte.
Jastra packte seinen zitternden linken Arm, machte einen halben Schritt zurück und riß ihn im Bogen nach links. Der Verletzte wurde von den Füßen gerissen und landete hart auf dem Rücken. Sie setzte ihr linkes Knie auf seinen Hals, bereit zuzudrücken, wenn er einen weiteren Spruch versuchte.
„Wenn der Gegner kampfunfähig und unter Kontrolle ist, dann kannst Du wieder reden“, hatte Deljash gesagt. Nun war es an der Zeit.
Sie blickte sich um. Die Zombies waren inzwischen niedergeprügelt worden und lagen regungslos herum. Von der Treppe kamen zwei Magierinnen angelaufen – Valdisha und ein Mädchen, das sie als Zildra erkannte. Hinter ihnen näherten sich Noghair, hinkend, und ein Magier, den sie nicht kannte.
„Wie geht es Muir?“ rief sie ihnen entgegen.
Valdisha legte ihr die Hand auf die Schulter. „Es tut mir leid, er wird es nicht schaffen. Wir haben alles versucht. Nicht einmal Jovothea kann noch etwas für ihn tun.“
„Aber die war doch gar nicht…“ Doch dann fiel es ihr auf. Wenn Zildra da war, konnte deren Meisterin nicht weit sein.
„Wir sind eben erst eingetroffen“, meinte Zildra entschuldigend, „als wir das Chaos bemerkten, haben wir sofort begonnen, die Verwundeten zu versorgen. Aber Dein Meister ist alt und hat ein Loch in der Lunge. Die Verletzung ist einfach zu schwer…“
„Mein Meister“, entgegnete Jastra mit einer Kälte, zu der nur eine Nekromantin fähig war, „wird nicht sterben. Ist er bei Bewußtsein?“
Zildra schluckte. „Gerade noch. Ohne Jovothea wäre er schon längst…“
„Das genügt“, meinte die Adeptin knapp, stand auf, zog den Dolch aus Malvolions Wunde und packte ihn am Kragen. An ihn gerichtet, flüsterte sie: „Begegne der wahren Dunkelheit.“ Dann konzentrierte sie sich, berührte seinen Nacken und sprach die Worte der Lähmung, die seinen gesamten Körper für kurze Zeit völlig unbeweglich machen würde.
Sie wußte nicht, woher sie die Kraft nahm, aber sie schleifte ihn quer über den Hof zu Treppe, wo Muir auf einer der unteren Stufen lag. Sie hatte ihren Meister noch nie so schwach gesehen. Eigentlich hatte sie ihn nie schwach gesehen… Neben ihm kniete die Heilerin, die Hand auf seiner Brust.
„Ist Eure Kunst am Ende?“ fragte Jastra brüsk. Für Höflichkeiten hatte sie jetzt keinen Sinn.
Jovothea von Cyrten blickte bedauernd und gekränkt zu ihr auf. „Die Heilkunst hat Grenzen, Jastra. Lunge und Herz sind schwer geschädigt. Selbst ein jüngerer Mann als er würde das nicht überleben. Ich habe zwar die äußere Wunde geschlossen, aber das reicht bei weitem nicht.“
„Wenn Ihr nichts tun könnt, dann schert Euch weg!“ schrie Jastra auf. Sie wußte, so mit einer Meisterin umzugehen, konnte ihr den Ausschluß einbringen, aber im Moment war es ihr egal. Es gab nur eine Idee, die in ihr brannte.
Auf dem Gesicht der Heilerin spiegelten sich Verblüffung und Empörung, aber Zildra zog sie sanft weg und redete auf sie ein. Jastra hörte nichts davon. Sie wandte sich um und zog Malvolion ein Stück weiter die Treppe hinauf, gleich neben Muir, der heiser röchelte.
„Ihr seid aufgebracht, Jastra, aber Ihr könnt doch nicht…“ begann Noghair, der sich auf einen Kampfstab stützte, hinter ihr.
„Ihre Kunst hat Grenzen – mein Meister überschreitet

Grenzen!“ warf sie ihm entgegen, nahm die Hand ihres Meisters und legte sie auf Malvolions Brust.
„Meister Muir?“ flüsterte sie dann an seinem Ohr, „Ihr wißt, was zu tun ist.“
Sie richtete sich auf. „Wendet die Augen ab!“
Und tatsächlich, die anderen folgten ihrer Anweisung, während Muir seine letzte Kraft in einen Zauber legte, der nur Nekromanten eigen war: den der Lebensübertragung. Von ihm wurde nur hinter vorgehaltener Hand berichtet, denn er war selbstverständlich von Magiergilden und Akademien verboten worden, gehörte er doch zu den schrecklichsten Zaubern, die je entwickelt worden waren. Vor Jastras Augen verlor Malvolion an Kraft und Jugend, alterte zusehends, bis er ein leeres Wrack war, die Leiche eines uralten Mannes. Muir aber regenerierte sich, vermochte alle seine Wunden zu heilen und schien schließlich sogar einige Jahre jünger als zuvor. Diese Art der Heilung auf Kosten anderer war den Legenden nach ursprünglich von Vampiren entwickelt worden, und Nekromanten hatten jenen später ihre Geheimnisse abgejagt und zu Zaubern umgewandelt, die sich in Formeln und Rituale binden ließen.
Jastra war überzeugt, daß Malvolion ohne die Lähmung wie ein Verrückter geschrieen hätte. Den Schmerz hatte sie ihm aber nicht ersparen können, und sie war nicht sicher, ob sie das überhaupt gewollt hätte.
Schweigen lag über dem Burghof. Aus dem Augenwinkel bemerkte Jastra, daß Noghair seinen Stab in Bereitschaftsposition gestellt hatte und sie mit undeutbarem Blick musterte. Sein Mund war ein schmaler Strich. Sie konnte nur vermuten, wie sehr ihm das, was gerade geschah, zuwider war.
Malvolion war in sich zusammengesackt. Sein Tod hatte die Lähmung vorzeitig beendet. Allmählich verloschen die Lichtzauber der Adepten, einer nach dem anderen.
Wahre Dunkelheit, fürwahr.
Muir erhob sich langsam und betrachtete verächtlich die Leiche seines ehemaligen Schülers. „Du hast die Nekromantenschaft in Verruf gebracht, Junge. Zum Glück sind nicht alle so wie Du.“
Sein Blick fiel auf Jastra. „Wir reden später.“
Er ging an Jovothea vorbei, die ihn skeptisch ansah, sagte aber nichts. Die Heilerin schüttelte den Kopf und ging hinüber zu Rothas, der gerade von Valdisha versorgt wurde.
Jastra blieb einfach sitzen, zog die Beine an und starrte blicklos ins Dunkel. Sie fühlte sich unglaublich müde.
Der Nekromant suchte Santhoros auf und sprach einige Zeit mit ihm. Jener nickte schließlich. In diesem Moment tauchte Duwig in der Hoftür auf, sah sich um und rannte zu dem Universitätsgesandten, überbrachte ihm eine Nachricht.
Santhoros trat vor. „Werte Kollegen, ich bitte um einen Moment Eurer Aufmerksamkeit.“
Die formale Anrede wirkte seltsam deplatziert auf dem Hof, auf dem noch sieben Zombies und zahlreiche Verletzte lagen.
„Ich habe soeben erfahren, daß etliche tote Burgwachen gefunden wurden. Auch ich habe mich schon gefragt, warum uns in dieser dunklen Stunde niemand beigestanden hat. Der Mörder, allem Anschein nach Malvolion, wurde bereits gerichtet – und dies haben wir ja alle gesehen – von Jastra, die ihn erstach, um ihren Meister zu schützen. Muir selbst wurde zwar verletzt, konnte aber von Jovothea geheilt werden.“
Er hielt inne, um seine Worte einsinken zu lassen. Niemand sprach.
Der Konferenzleiter sah sich um. „Oder hat jemand etwas anderes gesehen?“
Noghair hustete und umklammerte seinen Stab fester. Die Runenwirkerin zog ihre Kapuze tiefer ins Gesicht, drehte sich um und ging hinaus.
Santhoros nickte zufrieden. „Ich werde meinen Bericht entsprechend abfassen.“
Hinter ihm ging Muir zwischen den Untoten umher und verwandelte sie zu Staub. Seine Kräfte schienen nicht gelitten zu haben, im Gegenteil. Jovothea, ihre Adeptin und die Abwender taten für die Verletzten, was sie konnten. Danach wurde der Hof geräumt, und Pagen erhielten den Auftrag, die Särge zu zerhacken und zu verbrennen.
Jastra trottete hinter den anderen Magiern her. Nach der Wut auf Malvolion und der Freude über Muirs Rettung fühlte sie sich jetzt seltsam leer. Einer der Säle, die sie durchquerten, war mit Spiegeln geschmückt. Sie blickte kurz hinein, und erst da fiel ihr auf, wie zerdrückt und schmutzig ihr Kleid war. Die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht, und die dunklen Partien der Schminke waren verlaufen. So mußte eine wahnsinnige Nekromantin aussehen…
Sie suchte den Blick von Valdisha, doch diese schaute geflissentlich weg. Auch Zildra, die zusammen mit ihrer Meisterin den Beschwörer Rothas stützte, mied ihren Blick. Und Noghair tat so, als sei sie Luft.
Sie beschleunigte ärgerlich ihren Schritt und gelangte rasch auf ihr Zimmer, wo sie die Tür zuknallte. Sie hatte einen gefährlichen Magier besiegt und ein anerkanntes Mitglied des Kollegiums gerettet. Dennoch taten nun alle so, als hätte sie etwas falsch gemacht. Sie erwartete ja nicht einmal Dankbarkeit, aber dieses Verhalten der anderen verletzte sie nun doch.
Jastra seufzte und beschloß, zu baden und bis morgen zu schlafen. Vielleicht sah die Welt da wieder anders aus. Sie hatte gerade einen Knopf ihres Kleides geöffnet, als es an der Tür klopfte. Mit wenigen langen Schritten war sie da und riß sie auf.
„Was ist denn jetzt n… oh, Meister“, brachte sie hervor, als Muir vor ihr stand.
„Komme ich ungelegen?“ fragte er.
Sie schloß den Knopf hastig wieder. „Nein… kommt nur herein.“
Er trat ein, schloß die Tür hinter sich und musterte sie nachdenklich. „Es scheint so, als hättest Du Dich da draußen gut bewährt.“
Jastra schnaubte. „Da seid Ihr aber der einzige, der das so sieht.“
Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken, wie oft, wenn er zu dozieren begann. „Ich bin sicher, in Istavars Bericht wirst Du lobend erwähnt werden.“
„Und wieso schauen mich die anderen dann so an, als würden sie mich fürchten?“
„Weil sie Dich fürchten“, erwiderte der Nekromant schlicht.
Die Adeptin ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Aber das ist…“
„Gerechtfertigt“, warf Muir ein, „und ein Meister mit einer solchen Schülerin könnte stolz auf sie sein.“
„So, könnte er das“, murmelte Jastra. Sie hatte von ihm etwas mehr Begeisterung erhofft, nachdem sie sein Leben gerettet hatte. Aber das war Muir – was hatte sie erwartet?
„Nun, mehr offizielle Anerkennung wird es kaum geben, nachdem ein Konsens getroffen wurde, den Ablauf beschönigt darzustellen“, merkte er an, „was sollten sie auch sonst machen? Nach den Gesetzen der Magier hätten sie mich wegen Lebenstransfer verhaften und Dich wegen Beihilfe maßregeln müssen. Angesichts Deiner Leistung und Malvolions Untaten wäre beides unangemessen gewesen. Die fraglichen Dinge sind so passiert, wie Istavar es vorgetragen hat, und daran werden sich alle halten, so wenig es ihnen passen mag.
Dein Einsatz war jedoch… vehement und ungewöhnlich. So nützlich ich ihn auch fand – darf ich fragen, auf welcher Grundlage Dein Handeln erfolgt ist, das Dich Deine Karriere hätte kosten können und die Ethik bis über die Grenzen strapaziert hat?“
Sie kannte Muir lange genug, um zu bemerken, daß dies wieder eine seiner Prüfungsfragen war, bei denen er mit unbeteiligtem Gesicht ihre Einstellung diesem oder jenem gegenüber hinterfragte. Und sie kannte auch die Antwort; die einzige, die er akzeptieren würde.
Jastra stand auf und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. „Pflichtgefühl, Meister Muir. Reines Pflichtgefühl.“
Muir nickte. „Ich danke Dir für Deine Loyalität im Angesicht schwieriger Umstände.“ Er räusperte sich, drehte sich um und ging zügig hinaus.
Aber Jastra war sich fast sicher, daß sie ein Lächeln auf seinen Lippen gesehen hatte.

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Texte: Bild: http://www.flickr.com/photos/katmary/5222937606/in/photostream/ Künstler: katmary Lizenz des Covers: Creative Commons, bestimmte Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 29.12.2011

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Widmung:
(True Darkness)

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