Cover


„Manche sagen, der See Iriaulath im Walde Elmenmoos sei verwunschen. Sie führen das auf angebliches Geflüster zurück, das sie in der Nähe gehört haben wollen, auf kleine kriechende Kreaturen im Unterholz, und auch dem Spiel von Licht und Schatten (vor allem dem der Schatten) messen sie eine besondere, unnatürliche Bedeutung bei.
Andere hingegen meinen, da wäre nichts Übernatürliches im Gange, weder über noch unter der Erde, geschweige denn im Wasser, wo Wichtigtuer gleich Nixen und Wassermänner herbeireden wollen, von Schlimmerem ganz zu schweigen.
Und die, die es wissen könnten, halten sich bedeckt und deuten an, immerhin seien ja keine weiteren Dornen am Ufer aufgetaucht, und allein das sei ja schon ein gutes Zeichen.
Doch mag das schon die ganze Wahrheit sein?
Wohl eher nicht, denn sogar jene, welche die Gegend fürchten und nur des Nachts vermummt darüber zu sprechend waren, erwähnen nicht den schrecklichen, düsteren Turm, der auf einer kleinen Insel inmitten des Sees steht und nur von Nordwesten aus zu sehen ist. Die anderen Winkel sind dem Auge verschlossen, vielleicht gleich gar verboten, und das ist endlich ein so schwerwiegendes wie erschreckendes Indiz über die sinistren Vorgänge am einst so schönen und lieblichen See Iriaulath.
Denn einst mochte er, wenn man der Legende von Lyeana Glauben schenken darf, den Feen gehört haben, welche ihn später, bei der großen Abtrennung ihres Reiches von der diesseitigen Wirklichkeit, den Elfen geschenkt haben, und diese wiederum haben ihn vier Jahrtausende lang gehegt und gepflegt, nur um ihn schließlich zu verlieren.
Da fragt man sich durchaus, wie konnten die Elfen einen ganzen See verlieren, sind sie doch ansonsten für ihre große Sorgfalt im Umgang mit der Natur bekannt, aber gewiß ist eins: ursprünglich gab es im Walde Elmenmoos keinen See; dieser ist erst zu Zeiten der Rynumroth- Umwälzung erschienen, und seitdem klagen die Elfen auch über das Abhandenkommen ihres Sees. Die Zusammenhänge sind also offensichtlich, wenn auch weiterhin ungeklärt.
Nicht, daß es keiner versucht hätte – die zahlreichen Knochen rund um den See beweisen das anhaltende Interesse an dem stillen Gewässer, und von den Expeditionen sind mindestens Danendaugh, Ryndene, Sakiz und Achdrae namentlich bekannt. Geschafft hat es freilich keiner, den Geheimnissen des Sees auf die Spur zu kommen, was vielleicht auch an dem Turm liegen mag, der sich eben dem Auge hartnäckig entzieht und den Herannahenden das Leben, wie es unter den Tavernen der Umgebung in verschwörerischen Runden heißt.
Da kann man es keinem verdenken, daß es letztlich still geworden ist um den See Iriaulath im Walde Elmenmoos, und daß er mit Recht gemieden wird. Denn niemand wagt sich mehr nach…“



„Blödsinn!“ schrie der Krieger am Tisch vor mir, ein rechter Rüpel und Tölpel mit Namen Dotar. Bedauerlicherweise war es mir nicht gegeben, diesen Namen wieder zu vergessen, daher erwähne ich ihn hier. Aber ich war sicher, er hatte weniger Hirn als ich. Kleiner Scherz. Sie werden ihn schon noch verstehen.
Er sprang auf. „Warum gehen wir nicht hin, Leute?“ fragte er in die Runde. „Haben doch schon ganz andere Kerle besiegt als Nixen. Oder Nymphen. In Strümpfen!“
Dotar lachte laut auf. Er bemerkte nicht mal, daß sonst niemand über seinen Witz lachte, der übrigens älter war als ich. Tja.
„Darf ich zu Ende erzählen, mein Herr?“ fragte ich kalt, und ich kann wirklich ziemlich kalt fragen, mit einer Grabeskälte sozusagen, aber selbst das ließ ihn unberührt. Er zog sogar sein Schwert. Ich mag solche Szenen nicht, sie erinnern mich immer an früher. Und sie enden immer gleich.
Aber Dotar zog das Schwert, fuchtelte damit vor meiner Nasenhöhle herum und prahlte zu niemandem im Besonderen, er würde den Barden jetzt abstechen, tot oder lebendig. Die erfahreneren Gäste machten ihm etwas Platz, der Wirt ließ sich nicht beirren und brachte nur ein paar Gläser auf der Theke, an der ich lehnte, in Sicherheit, und der Rest glotzte, wie üblich. Und Dotar stach zu.
Er erwischte mich zwischen der vier und fünften Rippe. Dank meiner Routine gelang es mir, mich so zu drehen, daß die Knochen nicht nennenswert verletzt wurden.
„Gut gemacht“, sagte ich aufmunternd, während er mit offenem Mund dastand. Irgendwie schien er von mir eine trübseligere Reaktion erwartet zu haben. Aber jetzt war ich dran. Ich schlug ihm auf die Nase, sie begann zu bluten, er zu fluchen, und dann zog er sich zurück.
Ich wiederum zog mir vorsichtig das Schwert aus dem Körper… oder den Resten, die ich davon noch habe, und stellte es zur Seite.

„Wie gesagt, niemand wagt sich mehr nach Elmenmoos, da es dort zu schaurig ist, und so wird es in alle Zukunft sein.“



Ich mag es gar nicht, in meinem Schlußsatz unterbrochen zu werden, und einen Moment wartete ich noch auf den traditionellen Abschlußruf „Vermutlich besser so!“, aber von der anwesenden Jugend schien ihn keiner mehr zu kennen.
Zwei Tische weiter stand ein Mann auf, den ich schon eher respektieren konnte. Er trug eine Lederschuppenrüstung, ein brüniertes Schwert und einen Stiefeldolch. Ansonsten war er drahtig, nüchtern und dunkelhaarig. Ich hätte noch mehr über ihn sagen können, aber da fiel mir die Frau auf, die seine breiten Schultern bisher verdeckt hatten, und obwohl ich kein Herz habe, wandte ich meine Aufmerksamkeit aus jahrzehntelanger Gewohnheit eher ihr zu.
Ich konnte das Blut des Waldvolks nahezu durch ihre Adern pochen sehen, aber tatsächlich verrieten mir ihre schlanke Gestalt, die angespitzten Ohren, der Stil der Kleidung und letztlich der Langbogen, daß sie eine Halbelfe sein mußte. Grazil, mit blonden geflochtenen Haaren, leuchtend grünen Augen und fast lautlos folgte sie dem Kämpfer – in meine Richtung. Und hinter ihr standen noch zwei Silhouetten auf; Männer, soweit ich das sehen konnte, obwohl die Kleidung nicht eindeutig war. Dann, als sie alle an der Theke standen, musterte ich sie genauer. Robenträger. Der eine ein Magier, kein Zweifel, vor arroganten Bärtchen bis zu den überladenen Borten. Der andere vermutlich ein Kleriker. Allein daß seine Hand auf dem Streitkolben ruhte, sagte mir alles. Aber da war er natürlich, der mißtrauische Blick.
„Was führt euch in den ‚Träumenden König‘?“ machte ich den ersten Zug. Sie sahen sich kurz an, überließen das Wort dann dem Kämpfer. Wer sonst hätte der Anführer sein sollen?
„Wir hörten von Geschichten über einen untoten Barden“, brummte dieser.
„Einige dieser Geschichten sind wahr“, konterte ich.
„Das sehe ich“, gab er trocken zurück.
„Nun, dann könnt ihr jetzt ja wieder heimreisen“, schlug ich vor. Ehrlich gesagt, hatte ich eine etwas geistreichere Konversation erhofft.
„Mitnichten!“ mischte sich der Kleriker nun ein. „Ein solcher Frevel wider die Götter kann nicht unbehelligt…“
„Ruhig, Lurac,“ hielt ihn der Anführer zurück, „der Mann ist angeblich schon seit Jahrzehnten hier, die Bevölkerung beschwert sich nicht, die Gäste scheinen ihn nicht zu fürchten, und seine Erzählungen haben etwas für sich. Also mäßige Dich erst mal.“
„Er ist ein Skelett!“ rief Lurac. „Sieht das denn keiner? Das ist doch nicht normal!“
„In meinem Alter seht Ihr auch nicht besser aus, Lurac“, warf ich ein, und die anderen Gäste lachten. Es ist immer gut, wenn man die Bevölkerung auf seiner Seite hat. Sein Streitkolben, unterstützt von der Hand eines Gläubigen, war nämlich durchaus in der Lage, Beschädigungen bei mir anzurichten. Natürlich band ich ihm das nicht auf die Nase.
„Wenn Ihr das nun so beim Namen nennt, Freund Lurac, dann habt Ihr also festgestellt, daß es mir nicht so gut geht wie Euch. Was soll also noch die zusätzliche Feindseligkeit? Einem lebenden Barden würde man ein Bier ausgeben, wenn die Geschichte Anklang gefunden hat – Ihr aber droht mir mit Gewalt. Ziemt sich das denn?“
„Eh nun…“ Er sah etwas betreten drein.
„Und laßt Euch sagen, daß ich mir diesen Zustand nicht ausgesucht habe. Es hat sich halt so ergeben.“
„Wieso legt Ihr Euch nicht einfach in einen Sarg?“ fragte der Magier naseweis. Was sollte man zu so einer blöden Idee sagen?
„Weil ich keine Lust dazu habe und lieber hier arbeite“, meinte ich schließlich. „Vielleicht schätzt Ihr meine Moritaten nicht, aber das Volk ist recht angetan davon.“
Omthero, der Wirt, nickte mir bestätigend zu und machte eine kleine Geste, um mir anzudeuten, er wisse genau, wo sein Hartholzknüppel lag.
Der Kämpfer räusperte sich. „Nun denn. Mein Name ist Ruir, das sind Laeneliel und Cerimnal. Lurac kennt Ihr ja schon.“
„So. Ich bin Raluard. Kommen wir jetzt zum Geschäftlichen?“
Ruir sah mich verblüfft an. Dann grinste er. „Ihr seid ganz schön helle für einen… äh…“
Ich knurrte. „Für was? Für einen Mann ohne Fleisch? Einen Kerl ohne Hirn? Für ein Klappergestell, das nur von dunkler Magie zusammengehalten wird?“
All das war ich schon genannt worden. Die Leute lassen sich in hundertsiebzig Jahren eine Menge an Schimpfworten einfallen, und glaubt nicht, das wären die übelsten gewesen.
Er winkte ab. „Für einen Mann, der so durchsichtig erscheint.“
Jetzt erlaubte ich mir ein Lächeln, aber da Schädel immer zu grinsen scheinen, konnte man es sicher kaum sehen. „Ich bin undurchsichtiger als ich aussehe, da seid beruhigt.“
Lurac war jedenfalls nicht beruhigt und trat von einem Bein aufs andere. Die Nähe zu einem munteren Skelett, das nicht mit einem rostigen Schwert auf ihn zuschlurfte, wie er es vermutlich gewohnt war, machte ihm sichtlich zu schaffen.
„Habt Ihr die Wahrheit über Iriaulath erzählt?“ fragte unver- mittelt die schöne Halbelfe, die bislang noch überhaupt nicht gesprochen hatte. Während sich die Männer erst mal in die Nesseln gesetzt hatten, hatte sie klug geschwiegen und rückte jetzt mit der Frage heraus, die sie offenbar die ganze Zeit beschäftigt hatte.
„Soweit sie mir bekannt ist, ja“, gab ich schlicht zurück. Wäre ich doch nur zwei Jahrhunderte jünger! Und lebendig, nebenbei.
Sie beugte sich verschwörerisch eine Spur vor. „Was wißt Ihr noch vom Turm?“
„Der Turm, oh ja, der Turm… irgendwann fragen alle danach.“
Ihre grünen Augen fixierten mich. „Bitte erzählt.“

„Der Turm, welcher der Legende nach im See Iriaulath im Walde Elmenmoos steht, ist von runder Form, siebzehn Klafter hoch, und seine Mauern trotzen Werkzeug und Feuer. Keine Fenster nennt er sein eigen, und so mancher fragt sich, von welcher Art die Dunkelheit sein mag, die sein Innerstes birgt. Nur ganz oben mag es eine Luke geben, welche in wolkenverhangenen Nächten, wenn kein Stern am Himmel steht und auch der Mond woanders weilt, hin und wieder kurz aufgeklappt wird. Dann, so heißt es, steige ein fahler Schein daraus hinauf, um in die unendlichen Weiten zu entschwinden, die hinter der Nacht liegen, hinter den uns bekannten Gestirnen und jenseits des Vorstellbaren.
Sterbliche Helden haben sich in früheren Zeiten, getrieben von Gier und Wahnsinn, aufgemacht, um das Geheimnis des Turmes zu lüften, aber sie sind nur ihrer Sterblichkeit begegnet, und ihre Knochen liegen gleich Dornen am Ufer; bleichend, mahnend, gleichgültig.
Die Insel selbst, nicht viel größer als die Grundfläche des Turmes, ist von Ranken überzogen, die das Durchkommen erschweren, und das ganze Seeufer wiederum setzt in schlimmen Sommern das Wachstum jener dornigen Ranken fort. Dies soll ein Zeichen sein, so wispern es die Alten, für unheilige Aktivität in besagtem Turme. Niemand, der noch bei Sinnen ist, soll den See aufsuchen, so bringt man es schon den Kindern bei, und schon der Wald selbst gilt als weithin gemiedenes Gebiet. Mag es nicht seine Bewandtnis damit haben, daß die Elfen ihn verloren, die Götter wissen warum? Oder, so behauptet es Ingancil in seinen Memoiren des Schreckens, nicht einmal jene vermochten den wahren Grund zu kennen, warum See, Insel und schließlich Turm nun in den Wald Elmenmoos geraten sind. Vielleicht ist es keinem gegeben, die tatsächlichen Vorkommnisse zu entdecken, und so ruhen die Rätsel und Geheimnisse noch heute ungeklärt im See Iriaulath, denn er ist still und tief zugleich.“



„Gut erzählt, Barde Raluard“, meinte Cerimnal anerkennend. Für einen Mann, der mich vorhin noch in einen Sarg stecken wollte, war er erstaunlich flexibel. Vielleicht wollte mich der Magier aber auch nur einwickeln.
In den Augen der Bogenschützin vermochte ich so etwas wie Sehnsucht erkennen. Nicht nach mir; über solche Annahmen bin ich weit hinaus. Aber die Erwähnung der Elfen und ihres verlorenen Waldes schien sie berührt zu haben. Nach einigen Momenten wandte ich mich ab. Meine Erinnerungen brachten mich nicht weiter. Vielleicht würden aber die vier erfolgreich sein.
„Was ist nun Euer Vorhaben, Ruir?“ fragte ich. Das war der Mann für Klartext.
„Nun, wir wollen natürlich zum See. Und Euch als Ortskundigen mitnehmen. Ihr scheint Euch am besten in dieser Sache auszukennen.“
„Dem ist wohl so“, antwortete ich spröde. „Allerdings sollten wir uns noch über den Preis einig werden, wenn Ihr den Entschluß schon gefaßt habt und meine Warnungen bei Euch verhallen.“
„Wir haben schon anderes durchgestanden,“ murmelte Lurac. Ihm fiel anscheinend nicht auf, daß er damit fast dasselbe sagte wie Dotar. Dieser saß übrigens in der Nähe der Tür und hielt sich immer noch die Nase.
„Was könntet Ihr in Eurem… äh, Zustand… benötigen?“ erkundigte sich Cerimnal, schon wieder vorwitzig. Ich schüttelte den Kopf.
„Wie jeder andere Mensch lege ich Wert auf eine Unterkunft und Kleidung. Daß ich hier nur in Hut und Mantel auftrete, ist der Dramatik meines Auftritts geschuldet. Außerdem lese ich Bücher und benötige Schreibzeug. Gerade Ihr als Gelehrter wißt ja, was Papier, ordentliche Schreibfedern und Tinte kosten… das alles verlangt, wie Euch sicherlich bekannt ist, Geld.“
Ruir drückte mir einen Beutel in die knochige Hand. Ich lugte hinein. Alles Silbermünzen, mindestens zwanzig, dem Gewicht nach. „Genügt das, Raluard?“
Von ihm hätte ich etwas weniger Arroganz und etwas mehr Sparsamkeit erwartet. Aber ich wollte fair sein.
„Ich bitte Euch die Angelegenheit noch einmal zu überdenken. Zu leicht geschieht ein Fehltritt oder gar ein Unglück auf einer Reise. Der Elmenmoos-Wald…“
„…ist nichts für den Zaghaften, soweit habe ich es verstanden“, brummte der Kämpfer.
„Brechen wir auf“, schloß sich auch Lurac an.
Magier und Halbelfe wechselten einen Blick, dann verließen sie alle die Taverne „Zum träumenden König“.
Die Geschichte jenes Königs erzähle ich übrigens blitztags, gleich nach meiner eigenen, aber es war Sterntag, und irgendwie schien ohnehin keiner in der Stimmung für eine weitere Geschichte zu sein. So marschierten wir wortkarg etliche Stunden, bis wir schon in der Nähe des Waldes waren. Mit einigen knappen Gesten wies Ruir die anderen an, sich um ein Lager zu kümmern, und lud mich ein, mich auf einen umgestürzten Baumstamm neben ihm zu setzen. Er kramte einige Skizzen heraus, die eine grobe Ansicht des Sees und der Insel zeigten.
„Stimmt es, daß man die Insel nur aus bestimmten Blickwinkeln sehen kann?“
„Die Insel ist von überall her sichtbar, nur der Turm entzieht sich dem Auge“, erklärte ich leidenschaftslos. Die Leute hören mir einfach nicht zu, so ist das immer.
„Was für einen Sinn soll das haben?“
„Möglicherweise wird die Gastfreundschaft dort nicht sonderlich geschätzt“, erwiderte ich.
Ruir blickte nachdenklich auf die Karten.
„Vielleicht drückt man sich auch nur vor der Grundsteuer“, setzte ich nach, um zu unterstreichen, daß ich bereits meinen vorigen Satz sarkastisch gemeint hatte. Doch der Kämpfer reagierte auch darauf nicht. Ich stand auf und sah mich um. Cerimnal hatte einige kleine Laternen entzündet, Lurac schichtete Holz auf, Laeneliel lehnte an einem Baum und starrte argwöhnisch ins Dunkel. Aber wir waren ja noch nicht am Elmenmoos, daher gab es nicht viel zu befürchten. Ich ging zu ihr hinüber.
„Ihr solltet zurückkehren“ , regte ich an, „man munkelt nicht umsonst, wie schrecklich es im Elmenmoos sei.“
„Ich gehöre zum Waldvolk, in Wäldern fürchte ich mich nicht“, fuhr sie mich an.
Daß Schönheit fast immer mit Arroganz einhergehen muß!
„Um Eurer selbst willen“, bat ich sie, „seid so klug wie Ihr ausseht und geht nicht zum See Iriaulath. Die Dornen am Ufer…“
„Meine Entscheidung steht fest“, unterbrach sie mich ungerührt, „und jetzt laßt mich bitte allein.“
Ah. Ich hatte fast vergessen, welche Abscheu das Schöne Volk vor Untoten hat. Da es auch nichts mehr zu sagen gab, setzte ich mich wieder auf den Baumstamm.
„Sollen wir Wachen aufstellen?“ erkundigte sich Lurac bei Ruir. Dieser sah mich skeptisch an.
„Ich kann Wache halten, wenn es beliebt. Die ganze Nacht“, bot ich höflich an.
Lurac fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Ihr… schlaft nicht?“
Ich hob die Schultern. „Ein Nebeneffekt meines Zustands, fürchte ich.“
Der Kleriker ging grimmig auf und ab. „Ich lasse mich doch nicht von einem Skelett bewachen!“
Das war genug. „Ihr mögt gerne aufbleiben“, schlug ich bissig vor, „dann können wir uns gegenseitig belauern.“
Insgeheim hegte ich durchaus die Befürchtung, er würde des Nachts mit seinem Streitkolben herüberkommen und mir zeigen, wo der Hammer hängt, aber ich mußte darauf vertrauen, daß Ruir ihn im Griff hatte. Lurac murmelte etwas in seinen Bart und legte sich dann hin, aber am weitesten weg von mir.
Laeneliel übernahm die erste Wache, überzog aber so, daß Cerimnal und Ruir weiterschlafen konnten. Schließlich weckte sie Lurac, und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ihn schien sie auch nicht so zu mögen. Er stand schleppend auf, legte noch ein wenig Holz auf das Lagerfeuer und musterte mich mit halb zugekniffenen Augen argwöhnisch, bis es hell wurde. Nach einem frugalen Mahl, an dem ich mich nicht beteiligte, brachen wir auf.
Es war wirklich nicht mehr weit bis zum Walde Elmenmoos, aber man tut gut daran, ihn nicht bei Nacht zu durchwandern. Bei Tag hingegen wirkt er nahezu idyllisch, unzweifelhaft eine Folge des einstigen Einflusses der Elfen, mit sattem, tiefem Grün zwischen den Stämmen, verstreuten Lichtungen und natürlich dem namensgebenden Moos. Ich merkte mir eine kleine Ode für den Rückweg vor, eventuell gar eine Ballade.
Die Halbelfe sah sich mit wachsamen Augen alles an, irgendwie entrückt, und sogar die beiden Robenträger wirkten aufgeräumter als gestern. Nur Ruir schritt unbeeindruckt voran. So hieß es bald Abschied nehmen.
„Da drüben ist der legendäre See Iriaulath.“ Ich deutete nach rechts. „Ihr könnt ihn schwerlich verfehlen.“
„Das ist alles?“ platzte Lurac heraus. „Dafür unser Geld? Ich dachte, Ihr kommt mit bis zur Insel.“
„Ich kann nicht schwimmen“, erklärte ich ihm geduldig. „Ihr verdrängt viel mehr Wasser als ich.“
Damit hatte ich die Lacher, zumindest die von Ruir und Cerimnal, auf meiner Seite.
„Naja, wie soll ein Haufen Knochen auch schwimmen können“, murmelte der Kleriker und schien es bereits zu bereuen, nicht doch den Streitkolben an mir erprobt zu haben. Aber das konnte ich ihm jetzt nachsehen.
„Einen schönen Tag noch. Und viel Erfolg“, meinte ich und empfahl mich. Aber ich entfernte mich nicht weit, sondern beobachtete das Quartett aus dem Schatten eines krummen Baumes heraus.
Zunächst stapften sie hinunter zum Ufer und beobachteten ihrerseits die Insel. Dann bewegten sie sich am Rand des Sees entlang, bis der Winkel stimmte und sie den Turm zu Gesicht bekamen. Ein wenig taten sie mir leid. Das Gestrüpp am Ufer ist wirklich unangenehm. Kaum einer kommt ohne Kratzer und Stiche hindurch. Irritierender sind aber die Schnappechsen, die unterarmlang werden können und sich meist am Ufer ausruhen und sonnen, bis ein unbedachter Fremdling daherkommt und sie aufscheucht. Ich habe von Flußechsen gelesen, die bis zu sechs Schritt lang und drei Karren schwer werden sollen. Einen Menschen vermögen sie mit einem einzigen Biß zu lähmen und in die Tiefe zu ziehen. Das ist schauerlich, und gegen jene Kreaturen sind die Schnappechsen wirklich, wirklich harmlos. Sogar genießbar sind sie. Über diesen Aspekt mache ich mir allerdings nur selten Gedanken. Ich weiß nicht einmal mehr, wie der Geschmack der meisten Speisen gewesen war.
Die vier Reisenden jedoch berieten sich nun, wie sie geschickt und unauffällig zur Insel hinübergelangen sollten. Lurac schlug vor, bis zum Abend zu warten, was Ruir und Laeneliel rasch ablehnten. Man konnte dann ja erst nicht erkennen, welche Gefahren einem entgegenkommen mochten. Der Magier packte einige Schriftrollen aus und krächzte etliche Worte, die ich nicht verstand. Danach berührte er die Schuhe seiner Mitreisenden. Daher wehte also der Wind! Der Mann war fähiger, als ich vermutet hatte.
Sie kämpften sich redlich durch das allgegenwärtige Dornen- zeug und gelangten schließlich ans Wasser. Und dann liefen sie einfach darüber hinweg, als sei es ein dicker feuchter Teppich! Ruir zog auf halbem Wege zur Insel sein Schwert, ohne daß dafür ein besonderer Grund ersichtlich gewesen wäre. Meine Erzählung vom Turm hatte ihn wohl nervös gemacht.
Ich trat in die Schneise am Ufer, welche die anderen halbwegs freigeschlagen hatten. Selbst jetzt peitschten etliche Dornen- ranken nach mir, aber ich fühle keinen Schmerz, sie machen mir nichts aus. Von hier aus konnte ich den Turm gut sehen. Die vier gingen soeben an Land, schlugen sich wiederum durch einen wirbelnden, zuckenden Wall aus grünen Dornen. Endlich ließ Cerimnal Feuer aus seiner Hand sprühen, und die Ranken verwandelten sich in verkohlte, schlaffe Strünke. Laeneliel brachte, soweit ich es erkennen konnte, Verbände bei allen an. Daraufhin arbeitete sich Ruir zum Eingang des Turmes vor. Ein mutiger Mann; das hatten nicht viele vor ihm geschafft. Doch die Dornen forderten ihren Tribut, das war unverkennbar.
Schon brach Laeneliel zusammen, Lurac nur Momente später. Der Magus schien noch einen Zauber zu versuchen, doch vergeblich. Als Ruir wieder bei ihnen anlangte, regte sich keiner mehr. Und auch er selbst sank schließlich, wie in tiefer Erschöpfung, neben ihnen nieder.
Nun war es an mir, ihnen zu folgen. Dieser Teil der Geschichte ist es, der mir am meisten verhaßt ist, und wenn ich im ‚Träumenden König‘ von mir erzähle, dann lasse ich meinen Anteil an den Heldenabenteuern tunlichst aus.
Denn natürlich vermochte ich auch zur Insel zu gelangen. Als ich den anderen gesagt hatte, ich könne nicht schwimmen, war das nicht gelogen. Aber ich hatte nicht erwähnt, daß ich auch nicht zu atmen brauchte, also stieg ich in den See und ging an dessen Grund einfach hinüber zu der Insel. Auf einen Blick war klar, daß der Giftdorn ihnen den Rest gegeben hatte. Ein Stich tötet einen Hund, drei einen Menschen, sieben ein Pferd. Und diese Leute waren übersät davon. Schon bevor sie das äußere Ufer verlassen hatten, hatte das Gift ihnen zugesetzt; die hiesigen Dornen hatten das Ende nur beschleunigt: ein magisch belebter grimmiger Wall, der zur Todesfalle für jedes Lebewesen wurde. Am weitesten war vor 23 Jahren ein Ritter in Vollrüstung gekommen, der mit einem Floß übergesetzt hatte. Aber er hatte die Turmtür nicht aufbekommen. In der Zwischenzeit hatten die Ranken sein Floß überwuchert, und er konnte nicht mehr zurück. Mit Rüstung konnte er nicht schwimmen, ohne Rüstung hätten ihn die Dornen erwischt. Er ist schließlich verhungert.
Ich riß mich von dem elenden Anblick der Helden los und klopfte gegen die Tür, das alte Zeichen Poch – pochpochpoch – Poch. Nach einer Weile öffnete mir Aurogrir, der schreckliche Nekromant. Seine schwarze Robe war blutbefleckt, in seinen tiefliegenden Augen leuchtete der Triumph. Am liebsten hätte ich ihn auf der Stelle erwürgt.
„Na, was hast Du mir heute mitgebracht, Raluard?“ fragte er leutselig.
„Vier Leute“, erwiderte ich mürrisch, „darunter ein Magier.“
„Ein Magier gar! Du bist mein Lieblingsbarde, weißt Du das? Bring die Leichen rein, ich sehe sie mir gleich an. Ja, und Dich natürlich auch.“
Ich kam seiner Anweisung nach und schleppte die vier in die Leichenkammer, die sich im ersten Stock befand. Dabei kam ich wie immer an den Skulpturen im Erdgeschoß des Turmes vorbei. Hätte ich Augen gehabt, hätte ich sie geschlossen. Hätte ich einen Magen gehabt, hätte er sich gewiß umgedreht. Aber so mußte ich an den grauenvollen Dingen vorbei, die er in den letzten 300 Jahren angehäuft hatte, und das waren nicht wenige. Man wird verstehen, wenn ich dem Leser die Details erspare.
Aurogrir machte sich sofort über die Habseligkeiten von Cerimnal her. Schriftrollen, Ringe, Notizen, ein Amulett und einige Fläschchen wurden sofort befingert und gegen das trübe Licht der Talgkerzen gehalten. Kichernd schwenkte er seine Beute. Ich weiß nicht, wie ich für diesen Mann tätig sein kann, ohne verrückt zu werden. Oh doch, ich weiß es…
„Willst Du mich wieder umbringen, Raluard?“ fragte er, ohne sich umzudrehen.
„Eines Tages wird es jemand schaffen“, zischte ich.
„Jedenfalls nicht Du. Als Du damals hier ankamst, habe ich Dich getötet und unter meinen Bedingungen wiedererweckt. Denk daran, Du kannst nichts gegen mich unternehmen, genauso wenig wie Du andere vor konkreten Gefahren des Sees oder des Turmes warnen kannst.“
Oh, wie ich das wußte! Ich hatte es oft genug versucht. Aber mehr als „die Dornen am Ufer“ hatte ich nicht heraus- bekommen, und auch davon, wer im Turm wohnte und wie man die Tür öffnete, vermochte ich nichts mitzuteilen, auf keine Weise. Selbst fliehen konnte ich nicht; sein Wille band mich in die Region. Und meine Warnungen verwandelten sich im Ohr der Zuhörer mitunter auch in Verlockungen. Fünfmal hatte ich sogar versucht, mich umzubringen: vergeblich. Wenn nicht gerade ein Heiliger vorbeikam und wirklich Schluß machte, war das Resultat nur eine schwere, lästige Beschädigung der Knochen, die sich nachts wieder knirschend zusammenfügten.
Einige Jahre hatte ich mich im Wald versteckt, um der ganzen Sache zu entgehen, aber ohne meine Warnungen waren nur noch mehr Helden – oder solche, die sich dafür hielten – auf die Insel gekommen. Das einzige, das ich tun konnte, um Leben zu retten, war in der Taverne aufzutreten und die Leute davon abzuhalten, ihres zu riskieren.
Der Nekromant kannte mich inzwischen gut. „Wenn Du Dich wieder von den Gedanken über Dein furchtbares Dasein beruhigt hast, laß mich die Schäden ansehen.“
Er strich prüfend über die Kratzer am fünften Rippenbogen. „Das ist eine Kleinigkeit, Junge. Na, ich will den anderen Kerl nicht sehen.“ Er spuckte auf die Knochen und machte eine Geste. Sofort wuchsen sie wieder so zusammen, als sei nichts geschehen. Es ist schon eine seltsame Sache, in den eigenen Brustkorb zu blicken, aber man gewöhnt sich daran.
„Sonst noch was? Spute Dich, mein Freund, es gibt immer was zu tun. Wenn ich nur die Formel, die ich bei Dir damals verwendet habe, reproduzieren könnte… aber besser ein Barde im Sack als die Garde vor der Haustür… los, geh schon!“
Und sein Wille zwang mich hinaus, durch den See, dessen Temperatur ich nicht fühlen konnte, durch den Wald und zurück in die Siedlung der Menschen.
Und hier sitze ich nun und schreibe das auf, was ich keinem sagen kann. Vielleicht ereilt mich eines Tages ein Unfall und jemand findet diesen Schrieb. Vorsätzlich weggeben kann ich ihn nicht und ihn auch nicht einfach irgendwo liegenlassen. Das alles wäre noch zu direkt. Ich habe die Grenzen der Bindungen, die mich an den Nekromanten ketten, oft genug ausgetestet. Bis zu jenem Tag wandere ich weiter und erzähle, so warnend ich es vermag, von einem grauenhaften Ort. Aber die Menschen sind leichtfertig und vermuten Abenteuer, wo nur der Tod lauert, und ahnen Schönheit, wo nur der Verfall und der Schrecken wohnen. Für mich hingegen gibt es keinen anderen Ausweg, weder in Wahn, noch in den Tod.

„So höret, ihr Recken, ihr Helden und Tapferen, daß vor der Tücke der Verderbnis jeder Mut nichtig wird. Dort wird mit anderen Maßstäben gemessen.
Manche sagen, der See Iriaulath im Walde Elmenmoos sei verwunschen – und wenn ich euch sagen würde, er sei vom Grauen durchsetzt und mit Übel erfüllt, würdet ihr es mir glauben? Würden Euch Eure Füße an andere, freundlichere Orte lenken, oder würdet ihr nur umso mehr zu jener Insel streben, die nichts verheißt und alles vernichtet, was sich ihr in fataler Neugier nähert? Würden euch die Dornen am Ufer, die Täuschungen des Lichts, die gefräßigen Schnappechsen schrecken?
Denkt gut darüber nach, bevor ihr euch auf den Weg macht.“



Aber auch, wenn meine Geschichte endet, findet sich des Öfteren jemand, der waghalsig und tollkühn genug ist, seine Schritte zum Elmenmoos zu lenken.
Die Leute hören mir einfach nicht zu, so ist das immer.

Impressum

Texte: Titelbild von Gregorius Mundus http://www.flickr.com/photos/beuel_sued/553637687/lightbox/
Tag der Veröffentlichung: 11.10.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Erzählung entstand im Rahmen des Schreibduells #29 "Dornen am Ufer" der Gruppe "Mit Feder statt Schwert".

Nächste Seite
Seite 1 /