Unter den nur noch unvollständig erhaltenen Werken des Arabers Ibn Azir Turais findet sich eine kleine Sammlung von Geschichten, die nicht - wie sonst bei ihm üblich – in der Wüste spielen, sondern im oder am Meer. Den aufgefundenen Notizen zufolge wurden sie ursprünglich von einer Philosophin und Dichterin namens Kadima verfasst, auf die angeblich eine Unzahl lyrischer Texte zurückgeht, von denen der Aquamarin- Zyklus vermutlich die höchste Verbreitung und Anerkennung gefunden hat. Es ist heute unklar, ob jene Kadima je wirklich existiert hat oder ob sie nur eine weitere Figur im reichen Bilderbogen des Ibn Azir ist. Gleichwohl ist zumindest auch ein Teil der "Worte der Brandung" erhalten geblieben.
Ich schritt durch die Brandung,
geleitet von fremden Visionen.
Gleichförmiges Donnern und Rauschen:
dämmerten wogende Wellen
dem Sonnenaufgang entgegen.
Ein Funken nur des Zwielichts
das Warten auf den Atem der Welt
und der Sturm kehrt zurück,
das Strahlen gleißt auf,
die Nacht wird zurückgetrieben
und ein fremder Morgen bricht an.
Das ist das Versprechen der See,
das Flüstern der Gischt,
das Raunen von Ebbe und Flut
und der Schrei jeder Möwe:
die Verkündung der Wiederkehr
und der Vorbote der Hoffnung.
Doch ich ahnte deren Untiefen
und ich schritt durch die Brandung.
Doch das Herzstück des Aquamarin-Zyklus stellt die Figur einer Meerjungfrau dar, die den Namen Nauticaa trägt. Ihre Beschreibung zieht sich durch zahlreiche Gedichte: ihre Augen sind meergrün, die Haare fast schwarz mit einem blauen Schimmer, den man nur bei Mondlicht sehen kann. Es heißt, ihre Schönheit sei sprichwörtlich und werde nur von ihrer Klugheit übertroffen. Und solange sie im Meer lebt, könne sie nicht altern. Er zeigt sich aber, daß vielmehr ihre Seele jung bleibt, da sie die meisten ihrer Erinnerungen bei ihren Besuchen auf der Insel des Vergessens wieder verliert und die Welt daher stets aufs Neue mit dem Staunen der Jugend und ohne den Zynismus des Alters betrachtet.
In einer der Geschichten, die sich um sie ranken – eigentlich eine Parabel -, begegnet sie einem Kapitän, der sie mit seinem Schiff lange Monate gesucht hat und mit ihr reden will, da ihre Weisheit weithin gerühmt wird. Er findet sie schließlich beim Spiel mit Delphinen in der Ägäis in der Nähe der heiligen Insel Delos. Entgegen der Warnungen seiner Mannschaft rudert er mit einem Beiboot an sie heran. Die Nixe nähert sich neugierig dem kleinen Boot, und er bietet ihr Schmuck an, um sie anzulocken, doch sie lacht nur und meint, Perlen hätte sie genug. Doch schließlich willigt sie ein, sein Anliegen anzuhören.
"O Tochter der Gezeiten, Freundin von allem, was im Wasser lebt, und weiseste Kennerin der Kykladen!" hub er an (und sie kicherte verstohlen, denn ihre Kenntnisse gingen weit über das Mittelmeer hinaus), "ich bin ruhelos und habe bereits die klügsten Köpfe meines Landes befragt, doch sie vermochten mir keine Antwort zu geben außer der, daß ich die einzigartige Nauticaa finden möge, denn nur sie sei imstande, mir den gesuchten Rat zu erteilen. So habe ich Dich von den Säulen des Herkules bis Ikaria gesucht, von den Klippen des Windes bis zum Kap der Stürme, und Dich endlich hier entdeckt. So bitte ich Dich, beschreibe mir den Weg zu der Insel der Glückseligkeit, denn mein Herz ist schwer, meine Vergangenheit ist von Dunkel bestimmt und ich sehe keine andere Möglichkeit, mein Glück zu finden."
Seine ernsten Worte bewegten die alterslose Nixe tief, und sie tauchte erst einmal für eine Stunde unter, um über seinen Wunsch nachzudenken, und der Kapitän befürchtete schon, sie sei längst entschwunden. Dann kam sie aber wieder empor und sprach: "Zum einen verkennst Du die Natur der Insel der Glückseligkeit. Könntest Du sie betreten, mit all der Last, die auf Dir liegt, dann würdest Du das Dunkel mitschleppen an einen Ort, der keine Dunkelheit kennt, und die Sorgen Deines Herzens würden das Licht der Insel verdüstern, bis sie nicht mehr anders wäre als jene Inseln, die Du da am Horizont siehst." Damit wies sie auf die Küste einiger Inseln, an deren Stränden sich die Menschen in Eitelkeiten und seichtem Geschwätz ergingen, oder in Streit und Zank und Neid.
Der Mann im Boot aber hatte gut zugehört und fragte: "Was ist der andere Punkt, von dem Du sprechen möchtest?"
Da sah Nauticaa ihn ernst an und meinte: "Zum anderen ist seit Alters her die Insel der Glückseligkeit nicht für Menschen gemacht, sondern nur für die Götter und diejenigen, die ihnen gleich sind. Da mich Dein Schicksal aber dauert, will ich Dir so weit weiterhelfen, wie es möglich ist, ohne dabei die Gebote der Götter zu verletzen. Ich sehe dort Dein Schiff; sicherlich hast Du Karten der sieben Meere mitgebracht. Bringe sie mir, und ich will Dir einen Weg weisen."
Da schöpfte der Kapitän neue Hoffnung und eilte, die Karten zu besorgen. Die schöne Meerjungfrau jedoch spielte derweil mit ein paar Meerschildkröten und kämmte ihr Haar. Schließlich kam der Seemann zurück und zeigte die Karten vor. Insgeheim fragte er sich, was sie damit anfangen und was sie ihm zeigen mochte, doch Nauticaa kannte sich auf See besser aus als die besten Seebären. Deklination, Rektaszension und Azimut waren ihr wohlbekannt; am Tage kannte sie den Sonnenwinkel auswendig, und in der Nacht waren alle Sterne ihre Freunde, denn sie kannte sie beim Namen, von Achernar über Beteigeuze und Vindemiatrix bis hin zum gleißenden Zuben-el-schemali. So ritzte sie mit dem Fingernagel eine sichere Route zu einem recht weit entfernten Punkt in eine der Karten ein. Der Kapitän wunderte sich und fragte, um welchen Ort es sich beim Ziel handeln mochte, denn es war eine kleine, namenlose Insel an der Küste eines fernen Landes.
"Dies ist der äußerste Punkt, den die Menschen zu erreichen vermögen, solange sie nicht den Göttern gleichen," erklärte ihm darauf Nauticaa, "es ist die Insel des flüchtigen Glücks."
Texte: Schillernd - gleich einer Libelle im Gegenlicht
sprüht die Gischt des tosenden Wasserfalls
über die kataraktischen Stufen titanischer Felsen.
Hier sind die Berge des Achatmassivs der Küste geneigt.
Das gletschergeborene Nass ergießt sich in atemlosem Sturz ins Meer,
während Myriaden von Tropfen auf ihrem Weg in die Tiefe
mit der Leichtigkeit eines Seufzers verwehen.
Tag der Veröffentlichung: 12.06.2011
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