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Während sich das achtzehnte Jahr der Herrschaft König Hadragath dem Dunkel zuneigte und eisiger Regen unaufhörlich auf die kleine Stadt Rytten Uul niederprasselte, schien es in einem ihrer Häuser einen Hoffnungsschimmer zu geben. Ein Junge wurde geboren, Athar mit Namen, und das in einer Familie, von der niemand mehr Nachwuchs erwartet hätte. Den Angehörigen und selbst den Freunden war das lange Sehnen von Geliaza und Rhicell bekannt, Kinder zu bekommen, aber der Erfolg war nie eingetreten – bis jetzt, zwölf Jahre nach der Heirat. War es erstaunlich, daß einige der Nachbarn hinter vorgehaltener Hand über diskrete Mittel verschwiegener Kräuterweiber raunten oder gar von Wechselbälgern und dem Einfluß von Waldgeistern flüsterten? Wohl kaum, und es war anscheinend auch nichts dran, denn viele hatten Geliaza in den letzten Jahren gesehen, wie sie von Schrein zu Schrein aller Mitglieder des Pantheons gepilgert war und schließlich jedem von ihnen, zehn an der Zahl, ihr Anliegen vorgetragen hatte. Mit Geschenken und Opfergaben, Tränen und Beteuerungen hatte sie ihren Wunsch zu unterstreichen versucht, aber niemand aus dem Kreis der lokalen Götter hatte sie erhört, bis sie schließlich heimlich am Grab des Toten Gottes gebetet hatte. Dieses lag weit außerhalb der Stadt, bei einem grauen verfilzten Waldstück, das nahezu undurchdringlich war; das Grab selbst aber vermochte man darin nur des Nachts zu finden.
An diesem grauenvollen und selbst von Tieren gemiedenen Ort, der ihr selbst nur durch hartnäckiges Nachfragen bei zweifelhaften Gestalten (sowie einer guten Summe Geldes obendrein) offenbart worden war, hatte sie also ihre Worte voll Verzweiflung an den Toten Gott gerichtet. Kein Zeichen war erschienen, ob er sie überhaupt gehört hatte, wenn dies in seinem Zustand möglich war, und erst recht kein Zeichen, was nun geschehen würde. Aber trotz ihrer Zweifel sollte diese Nacht gegen Jahresende endlich Früchte tragen.
Athar wuchs auf wie die meisten Jungen in Rytten Uul, deren Eltern sich als Handwerker bescheidenen Wohlstand leisten konnten: er spielte in den Straßen und lernte die Grundzüge der elterlichen Künste. Doch er fand keinen rechten Gefallen an Lederarbeiten. Dafür stellte sich schon früh heraus, daß er die Flunkereien seiner Freunde wie auch größere Lügen von Erwachsenen leicht durchschauen konnte. Dies brachte ihn zunehmend in Schwierigkeiten. Seine lauthals geäußerte Meinung über die wahren Beweggründe der Verlobung der älteren Schwester seines besten Freundes mit einem reichen Händler verhinderte nicht nur die Heirat, sondern brachte den Händler in Misskredit, das Mädchen ins Kloster und ihm selbst eine Tracht Prügel ein, außerdem den Verlust der Freundschaft. Nachdem seine Eltern eine Geldstrafe zahlen mussten, weil Athar den königlichen Herold beim Verlesen einer Anordnung auf dem Marktplatz ausgelacht hatte, baten sie ihn inständig, von seinen Wahrheiten abzulassen. Für einige Zeit mühte er sich nach Kräften, das für ihn Offensichtliche nicht auszusprechen, doch als er das Mündigkeitsalter erreicht hatte, machte er in einer einzigen Nacht alles zunichte. Eigentlich wollte er in der Taverne einen Wein auf seinen Geburtstag trinken und mit Gilbald, seinem letzten verbliebenen Freund, ein wenig feiern, doch es blieb nicht bei einem Weinkrug, und plötzlich schien sich vor seinen Augen alles zu verschieben.

„Der Wein ist gepanscht,“ stellte Athar fest und setzte den Krug hart ab. Gilbald legte beruhigend die Hand auf seinen Arm. „Ja, das weiß doch jeder. Wir können ja mal eine andere Sorte probieren. He, Trina!“
„Sie haßt es, wenn Du sie so nennst, Gilbald,“ murmelte Athar.
Tramira, die Schankmaid, trat an den Tisch. „Noch etwas Wein? Banin hat erst gestern neue Fässer mit rotem Springnöckler hereinbekommen. Stehen zwar noch nicht auf der Karte, aber ich könnte…“
Athar stand auf und hielt sich an der Stuhllehne fest. „Eigentlich haßt Du auch Banin, weil er Dich für einen Hungerlohn schuften lässt und nichts selber erledigt, aber doch alles kassiert.“
Das Mädchen sah ihn entsetzt an. „Das habe ich nie gesagt!“
„Ich sehe es trotzdem,“ meinte er geistesabwesend und ließ seinen Blick durch den Tavernenraum schweifen. Drei Händler am Fenstertisch waren gerade dabei, sich gegenseitig zu betrügen. Der Mann am Nebentisch war ein Zechpreller. Weiter hinten, der Söldner, der gerade eine Frau wegschickte, die an seinem Tisch gestanden hatte, arbeitete insgeheim als gedungener Mörder für den König. Der fette Mann, der mit den beiden Dieben in der Ecke flüsterte, blickte herüber und hielt ihn für einen betrunkenen Idioten. Verlegen ließ Athar die Stuhllehne los.
„Was ist mit Dir? Nimmst Du jetzt noch einen Wein oder nicht?“ fragte Gilbald ungeduldig, und Athar spürte, wie Tramira auch ihn zu hassen begann.
„Nein, lieber nicht,“ brachte er hervor, überwältigt von den entmutigenden und schmerzhaft scharfgeschnittenen Eindrücken, und wankte zum halbgeöffneten Fenster, um frische Luft zu schnappen. Die Frau, die vorhin bei dem Mörder gestanden hatte, folgte ihm. Er atmete tief durch und wandte sich ihr zu. Sie war recht hübsch, auf den ersten Blick…
„Seid mir gegrüßt,“ wisperte sie und spielte mit einer Locke ihres hellen Haares, „mein Name ist Illikala. Ich bin neu in der Stadt, und da mich mein eifersüchtiger früherer Verlobter sucht, benötige ich Schutz… er ist zwar ein ungeschickter Tölpel, aber dennoch würde ich mich bei einem vertrauenswürdigen Mann wie Euch sicherer fühlen.“
Er sah sie einen Moment an und schob sie zurück. „Das ist weder Euer Name noch Eure Geschichte. In Wirklichkeit

sucht Ihr einen Trottel, den Ihr betören und ausnehmen könnt, nachdem Ihr Eure Gunst an den Mörder da hinten verkaufen wolltet. Dieser beobachtet aber gerade den Händler am Fenster und wollte daher nichts von Euch wissen.“
Die Frau, die sich als Illikala vorgestellt hatte, wurde bleich. „Unverschämtheit! Solche Lügen braucht sich eine ehrbare Kaufmannstochter nicht bieten lassen!“
„Und was höre ich da von Mördern in meiner Taverne?“ Banin war inzwischen in den Schankraum zurückgekehrt, die neuen Getränkelisten in der Hand. Die Gespräche in der Stube erstarben.
Der fette Mann, von dem Athar nun sah, daß es sich um ein korruptes Ratsmitglied handelte, deutete auf ihn: „Der Kerl ist trunken und phantasiert schon die ganze Zeit. Wieso wirft ihn nicht jemand raus? Die ehrbaren Bürger hier wollen ihre Ruhe haben!“
An dieser Stelle hätte Athar auf seine Eltern hören sollen, aber, vom Wein berauscht, ließ er alle Zügel fahren und rief: „Von ehrbaren Bürgern redet Ihr? Gerade Ihr? Ich sehe hier keinen einzigen, der kein Schuft ist, und Ihr seid einer der schlimmsten davon! Ihr nehmt Geld von der Diebesgilde an…“
Gilbald riß seinen Freund herum. „Still jetzt! Du redest Dich um Kopf und Kragen!“
„Tu doch nicht so, als ginge es Dir um mein Wohlergehen,“ gab Athar bitter zurück, „tatsächlich

wartest Du nur auf den nächstbesten Augenblick, um meine Wahrheiten nutzbringend für Dich einsetzen zu können!“
„Das ist nicht…“ Gilbald brach ab, in dem Wissen, daß Leugnen ihm nicht helfen würde.
Der Söldner war inzwischen aufgestanden und kam in langen Schritten auf die beiden zu, aber Athar war es egal. So lange hatte er geschwiegen, jetzt musste es heraus. Noch einmal wandte er sich an den Ratsherrn: „Ihr glaubt, ich phantasiere? Im Gegenteil, ich bin der einzige Realist!“
Und dann war da nur noch eine Faust, die ihn in die Schwärze schickte.

Athar fand sich in einer Zelle wieder, angekettet, allein. Zeit verging, die er nur an den spärlichen Mahlzeiten und dem Wechsel des Lichts am hochgelegenen Gitterfenster abschätzen konnte, und irgendwann kamen drei Wachen herein.
„Es ist soweit,“ knurrte der älteste von ihnen, „der König will Dich sehen. Aber hüte Deine Zunge, sonst ist es aus mit Dir.“
Der junge Mann, entkräftet und ernüchtert, nickte nur schwach und schritt mit den dreien, die ihn misstrauisch musterten und in Handfesseln ließen, über zahlreiche Treppen nach oben. Auf dem Weg war ihm klargeworden, daß sie zwar seine Fähigkeit bezweifelten, aber keinen Moment zögern würden, ihn zu erstechen, falls sie es für nötig hielten. An einem Trog im Hof durfte er sich erfrischen, dann ging es weiter in die oberen Stockwerke.
Athar war noch nie bei Hofe gewesen, aber er hatte gehört, da gäbe es viel Trubel, unzählige hohe und niedrige Adlige, umgeben von eilfertigen Bediensteten und zahllosen Wachen. Doch die Gänge, durch die man ihn führte, waren leer. Nicht einmal Pagen waren zu sehen. Und dennoch schien die Burg nicht verlassen, sondern nur so, als seien alle Bewohner lediglich gerade außer Sicht. Er konzentrierte sich, und die Wahrheit flog ihm zu: der König hatte alle Personen, denen sein Gefangener begegnen konnte, tatsächlich in einen anderen Teil der Burg beordert.
Schließlich stießen die Wachen eine schwere Doppeltür auf und führten den Gefesselten in den Thronsaal, einen gewaltigen langgezogenen Raum, der von spitzbögigen Fenstern erhellt wurde und nach dreißig Schritten mit dem Thron, der auf drei Stufen stand, endete. Auf diesem Thron saß ein alter Mann, angetan mit den Insignien des Königs und einer goldenen Krone auf dem Haupt, zu seiner Rechten stand eine Frau in den mittleren Jahren, mit einem silbergrauen Gewand angetan, wie es traditionell die königlichen Berater trugen. Ansonsten war nur noch ein Ritter in Kettenhemd und Kettenhaube anwesend.
Während die Wachen Athar mit schwerer Hand dazu brachten, vor dem Thron niederzuknien, richteten sich aller Augen auf ihn. Was mochten sie von ihm erwarten? Einige Tage zuvor hätte er vielleicht noch gehofft, hier würde eine höhere Stelle Gerechtigkeit walten lassen, aber solche Hoffnungen hatte er nicht mehr. Er hob seinen Blick und musterte die Anwesenden. Und die Klarheit durchdrang ihn.
„Mein Herr, Ihr seid nicht der König,“ sprach er, „sondern ein Priester in seinem Gewand, der mich prüfen soll. Der wahre König Hadragath ist jener Ritter dort.“
„Bei Kaedian! Es scheint wahr zu sein, was man über den Knaben sagt,“ gab der Priester auf dem Thron zurück und wandte sich an den vermeintlichen Ritter, „ich war ja skeptisch ob der Vorsichtsmaßnahmen, aber nun…“
„Dann beendet die Scharade und macht den Thron frei,“ brummte Hadragath, „da sitzt es sich besser.“
Der falsche König beeilte sich, die Stufen hinabzusteigen, und der Gerüstete, der ihm an Alter kaum nachstand, nahm seinen Platz ein. Die beiden sahen sich tatsächlich etwas ähnlich; Athar erkannte, daß die beiden nicht zum ersten Mal die Rollen getauscht hatten, um fragwürdige Personen zu täuschen und eventuellen Gefahren ein falsches Ziel zu bieten. Während der Priester die Krone absetzte, nahm Hadragath lediglich die Kettenhaube ab, den Knieenden kühl musternd. Auf seine Insignien legte er offenkundig zumindest in dieser Situation keinen Wert.
„Dies sind mein Vertrauer Isarius vom Tempel des Kaedian, meine Beraterin Melirra und drei Männer meiner Leibgarde,“ machte der König die anderen bekannt, „und von Dir heißt es, Du wüsstest um die Wahrheit aller Dinge. Bist Du also ein Seher?“
„Nein, Majestät,“ antwortete Athar, „das heißt – ich weiß es nicht genau. Erst seit kurzem fliegen mir Worte und Bilder einfach so zu, bruchstückhaft zwar, aber sie deuten mir das, was ich sehe.“
Isarius, der inzwischen auch den Königsmantel abgelegt hatte und in der blauschwarzen Robe des Kaedian dastand, mischte sich ein: “Hörst Du Stimmen, Junge? Locken sie Dich? Sollst Du Dinge für sie tun? Verspürst Du Mordlust?“
Athar brauchte nicht seine Fähigkeiten, um das Ziel der Fragen zu entdecken. „Keineswegs, ehrwürdiger Abt,“ erwiderte er, „es sind nur Eindrücke, die mich plagen, und ich wünschte, ich wäre sie wieder los. Ich habe mir das nicht ausgesucht, und ich hänge auch nicht der schwarzen Magie oder ähnlichen Dingen an.“
Der König sah zu seinen Beratern. Isarius räusperte sich. „Mir sind Maßnahmen der Prüfung auf Besessenheit bekannt…“
„Sie sind langwierig,“ unterbrach ihn Melirra und trat einen Schritt vor, „tatsächlich vermochte ich zumindest keine magischen Kräfte in ihm zu entdecken, als er ins Gefängnis eingeliefert wurde. Seit mein Kundschafter mich über den Fall informiert hat, habe ich mich in die Studien der Vorausschau und der Erkenntnislehre vertieft, doch dies ist in seiner Konstellation beispiellos. Vorsichtshalber empfehle ich die sofortige Beseitigung des Subjekts. Es ist eine Gefahr für die Geheimnisträger des ganzen Reiches.“
Athar riß die Augen auf. Die Magierin mit der sanften Stimme, die so unpersönlich über ihn sprach, wollte ihn einfach hinrichten lassen? Er ließ die Worte auf sich wirken. Sie hatte nicht gelogen, aber sie fürchtete, daß ihr Einfluß bei Hofe durch einen Seher gemindert werden könnte.
Schon wurde der Druck der Hände auf seinen Schultern fester. Doch der König hob die Hand. „Ich habe den jungen Mann nicht eigens aus Rytten Uul hierherbringen lassen, nur um ihn dann hinrichten zu lassen. Vielmehr soll er, wenn er es vermag, ein kleines Problem für mich lösen, das mich schon länger beschäftigt.
Athar! Dein Schicksal ruht jetzt ganz in Deiner Hand. Erweise mir einen Dienst zu meiner Zufriedenheit, und Du kannst gehen. Andernfalls wanderst Du zurück ins Gefängnis und wirst Dich vor Gericht der Anklage der Verleumdung und des Aufruhrs ausgesetzt sehen. Als Zeugen gegen Dich werden einflussreiche Händler und sogar ein Ratsherr aussagen. Ich kann meine Hand nur schützend über Dich halten, wenn Du dem Reich einen vorrangigen Dienst erweist, der Deine Ehre wiederherstellt. Das ist Deine Gelegenheit. Was sagst Du dazu?“
Der Gefangene brauchte nicht lange zu überlegen, zumal er spürte, daß Hadragath es ernst meinte.
„Ich bin Euch zu Diensten,“ versicherte er. Schlimmer als das Gefängnis konnte der Dienst ja kaum sein. Bei dieser Überlegung wurde ihm klar, daß seine Fähigkeit hauptsächlich auf die Gegenwart und eine Spur der Vergangenheit bezogen war, nicht aber auf die Zukunft. Aber sagte ein Seher nicht eigentlich die Zukunft voraus?
Der König schien die Antwort erwartet zu haben; er schnippte mit den Fingern, und der dritte Leibgardist öffnete eine seitliche Tür. Dahinter standen zwei Burgwachen, die einen Mann bewachten, der an einen massiven Stuhl gefesselt war. Auf ein weiteres Zeichen brachten sie den anderen Gefangenen herein und stellten ihn neben Athar ab. Es handelte sich um einen grauhaarigen Mann, dessen ehemals edle Kleidung durch Asche und Blutspuren besudelt war. Sein Gesicht und sein rechter Arm sahen übel zugerichtet aus; das linke Auge war zur Hälfte zugeschwollen.
Melirra trat auf die beiden Gefangenen zu, und Athar konnte sie förmlich sehen, wie sie in einem halbdunklen feuchten Kerker den Folterknechten zunickte, Anweisungen gab und bisweilen auch ein fahles violettes Leuchten einsetzte, das an den Knochen nagte.
„Dies ist der hinterlistige Botschafter Folasto Carnos aus Helindara. Er weigert sich, etwas über die Kriegspläne seines Landes gegen unser Reich zu verraten. Er…“
„Es gibt keine Kriegspläne!“ stieß der Ausländer mühsam hervor.
„…versucht uns das schon seit Wochen einzureden,“ fuhr die Beraterin ungerührt fort, „meine Spione in Helindara berichten jedoch anderes.“
Hadragath räusperte sich. „Nun, Athar, sollte Deine Aufgabe klar sein. Sag mir, was die Wahrheit bezüglich dieses Mannes ist, und Du sollst frei sein.“
Die Wachen traten von ihm zurück, ließen ihn aufstehen. Dem jungen Mann wurde fast schlecht, als er den gefesselten Botschafter näher betrachtete. Der rechte Arm schien nicht mehr zu gebrauchen, die Brandlöcher in der Kleidung deuteten auf glühende Eisen hin, und die Schwellungen und Kratzer im Gesicht auf zahllose Schläge mit derben Handschuhen. Was aber nicht so offenkundig war wie die Angst und Verunsicherung, im Thronsaal von einem anderen Gefangenen begutachtet zu werden…
…war das Geflecht aus Lügen, das er schon seit Jahren um Hadragath gesponnen hatte, um ihn in Sicherheit zu wiegen; der Haß auf den hiesigen Adel, die Verachtung gegenüber dem König, der bald, schon sehr bald das Opfer der Flammen werden würde, das die Hochmagier der helindarischen Truppen in das Land tragen würden, ganze Städte mit ihren Flächenzaubern überziehend, bis die Bevölkerung erstickt oder verkohlt im Blute lag, und…
Athar schrak auf, als ihm ein dünnes Rinnsal Blut aus der Nase rann. Er wischte es am Ärmel ab und keuchte. Carnos sah ihn ausdruckslos an, trotz allem eine jämmerliche Figur.
„Berichte, Junge!“ befahl Isarius scharf. „Was hast Du gesehen?“
Der Angesprochene hatte zuvor Mitleid mit dem geschundenen Helindarier verspürt; nun, nachdem er wusste, wie es wirklich in dem Mann zuging, zerfiel dieses Gefühl. Er wollte nur noch hier weg. So erzählte er von der Vision.
Melirra nickte nur; der Priester murmelte ein Gebet, und Hadragath machte nur eine kurze, aber eindeutige Geste. Der Stuhl wurde hinausgetragen, und Athar war froh, das Unvermeidliche nicht mit ansehen zu müssen.
„Melirra, Ihr kümmert Euch sofort um die Gegenmaßnahmen,“ ordnete der König an, und die Frau eilte zur Tür, drehte sich dort aber noch einmal um.
„Was den Burschen angeht, bleibe ich bei meiner Empfehlung.“
„Ich teile Eure Sorge, stehe aber zu meinem Wort,“ gab Hadragath knapp zurück, „aber angesichts der möglichen Probleme, die er uns einhandeln kann… Athar, Du magst gehen, aber unter der Auflage, die Hauptstadt nie mehr zu betreten. Über alles, was hier vorgefallen ist, wirst Du schweigen. Bei Zuwiderhandlung winkt Dir der Richtblock. Das ist alles, die Wache wird Dich hinausbringen. - Karrt ihn aus der Stadt und gebt seine Beschreibung an alle Torwachen.“
Athar verneigte sich. Für einen Moment sah er den König, wie er war – alt, zynisch, um sein Reich bemüht, Heerführer in sechs Schlachten, oft verblüffend ehrlich, manchmal nicht, seiner Frau untreu, erfüllt vom Haß auf alles Magische, Vater einer unehelichen Tochter, die er allen verheimlichte und die irgendwo als Schankmaid arbeitete, ohne ihre Abstammung zu kennen, Vertuscher von privaten und politischen Fehltritten seines Bruders, Herzog Ganrath - und wurde im selben Moment auch schon von schweren Handschuhen Richtung Tür gezogen.
Kurz danach fand er sich vor den Toren der Stadt wieder. Da er kein Geld dabeihatte, arbeitete er für eine Woche als Tagelöhner bei den Bauern der Umgebung. Schließlich gelang es ihm, bei einem Händler auf dem Karren nach Rytten Uul mitfahren zu können.
Insgesamt waren gut drei Wochen seit dem Vorfall in der Taverne vergangen. Die damalige Unruhe schien sich gelegt zu haben; zumindest klopfte die Stadtwache nicht an die Tür seiner Eltern, und es kam auch zu keiner Gerichtsverhandlung.
Nach der ersten Freude über das Wiedersehen war bei den Eltern die Bestürzung groß, als er sich weigerte, Details über die Zeit seiner Verhaftung preiszugeben. Er vermochte sie auch nicht ganz davon zu überzeugen, daß die Sache nun ausgestanden war, stellte dabei aber eigene Fragen über mögliche Ursachen dessen, was so viele Zeugen miterlebt hatten. Und da es ihm nun leicht fiel, die Rolle seiner Mutter dabei aufzudecken, gestand sie ihm einige Tage später, was sie einst getan hatte.
Und Athar machte sich auf, das Grab des Toten Gottes zu suchen, denn er hoffte, im Gebet oder sonstwie einen Weg zu finden, der seinen Fluch von ihm nehmen konnte. Die Wahrheit, früher ein von den Eltern vermitteltes Ideal, war ihm nun zur Säure geworden, die alles zerfraß, was er auch nur ansah. Kein Mensch noch, dem er aufrichtig und herzlich ins Gesicht sehen konnte, wenn alles, was er sah, nur die schlechten Gedanken, Untaten und Leichen im Keller waren, bisweilen sogar buchstäbliche. Niemand war uneigennützig, und selbst den schönen Schein der Illusion oder der gnädigen Unwissenheit gab es für ihn nicht mehr. Er sah sich umgeben von Falschheit, Lügen, Neid und schließlich Angst, denn seine Sicht ging immer tiefer und ersetzte vollends das, was alle anderen Menschen sahen. Selbst die Tiere im nördlichen Wald, den Geliaza ihm gewiesen hatte, strahlten bald Hunger, bald Gier aus. Kurz bevor er fast wahnsinnig zu werden glaubte, fand er eines Nachts das sagenumwobene Grab.
Doch nicht nur das; es war jemand dort. Als er seine Schritte näher lenkte, bewegte sich die Gestalt und entzündete eine Laterne. In deren Licht erkannte Athar eine Frau, die in eine schwarze Robe mit silbernen Mustern gekleidet war. Sie mochte einige Jahresläufe älter sein als er selbst, und er wunderte sich, was sie hier machte – mehr aber wunderte er sich darüber, daß ihm seine Fähigkeit nichts über sie verriet. Es war fast so, als wären seine Gedanken und Eindrücke so wie früher; nur äußerlich, ohne all die furchtbaren Wahrheiten, die ihn in den letzten Wochen begleitet hatten.
„Willkommen im letzten Tempel des Toten Gottes,“ begrüßte sie ihn mit einer dunklen, melodischen Stimme, und noch immer stieg keine Vision in ihm auf.
„Eh, nun, danke,“ stammelte Athar, überwältigt von der Stille in seinem Geist und unschlüssig darüber, was er überhaupt sagen sollte, „also… ich bin Athar.“
Sie neigte den Kopf. „Und ich bin Mornys, die letzte Priesterin des Toten Gottes. Ich würde um Deinen Tod klagen, wenn es soweit ist, aber dann bin ich selbst nicht mehr.“
Sie lächelte wie über einen Scherz, der nur für Eingeweihte verständlich ist.
„Ich werde noch lange leben, hoffe ich,“ gab Athar zurück.
Die Priesterin hob die Schultern. „Jeder stirbt. Selbst Götter, siehst Du?“ Sie wies auf das Hünengrab hinter sich, das sich als gewaltige, ungeschlachte Masse bis ins Dunkel des Waldes erstreckte.
Athar legte die Hand auf den kalten, rauen Stein. „Wie können Götter sterben? Und wie können sie selbst danach noch Gebete erhören?“
Mornys trat einen Schritt auf ihn zu, so undeutbar und verwirrend, wie vor seinem Geburtstag jede Frau für ihn gewesen war. Für einen winzigen Moment wünschte er sich, er wisse, was in ihr vorginge, aber dann erschrak er bei dem Gedanken und erkannte, wie sehr er sich schon an seine Fähigkeit gewöhnt hatte.
„Üblicherweise sind Götter unsterblich,“ erklärte die Priesterin sachlich, „aber der, dessen Name in der Welt nicht mehr genannt zu werden braucht, wurde von den anderen Göttern des lokalen Pantheons getötet, weil es schwerwiegende Differenzen über die Natur des Schicksals und der Realität gab. Es mag sogar sein, daß er nur unendlich weit weg verbannt wurde, aber für die Sterblichen dieser Welt macht das keinen Unterschied. Seine Kräfte aber, die seine Priester durch ihre Gebete in die Welt gerufen haben, sind nicht sogleich mit seinem Ableben untergegangen. Obgleich sie hier schwinden, werden sie nicht völlig erloschen sein, solange es noch einen einzigen seiner Anhänger gibt. Dies ist meine Aufgabe.“
„Welchen Frevel hat er denn begangen?“ erkundigte sich Athar. Er war nie ein sonderlich religiöser Mensch gewesen, aber die Hintergründe interessierten ihn nun doch, vor allem, da sie ja letztlich Auswirkungen auf ihn gehabt hatten.
„Er hat seinen Hohepriestern eine Lehre offenbart, nach der es eine schier unendliche Kette von Wirklichkeiten gibt, in welcher die Welten andauernd erschaffen werden, für einen flüchtigen Moment existieren und dann wieder der Vergessenheit anheimfallen, bis auf einige wenige Ausnahmen. Das widerspricht natürlich eklatant der herrschenden Lehre der Ewigkeit des Universums, die vom Pantheon vertreten wird. Schließlich beziehen die meisten Gottheiten ihren Herrschaftsanspruch aus der Rolle, die sie bei der Erschaffung der Welt gespielt haben. Jedenfalls hielten die Großen Zehn, wie man sie jetzt nennt, seine Interpretation für anmaßend, blasphemisch, übertrieben und unwahr. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.“
Für Athar war das genug an Religionsphilosophie für einen Abend oder auch ein Jahr.
„Das mag ja alles sein, aber weshalb hat er den Wunsch meiner Mutter erfüllt und mir diesen Fluch angehängt, durch den ich mehr Wahrheiten erfahre als mir lieb ist?“
Er hatte nicht ernsthaft angenommen, daß sie darauf eine Antwort wusste, doch sie entzündete mit ruhiger Hand eine weitere Laterne und erwiderte: „Weil Du das Werkzeug seiner Rache bist.“
„Das gefällt mir nicht.“ Etwas Besseres fiel Athar dazu nicht ein.
„Schau, es ist so,“ meinte Mornys sanft, „man kann eine Gottheit nun mal nicht ungestraft töten. Alles hat Konsequenzen, selbst für den Kreis der Götter, und vor allem dann, wenn sie im Unrecht sind. Er, der dort liegt – oder vielleicht auch nicht – möchte ihnen seinen Standpunkt beweisen. Und Deine Mutter ist seit langer Zeit die erste gewesen, die sich aus eigenem Antrieb an ihn gewandt hat. Was hätte er wohl tun sollen? Noch einmal dreieinhalbtausend Jahre lang warten? Nein. Das wirst Du verstehen, nicht wahr?“
Athar war völlig verwirrt. Er fragte sich, ob er mit seiner Fähigkeit vielleicht ein irres Glitzern in ihren Augen gesehen hätte, oder sehnsuchtsvolle Hingabe zu einem unerreichbaren Wesen, oder einfach nur Aufrichtigkeit. Aber er war ja hier, den Sinn für Wahrheit loszuwerden.
„Wie dem auch sei,“ sagte er fest, „ich mag nicht das Werkzeug von irgendwem sein, und ich werde keinen wie auch immer gestalteten Auftrag von Dir annehmen.“
Mornys strich sich eine Strähne ihres schwarzen Haares aus dem Gesicht und sah ihn nachdenklich an. „Wirke ich so unheimlich auf Dich? Oder ist es nur, weil Du mich nicht so sehen kannst wie all die anderen Leute?“
Athar wusste es ehrlich gesagt selbst nicht. „Es – es geht nicht um Dich. Die ganze Situation hier ist doch seltsam. Ich meine, Du sitzt hier nachts im Dunkeln an einem Grab…“
„Es ist ein Tempel, und wo sollte eine Priesterin sonst sein?“ widersprach sie fest, aber nicht tadelnd.
„Ich sehe nur ein Hünengrab,“ beharrte er mit erhobener Stimme.
„Du siehst so manches in letzter Zeit,“ konterte sie und lächelte, aber Athar wurde nur noch wütender.
„Wenn Du so an Deinem toten Gott hängst, dann sei doch selbst das Werkzeug!“ Er schrie es fast und drehte sich um, die kleine Lichtung zu verlassen.
„Athar, bitte… das ist nicht meine Aufgabe, ich habe es Dir doch erklärt. Ich muß hier ausharren bis zum Schluß.“ Das Mädchen schien den Tränen nahe.
Athar hielt inne. „Und ich kann gehen? Ohne Anweisungen?“
„Wohin Du willst. Hier, nimm wenigstens noch die Lampe mit, sonst verirrst Du Dich noch. Heute haben wir keinen Mond.“
Sie hielt ihm die zweite Laterne hin. Mißmutig nahm er sie entgegen und stapfte davon, irgendwie verärgert, ohne genau zu wissen, was nun der Grund dafür gewesen war. Auf jeden Fall war er froh, von der merkwürdigen Priesterin wegzukommen, die verblüffend viel zu wissen schien. Andererseits musste er sich eingestehen, daß er selbst in den letzten Wochen erschreckend viel gewusst hatte. Wie konnte er Mornys nun fast dasselbe zum Vorwurf machen?
Auf seinem Weg durch die Nacht beruhigte er sich wieder und bekam nur am Rande mit, daß ihn vage Eindrücke von Hunger und Jagdfieber begleiteten, die schließlich von Geldgier, einem ungewohnten Sättigungsgefühl und Rückenschmerzen ersetzt wurden. Es mussten Menschen in der Nähe sein!
Athar folgte seiner Intuition und erreichte nach kurzer Zeit eine Straße, an deren Rand drei überdachte Karren standen. In der Nähe saßen vier Männer an einem Feuer, über dem ein Hase briet.
Der nächtliche Wanderer mahnte sich zur Vorsicht. Ein falsches Wort, und er würde entweder für einen Wegelagerer oder einen Verrückten gehalten werden. So schwenkte er die Laterne und trat absichtlich laut auf.
„Wer da?“ rief man ihm entgegen.
Athar trat ins Licht des Feuers. „Ich wurde von der Jagdgesellschaft meines Herrn getrennt und habe mich verlaufen. Den halben Tag bin ich jetzt schon unterwegs.“
„Ohne Waffen?“ Der vierschrötige Mann, Händler wie die anderen auch, blieb misstrauisch. Als mehr Eindrücke vor Athars innerem Auge auftauchten, hustete er und erklärte: „Herr, ich bin nur Treiber. Ich möchte nur zurück in die Stadt und bin, ehrlich gesagt, etwas hungrig.“
Die anderen grinsten und luden ihn ein, sich zu bedienen. Das ließ sich Athar nicht zweimal sagen. „Habt ihr den Hasen vorhin gefangen?“ fragte er zwischen zwei Bissen.
Der jüngste, ein Wollhändler namens Rynalt, sah ihn befremdet an. „Niemand jagt nachts, und schon gar nicht hier. In der Nähe soll es spuken. Wir haben nur Halt gemacht, weil mir die Ladung verrutscht ist. Während ich alles gerichtet habe, haben meine Freunde das Feuerchen da gemacht. Nachher geht es weiter.“
Athar zog es vor, nichts mehr zu sagen und nickte nur.
„Wenn Ihr wollt, könnt Ihr mitfahren,“ bot Rynalt an, „ich habe hinten im Karren noch etwas Platz. Und Ihr seht schon ziemlich müde aus.“
„Das bin ich auch,“ stimmte Athar zu und bedankte sich.
Kaum war der Hase verzehrt, traten die vier das Feuer aus und zogen weiter. Athar aber legte sich erschöpft neben die Wollballen und schlief ein.

Als er erwachte, musste er erst einmal unter den Ballen hervorkriechen. Es war heller Tag; der Wagen stand am Rande eines großen Marktplatzes, auf dem geschäftiges Treiben herrschte.
„Na, endlich aufgewacht, Du Schlafmütze?“ fragte Rynalt freundlich (und insgeheim froh, daß er nicht sein Frühstück mit ihm hatte teilen müssen, denn er war geizig und betrog seine Kunden manchmal mit der Qualität der Wolle und er schlug seinen Sohn öfters und er schaute der Schwester seiner Frau manchmal begehrlich nach und…).
Athar schloß die Augen, aber es hörte nicht auf. Im Gegenteil, in seinem Kopf flatterten die Bilder und Eindrücke wie ein nervöser Vogelschwarm, als ob sie von überall kämen. Gleich einem lauter werdenden Brausen stieg eine Welle von Visionen in ihm auf, und dann waren es hunderte von Wellen, die sich überschlugen. Sein Kopf schmerzte.
„Wenn Du mir nicht beim Ausladen helfen willst, dann troll Dich,“ brummte der Händler.
Athar kletterte vom Wagen, verwirrt und desorientiert. Diese vielen Leute… und dieser riesige Markt… das war nicht Rytten Uul… sondern die Hauptstadt! Die Händler hatten ihn nach Escyria Uul zurückgebracht, und weil er unter den Ballen gelegen hatte, hatten die Torwachen ihn nicht bemerkt!
Der Schreck lenkte ihn für einen Moment von seinen Kopfschmerzen ab, und er suchte einen Weg zum Stadttor. Aber er kannte sich hier nicht aus. Vielleicht war es besser, einen Einheimischen zu fragen als sich völlig zu verlaufen. Er ging auf einen Gaukler zu, der gerade seinen Zuschauern ein Kartenkunststück zeigte. Aber als er noch etliche Schritte entfernt war, verschwanden dessen Karten. Das Publikum applaudierte, nur der Gaukler selbst machte einen erschrockenen Eindruck. Das war seltsam, und Athar wandte sich vorsichtshalber ab. An einem nahen Stand erklärte ein Hütchenspieler drei Schaulustigen die Regeln, mit denen sie ihren Einsatz verdoppeln konnten, wenn sie den Becher mit der Kugel darunter ausfindig machten. Athar verzog das Gesicht. Ein Betrug, sonst nichts, das hatte ihm schon sein Vater eingeschärft. Er keuchte, als ein stechender Schmerz durch seine Schläfen schoß.
Gleichzeitig schrien Passanten auf, als der Tisch des Spielers samt den Bechern erst weiß wurde, dann durchsichtig und schließlich völlig verschwand.
„Hexerei!“ kreischte jemand.
Athar versuchte ruhig zu atmen und weiterzugehen, aber die Eindrücke, die über die Leute aus der Menge auf ihn einprasselten, wurden immer stärker, bis er kaum noch zwischen Visionen und dem Geschehen auf dem Markt unterscheiden konnte. Halb blind taumelte er weiter. Neben ihm verschwand ein Stoffballen samt dem Schild, auf dem „Echte Seide aus Ebitrius“ gestanden hatte, auf die gleiche Weise wie Tisch und Becher zuvor.
Der junge Mann spürte, daß sich das Ausmaß seines Fluches vervielfacht hatte; jetzt sprang ihm nicht nur die Wahrheit ins Gesicht, sondern die Unwahrheit verlor in seinem Umfeld auch noch an Gestalt. Er ging schneller, wollte in eine Seitengasse abtauchen, doch ihm drängten Menschen entgegen, hinter denen Stadtwachen zu sehen waren. In einem nahegelegenen Laden brachen Regale zusammen, die einen Moment zuvor noch mit „Preissenkung wegen Wasserschaden“ beschriftet und voller Ware gewesen waren. Stände mit Talismanen, Rheumamitteln, Tinkturen gegen Haarausfall und Impotenz verblassten einfach und verschwanden. Das nachfolgende Chaos war unbeschreiblich. Überall liefen Händler durcheinander, um ihre Ware zu retten, das Volk wusste nicht, wohin es fliehen sollte, wüste Beschuldigungen wurden wahllos aufgebracht, Diebe nutzten jede Gelegenheit aus, im Durcheinander Kleinodien zu schnappen, von böser Magie und Dämonen war die Rede, man rief nach der Wache… und diese kam tatsächlich. Da inzwischen etliche der Gardisten Tordienst gehabt hatten, war ihnen die Beschreibung von Athar bekannt. Einen mehr taumelnden als rennenden Mann zu fangen, der sich in den Gassen nicht auskannte, war für die Wache nicht schwierig, und bald hatten sie ihn.
Und wieder einmal wurde es schwarz um Athar.

Das Erwachen war furchtbar. Seine Lippe blutete, sein Kopf dröhnte, sein Magen schmerzte, und seine Hände waren hinter dem Rücken gefesselt.
„Als ob das etwas ändern würde,“ dachte er bitter und blinzelte. Er befand sich immer noch auf dem Marktplatz, und zwar auf einem hölzernen Podest am Rand. Zwei stämmige Wachen hielten ihn fest - bereit, jederzeit wieder zuzuschlagen. Weitere Uniformierte sprachen halblaut mit dem Wachhauptmann. Außer den Männern befand sich noch Melirra auf dem Podest, und als sie einen Schritt näher trat, konnte er hinter ihr den Richtblock erkennen.
Athar spuckte Blut aus, das sich in seinem Mund angesammelt hatte, und sah weg. Vor ihm erstreckte sich die elliptische Fläche des Marktes, der so wirkte, als ob eine Rinderherde hindurchgetrampelt wäre. Etliche Stände waren umgeworfen, Waren lagen verstreut herum, leere Stellen wechselten sich mit zusammenkehrten Haufen an Müll ab. Immer noch waren Händler damit beschäftigt, ihre Habseligkeiten aufzusammeln und zu ordnen. Aber die meisten Menschen blickten mit einer Mischung aus Angst und Zorn zum Podest auf.
Zu ihm.
„Bürger von Escyria Uul!“ rief Melirra. „Wir haben den Mann gefangen, der für den heutigen Vorfall verantwortlich ist. Er hat nicht nur gegen das Gebot unseres Königs verstoßen, diese Stadt nie wieder zu betreten, sondern auch mit seinen dunklen Kräften Unheil über uns alle gebracht. Ihr seht, was er hier angerichtet hat. Schon für…“
„Üble Hexerei!“ schrie ein Händler. „Kopf ab!“ kam es von einem anderen.
„…das erste Verbrechen hat der König seinen Tod vorgesehen,“ vollendete die Beraterin ihren Satz (voll Ärger, vom Pöbel unterbrochen zu werden, und dennoch triumphierend, weil sie nun Hadragath unter die Nase reiben konnte, daß sie von vornherein im Recht gewesen war, erkannte Athar).
„Vollstrecken!“ Der Ruf wiederholte sich, breitete sich wie ein Lauffeuer unter den Bürgern aus. Einige klaubten Obstreste auf und warfen sie nach ihm.
Athar wand sich, doch der Griff der Wachen war einfach zu fest. Auf einen Wink von Melirra wurde er zum Richtblock geschleift.
„Ich wollte nicht in die Stadt!“ verteidigte er sich mit einem Rest an Hoffnung, dem Ende noch zu entgehen. „Es war ein Versehen, und ein Hexer bin ich auch nicht!“
„Du bist hier, das genügt. Und was hier geschehen ist, hat jeder gesehen. Es bedarf keines weiteren Beweises Deiner Schuld, und…“
„Ich kann nichts dafür, es passiert ohne mein Zutun!“ rief der Angeklagte verzweifelt – und erkannte seinen Fehler: Melirra haßte es, unterbrochen zu werden.
„…der Befehl des Königs ist Gesetz. Deshalb ist keine weitere Verhandlung erforderlich. Scharfrichter!“ Ihre Stimme war eiskalt.
Das Volk johlte, als ein kräftiger Mann in schwarzer Kapuze zum Podest trat, eine schwere Axt in der Hand. Athar stemmte sich noch einmal gegen die Wachen, bekam etliche Schläge ab und brach halb über dem Richtblock zusammen. Nicht nur seine Wunden und Blutergüsse schmerzten, sondern die Kopfschmerzen setzten erneut und mit ungeahnter Stärke ein. Visionen von nie dagewesener Klarheit durchströmten ihn. Er spürte die Sensationslust, Gleichgültigkeit und Verachtung jedes einzelnen sowie den Haß aller, welche die Faust gegen ihn erhoben und nach Vollstreckung schrien. Für manche war es eine willkommene Abwechslung, für viele die Vergeltung für ihre erlittenen Verluste.
Athar wusste, wie gering die Verluste in Wirklichkeit waren. Niemand hätte deswegen am Hungertuch nagen müssen. Alles war ersetzbar. Ja, hätte man ihm nicht dankbar sein müssen, daß die Lügen endlich weggeräumt waren, die lächerlichen Tränke, die betrügerischen Spiele, die Fälschungen? Aber nein, statt dessen war er das Hindernis, das zwischen ihnen und einem weiteren auf Lügen aufgebauten Leben stand, als sei die Täuschung inzwischen ein unverzichtbarer Bestandteil der Gesellschaft. Während solche Gedanken durch seinen Geist blitzten, sah er im Augenwinkel den Mann mit Axt die Treppe emporsteigen.
„Götter, helft mir!“ flüsterte Athar. Nichts geschah. Natürlich. Die Götter des Pantheons hatten schon seiner Mutter nicht geholfen, bis sie anderweitig Rat gesucht hatte.
Eine Wache zerrte ihn so zurecht, daß er nur noch mit dem Oberkörper auf dem schweren Holzblock lag, der von tiefen Kerben übersät war. Der Scharfrichter war nur noch wenige Schritte entfernt, und um Melirras Lippen spielte ein dünnes Lächeln.
Panische Angst und Verzweiflung packten Athar, während in ihm weitere Bilder aufstiegen. Sein Tod war beschlossene Sache, und nicht erst seit der Rede der Beraterin. Alles seit dem Vorfall in der Taverne, ja sein ganzes Leben war auf diesen Punkt ausgerichtet. Wenn er nicht gewusst hätte, daß es sinnlos war, hätte er jetzt zum Toten Gott gebetet. Aber dieser war unendlich fern und hatte ihn in diesem Leben, diesem ganzen furchtbaren Reich zurückgelassen, das viel eher den Tod verdiente als er selbst. Aus seiner Verzweiflung wurde Zorn.
Und in diesem Moment fiel der Schmerz von ihm ab. Eine machtvolle, letzte Vision durchdrang ihn, deren Klarheit wie ein glockenheller Ton in ihm widerhallte. Alles, was geschehen war; alles um ihm herum, er selbst, die ganze Welt, war nur eine Geschichte – nur eine Geschichte!

– und damit nicht real. Das war seine Erkenntnis, als der Scharfrichter seine Axt hob. Und alles wurde weiß, verblasste… und endete.

Impressum

Texte: Coverbild: Creative Commons
Tag der Veröffentlichung: 09.12.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch wurde im Rahmen eines Schreibduells (Mit Feder statt Schwert, Runde 18) innerhalb einer Woche verfaßt. Der Titel war vorgegeben. "Eine einzige häßliche Wahrheit überschattet hundert gute Taten." -- Aus dem Buch Dessen, Der nicht mehr genannt zu werden braucht

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