Manche hielten Garren Zoridan für übergeschnappt. Einige hielten ihn allerdings für genial, andere für arrogant, und für mich war er nur ein seniler alter Kerl, der seine besten Jahre längst überschritten hatte. Aber er war ein Magus der sieben Segmente, und als solcher war er ernst zu nehmen und zu fürchten – zumindest in der Theorie, denn er hatte schon lange an keiner der offiziellen Veranstaltungen der Akademie mehr teilgenommen.
Was ihn aber auch jetzt noch bemerkenswert machte, war sein berüchtigter Hang zum Obskuren, ja gar zum Abwegigen. Keiner der anderen Magier der ehrwürdigen Akademia Segmentaria verachtete seine Kunst so wie Zoridan und war gleichermaßen dennoch so versiert in den theoretischen Grundlagen wie er. Statt sich um Forschung und Lehre zu kümmern, oder wenigstens um die eigene Bereicherung, wie es die meisten der Kollegen taten, beschäftigte er sich in seinem Labor lieber mit Alchimie oder spekulativer Analyse, welche nicht einmal als echte Wissenschaft anerkannt worden war und von Erzmagus Reylinus spöttisch als „Deduktion mittels Hypothesen“ abgetan wurde. Aber die Meinung anderer war ihm gleichgültig, zumal er gewisse Erfolge mit seiner Methodik verzeichnete. Einen dieser Fälle habe ich voriges Jahr unter dem Titel „Eine Studie in Dunkelheit“ veröffentlicht, um zu dokumentieren, dass er geistig nicht so weitab war wie manche vermuteten. Und damit komme ich zu meiner Person – Aigon Styrkat, seit einem Jahr Adept bei Meister Zoridan; und Adept bedeutete in diesem Fall Laufbursche, Reinigungspersonal, Tölpel, Schreiber, Lastträger, Chronist und in seltenen Fällen Leibwächter. Ich war also keineswegs in einer beneidenswerten Stellung, doch andere Meister hatten mich ob meines Alters und meiner eher mäßig ausgeprägten Kenntnisse in Arkanologie bereits abgelehnt. So war ich also zum Faktotum des bemerkenswerten Analytikers geworden.
Am 3. Rhys im Jahre der Kupfernen Laterne wollte ich gerade zum Markt aufbrechen, da sich die Vorräte an frischer Milch, geriebener Apidula und fünfprozentigem Epoquani-Extrakt bedenklich dem Ende zuneigten, als mir ein etwa zwölfjähriger Junge auf der Treppe entgegengestürmt kam.
„Meister Zoridan!“, stieß er hervor, „Ihr müsst mir helfen!“
Nun sehe ich ganz und gar nicht aus wie mein Arbeitgeber – er ist groß und hager, mit scharfgeschnittenen Zügen, während ich einen Kopf kleiner bin als er, vielleicht halb so alt und auch auf einige Muskeln zählen kann. Zoridan hätte daraus gewiß eine makellose Deduktion abgeleitet, aber mir genügte es zu sagen: „Du verwechselst mich, Junge. Ich bin nur sein Adept.“ Insgeheim bereitete es mir natürlich Genugtuung, für einen Magus gehalten zu werden, aber bei Licht betrachtet war es keine sonderliche Großtat, von einem Kind, das keinen von uns kannte, im Halbdunkel verwechselt zu werden.
Der Junge rannte derweil weiter und pochte schließlich eifrig gegen die Zimmertür meines Meisters. Ich kehrte seufzend um, um ihn wegzuschicken. Wo würden wir hingeraten, wenn jeder Halbwüchsige mit seinen Problemen zu Zoridan kam?
Dieser öffnete die Tür, bevor ich den Jungen zu fassen bekam. Der aber wiederholte seinen Spruch und verbeugte sich auf ungeübte Weise.
Zoridan, der mit Kindern noch nie etwas hatte anfangen können, blickte tadelnd zu mir herüber, warf einen Blick auf den Besucher und meinte dann in bedauerndem Tonfall: „Leider kann ich Dir auch nicht sagen, wo Dein Hund abgeblieben ist.“
Der Junge starrte ihn groß an und bekam den Mund kaum noch zu. „Woher wisst Ihr…?“
Das fragte ich mich allerdings auch, obwohl ich schon manches Kunststück der spekulativen Analyse Zoridans miterlebt hatte.
Der Magier setzte sich hin und begann, sich umständlich eine Pfeife zu stopfen. Ich war sicher, er wollte seine Erklärung damit nur hinauszögern.
„Ganz einfach,“ antwortete er schließlich, „die Haare auf Deiner Hose, die am Unterschenkel bis zum Knie sichtbar sind, sind zu dick, um von einem Menschen zu sein, und zu lang, um von einer Katze zu sein. Es ist naheliegend, daß es sich um einen braunen Hund handelt, der Dir bis zum Knie reicht. Du bist hier in einer für Dich wichtigen Sache hereingestürmt. Wäre etwas im Spiel, das für Erwachsene relevant ist, dann wären Deine Eltern hier erschienen. Dein Auftauchen spricht eher dafür, daß es um etwas geht, das nur für Dich wichtig ist, also etwas, an dem Du sehr hängst. Wie Dein Hund. Im Übrigen läuft ansonsten kaum jemand mit einer Hundeleine umher. Sie schaut aus Deiner Hosentasche heraus.“
„Ja, das stimmt alles, Meister Zoridan,“ rief der kleine Kerl, „mein Hund Fizo ist seit gestern Abend verschwunden. Normalerweise kommt er immer brav zurück, wenn ich ihn laufenlasse, und erst recht, wenn ich ihn rufe, aber ich bin bis zum Schlag der Nachtglocke aufgeblieben, und er kam nicht. Heute morgen bin ich durch die Straßen gelaufen, aber er war nirgends zu finden. Bitte, bringt mir Fizo zurück!“
„Der Meister hat keine Zeit für derart triviale Fälle“, versetzte ich barsch, um keine falschen Hoffnungen aufkommen zu lassen, „und außerdem kannst Du Dir seine Dienste ohnehin nicht leisten.“
Der Junge kramte in seiner Hosentasche und brachte drei Kupferstücke hervor, die er patzig auf den Labortisch legte. „Da!“
Zoridan schmunzelte und sah mich an. „Das erinnert mich an den Fall mit der entflogenen Katze, Aigon. Hast Du den nicht anfangs auch als trivial erachtet?“
„Es war eine Katze
,“ gab ich zu bedenken.
„Eine besondere Katze, immerhin…“ Und an den jugendlichen Möchtegern-Auftraggeber gewandt, fügte er hinzu: „Ich kann wohl nicht davon ausgehen, daß dieser Hund etwas Besonderes darstellt – außer für Dich?“
„Es ist mein
Hund, und ich mag ihn,“ gab der Junge fest zurück.
„Dann wäre ja alles geklärt,“ meinte Zoridan leichthin und gab ihm zwei der Münzen zurück. In diesem Moment war ich bereit, all den Theorien über seinen baufälligen Geisteszustand Glauben zu schenken. Sollten wir künftig hinter entlaufenem Getier, verlorenen Schlüsselbunden und verlegten Bleistiften her sein?
„Aigon, nimm den Namen und die Anschrift auf, damit wir im durchaus unwahrscheinlichen Erfolgsfall den Kunden benachrichtigen können,“ wies er mich an. Ha, er hatte sich wohl noch einen Rest an Realismus bewahrt.
„Mein Name ist Thiko Hunalded, mein Hund heißt Fizo, und ich wohne in der Kesselflickerstraße 7,“ zählte unser neuer Kunde auf. Naja, ein aufgeweckter Bursche, alles in allem. Ich notierte die Angaben widerwillig. Thiko bedankte sich schon einmal vorab überschwänglich und zog dann ab. Er schien wirklich zu glauben, daß wir das Tier ohne den geringsten Anhaltspunkt wiederbeschaffen konnten. Armer Kerl.
Am nächsten Morgen war es nicht mehr Thiko, den ich bedauerte, sondern mich selbst. Hatte ich anfangs noch gedacht, Zoridan hätte die Angelegenheit über Nacht vergessen, so wurde ich rasch eines Besseren belehrt. Er brauchte jemanden, der die Straßen um die Kesselflickerstraße herum absuchte, und dafür hatte er den Richtigen – mich.
Natürlich war der Hund nirgends zu finden. Auf den Straßen tummelten sich Bettler, Katzen, Ratten, Fuhrwerke, Passanten (manche mit angeleinten Hunden), Reiter, Kutschen und sogar streunende Hunde, aber es war kein brauner, langhaariger in der richtigen Größe dabei. Für einen Moment erwog ich, irgendeinen anderen Hund zu schnappen und dem Jungen als Ersatz zu geben, aber ich wusste, Zoridan würde das nicht gutheißen.
Als die Sonne hoch stand und ich schon auf dem Rückweg war, kam er mir entgegen und fragte leutselig: „Nun, was hast Du herausgefunden, Aigon?“.
„Der Hund ist nicht auffindbar,“ gab ich zähneknirschend zurück.
„Du wirst schon sehen,“ erwiderte Zoridan, von grundlosem Optimismus erfasst, „und wo wir schon einmal in der Gegend sind, können wir uns ja ein wenig umsehen.“
Was hatte ich wohl den ganzen Vormittag getan?
Wie dem auch sei, wir spazierten einmal um den Häuserblock und gingen damit die Kesselflickerstraße, die Kesselgasse, die Straße der Leuchtenden Kessel und die Küfergasse entlang. Kein Hund in Sicht. Schließlich wurde es selbst für Zoridan etwas ermüdend. Auf dem Rückweg kamen wir abermals durch die Straße der Leuchtenden Kessel, wo ihm ein Durchgang zur Rückseite der Häuserreihe auffiel, der zuvor geschlossen gewesen war. Der Gründlichkeit halber bestand er darauf, ein Blick hineinzuwerfen, also traten wir ein. Aus dem Schatten des Tores kam uns ein Mann mit einem beladenen und abgedeckten Handwagen entgegen.
Zoridan, der sich nicht mit Höflichkeiten aufhielt, wenn er sich auf einer Spur wähnte, zupfte an der Decke, welche die Last des Wagens verbarg. Statt eines Hundekadavers oder anderen verdächtigen Dingen lagen jedoch nur etliche abgeschnittene Pflanzen darin. Ich vermochte sie nicht alle zu identifizieren; es waren wohl Farne, Gräser, aber auch einige Rosen darunter.
„Hier gibt es nichts,“ konstatierte ich, doch Zoridan war wieder einmal anderer Meinung. Er überredete den Burschen, uns gegen ein paar Münzen zwei der Rosen zu überlassen. Ich wusste zwar nicht, was der Magier mit Blumenabfall wollte, der wohl von dem Beet im Innenhof stammte, aber er hatte mich schon des öfteren mit seinen sprunghaften Schlussfolgerungen verblüfft.
„Ganz nett, wie?“ ließ sich der Karrenmann vernehmen, während er die Plane des Wagens festzurrte. „Die sind von Herrn Muirgius. Eigene Züchtung.“
„Ungewöhnlich groß,“ erwiderte Zoridan.
„Ach, Ihr kennt Euch mit Rosen aus? Nehmt Ihr etwa auch an dem Wettbewerb teil?“
„Von einem Wettbewerb ist mir nichts bekannt,“ antwortete mein Meister etwas pikiert, „allerdings habe ich früher selbst einmal Rosen gezüchtet – die Bleiche Lyndzia
, falls Euch das etwas sagt.“
„Leider nicht, aber Muirgius dürfte sie kennen. Er beschäftigt sich schon seit Jahren mit der Blumenzucht und rechnet sich wohl große Chancen aus, endlich zu gewinnen. Aber was stehe ich da und schwätze… ich muß weiter. Einen guten Tag, die Herren.“
Mit diesen Worten packte er entschlossen den Griff des Handwagens und machte sich auf den Weg.
„Würdet Ihr mir zustimmen, daß diese Rosen nichts mit dem vermissten Hund zu tun haben?“ fragte ich Zoridan vorsichtig.
„Auf den ersten Blick nicht,“ räumte er ein, „nach der Theorie der universellen Verknüpfung lassen sich aber sogar bei derart scheinbar unabhängigen Erscheinungen über mehrere Stufen hinweg Bezüge aufbauen, die…“
„Natürlich kann man alles
in einen Bezug zueinander bringen, wenn man es nur will,“ unterbrach ich grimmig. Der Alte konnte einfach nicht zugeben, auf einer toten Fährte zu sein.
Unbeirrt ging er jedoch weiter durch den Gang, der zum Innenhof des Häuserblocks führte. Auf der rechten Seite befand sich ein Blumenbeet, die Mitte war gepflastert, und zur Linken stand eine Art kleines Glashaus mit einem Schuppen dahinter. Hinter dem trüben Glas ließen sich Äste und Farnwedel ausmachen.
Zoridan schritt schnurstracks auf die Konstruktion aus Holz und Butzenglas zu. Zunächst starrte er durch die Scheiben, und als sich eine Gestalt dahinter abzeichnete, klopfte er an.
Tatsächlich öffnete nach kurzer Zeit ein gutgekleideter Herr in grünem Wams, dreiviertellanger beiger Hose, Stiefeln und einem braunen Überwurf.
„Bitte entschuldigt die Störung,“ begann Zoridan, „aber habe ich die Ehre mit Herrn Muirgius?“
„Das habt Ihr wohl,“ gab dieser lächelnd zurück. Nun, bei halb geöffneter Tür, vermochte ich allerlei Pflanzen hinter ihm auszumachen, darunter auch die gleichen blaßroten Rosen, derer wir schon vorhin angesichtig geworden waren.
„Mein Name ist Garren Zoridan, und dies ist mein Adept Aigon Styrkat,“ stellte mein Meister uns vor, „ich habe zufällig Eure wunderbaren Rosen bemerkt, als sie abtransportiert wurden, und das hat mein Interesse geweckt.“
„Ach, das ist noch gar nichts,“ winkte Muirgius ab, „die wahren Prachtstücke wachsen hier drüben.“ Er zeigte nach hinten. „Aber Moment… Zoridan… seid Ihr nicht derjenige, welcher die Bleiche Lyndzia
gezüchtet hat?“
„In der Tat,“ stimmte der Angesprochene zu, „ es liegt allerdings schon geraume Zeit zurück.“
Muirgius bat uns herein, und es verging erst einmal einige Zeit, in der sie sich gegenseitig beglückwünschten und über die Rosenzucht fachsimpelten. Dem Gespräch lauschte ich nur mit halbem Ohr. Ich hörte schließlich heraus, daß sich der Rosenexperte nach seiner Lehrtätigkeit an einer geringeren arkanen Gilde einer Gruppierung von Ruheständlern angeschlossen hatte, die Rosen züchteten und jährlich einen Wettbewerb um die schönste oder größte Rose veranstalteten. Dafür hatte er eigens das Treibhaus gebaut, jedoch bisher keinen Preis zu erhalten vermocht.
Am anderen Ende des rechteckigen Gebäudes, das etwa 15 Schritte in der Länge und ungefähr die Hälfte in der Breite maß, schloß sich, wie gesagt, ein hölzerner Schuppen an. Etliche Gartengeräte lehnten an der verschlossenen Tür. In einer Ecke wucherten Farne, die mir bis zur Brust reichten.
Die feuchte Hitze in diesen Glaswänden erschien mir ausgesprochen sommerlich, wohl ideal für die Entwicklung der Pflanzen. Um mir etwas Kühlung zu verschaffen, sah ich mich nach einem Wassereimer um – schließlich musste hier ja auch gegossen werden! Mir fiel aber nur eine kleine Glasflasche mit einer klaren Flüssigkeit ins Auge. Alkohol? Nun, warum nicht…
Ich entkorkte sie vorsichtig und roch daran. Ein scharfer Geruch ging davon aus. Das war fürwahr kein Branntwein! Schon wollte ich das Gefäß wieder wegstellen, als unser Gastgeber seinen Vortrag unterbrach und verärgert herbeieilte.
„Guter Mann! Vorsicht mit dem Prüfmittel!“ Rasch nahm er mir die Flasche aus der Hand.
„Es scheint sich zu lohnen,“ merkte ich an, „Eure Rosen sind von außergewöhnlicher Größe.“
„Nicht wahr?“ meinte er stolz. „Daneben wird selbst die Rosa majestica
verblassen.“
„Nennt sie doch Rosa monstrosa
,“ brummte ich.
Er erstarrte.
„Nur ein Scherz meines Adepten,“ zischte Zoridan und schleifte mich hinaus.
„Gutes Benehmen ist die Grundlage einer arkanen Gesellschaft,“ zitierte er dort freihändig aus dem Grundlagenwerk des Ersten Segments, dem Divergentium
.
„Ihr habt recht, das war unhöflich von mir, Meister,“ gab ich zu.
Schweigend kehrten wir in die alte Mühle zurück, die unser Heim war. Und auf dem ganzen Weg sah ich nirgendwo einen Hund.
Der nächste Tag brachte uns zwar keinen Hund, aber dafür eine Dame, was so lange erfreulich war, bis wir den Grund ihres Besuchs erfuhren. Sie war mittleren Alters, trug einige Ringe, ein strenges, hochgeschlossenes Kleid im Stil des niederen Adels und wirkte niedergeschlagen, aber gefasst.
„Falls ich Euch nicht störe, Magus Zoridan, möchte ich unverzüglich zur Sache kommen,“ sagte sie, kaum daß sie hereingetreten war. Dieser bot ihr mit einem Wink einen Stuhl an.
„Ich bitte darum; nachdem Ihr in dieser dringlichen Sache bereits Ungelegenheiten mit der Kutsche hattet, möchte ich Euch nicht länger von Eurem Bericht abhalten.“
Sie musterte ihn erstaunt. „Woher wisst Ihr von der Kutsche?“
Er erwiderte gelassen ihren Blick. „Eure Angelegenheit ist eilig genug, daß Ihr beim Ankleiden nicht bemerkt habt, daß Euer Gürtel verdreht ist. Euer Schuhwerk ist nicht für längere Wege gemacht, und Ihr wirkt begütert genug, um gewöhnlich eine Kutsche zu benutzen. Dennoch sind Eure Stiefelspitzen abgestoßen und Eure Haare vom Wind zerzaust, so daß ich davon ausgehe, daß Ihr gerade heute nicht
mit der Kutsche gefahren seid.“
„Nun, wenn Ihr dies so einfach zu folgern vermögt, dann wird es Euch auch ein Leichtes sein, meinen Mann wiederzufinden,“ erwiderte sie spitz. „Mein Name ist übrigens Jillia Gyrantys, und der Vermisste heißt Oranduin.“
Zoridan gab mir ein Zeichen, dies zu notieren. „Seit wann wird er vermisst?“
„Seit gestern am späten Nachmittag. Er wollte nur Schreibpapier einkaufen und einen Bekannten besuchen. Es ist noch nie passiert, daß er über Nacht weggeblieben ist. Oranduin ist sehr häuslich… es sei denn…“
„Ja, bitte? Jedes Detail ist wichtig, gleichgültig wie nebensächlich es Euch erscheinen mag.“
„Es gibt da eine neue Nachbarin namens Misilveva Nychel, die in der Burggasse – das ist schräg gegenüber von unserem Grundstück – eingezogen ist. Sie haben sich mehrmals unterhalten, und ich kann nur hoffen, daß er dieser Person nicht ins Netz gegangen ist!“
„Gibt es außer der Unterhaltung noch einen weiteren Verdacht gegen sie?“
Jillia Gyrantys zögerte, sprach dann aber doch. „Nun, sie ist eine Magierin mit schlechtem Leumund. Manche sagen gar, sie sei der Hexerei zugetan. Vielleicht kennt mein Mann sie sogar von früher – er hat in seiner Praxis als amtlich bestellter Bannkreisprüfer natürlich eine Menge Leute kennengelernt. Inzwischen ist er aber im Ruhestand.“
„Hm…“ Zoridan stand auf und ging einige Schritte auf und ab. „Hörensagen ist freilich keine ordentliche Grundlage für Schlussfolgerungen. Ich werde mir ein eigenes Bild von der Sache machen. Wer war übrigens der Bekannte, den Euer Mann aufzusuchen gedachte?“
„Ach, es war ein Rosenzüchter wie er: Nathon Muirgius. Er wohnt in der Straße der Leuchtenden Kessel,“ antwortete sie.
„Der Mann ist mir bekannt,“ erklärte Zoridan, „ich habe ihn selbst erst gestern kennengelernt. Ein Experte, was die Rosenzucht angeht.“
Frau Gyrantys zuckte mit den Schultern „Dennoch hat er noch nie mit seinen Züchtungen gewonnen. Aber war Oranduin vielleicht bei ihm?“
„Nein,“ gab der Magier bedauernd zurück, „ich vermute aber, daß wir vor ihm dagewesen sind. Es war erst nicht lange nach der Mittagsglocke, als wir dort eintrafen.“
„Ihr werdet den Fall also übernehmen?“ hakte sie nach.
„Es ist zwar zur Zeit nicht mein einziger Fall…“ murmelte er. Ich räusperte mich vernehmlich, und er fuhr fort: „Aber die anderen haben nicht diese Bedeutung.“
Ohne weitere Formalitäten verabschiedete sie sich von uns und verließ die Mühle.
Ein vermisster Ehemann, das war etwas anderes als ein fehlender Hund. Ich konnte mir gut vorstellen, daß er bei einer solch kurz angebundenen Frau an einer ebenso kurzen Leine gehalten wurde und den Abend daher zu einem ausgiebigen Tavernenbesuch genutzt hatte, vielleicht sogar zusammen mit dem langatmigen Rosenzüchter.
Zoridans Überlegungen gingen, wie immer, in eine andere Richtung. Er stand vor der großen Stadtkarte und ging mit dem Finger die Straßen durch. Während die Burggasse mit der vermeintlichen Hexe in einem der besseren Viertel der Stadt lag, war die Straße der Leuchtenden Kessel bestenfalls mittelmäßig, wenn nicht untermittelprächtig zu nennen. Dort lebten überwiegend Handwerker, Gerber und einige Alchimisten. Derlei Gerüche waren natürlich nichts für die edleren Viertel. Nichts jedoch zog mich abermals zu jener Ecke.
„Ich würde vorschlagen, daß ich die erwähnte Dame aufsuche, während Ihr Eure Bekanntschaft mit Eurem Rosenzuchtkollegen vertieft,“ meinte ich mit nur recht wenigen Hintergedanken.
Zoridan lächelte dünn. „Genau umgekehrt werden wir’s machen,“ versetzte er, und da gab es keine Diskussion. Also trottete ich wieder in die Straße der Leuchtenden Kessel und gelangte sogar in den Innenhof, aber das Treibhaus war verschlossen. Nach einer Stunde Herumfragen erfuhr ich die Adresse von Muirgius. Natürlich wohnte er nicht im Treibhaus, sondern hatte eine Wohnung in Nr. 11.
Er war überrascht, mich wiederzusehen, aber nicht unfreundlich. Er bat mich sogar hereinzukommen. Die Wohnung war recht elegant eingerichtet und enthielt zahlreiche Bücher und Bilder über Pflanzen. Auch einige überwiegend verstaubte Werke, die auf seine frühere Tätigkeit hinwiesen, waren zu finden. Gyrantys war jedoch ganz offensichtlich nicht hier.
„Ich möchte Euch nicht lange aufhalten,“ begann ich, „aber seit gestern wird Herr Gyrantys, der Euch bekannt sein dürfte, vermisst. Hat er Euch aufgesucht?“
Der Rosenzüchter nickte. „Ja, er kam am frühen Abend, und wir unterhielten uns, wie Ihr Euch denken könnt, über den bevorstehenden Wettbewerb. Nach vielleicht einer Stunde verabschiedete er sich und brach auf. Er wollte wohl noch etwas in der Altstadt erledigen, glaube ich.“
So etwas in der Art hatte ich schon erwartet. „Ist Euch irgendetwas an ihm aufgefallen? Wirkte er vielleicht nervös?“
„Nein, nicht daß ich wüßte. Oranduin ist ein guter Freund von mir; bitte teilt mir mit, wenn Ihr etwas Näheres wisst. Ich hoffe nur, er ist nicht überfallen worden. Na ja, vielleicht hängt er auch nur irgendwo fest und schläft seinen Rausch aus.“
Ich notierte mir die Stichpunkte, aber eigentlich war ich kein Stück weitergekommen.
Muirgius nahm seinen Überwurf vom Haken. „Ich muß jetzt hinunter ins Treibhaus, um die Blumen zu gießen. Ihr könnt mich gern auf dem Weg begleiten.“
Auf der Treppe fiel mir ein, daß ich der Sorgfalt halber noch einen Blick in das seltsame Glashaus werfen konnte. Also ging ich mit ihm mit. Natürlich war der Vermißte auch hier nicht zu entdecken – alles sah so aus wie am Vortag. Während Muirgius eine Gießkanne unter einem Tisch mit Blumenkästen hervorholte und zu gießen begann, zupfte ich voller Gedanken am Farn herum. Was hätte mein Meister jetzt noch gefragt? Vermutlich hätten sie Rezepte für Dünger und Erde ausgetauscht. Allein der Gedanke regte mich auf.
Urplötzlich hatte ich das halbe Farnblatt in der Hand. Um den Blumenliebhaber nicht schon wieder zu ärgern, steckte ich es schnell weg, dankte ihm höflich für seine Auskünfte und kehrte in die Mühle zurück.
Zoridan traf erst am Abend ein. Der Besuch bei Frau Nychel schien ihn nicht erfreut zu haben. Er murmelte etwas von Tee und dem Divergentium
, bevor er sich eine Pfeife ansteckte und Rauchwolken erzeugte.
„Die Frau ist eine Scharlatanin, Aigon,“ gab er dann bekannt, „das ist schlecht für die Gilde der Seher, aber das ist ihr einziges Verbrechen. Sag, wie ist es bei Dir gewesen? Ich hoffe, Du kannst mehr Licht in die Sache bringen?“
Ich verneinte und trug mit Hilfe meiner Aufzeichnungen so genau wie möglich vor, was ich erlebt hatte. Schließlich erwähnte ich sogar den Farn, der noch immer in meiner Tasche steckte.
„Ziemlich tölpelhaft von Dir,“ grummelte der Magus, „aber zeig doch mal her.“
Ich händigte ihm das armselige Stück Grünzeug aus. Offenbar waren wir beide am Ende unserer Einfälle angelangt.
„Reich mir bitte mal die Lupe herüber,“ verlangte er schließlich, nachdem er das Kraut einige Zeit angestarrt hatte. Ich kam dem nach, und er fuhr fort, es von allen Seiten zu betrachten, als sei es etwas ganz und gar Ungewöhnliches.
„Das Botanik-Buch, Buchstabe M, bitte!“ Jetzt schien er eine Spur aufgenommen zu haben. Mit fahrigen Fingern blätterte er durch die Seiten, betrachtete die Zeichnungen mit der Lupe, verglich sie mit dem Farn, und hielt mir dann beides triumphierend hin.
„Erstaunlich,“ murmelte er, „ganz erstaunlich…“ Und dann sprang er auf. „Wie konnte ich das nur übersehen!“
Er nahm die beiden Rosen, die er dem Karrenmann abgekauft hatte, aus der Schublade, in die ich sie achtlos geworfen hatte, und führte einen Niedersegmentspruch aus: ein einfaches Erspüren von Magie. Obwohl – oder gerade weil - er nichts feststellte, erfüllte ihn das mit grimmiger Zufriedenheit, und in seinem Auge sah ich den alten Jagdsinn aufblitzen.
Zoridan warf sich einen Umhang über und zog die imprägnierte Holztruhe unter dem Beistelltisch hervor. Da ich wusste, daß er seine stärksten Spruchrollen dort verwahrte, wurde mir seine Entschlossenheit klar.
„Der Fall ist fast gelöst, Aigon, und es ist weitgehend Dein Verdienst!“ rief er aus, während er eine weiße und eine rote Schriftrolle in den Ärmel steckte. „Jetzt aber los – obwohl ich befürchte, daß wir zu spät kommen werden, um Gyrantys noch zu retten.“
„Wohin?“ fragte ich irritiert. „Und was gab es im Farn zu sehen, das Euch davon überzeugt hat, der Aufklärung der Sache nahe zu sein?“
„Es ist kein Farn,“ gab er knapp zurück und hastete die Treppe hinunter. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
Den größten Teil der Strecke zur Straße der Leuchtenden Kessel legten wir in einer Kutsche zurück, und dabei ergab sich gerade genug Zeit, mich halbwegs einzuweihen.
„Betrachtet man einen Verdächtigen, ergeben sich sogleich zwei wichtige Fragen: hatte er die Gelegenheit?
und hatte er ein Motiv?
“ dozierte er. „Ersteres können wir bei unserem Rosenzüchter mit Leichtigkeit bejahen, aber was es so schwierig machte, ihm auf die Schliche zu kommen, war das Motiv. Erst Dein Besuch bei ihm verschaffte mir die fehlenden Puzzlestücke. Von da an rückten sich plötzlich alle anderen Kleinigkeiten in ein anderes, bedeutenderes Licht.“
„Ich habe bei ihm nichts bemerkt, was irgendwie verdächtig gewesen wäre,“ meinte ich, „im Gegenteil, er war sogar recht zugänglich.“
„Weil er ein geschickter Blender ist, der es verstand, Deine – und vorübergehend sogar meine – Aufmerksamkeit abzulenken.“
„Bitte erläutert mir das näher, Meister,“ sagte ich, nicht zum ersten Mal, wie ich leider gestehen muß. Seine gedanklichen Winkelzüge waren eben nicht die eines normalen Menschen.
„In seiner Wohnung befanden sich zahlreiche Werke über Botanik. Das gibt einen Hinweis darauf, wie viel ihm das Thema bedeutet. Mehr noch – er hat es vorgezogen, in einer schlechten Gegend zu wohnen anstatt standesgemäß, wie es beispielsweise bei Gyrantys der Fall war. Ich gehe stark davon aus, daß er das günstige Viertel gewählt hat, um von dem gesparten Geld das Treibhaus und alles, was darin ist, zu finanzieren. Die Rosenzucht bedeutete ihm also alles. Andererseits war wohlbekannt, daß er damit nicht erfolgreich war. Die Frau seines Freundes und selbst der Mann, der den Müll rausbringt, wussten es. Jahrelang hat er unter seinesgleichen, den anderen Rosenzüchtern, somit keine Anerkennung für seine Leistungen erzielen können. Für einen einstigen Dozenten der Arkanologie eine Schmach sondergleichen. Was ist für eine Person mit fast krankhaftem Ehrgeiz und magischen Kenntnissen der offensichtliche Weg?“
„Sich seine Fähigkeiten für einen Betrug zunutze zu machen?“
„Genau, Aigon. Du hast gesehen – aber nicht beobachtet – daß ein Teil seiner arkanen Bücher verstaubt war. Im Umkehrschluß war also ein anderer Teil seiner Bücher staubfrei und damit in Benutzung. Solche Werke liest man nicht zur Erbauung, wenn man im Ruhestand ist. Er hat also an etwas geforscht. Und was könnte dies anderes sein als ein Mittel für perfekte Rosen?“
„Aber das wäre gewiß wettbewerbswidrig und würde den anderen Züchtern, von denen ja einige auch Magier sind, auffallen,“ wandte ich ein, „insbesondere, wenn er zuvor als erfolgloser Außenseiter galt.“
Zoridan nickte. „Deshalb hat er sich sich etwas Subtileres einfallen lassen. Er konnte die Rosen nicht direkt durch einen Zauber beeinflussen, dann wäre dies feststellbar gewesen. Unsere beiden Exemplare weisen auch keine entsprechende Signatur auf. Stattdessen… ah, da sind wir schon!“
Mit dem Schwung eines wesentlich jüngeren Mannes sprang er aus der Kutsche, kaum daß sie angehalten hatte, und marschierte direkt auf den Durchgang zum Innenhof zu.
Im Treibhaus brannte noch Licht, und er trat ohne zu Klopfen ein.
Muirgius fuhr erschreckt herum, entspannte sich aber, als er uns erkannte. „Habt Ihr noch einige Fragen zur Rosenzucht, Meister Zoridan?“
„Ich habe nur eine Frage,“ gab dieser kalt zurück, „wie könnt Ihr damit leben, Gyrantys der Kreatur in Eurem Schuppen vorgeworfen zu haben?“
Der Rosenzüchter erbleichte und wich zurück. „Wie habt Ihr das herausgefunden?“
„Ihr habt scheinbar grundlos gelogen, als mein Adept Eure Glasflasche öffnete. Es hätte alles darin sein können, sogar Rosenwasser, aber Ihr bezeichnetet es als Prüfmittel, damit wir nicht auf den Gedanken kämen, es wäre ein besonderer Dünger und erst recht nicht bemerkten, was es wirklich war: etwas zur Abwehr von Insekten. Erst heute morgen fiel mir ein, woher ich den Geruch kannte. Ihr habt hier ein magisch behandeltes Düngemittel hergestellt, welches den Rosen zu ihrem ungewöhnlichen Wuchs verhilft.“
„Ach?“ krächzte Muirgius. „Das könnt Ihr nicht beweisen.“
„Ich kann beweisen, was das
ist,“ erwiderte Zoridan unbewegt und deutete auf den Farn, „das ist Moos - in gigantischen Ausmaßen. Und ich denke, etwas von Eurem Extrakt kam mit einem Insekt in Berührung…“
„Sehr scharfsinnig!“ kommentierte der Rosenzüchter und spreizte die Finger zu einem mittleren Segmentspruch. Ein grauer Schatten raste auf uns zu, aber Zoridan hatte schon seine weiße Schriftrolle gezogen und konterte mit einem magiefreien Feld. Damit erlosch alle Magie im Umkreis von neun Schritt – auch das magische Licht.
Während wir im fast völligen Dunkel standen, hörten wir Muirgius fluchen, während er sich an der Schuppentür zu schaffen machte. Ich warf meinen Dolch, traf aber nur etwas Gläsernes, das klirrend zerschellte, und wollte hinterherstürmen, doch mein Meister hielt mich zurück.
„Die Flasche!“ schrie Muirgius auf. Ich konnte undeutlich erkennen, daß er ein Gartengerät, vielleicht einen Rechen, an sich nahm und sich durch die inzwischen halb geöffnete Tür gegen etwas zur Wehr setzte. Hastig versuchte ich meine Laterne zu entzünden, während grauenhafte Geräusche aus dem Schuppen an mein Ohr drangen. Dann verstummte der Rosenzüchter plötzlich. In diesem Moment der Stille leuchtete endlich meine Kerze auf, und ich sah ihn durch die Tür, wie er leblos in einem riesigen Netz hing. Dann schob sich erst ein, danach ein zweites gewaltiges, haariges Bein hindurch…
An mir vorbei glühte ein sengender Feuerstrahl, der die Riesenspinne zur Hälfte erwischte und den Schuppen zum Lodern brachte. Zoridan hielt noch die rote Spruchrolle in der Hand, als ich mich zu ihm umdrehte. Wir zogen uns zurück und beobachteten, wie das unselige Treibhaus samt dem Schuppen niederbrannte. Nichts entkam.
„Gyrantys muß Verdacht geschöpft haben, als er Muirgius besuchte,“ meinte Zoridan später, als wir der Stadtwache den Vorfall erklärten, „und dieser stieß ihn dann wohl einfach in den Schuppen. Dort teilte er sein Schicksal mit dem kleinen Fizo, mit dem die Kreatur zuvor gefüttert worden war.“
Die Wache hatte nämlich in den Trümmern neben der Leiche des Züchters und des Vermissten auch Knochen eines Hundes gefunden.
„Aber was hat Euch den ersten Verdacht schöpfen lassen?“ fragte ich schließlich.
„Die Position der Gartengeräte vor der Schuppentür,“ gab Zoridan lächelnd zurück, „offenbar sollten sie nicht nur optisch vom Schuppen ablenken, sondern auch für etwas anderes Platz machen.“
Tag der Veröffentlichung: 30.10.2009
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