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Prolog



Mary saß auf einem Baumstamm und überlegte. Sie überlegte, ob es wirklich so war, dass die Wölfe ausgestorben waren. Ob sie nur so gestorben, wie man es ihr früher erzählt hatte, oder gnadenlos zu Tode gehetzt worden waren. Ihre Familie hatte sie schonen wollen. Sie hatten ihr nicht die Wahrheit gesagt, weil es damals noch zu hart für sie gewesen wäre. Und selbst nun war es das noch. Erschütternd. Grausam. Beängstigend. Sie strich in Gedanken versunken mit ihren Fingern über die zerbröckelte Rinde. Sie fühlte sich warm und vertraut an. Der Wald gab ihr Schutz, schon seit ihrer Kindheit war sie gerne hier gewesen. Sie hatte dem Rauschen des Windes gelauscht, dem Rascheln der Blätter und dem Plätschern des kleinen Wasserfalls. Allerdings hörte sie nun etwas anderes. Laute Maschinen. Schreie der Fremden. Fremde, die ihr Zuhause zerstörten. Sah Rauch, der die Luft vergiftete. Sie zog den Gestank der Abgase durch ihre Nase ein. Nichts war mehr wie früher. Sie hatte das alles immer als selbstverständlich angesehen, aber das war es nicht. – und sie hatte sich gewünscht, dass das alles nie vorbei sein könnte. Dass dieser Wald immer so bleiben würde wie er war. Vertraut, geheimnisvoll und wie ein zweites Zuhause. Doch das war er nicht mehr. Und er würde auch niemals wieder so sein. Eine Träne rann ihr über die Wange, als sie daran dachte, und fiel zu den restlichen Tautropfen auf einem Blatt. Sie flossen zusammen, wurden eins, wie sie und der Wald. Sie richtete sich auf, ging in Richtung der ohrenbetäubenden, schrecklichen Geräusche. Auf Zehenspitzen schlich sie ihnen entgegen, leise, aber darauf bedacht, nicht gehört zu werden. Sie hockte sich hinter einen Busch und sah dabei zu. Mary sah dabei zu, wie alles vernichtet wurde. Die Maschinen zogen über die Stellen, an denen mal Bäume gestanden hatten. Bäume, die atmeten. Bäume, die lebten. Lebendes war nun tot. Hier war es voller Leben gewesen, jetzt war alles fort. Zurück blieben nur die Menschen, die vernichteten, die Maschinen, die zerstörten, die Abgase, die vergifteten. Sie hatte sich so gewünscht, dass sie das nicht sehen würde. Doch sie sah es. Und das war das Schlimmste für sie. Ihre Eltern hatten sie davon ferngehalten, hatten ihr nur das Schöne auf dieser Welt gezeigt, das Herzzerreißende hatten sie wohl vergessen. Sie hatte stets darauf bestanden, mehr zu sehen. Immer mehr, bis sie Mary alles Wunderbare auf der Welt gezeigt hatten. Doch sie hatte das Verlangen, mehr zu sehen – mehr von der Welt. Wäre es nur dabei geblieben, hätte sie das alles doch nie gesehen! Dabei war es nun zu spät. Man konnte ihr diese Erinnerungen nicht mehr nehmen. Marys Erinnerungen an die letzten Stunden, Tage, Wochen. Und in all dieser Zeit war es ihr miserabel ergangen. Weil Mary diese Erinnerungen verfolgten. Tag und Nacht musste sie daran denken. Sie wollte dem Wald helfen, wusste aber nicht wie. Sie fühlte sich hilflos. Bedeutungslos. Die großen Metallkolosse walzten den Wald nieder, sämtliches was ihr lieb gewesen war. Ausnahmelos beuteten die Fremden ihn aus, ohne Rücksicht auf das Wohlergehen der Lebewesen hier, selbstsüchtig.

Mary rannte fort. So schnell sie konnte, das Einzige was sie wollte, war weg. Einfach nur weg von hier, irgendwo anders hin, wo es schön war und wo man glücklich sein konnte. Sie stolperte über ein paar Wurzeln, rappelte sich aber auf und lief weiter. Äste und Zweige peitschten ihr ins Gesicht, Dornen zerrissen ihre Kleidung, der Wind zerzauste ihre Haare. Sie lief, bis ihre Beine sie nicht mehr tragen konnten und sie erschöpft auf die Knie sank. Ihre Hände zitterten, ihre Knie waren weich wie Gummi und schienen sie nicht mehr tragen zu können. Mary saß mitten im Schlamm und war entkräftet. Und da hörte sie es: Ein kleines Fiepen, ja, mehr ein Winseln von weit her, hinter den Büschen und Sträuchern. Es klang schmerzerfüllt, wie der letzte Schrei eines zu Tode gequälten Tiers, das voller Angst, zitternd hier irgendwo saß und seine letzten Laute von sich gab, bis es elendig verreckte. Sie rappelte sich auf, durchdrungen von Adrenalinschüben, und schleppte sich in die Gegend, aus der das Jaulen und Winseln gekommen war. Als Mary ihn dann sah, war sie hin und hergerissen zwischen Freude und Trauer, Glück und Pech. Ein Wolf hatte sich in einer Falle verfangen, die sich tief in seine Pfote gebohrt hatte. Wie konnte man nur so grausam sein? Ihr Herz machte einen Satz: Es gab also doch noch Wölfe! Sie schritt langsam auf ihn zu, um ihn nicht zu erschrecken, er aber fletschte die Zähne und fing an, wie wild zu knurren. Er richtete die Nackenhaare auf und machte einen Satz rückwärts, als Mary sich ihm näherte. „Ich will dir doch nur helfen...“, wisperte sie und streckte ihre Hand aus. Der Wolf wich noch einmal zurück. Er blickte sie an, als würde er sagen wollen: „Ich will deine Hilfe nicht. Ich brauche keine Hilfe von einem Menschen.“

Er knurrte erneut, dieses Mal jedoch wesentlich lauter. Eine letzte Drohung. Allerdings ließ sich Mary nicht beirren. Sie ging so nah an den Wolf heran, wie sie nur konnte, und versuchte, die Falle zu öffnen. Der Wolf musterte sie misstrauisch, mit einem Glanz in den Augen, als würde ein Fünkchen Vertrauen in ihm existieren. „So schaffe ich das nicht.“, flüsterte sie, die Finger blutig von den scharfen Kanten der Metallklaue. Der Wolf sah enttäuscht aus. Sie sah sich suchend um, hob einen geeigneten, dicken Stock vom Boden auf und klemmte ihn zwischen die Falle und die Pfote des Wolfes. Mit letzter Kraft hebelte sie sie auf und der Wolf war frei. Er blickte ihr noch ein letztes Mal in die Augen, dankbar und verwundert, und trabte dann tiefer in den Wald hinein.

Mary beschloss, ins Dorf zurückzukehren. Es war allmählich spät geworden. Vielleicht machten die restlichen Dorfbewohner sich schon Sorgen um sie.

Hoffnung



Als Mary in ihrem Dorf ankam, war es schon spät, so spät, dass jeder eigentlich schon längst geschlafen hätte. Es wäre still gewesen, bis auf den einen oder anderen Ruf einer Eule, die durch die Nacht flog, auf der Suche nach einer Maus oder anderen Kleintieren. Sie hätte ebenfalls im Bett gelegen, allerdings wäre sie wach geblieben – wenn auch unfreiwillig – denn sie hätte über die Ereignisse und die Begegnung mit dem Wolf nachgedacht. Aber soweit sollte es gar nicht kommen. Der Häuptling hatte eine Dorfversammlung einberufen. Mary hörte schon von Weitem die Trommeln, die in verschiedenen Rhythmen angeschlagen wurden – manchmal war es eine Art Pam-Pam-Pam, mal ein Tock-Tock.

Als sie zum Dorfplatz lief, konnte sie die Schreie der Dorfbewohner vernehmen, wie sie durch die kleinen schiefen Häuser hallten. Mary hockte sich hinter eines dieser Häuser und begann, zu lauschen. Langsam wurden die Trommeln leiser, die Schreie verstummten, und der alte, weise Häuptling begann, zu sprechen:

"Meine lieben Dorfbewohner, ihr wisst, dass seit einiger Zeit große Maschinen unsere Umwelt bedrohen. Die Bäume, die uns Schutz geben, werden abgeholzt, die Flüsse, aus denen wir unser Trinkwasser gewinnen, werden vergiftet." Ein Raunen ging durch die Menge. "Und nicht nur wir sind davon betroffen, auch die etwas abgelegenen Waldgebiete. Die Tiere flüchten immer weiter fort, sie ziehen weg von uns, das ist kein gutes Omen.", fuhr er fort, "Sie wissen nicht, was sie da tun..." Einer der Dorfbewohner, ein Mann mit braunem, zerzaustem Haar rief dazwischen: "Der Mensch fürchtet sich vor dem Neuen, Ungewissen. Er hat Angst vor den Dingen die er nicht kennt, will keine Veränderungen. Aber was ist, wenn das, was diese Leute tun, gar nicht so schlimm ist, wie es den Anschein hat?" "Genau!", sagten die Dorfbewohner alle durcheinander und plötzlich wollte jeder wissen, woher der Häuptling denn wissen würde, dass das ganze mit einer schlechten Absicht geschah. "Was, wenn wir uns alle irren und diese Menschen die Natur aus einem triftigen Grund zerstören?", fragte einer der Anwesenden. Der Weise aber schüttelte den Kopf und entgegnete: "Nein! Wir leben im Einklang mit der Natur, warum sollten das andere Geschöpfe auf dieser Welt denn nicht können?" Stille. Er konnte überzeugend klingen, wenn er das wollte, und Mary war sich sicher, dass genau dies so ein Moment war. "Also!", sprach er, "Die Wölfe sind ausgestorben. Wegen Menschen wie ihnen. Ich

habe es miterlebt, nicht ihr! Ich

musste mit ansehen, wie das frühere Dorf, das prächtige Eigen meines Vaters, niedergemacht wurde. Hunger überkam uns, große Not herrschte hier, und warum?" Er hielt inne. "Warum?", riefen ein paar seiner Anhänger im Chor. "Weil wir so dachten wie ihr! Darum! Wir haben das Dorf den Menschen überlassen und diesen Fehler mag mein Vater gemacht haben - aber ich mache ihn nicht noch einmal!" Mit diesen Worten war die Versammlung beendet. Die Fackeln wurden gelöscht und man ging schlafen.

Leise kroch Mary aus ihrem Versteck. Sie fragte sich, ob der Häuptling nun etwas unternehmen würde. Große Reden schwingen konnte er ja schon immer, aber ob er nun wirklich etwas tun würde? Sie wagte sich, das zu bezweifeln, als sie zu ihrem Haus ging. Ihr Großvater würde sicherlich noch wach sein und ihr Fehlen wäre nicht unbemerkt geblieben. Und so war es auch:

Als Mary die Tür öffnete, sah sie Großvater Kahran am Tisch sitzen, doch schon als er sie erblickte sprang er auf. "Wo warst du denn schon wieder, Mary?" Sie antwortete nicht, sondern blickte auf den Boden. "Du weißt, du sollst nicht alleine rausgehen, wenn diese Menschen..." Sie hörte gar nicht weiter zu. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie ein Loch in den Boden gestarrt hatte? Vielleicht würde sie ja darin versinken, wenn sie sich anstrengte. Doch je mehr sie sich bemühte, sie schaffte es nicht, auch nur einen Kratzer in den Boden zu ritzen.

"...und deswegen denke ich das. Hörst du mir überhaupt zu, Mary?", sie schaute in Kahrans Augen, wusste dass es ein Fehler gewesen war, denn Kahran konnte sofort sehen, dass sie nicht aufgepasst hatte. "Nun fängt die Standpauke wieder von vorne an...", dachte Mary. Sie seufzte. Kahran hatte sie aufgenommen, seitdem ihre Eltern nicht mehr von der Jagt zurückgekehrt waren. Er war der Einzige gewesen, der sich wirklich für sie interessiert hatte, dafür war Mary ihm auch dankbar. "Was soll ich mit dir nur machen, Mary, was soll ich nur machen?" Er schüttelte den Kopf, dann murmelte er etwas Unverständliches, bevor er sprach: "Wenn du schon alleine rausgehst, nimm weningstens jemanden mit." "Und wen soll ich bitteschön mitnehmen?", murmelte Mary, während sie an ihm vorbeiging. "Keine Ahnung. Irgendwen. Oder reichen die Anderen hier nicht?", hörte sie ihn von hinten. "Nein.", dachte sie, "Nein, denen vertraue ich definitiv nicht mein Geheimnis an.", sie stieg die knarrende Holztreppe hinauf, "Der Wolf wird wahrscheinlich nicht wiederkommen, aber wenn ich dann noch jemanden mitbringe, wird er sich garantiert nicht mehr zeigen!"

Mit diesen Worten erklamm sie die letzte Stufe und somit ihr Zimmer. - Den Dachboden.

Eigentlich war der Dachboden gar nicht ihr Zimmer. Sie hatte hier gar kein Zimmer. Das war nicht ihr Zuhause. Sie und ihre Eltern waren nicht sesshaft gewesen, sie waren von Dorf zu Dorf gezogen, aber ihr Vater hatte immer gesagt: „Dort, wo du mit der Familie zusammen bist, dort ist dein Zuhause.“ Nun hatte sie nur noch Kahran, lebte in einer engen, kleinen Hütte und aß jeden Abend das Gleiche. Wie eintönig das Leben doch gewesen war... Bis jetzt. Sie lief ein bisschen in ihrem Zimmer hin- und her. Der alte Holz-Boden knarrte unter ihren Füßen. Hinten in der Ecke – allein und verlassen – stand das Bücherregal mit den zerfledderten, zerlesenen Romanen, die sie noch nie gelesen hatte, der zerkratzte Schreibtisch in der Ecke, kein Kratzer stammte von ihr selbst, das Himmelbett am Fenster. Dieser Raum hatte eine eigene Geschichte, aber es war zum größten Teil eine Fremde, eine, die sie nicht kannte.

Mary schmiss sich auf das mit Stoff überzogene Heubett und kuschelte sich in das Kissen. Ob der Wolf sich noch einmal zeigen würde? Ob sie sich das alles nur eingebildet hatte? Wahrscheinlich. Wölfe waren seit mehreren Jahrzehnten ausgestorben, das wusste jeder im Dorf. Aber es könnte doch sein, das das gar nicht stimmte...? Sie würde sich auch zurückziehen, würde sie gejagt werden, würde sich verstecken. In einer kleinen Höhle vielleicht, oder irgendwo in einem der unbewohnten Gebiete, wo nie jemand hinkam? Sie hätte sich sicherlich auch nicht gezeigt. Allerdings wäre sie auch nicht so weit zu den Maschinen gelaufen, dass sie in Sichtweite wäre und in eine Falle tappen könnte.



Mit diesen Gedanken schlief sie ein. Und Mary träumte, träumte von einer Welt, in der es nur Wölfe gab, nur Frieden und Freude. Auch wenn sie wusste, dass es in ihrer Welt nicht so war... und auch nie sein könnte. Sie war die Einzige, die noch an die Wölfe glaubte. Nur sie. In ihrem Traum tanzten Blätter über den Himmel, im Hintergrund Bäume. Viele, wunderschöne Bäume mit allen Arten von lecker aussehenden, exotischen Früchten daran. Wölfe kamen in Scharen aus dem Wald, der sich ihr zeigte, angeführt von dem Wolf von dem heutigen Tag, der seinen Kopf elegant in die Höhe streckte. Die restlichen Wölfe folgten ihm mit der selben Eleganz. Hinten an lief eine junge Frau mit einem hirtenstabartigen Stock aus einem silbernen Material, das so glänzte, wie Mary es noch nie gesehen hatte. In der Mitte war ein Kristall eingefasst, ein Sonnenstrahl durchbrach die Wolkendecke, strahlte durch diesen Edelstein und fiel zu Boden. Aus der Stelle, auf die der Lichtschein fiel, wuchsen Blumen, bunte, wilde Blumen. Sie öffneten sofort ihre Blütenblätter, als wollten sie dem Mädchen und dem Wolfsrudel „Hallo!“ sagen. Doch dann fingen sie an zu Welken, wurden braun. Die paradiesischen Früchte an den Bäumen fielen hinab, waren noch nicht reif, ungenießbar. Schüsse fielen. Wölfe fielen zu Boden, der Rest des Rudels verteilte sich panisch überall, alle liefen durcheinander. Immer wieder brachen weitere Tiere zusammen, die Frau wedelte mit dem Stab, es versuchte, die Menge zusammenzutreiben und zu beruhigen. Als sie schließlich auch angeschossen wurde, rannten alle Wölfe um ihr Leben. Nur einer nicht. Der Anführer der Wölfe, der größte und prächtigste unter ihnen, lief zu ihr, warf sich schützend auf sie, ein Mensch kam hinzu, mit einem Messer, streckte es ihnen entgegen und...



Schweißgebadet schlug Mary die Augen auf. Sie schluchzte. Warum träumte sie nur sowas? Ach ja, vielleicht machte sie sich Sorgen um den kleinen Wolf? Das Mädchen bemerkte, dass es zitterte. Es setzte sich langsam auf. Sein Atem wurde langsamer, sein Herzschlag ebenfalls. Mary sah nach draußen, den Mond an, der die Dunkelheit erleuchtete und über den Horizont schwebte. Eine graue Gewitterwolke schob sich vor ihn, das Zimmer wurde wieder dunkel. Mary spürte die Einsamkeit und den Wind, der durch alle Ritzen pfiff, im Raum, ihr wurde kalt. "Es war nur ein Traum", flüsterte sie sich selbst zu, "also ist es nicht die Realität. Es ist nicht passiert. Träume sind Hirngespinste, in ihnen Verarbeitet das Gehirn Dinge, nichts mehr, nichts weniger. Das Gehirn ist überfordert mit den vielen Erlebnissen. ... Dann muss meins ja sehr überfordert sein." Sie betrachtete ein letztes Mal für diese Nacht die Bäume, ihre Blätter, die im Wind raschelten, und legte sich dann wieder hin. "Wen soll ich denn morgen mitnehmen? Ansonsten darf ich nicht hinaus, Kahran würde ihr Hausarrest erteilen und sie würde nie erfahren, ob der Wolf auch ein Hirngespinst gewesen war. Einbildung. Eine Gestalt aus Nebel, die ich sehe, die verschwindet, sobald ein kleiner Windhauch kommt. Verworren bildet sie sich aus Gedankenfäden, aus Sinnestäuschungen, sie war eine Einbildung, nichts weiter. Oder doch nicht...?" Ihre Gedanken schweiften ab, als sie die Augen schloss. Und sie meinte, ein lautes Wolfsheulen zu hören, als sie einschlief.

Am nächsten Morgen war Mary schon früh aufgestanden, um sich aus dem Haus zu schleichen. Den Traum hatte sie längst vergessen. Sie schnappte sich eine Jacke aus Leder und schlüpfte in ihre Schuhe. Leise öffnete sie die Tür, die ihr knarrend zeigte: Ich bin geschlossen.

"Mist!", fluchte sie in sich hinein. Sie rüttelte noch einmal. Als ob das etwas nützen würde! Auf einmal hörte sie eine Stimme: "Das musst du gar nicht erst versuchen." Das Mädchen drehte sich um. Kahran stand hinter ihm, schaute ernst und fuhr fort: "Mary, ich weiß, du bist kein Kind mehr. Du willst nach draußen und deine Freiheit genießen. Dein Vater war genau so." Ihr Vater war immer schon ein sehr empfindliches Gesprächsthema gewesen, doch trotzdem wollte Mary ihren Großvater nicht unterbrechen. "Er wollte die Welt erkunden, andere Länder und Kontinente bereisen, frei sein. Nicht wie ein Vogel im goldenen Käfig leben. Er war ein kleiner Wildfang." Er machte eine kleine Pause und lächelte. "Du bist genauso wie er. Ich bin stolz auf dich." Mary war überrascht. Sie atmete schwer.

"Du bist alt genug, um es

zu erfahren." "Was zu erfahren?", fragte sie skeptisch. "Unsere Bestimmung.", antwortete Kahran nachdenklich, "Die Heiler des Dorfes Heilen, der Häuptling kümmert sich um das Dorf und die Bewohner, die Jäger um das Jagen, hast du dich denn nie gefragt, was für eine vererbte Aufgabe unsere Familie hat?" Mary nickte: "Doch, das habe ich. Und was für eine ist es?" Kahran blickte wieder eindringlich auf sie ein: "Deine Mutter ist nicht von den Menschen erschossen worden. Also schon, aber nicht ohne Grund. Deine Mutter war eine Hüterin." "Eine was

?", wiederholte seine Enkelin. "Eine Hüterin, die Hüterin der Wölfe." Mary schaute ihn fragend an. Er erklärte: "Nun, die Hüter der Wölfe passen auf diese auf, die Wölfe vertrauen ihnen. Du kennst sicher Schafhüter, oder?" Er wartete nicht auf ihre Antwort, "Sie haben eine Art Herde, die anfangs aus 7 oder 8 Schafen besteht und mit der Zeit immer weiter wächst. Immer mehr Schafe schließen sich der Herde an oder sie kaufen sie, retten sie vor dem Schlachter und so weiter und so fort. Kannst du mir folgen?" Das Mädchen war sich nicht sicher, deshalb sah sie Kahran nur verwirrt an. "Genau so ist das mit den Wolfshütern. Sie können die Wölfe verstehen. Nicht, dass sie ihre Stimmen hören, sondern vielmehr können alle aus unserer Familie an der Haltung und den Augen der Wölfen sehen, was sie denken, wie sie wann reagieren... Aber mit der Zeit wirst du das selbst herausfinden. Ich bin schon alt, Mary, und mit dir der Einzige, der diese Gabe besitzt, nachdem deine Mutter erschossen wurde, also gebe ich das Amt an dich weiter."

"Großvater...", begann Mary, doch er lief in ein anderes Zimmer. Sie folgte ihm zögernd und erblickte ihn auf dem Boden liegend. Unter dem Holzschrank, in dem die Teller und Becher standen, holte er ein längliches, großes Päckchen hervor. Er streckte es ihr entgegen. Misstraurig nahm sie es an sich und riss das Papier weg. Als sie den Inhalt erblickte, erinnerte sie sich an ihren Traum. Es war der hirtenstabartige Stock aus dem silbernen Material und in der Mitte war der Kristall eingefasst. Mary bekam das mulmige Gefühl, dass sie dabei gewesen war, als ihre Mutter starb, behielt es aber für sich. "Das hier ist der Stab, der dich für die Wölfe als Hüterin erkennbar macht. Er ist Symbol für den Schutz, den du gibst. Vielleicht hast du deinen Partner schonn getroffen?" Ein Fremder im Wald würde doch sicher auffallen. Oder war es einer der Menschen mit den Maschinen? Der konnte ihr gestohlen bleiben.

Kahran sah das Blitzen in ihren Augen und redete schnell weiter: "Ein Wolf...?" "Woher weißt du, dass es noch einen Wolf gibt?", rief Mary erschrocken. "Du hast ihn also getroffen. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass es sie noch gibt. Hattest du nicht immer dieses Gefühl? Wir können sie spüren

, Mary. Es gibt Wölfe." "Wölfe?", Mary schaute sich um, "Ich dachte, da wäre nur einer..." Sie fühlte sich belogen. Warum hatte er ihr das nicht früher gesagt?!

"Nein, es gibt noch ein kleines Rudel, es hält sich jedoch versteckt, im Wald. Aber unentdeckt wird es nicht mehr lange bleiben, wenn die Menschen den Wald abholzen..."

Impressum

Texte: Das Titelbild habe ich im Zoo geschossen ;)
Tag der Veröffentlichung: 17.09.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich meiner Familie, die noch nicht einmal weiß, dass ich schreibe, meiner besten Freundin Mary, die mich immer unterstützt und meiner "großen Schwester" Staicy, die mich immer wieder ermutigt, wenn mir etwas nicht gelingt und immer für mich da ist.

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