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Teil 1 - Die Wiedergeburt

 

 

Er hatte die Banditen jetzt seit mehreren Wochen durch halb Alaska verfolgt. Beinahe jeden Tag war er auf eine niedergebrannte Farm, ein überfallenes Holzfällercamp oder tot am Wegrand zurückgelassene, fahrende Händler gestoßen. Die Truppe um Vincent Vargas hatte nicht die Angewohnheit Zeugen zurückzulassen.

Was Leonard Leech allerdings besondere Sorgen machte, war die Tatsache, dass immer öfter Stücke aus den Leichen herausgebissen worden waren, je weiter die Banditen und ihr Jäger die Zivilisation mit ihren Goldgräberstädten, Postkutschen und Saloons hinter sich zurückließen.

In seinem Job als Marshal, den er nach dem Bürgerkrieg angenommen hatte, war es seine Aufgabe, Kerle wie diesen Vargas zu jagen und ihnen Einhalt zu gebieten. Er hatte das schon viele Male erfolgreich getan und kein Problem damit. In gewisser Weise war es ehrlicher und ehrenhafter, als im Krieg für irgendeine Seite in die Schlacht zu ziehen und im Endeffekt nur für die sein Leben zu riskieren, die ohnehin schon alles hatten.

Er spuckte aus.

Solche Banditen wie die, hinter denen er jetzt her war, hatte er allerdings noch nicht gesehen. Hatten sie anfangs ihre Opfer schlicht und einfach über den Haufen geschossen, sahen die Leichen, auf die er jetzt stieß, sehr viel übler aus.

 

Immer waren die Kehlen zerfetzt, die Gesichter zerbissen, die Bäuche aufgeschlitzt und die Eingeweide waren auf einen Umkreis von mehreren Metern verteilt worden.

Und dann, vor einer Woche, hatte er das erste Mal das Fehlen von Gliedmaßen bemerkt. Zunächst war es nur vereinzelt vorgekommen, mal hier ein Arm, oder dort ein Bein, aber inzwischen war Leech sich sicher, dass es sich bei den Banditen um Kannibalen handelte.

 

Ob sie ihn schon gesehen hatten? Für eine Sekunde starrte er zu dem schwarzen, zyklopischen Höhleneingang hinauf, zu dem er Vargas und seine Leute verfolgt hatte. Er beobachtete, wie sich seine Atemwolken nach einigen Metern auflösten, lauschte dem Schlag seines Herzens. Dann stieg er von seinem Pferd und sank sofort fußtief in den Schnee ein. Er ärgerte sich nicht darüber, denn der Schnee würde ihn nicht behindern. Leech war sich sicher, dass das Gefecht in der Höhle stattfinden würde.

Er überprüfte die beiden großkalibrigen, fünfschüssigen Revolver. Von seinem Sattel löste er die Winchester und den Kavalleriesäbel. In die Klinge war sein Name eingraviert und darunter das Wort «Sergeant».

Er betätigte den Repetierhebel und lud eine Patrone in die Kammer. Dann begann er den Aufstieg.

 

Jetzt, als er es tatsächlich anging, wurde er sich bewusst, dass der Eingang der Höhle, den er von unten gesehen hatte, weiter entfernt war, als er zunächst angenommen hatte. Schritt für Schritt arbeitete er sich voran und hielt hin und wieder inne, um zu lauschen und nach oben zu spähen. Sie schienen keine Wachen aufgestellt zu haben. Sein Blick tastete über die unregelmäßig stehenden, winterkahlen Bäume, von rechts nach links und wieder zurück und blieb dann in der Mitte hängen.

Da war etwas. Irgendetwas passte nicht ins Bild. Er ging vorsichtig weiter, umrundete eine sterbende Birke, und dann sah er, was ihn stutzig gemacht hatte.

Zum einen war da der Pfad, der sich zur Höhle hinauf schlängelte. Die Fußspuren schienen, wenn Leech den aktuellen Schneefall mit einberechnete, erst wenige Stunden alt zu sein. Sie verrieten ihm ebenfalls, dass die Banditen ihre Pferde am Zügel geführt hatten, vermutlich um sicher zu gehen, dass die Tiere, die hier draußen fast so wertvoll waren wie ein Sack voll Goldnuggetts, sich beim Aufstieg nicht verletzten. Aber der Pfad und die Spuren waren nicht das eigentlich Aufmerksamkeitserregende.

Das, was Leechs Aufmerksamkeit erregt hatte, befand sich einmal links und noch einmal rechts neben dem Beginn des Pfades.

Die Gebilde waren zwei Mann hoch und sie bestanden zur Gänze aus Knochen. Leech war stehen geblieben, als er erkannt hatte, vor was er da stand. Er drehte sich einmal komplett um die eigene Achse und beäugte seine Umgebung konzentriert über den Lauf seiner Winchester. Als er sicher war, dass er nach wie vor alleine und unbeobachtet war, ließ er die Waffe sinken und trat an eines der Gebilde hin.

Der Rumpf der bizarren Anordnung aus, komplett von Fleischresten befreiten, Gebeinen hatte annähernd Pyramidenform mit einer Grundfläche von etwa einem Quadratmeter und reichte Leech bis an die Schulter. Dann schloss sich eine Art Fahnenstange an, die der Mitte des Gebildes entwuchs. Von dieser zweigten einzelne Verästelungen ab, deren jeweilige Enden von aufgesteckten Schädeln markiert wurden.

 

Was Leech als Nächstes auffiel, war, dass es sich nicht ausschließlich um menschliche Gebeine handelte. Er konnte die Brustkörbe, Wirbelsäulen, Oberschenkel und Unterschenkel und weitere Schädel von Wölfen, Bären, Elchen, größeren Vögeln und anderem Getier ausmachen.

Nach unten hin, so verriet ihm der Verwitterungszustand der Gebeine, wurde diese älter. In Bodennähe waren die Knochen sogar schon derart verwittert, dass Leech spätestens jetzt sicher war, dass es nicht Vargas und seine Leute gewesen waren, die die morbiden Wegmarkierungen aufgestellt hatten. Aber wer dann? Indianer? Wie alt mochten sie sein?

Der linke Knochenturm bot einen ähnlichen Anblick. Der Marshal rieb sich die Augen. Wenn er zu genau hinsah und versuchte die Symmetrie der Gebilde, die einer merkwürdigen, ihm unbegreiflichen Gesetzmäßigkeit zu folgen schien, zu ergründen, überkam ihn ein leichter Schwindel.

Er schüttelte das ungute Gefühl ab, fasste seine Winchester fester und begann denn Aufstieg. Wie es die Eigenart natürlich entstandener Pfade war, so führte auch dieser auf dem einfachsten Weg zum Höhleneingang hinauf, wie ihn auch ein erfahrender Trapper nicht besser hätte wählen können. Elegant umrundete der Pfad Felsen und schnitt einen Bach an dessen schmalster Stelle, sodass Leech mit einem großen Schritt problemlos auf die andere Seite gelangen konnte.

Neben dem Verlauf des Pfades, der alle zehn Meter von weiteren der unheimlichen Knochentürme gesäumt war, galt Leechs Aufmerksamkeit den Spuren im Schnee zu seinen Füßen.

 

Bis jetzt hatte noch keiner von Vargas Männern den Pfad verlassen. Diese Tatsache beruhigte Leech. So war er sicher, dass ihm niemand in den Rücken fallen konnte. Dennoch verspürte er, vor allem in der Nähe der Knochentürme, den Drang sich umzudrehen. Einmal meinte er sogar, knirschende Schritte im Schnee weiter unten zu vernehmen. Nachdem er mehrere Minuten lauschend und spähend abgewartet hatte, ob da tatsächlich jemand hinter ihm den Pfad entlang kam, gestand er sich ein, dass er wohl ein Opfer seiner eigenen Anspannung geworden war.

 

Er hatte den Pfad jetzt zu drei Vierteln erklommen. Er würde ihm noch einige Meter folgen und ihn dann verlassen. Er konnte sich nicht sicher sein, aber er nahm an, dass man das letzte Stück des Weges vom Höhleneingang aus überblicken konnte.

Es wäre ein jämmerlicher Tod, von einem der Banditen aus dem Dunkel der Höhle heraus abgeknallt zu werden wie ein Hund, ohne auch nur die geringste Chance gehabt zu haben, dass Feuer zu erwidern. Aber um so etwas zuzulassen war er zu sehr Veteran vieler Schlachten und Scharmützel.

Direkt neben einem, dem achtzehnten Knochenturm, den er gezählt hatte, verließ Leech den Pfad.

Er arbeitete sich vorsichtig voran. Der Schnee war hier, abseits des Pfades, etwas tiefer und bald schwitze er unter seinem schweren Reitermantel und dem Stetson. Er zwang sich, langsamer zu gehen, damit er kein Seitenstechen bekam und seine Atemzüge nicht zu laut werden würden.

Nach einer Viertelstunde hatte er sich auf die Höhe des Eingangs gebracht und näherte sich ihm vorsichtig von der Seite, unsichtbar für einen möglichen Wachtposten, zumindest, bis er den Lauf seiner Winchester herumschwenken und eintreten würde.

 

Als ihn noch fünf Meter von seinem Ziel trennten, pausierte er. Er streckte seinen schmerzenden Rücken durch, versuchte, seine Muskeln zu lockern. Der Eingang wurde von zwei weiteren der Knochentürme eingefasst, nur das diese noch größer und beeindruckender waren, als die, die er am Pfad gesehen hatte. Er hatte schon mehrere Male indianische Ritualplätze gesehen oder auch die Friedhöfe der Huronen, und jedes Mal war er von einer Art Respekt erfüllt gewesen, wie er ihn auf ähnliche Weise verspürte, wenn er eine Kirche betrat, und das, obwohl er seit den Erfahrungen die er im Krieg gemacht hatte, seinen Glauben verloren zu haben glaubte. Aber das hier löste keine Gefühle von Respekt oder gar Ehrfurcht aus.

Wenn er tief in sich selbst hineinhorchte, spürte er lediglich instinktiven Widerwillen, gewürzt mit einem Hauch von Furcht.

Als er sich, so gut es ging, gewappnet hatte, legte er die restliche Strecke zügig, aber leise zurück.

Einmal mehr tasteten seine Augen über die verwitterten Knochen und einmal mehr musste er den Blick abwenden, als er zu schwanken begann.

Er schüttelte den Kopf um den Schwindel loszuwerden, zwang sich, sich zu erinnern, warum er hierher gekommen war. Verdammte Knochen!

Er duckte sich und bewegte sich vorsichtig an dem bizarren Totem vorbei. Irgendwie schien er dabei nicht richtig aufgepasst zu haben, denn etwas schnitt plötzlich direkt unterhalb seines Revolvers in seinen linken Oberschenkel. Als er an sich herunterschaute, sah er, dass die zersplitterte Spitze eines menschlichen Unterarmknochens etwas weiter aus dem Totem herausgeragt hatte als der Rest der Knochen. Ein paar Tropfen seines Blutes klebten daran und glitzerten rot im Licht der winterlichen Sonne.

Er fluchte leise. Es war eher ein Kratzer als eine Wunde, aber dennoch ärgerte er sich über seine Unachtsamkeit. Es brannte auch ein wenig, aber das spielte jetzt keine Rolle. Gleich würde er den Höhleneingang betreten, und dann würde es mit der Ruhe vorbei sein. Die Galgenvögel wollten sich in einem verdammten indianischen Friedhof verstecken? Sei´s drum, er würde sie trotzdem holen kommen. Er würde auch kommen, wenn sie sich in der Hölle selbst verstecken würden. Er wollte das Kopfgeld. Nun, um das zu erhalten, würde er seinen Stern ablegen müssen, allerdings war das kein Problem. Vargas und seine Männer waren im ganzen Land verhasst. Er würde das Geld einfach in irgendeiner Stadt kassieren, in der ihn niemand kannte, sich danach den Stern wieder an die Brust heften und nach Hause reiten um wieder der Marshal von einer elenden Kleinstadt im Nordwesten zu sein.

Das Kopfgeld war nicht der einzige Grund, aus dem er sich von nichts und niemandem davon abhalten lassen würde, die Männer zur Strecke zu bringen. Im Krieg hatte Gräuel und Barbarei zur Genüge kennengelernt, aber die Spur von Toten, die Vargas hinter sich her zog, musste einfach enden. Feindliche Soldaten und Indianer waren eine Sache.

Siedler, Händler und Goldgräber eine andere.

 

Er atmete tief ein, nahm sich die Zeit, bewusst auf den Geschmack der kalten Luft zu achten, sog sie in seine Lunge und stieß sie langsam wieder aus.

 

Der Lauf seiner Winchester schob sich, dicht gefolgt von seinem Kopf, um den Knochenturm herum. Der Höhleneingang lag jetzt direkt vor ihm.

Er war unbewacht, soweit Leech das sehen konnte. Das Tageslicht reichte vielleicht vier oder fünf Meter in die Höhle hinein, dahinter schien es nur Schwärze zu geben. Die Pferde von Vargas´ Bande scheuten die Dunkelheit und versuchten sich, so gut die Lassos, mit denen sie an einem toten Baumstamm angebunden waren, es zuließen, im Tageslicht zu halten.

Eines der Pferde schien zu lahmen. Vermutlich war das der Grund, aus dem sie hier ihr Quartier aufgeschlagen hatten. Alles zusammen waren es sechs Tiere.

Die Sättel hatte man abgenommen und auf dem Stamm platziert, die Satteltaschen und Decken fehlten.

Er verließ seine Deckung und betrat den, teilweise felsüberhangenen, weit wirkenden Bereich, an dessen Rückwand ein ungefähr drei Mann breiter Gang tiefer in den Berg hineinführte. Die Pferde schnaubten unruhig, aber

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 26.11.2016
ISBN: 978-3-7396-8500-7

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