Es ist kalt. Der Wind peitscht meine Haare umher, sodass es sich auf meiner Haut anfühlt wie tausende kleine Stiche. Meine Augen brennen von der Kälte, ich merke wie sich die Harre an meinem Körper aufrichten. Ich habe Angst. Todesangst.
Ich blicke hinunter in die Tiefe. Das Hochhaus ist höher als erwartet, sechzehn Stockwerke aus Glas und Beton, die Straße sieht von hier oben aus wie ein kleiner schwarzer Fluss, die Autos sind nicht mehr als winzige Seegelboote. Ich stehe auf einem dunkelgrauen Betonvorsprung und nur wenige Millimeter trennen mich von dem freien Fall, der mein Leben beenden wird. Ich merke wie mir ein Träne die Wange hinunterläuft während ich mir vorstelle wie es sich anfühlen wird zu fallen und zu sterben. Mein Herz setzt einen Schlag aus, als ich erneut einen Blick in den Abgrund wage. Ich will das nicht! Ich kann das nicht.
Ein Windstoß packt mich und ich taumele. Mit aller Kraft versuche ich mein Gleichgewicht zu halten, versuche es wiederzufinden. Eine Erinnerung blitzt vor meinem geistigen Auge auf, ich sehe Liz vor mir wie sie mir dabei zusieht wie ich im Stadtpark versuche auf dem Ast zu balancieren, der über den Fluss führt. „Du wirst fallen, du wirst fallen!“, lacht sie und schwingt sich ihre braunen Haare über die Schulter. Liz…
Mit einem Ruck lande ich wieder in der Realität. Ich stehe mit beiden Beinen auf dem Boden, meine Fäuste sind geballt. Nein, Liz ich werde nicht fallen.
Ein metallisches Klicken ertönt hinter mir. „Na bereit? Sag Gott einen Gruß von mir“. Ich drehe mich um. Das Gesicht, welches mir in die Augen blickt ist grausam verzerrt und tiefböse. Sein Lächeln gleicht den gefletschten Zähnen eines Hundes, die Augen sind so kalt und emotionslos, dass es mir vorkommt, als würde ich einem Toten ins Gesicht blicken. Er steht hier auf diesem dreckigen kalten Dach, hinter ihm all diese Männer, doch es kommt mir so vor, als wären wir alleine. Das schmerzvolle Gefühl des Verrats erfasst erneut mein Herz und ich schlinge mir die Arme um die Brust, weil ich Angst habe zusammenzubrechen und in tausende Scherben zu zerbersten. Ich kann es immer noch nicht begreifen. Wie kann er das tun?
Der Lauf der Waffe ist direkt auf meinen Kopf gerichtet, sein rechter Zeigefinger liegt am Abzug. Eine Spannung liegt in der Luft, dass man sie förmlich riechen kann. Die Abendsonne scheint auf sein Haar und erweckt das Drachentattoo auf seiner gebräunten Haut förmlich zum Leben. Es hat etwas faszinierendes ihn so zu sehen, so völlig nicht er selbst, dass ich ihn gerne gezeichnet hätte, wäre es nicht ich, die ihn in diese Stimmung bringen würde. Eine weitere Träne läuft meine Wange hinunter. Wie konnte ich mich nur so in diesem Menschen täuschen.
Als er meinen Blick sieht scheint es kurz als würde er zu sich kommen. Seine Augen werden weicher, seine Finger beginnen zu zittern und kurz glaube ich zu meinen, dass er mich gar nicht erschießen will. Doch innerhalb eines Sekundenbruchteils ist die Wut, dieser alles verschlingende todbringende Hass wieder in seinem Gesicht und mein Herz zieht sich krampfhaft zusammen. Ich möchte weinen, aber wenn ich schon sterbe, dann mit Fassung. Mehr hat er nicht verdient.
„Wird das jetzt endlich was? Wir stehen schon seit fünf Minuten hier. Hör auf mit dem dummen Gelaber und knall die verdammte Schlampe endlich ab. Ich mach’s gleich selbst.“. Christopher tritt völlig gelangweilt zwischen den übrigen Männern hervor. Mit einem süffisanten Lächeln schlendert er zu seinem Schützen und jagt mir mit seinen eiskalten Blick Schauer über den Rücken. Er wirkt so als wäre es völlig normal an einem Freitagabend auf dem Dach eines New Yorker Hochhauses zu stehen und ein achtzehnjähriges Mädchen kaltblütig zu ermorden. Sein schneeweißes Haar erstrahlt im Licht der Abendsonne, was ihm einen übernatürlichen Glanz verleiht. Ich weiß, wenn mein Gegenüber wie ein Toter wirkt, dann ist Christopher der Teufel.
„Da ich weiß, dass die Kleine so oder so nicht springen wird mach ich es kurz. Ich zähle jetzt bis drei. Dann erschießt du sie. Wenn du es nicht tust werde ich es tun und du weißt dass ich vorher noch meinen Spaß mit ihr haben werde. Falls dir also irgendetwas an ihr liegen sollte und du nicht willst, dass sie ohne Arm oder Bein stirbt würde ich dir raten zu tun was ich sage“. Christopher hat seinen Kopf zur Seite geneigt, er flüstert seinem Schützen die Worte ins Ohr während er mich mit seinen eisblauen Blick nicht aus den Augen lässt. Es kommt mir vor, als würde mein Blut in den Adern gefrieren, so sehr Angst habe ich. Meine Kehle wird trocken, mir bleibt die Luft weg, ich habe das Gefühl ich ersticke. Ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten, ein Schluchzen entfährt mir, während der kalte Wind abermals mein dunkles Haar durch die Luft peitscht. Ich will nicht sterben. Ich will nicht.
Ich starre meinem Mörder in die Augen, dessen Lächeln breiter wird, dessen Hand den Abzug langsam nach hinten zieht. Sein Blick ist so leer, als würde er mich nicht kennen, er ist ein Fremder und er war immer einer das erkenne ich jetzt.
„Eins!“ Christophers Stimme hallt über das leere Dach, sie ist so laut, dass eine einsame Taube auf der Satellitenschüssel auf der Mitte des Platzes aufgescheucht wird und wegfliegt. Ich richte meinen Blick hinter die Männer, betrachte die Skyline von New York, der Stadt in der ich geboren wurde und der Stadt in der ich sterben werde. Die Lichter sind wunderschön, ich bin plötzlich seltsam ruhig. „Zwei!“ Ich denke an die Menschen, die ich verloren habe, die, die mich verraten haben. So viel Leid, so viel Schmerz. Noch einmal wandert mein Blick zu seinen Augen und mir kommt der Gedanke, dass es vielleicht so besser ist. Selbst wenn ich hier das hier überlebt hätte, wäre ich niemals mehr die gewesen, die ich einmal war. Dafür habe ich ihn zu sehr geliebt. Ich sehe Christophers Mund, der sich verformt um die glorreiche dritte Zahl zu verkünden. Sein Blick ist so erregt, als wäre das hier ein Spektakel und keine Hinrichtung. Ich schließe meine Augen, denn ich will nicht sehen, was nun passiert. Niemand will sehen, wie ein Mensch den man liebt einen tötet. Im Inneren öffne ich meinen Geist. Ich bin so weit.
„DREI!“ Innerhalb eines Bruchteils ertönt ein furchtbarer Knall. Und dann…ist alles still.
Das weiße Ziffernblatt bewegte sich und mit einem leisen Surren stellte sich die Uhrzeit von 6.29 Uhr auf 6.30 Uhr um.
Mein Wecker klingelte.
Aber wach war ich schon seit Stunden. Ich seufzte während ich meine rechte Hand ausstreckte und die Uhr abstellte. Es war so weit. Heute würde ich wieder ans College gehen. Ich würde meine Kurse besuchen, meine Klausuren schreiben, mit meiner besten Freundin über den neuesten Tratsch und Klatsch reden. Ich würde mich wieder so verhalten wie es sich von einem normalen Teenager gehörte. Ich würde so tun, als hätte es die letzten 6 Wochen nicht gegeben. Als wäre er nicht...gegangen.
Ich schüttelte meinen Kopf. Daran wollte ich jetzt nicht denken. Dann stand ich auf und begann, mich anzuziehen. Eine rotschwarz karierte Bluse kombiniert mit einer blauen Jeans und einfachen weißen Sneaker. Dazu zwei kleine blumenförmige Ohrringe aus Kristall, die ich eigentlich immer trug und von meinem Vater zu meinem sechsten Geburtstag bekommen hatte. Bis jetzt alles super. Solange ich bewusst eine Sache nach der anderen tat und mich auf jedes Detail konzentrierte hatte ich das Gefühl, dass ich den Tag unbeschadet überstehen konnte. Das Geheimnis lag darin einfach nicht zu viel nachzudenken und übermäßige Emotionen zu unterdrücken. Ich würde mit dieser Masche zwar keine neuen Freunde finden und vermutlich herumlaufen wie eine Art lebende Tote, aber dafür wäre der Tag gesichert und ich würde ihn nicht so sehr vermissen. Ihn. B...
„Cassandra bist du schon wach?" Die Stimme meiner Mutter holte mich aus meiner Trance. „Jaa, ich komme gleich", antwortete ich, während ich mich an meine Kommode setzte und in den Spiegel sah. Zwei dunkelblaue Augen blickten mir forschend entgegen. Ich betrachtete mein leicht gebräuntes Gesicht, die hellbraunen Sommersprossen auf meiner Nase und Wangen, meinen kleinen roten Mund, die dunkelbraunen langen gewellten Haaren, die mir bis unter meiner Brust reichten und mein gesamtes Gesicht umrahmten. Auch wenn ich mich innerlich nicht so fühlte, so musste ich doch eingestehen, dass ich gut aussah. Normal. Wie ein achtzehnjähriges Mädchen nach dem Sommer eben aussehen sollte. Ich seufzte noch einmal und begann mich zu schminken. Cassandra du wirst das schaffen, redete ich mir gut zu. Doch irgendetwas in mir sagte, dass es nicht so sein würde.
Nach meinem Morgenritual wendete ich mich mit einem letzten Blick von meinem kleinen Zimmer ab, dass aus einem Bett, einem Schreibtisch, der Kommode und meinem Kleiderschrank bestand und ging ins Untergeschoss, wo meine Mutter mit dem Frühstück auf mich wartete. Ich berat die weiße Küche mit dem angrenzenden Ess-und Wohnzimmer und erwischte sie gerade dabei, wie sie ein Stück des Pancakes, der ihr heruntergefallen war, vom Boden aufhob und heimlich auf den Teller in ihrer Hand zurückschob, den sie dann mit einer schwungvollen Bewegung auf unseren Küchentisch abstellte.
„Mom" schalt ich sie, wodurch sie erschrocken zusammenzuckte. Dann drehte sie sich mit großen Augen zu mir herum, setzte eine Unschuldsmiene auf und fragte: „Was gibt's denn Schatz?". Ich lachte und sie stimmte kurz darauf mit ein.
Meine Mutter war in den letzten Wochen so etwas wie eine zweite beste Freundin für mich geworden. Wir erzählten uns gegenseitig Probleme, gaben uns Ratschläge oder scherzten miteinander. Natürlich war ich immer noch ihre Tochter und sie meine Mutter, was bedeutete, dass es Themen gab, die wir beide umgingen, doch hatten uns die vergangen Ereignisse enger zusammengeschweißt. Ich wusste, dass ich ihr absolut alles erzählen konnte, ohne dass sie mich dafür verurteilen würde. Dieses tiefe Vertrauen war mehr wert, als alles Materielle zusammen.
„Also...wo waren wir?", unterbrach sie meinen Gedankengang, „ach ja...THOMAS! es gibt Frühstück. Wir warten!"- „Ich komm ja schon" antwortete meinen Vater und kam die Treppe herunter. „Morgen" er lächelte uns zu und meine Mutter und ich erstarrten im selben Moment, während wir versuchten uns nichts anmerken zu lassen.
Mein Vater sah in letzter Zeit aus, als wäre er um zehn Jahre gealtert. Sein einst pechschwarzes Haar war an den Schläfen dünn geworden und grau meliert. Die Ringe unter seinen Augen hatten sich in tiefe, dunkelviolette Furchen verwandelt. Seine Lippen waren gerissen und das Lächeln, das er uns schenkte, spannte die Haut um seinen Schädel herum. Es sah aus, als stände uns ein Skelett gegenüber. Ich merkte, wie sich meine Mundwinkel automatisch nach oben bewegten, um meinem Vater ein falsches Lächeln zu schenken, während ich angespannt die Stuhllehne meines Stuhls zurückzog und mich an den Küchentisch setzte. Meiner Mutter schien es ähnlich zu ergehen. Mit einem aufgesetzten Lächeln gab sie meinem Dad einen flüchtigen Kuss, drehte sich dann blitzschnell wieder um und lief schnurstracks zum Herd, um mit nervösen Bewegungen, den Speck aus der Pfanne zu nehmen. Im Gegensatz zu ihm entging mir dabei jedoch nicht der sorgenvolle Ausdruck, der ihrem Blick zu entnehmen war. Die gerade eben noch ausgelassene Stimmung hatte sich in unangenehmes Schweigen verwandelt. Die Stimmung war innerhalb einer Minute gekippt.
Dies schien mein Vater jedoch nicht zu bemerken. Mit schlurfenden Schritten begab er sich zum Esstisch und setzte sich. Sein Lächeln hatte der stummen, leeren Maske, die seit Wochen auf seinem Gesicht war Platz gemacht. Er schien in eine bestimmte Richtung zu blicken, ohne jedoch etwas zu sehen. Stattdessen saß er völlig in sich zusammengesunken da, gefangen in seiner Welt, die ihn festhielt und unter sich begrub. Mit müden Bewegungen griff er nach einem Messer und begann sich ein Brot zu schmieren, wobei ich deutlich sehen konnte, wie abgemagert sein Arm war. Ich schauderte. Mein Vater war nie dick gewesen, doch hatte er in den letzten Wochen so viel Gewicht verloren, dass Hemd und Hose nur noch lose an ihm herabhingen. Er aß nicht mehr viel, weil er nur noch arbeitete. Und er arbeitete nur noch, weil er mit unserer Situation nicht zurechtkam, weil er litt. Im Gegensatz zu Mom und mir steckte mein Dad fest. Und ihm dabei zuzusehen, wie er sich mehr und mehr verlor brachte uns beinahe um den Verstand.
Meine Mutter kam mit dem Speck zum Tisch zurück und sah mich eindringlich an:
„Iss jetzt Cassandra. Du bist spät dran" - „Spät?"
Mein Vater schaute mich fragend an. Ich schauderte erneut. Ich erkannte ihn kaum wieder. „Heute gehe ich wieder zur Schule, Dad". Er runzelte die Stirn. „Zur Schule", er betonte das Wort so, als würde er es zum ersten Mal aussprechen „jetzt schon wieder?".
Ich nickte. „Ja die sechs Wochen sind vorbei". Ich sah, wie er zusammenzuckte, mein Herz zog sich zusammen.
„Sechs Wochen" flüsterte er und eine kleine Träne trat aus seinem rechten Auge, rann über seine Wange und tropfte auf den Küchentisch. Dann stand er mit einer ruckartigen Bewegung auf.
„Ich muss zur Arbeit, jetzt sofort!"
Dad rannte aus der Küche zur Garderobe und begann sich hastig anzuziehen. Mein Mutter und ich sahen uns erschrocken an. Dann stand Mom auf und ging zu meinem Vater.
„Thomas. Beruhige dich", sie sprach langsam und betonte jede einzelne Silbe, als spräche sie mit einem Kind.
Mir wurde übel. Es fühlte sich so falsch an, hier zu sitzen, so falsch diese Szene zu beobachten. Dad schien sie gar nicht zu bemerken, er blickte sich hektisch um, sein Blick glitt ins Leere, während er die Worte „Ich muss zur Arbeit" immer lauter wiederholte.
Er klang wie ein Irrer und das machte mir eine Höllenangst.
Was war aus dem Mann geworden, der fröhlich und motiviert war?
Welcher Dämon hatte seinen Körper besetzt und warum konnte Dad ihn nicht wie meine Mutter und ich loswerden?
Diese schüttelte ihn inzwischen hart an den Schultern, ein Ausdruck purer Verzweiflung stand in ihrem Gesicht. Doch er schien sie immer noch nicht zu bemerken. Immer schneller sagte er den Satz: „Ich muss zur Arbeit. Sofort!" vor sich hin, während ihm stumme Tränen das Gesicht herunterliefen. Er begann heftig den Kopf zu schütteln, wehrte sich gegen meine Mutter, die mit nun tränenüberströmtem Gesicht an ihm zerrte und „Beruhige dich!" rief, und begann, sie von sich wegzustoßen.
Ich war wie erstarrt. Ich konnte mich nicht bewegen, zu sehr war ich von der schrecklichen Szene, die sich mir bot, wie gelähmt. Innerhalb weniger Minuten hatte sich die vertraute Situation eines familiären Frühstücks in einen Albtraum aus Kummer und Gewalt verwandelt. Ich wollte wegsehen, konnte aber nicht. Egal, wie häufig sich mir solche Szenen in den letzten Wochen boten, es fühlte sich jedes Mal an, als würde ich sie zum ersten Mal erleben. Als wollte sich mein Geist nicht daran gewöhnen, dass das nun „Alltag" war.
Doch plötzlich geschah etwas Sonderbares. Während meine Mutter es in den letzten Wochen immer wieder durch gutes Zureden, oder heftiges Schütteln geschafft hatte, meinen Vater zu sich zu bringen und ihn zumindest für kurze Zeit an den Frühstückstisch zurückzulotsen, schienen ihre eindringlichen Worte heute keine Wirkung auf ihn zu haben. Nein, stattdessen sah es so aus, als würden sie seinen Wahnsinn nur noch mehr heraufbeschwören. Immer heftiger stieß er meine Mutter zurück, die mit plötzlich weit aufgerissen Augen „THOMAS!" schrie.
Mit zitternden Gliedern wurde sie von meinem Vater in die Ecke gedrängt, dessen glasige Augen sie nicht wiederzuerkennen schienen. Er packte und schüttelte sie, stieß kurze abgehackte Wortfetzen hervor und brüllte ihr ins Gesicht, bis er einen Moment zögerte und plötzlich wie am Spieß „Ich muss zur Arbeit!" schrie.
Mein Blut gefror mir in den Adern, der Laut hörte sich animalisch an. Einen kleinen Augenblick lang hielt mein Vater inne. Er nahm das angsterfüllte Gesicht meiner Mutter in beide Hände und schaute sie durchdringend an. Es war mucksmäuschenstill.
Dann schlug er ihr mit der flachen Hand ins Gesicht.
Ich hörte mich aufschreien. Der Kopf meiner Mum flog nach hinten, ihre dunklen Locken wirbelten umher. Sie knallte auf den Boden, stöhnte auf. Mein Dad beugte sich sofort über sie. „Oh Gott, Jane, es tut mir so leid...ich, ich weiß nicht wie das passieren konnte...ich war nicht ich selbst, Oh mein Gott".
Er half meiner Mutter auf, deren Lippe aufgeplatzt und blutig war. Sie starrte ihn mit großen Augen an, weinte. Mein Vater schaute mit schmerzverzerrtem Gesicht zuerst zu ihr, dann zu mir. „Es tut mir so leid. Ich weiß nicht, was...Ich kann das einfach nicht...nicht mehr."
Seine Stimme brach. Dann ging er zum Wandschrank, holte seinen roten Schal heraus und rannte aus der Tür. Einfach so. Ohne noch ein einziges Wort zu sagen. Er ließ seine zitternde, blutende Frau am Türrahmen stehen, ließ seine völlig entgeisterte Tochter am Küchentisch sitzen. Er würde erst in ein paar Tagen wieder zurückkommen, das wussten wir jedoch noch nicht.
Meine Mutter drehte sich zu mir herum und wischte sich das Blut und die Tränen an ihrem Ärmel ab. Wie ein Geist lief sie auf mich zu, nahm meinen Kopf in ihre Arme und flüsterte:
„Dein Dad liebt mich. Ich weiß das und du weißt das auch. Er ist nur nicht er selbst... das sind wir alle nicht. Lass ihm noch Zeit. Er kann wieder zu dem Mann werden, der er mal war...ja?",
bei dem letzten Satz brach ihre Stimme, sie musste an sich halten, um nicht wieder zu weinen. Ich nickte. Sie fuhr fort:
„Es wird alles wieder gut werden. Dein Dad steckt fest, er braucht Hilfe. Aber es wird alles wieder gut werden".
Ich nickte erneut, ein monotones Auf und Ab meines Kopfes. „Aber jetzt", sie blickte auf die Uhr. „musst du dich beeilen. Es ist schon spät". Ich sah sie an.
Sie hatte sich in sich zurückgezogen, wollte nicht mit mir reden, ihr Blick war leer und reserviert. Sie würde das Geschehene erst verarbeiten müssen, bevor sie damit zu mir kam, das wusste ich. Ich nickte erneut, stand vom Tisch auf und umarmte sie fest. Sie ließ sich in meiner Umarmung hineinfallen. Stille.
Ich starrte auf die Tür, durch die mein Vater vor einer Minute hinausgerannt war. „Ja", sagte ich, „es ist schon spät".
Während meiner Busfahrt zur „University of Art N.Y.C." starrte ich aus der Fensterscheibe, an der der Regen in kleinen Rinnsalen hinunterlief und versuchte das Geschehene zu verdrängen. Es gelang mir nicht. Grausam spielten sich die Ereignisse wieder und wieder in meinem Kopf ab und erstarrten in dem furchtbaren Bild meines Vaters, der mit erhobener Hand auf meine blutende Mutter hinuntersah. Ich schüttelte den Kopf.
„Cassandra", sagte ich im Stillen zu mir selbst, „du darfst jetzt nicht daran denken. Du hast genug Probleme, dir steht heute ein harter Tag bevor. Sei stark!". Ich zuckte bei den Worten zusammen, das blonde Mädchen neben mir drehte sich überrascht um.
„Alles okay?" Ich biss mir auf die Zunge. „Ja", stieß ich mühsam hervor ohne mich ihr zuzuwenden. Mit starrem Blick heftete ich meine Augen auf die Umgebung, die ich durch die Fensterscheibe betrachten konnte, auf Autos, Häuser, Leute, die umherliefen. Ich betrachtete sie, ohne sie wirklich zu sehen, krampfhaft darauf bedacht mich abzulenken, krampfhaft darauf bedacht, mich nicht zu dem blonden Mädchen umzudrehen, dass neben mir saß. Sie sollte mich nicht weinen sehen. Sie sollte mich nicht mit ihren blauen Augen mitleidig ansehen und fragen: „Kann ich dir helfen? Was ist denn los?". Sie würde es nur gut meinen, das wusste ich, aber ich konnte nicht darüber reden. Nach dem heutigen Morgen kam ich mir vor, als könnte ich nicht mehr viel ertragen, der Anblick meines aggressiven, kranken Vaters und meiner verletzten Mutter hatten mich ausgelaugt. Ich wollte mich einfach nicht rechtfertigen.
Ich starrte aus weiter aus dem Fenster, hohe Gebäude aus Glas und Beton zogen an mir vorbei, meine Haltestelle wurde aufgerufen. Wider meinen Willen musste ich noch einmal an diesen einen Ausruf denken: „Sei stark!".
Ein Bild tauchte vor meinem geistigen Auge auf, braunes Wuschelhaar, ein kindliches Gesicht, das zu mir hinuntersah, grüne Augen, die mich ernst anblickten, eine Hand auf meiner Schulter, ein aufmunterndes Lächeln, die Worte: „Sei stark!".Der Bus hielt und ich wischte mir hastig über die Wange. Dann packte ich meine Sachen zusammen, drückte mich mit gesenkten Kopf an dem blonden Mädchen vorbei und stieg aus.
Ich hielt die Luft an. Vor mir befand sich der Haupteingang meiner Universität, eine Schule, die sich darauf konzentrierte, junge begabte Talente aller Lernbereiche zu unterstützen und zu fördern. Das imposante alte Gebäude mit seinen rostbraunen Backsteinen und weitläufigem grünem Parkgelände erstreckte sich vor mir und versetzte die Leute, die daran vorbeigingen in ehrwürdiges Staunen oder anerkennende Bewunderung. Mir jedoch versetzten die verwinkelten Erker und kleinen Wasserspeier einen Stich ins Herz. Vor sechs Wochen noch war ich hier zusammen mit jemand anderem hier hineingegangen und hatte dieses Gebäude mit Leben und Freude erfüllt. Ich schluckte und versuchte mich dem zu stellen, was nun kommen würde. Früher oder später würde ich mich damit auseinandersetzen MÜSSEN und da der Tag ohnehin schrecklich angefangen hatte, konnte er auch genauso gut schrecklich weitergehen.
Zitternd holte ich Luft, ballte meine Hände zu Fäusten und starrte auf den Eingangsbereich.
„Cassandra", sagte ich mir, „jetzt oder nie". Stille. „Es ist so schlimm für mich wieder hier zu sein...", flüsterte ich vor mich, „weil ich alleine bin. Und ich bin alleine, weil...", mir brach die Stimme, meine Augen wurden feucht, „weil...Be.."
„CASSANDRA!"
Ich schreckte auf und sah mich um. Auf dem Gehweg hinter mir, ca. 50m von mir entfernt, rannte ein mit Rucksäcken über und über beladendes Mädchen direkt auf mich zu. Ihre schulterlangen haselnussbraunen Haare flogen im Wind, ihre dunkelbraunen Augen waren direkt auf mich gerichtet und schäumten über vor Begeisterung. Sie trug eine dunkelblaue Jeans und ein schlichtes weißes T-Shirt und ein kleiner Teil von mir fragte sich, wie dieses zierliche Mädchen mit ihrer schlanken Figur, einen riesigen Rucksack auf ihren Schultern und einen prall gefüllten Sportbeutel in jeder Hand tragen konnte, ohne dabei umzufallen. Oder zumindest ihre schwarze Ray-Ban Brille zu verlieren, die auf ihrer kleinen Nase herumrutschte. Der größte Teil jedoch von mir freute sich riesig darüber meine beste Freundin wieder zu sehen.
„Liz" hauchte ich mit Tränen in den Augen, vollkommen damit überfordert die unterschiedlichen Gefühle in meinem Innern zu sortieren. Sie lachte und mit einem lauten „Wumps" krachte sie in mich hinein, wobei sich die Sportbeutel um meine Beine schlangen, was mich fast umfallen ließ. „Cass", sprudelte sie los, während sie ihren kleinen Körper fest an mich drückte und mich mit ihren Armen umschlang.
„Ich bin so froh, dass du wieder hier bist. Ich habe dich wahnsinnig vermisst, die anderen übrigens auch. Wir haben schon gedacht du kommst dieses Jahr vielleicht gar nicht mehr in den Unterricht, weil dich der U..na ja, die Sache schon sehr mitgenommen hat". Sie schaute mich mit ihren großen, dunklen Augen mitfühlend an. „Ich bin immer für dich da Cass, das weißt du, ja?". Ich nickte. Das wusste ich wirklich, auf Liz würde ich mich immer verlassen können.
„Wir werden das alles wieder hinbekommen, okay? Du wirst das schaffen!", sie lächelte mich zaghaft an. Ich nickte, doch ich war nicht ehrlich. Ich heftete meinen Blick auf das riesige wunderschöne Gebäude gegenüber. Mein Inneres sagte mir, dass ich nie wieder die sein würde, die ich einmal gewesen war. Meine Freunde mochten es vielleicht noch nicht merken, aber ich hatte mich verändert, war ruhiger, war ernster geworden. Von meiner einstigen Schlagfertigkeit war nichts mehr übrig, Witze machte ich nur noch selten und gelacht...nun, gelacht hatte ich fast seit sieben Wochen nicht mehr.
Als hätte Liz meine Unsicherheit gemerkt, trat sie an meine linke Seite und nahm wie selbstverständlich meine Hand. Mit ernsten Augen schaute sie zu mir auf und sagte: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie schwer das für mich sein muss, Cass. Nicht mal annähernd. Was ich aber weiß ist, dass der erste Schritt immer der Schwerste ist. Und dass du hier bist sagt mir, dass du diesen Schritt gehen willst. Aber du bist nicht alleine, ich bin da und pass auf dich auf". Ich hätte sie am liebsten gedrückt, so sehr berührten mich ihre Worte. „Also bereit?". Ich schüttelte den Kopf, sagte aber „ja". Liz nickte verständnisvoll. Sie wusste, dass ich das hier nicht aufschieben wollte. Dann drückte sie meine Hand und mit einem mulmigen Gefühl im Magen zog sie mich über die Straße und in die Schule hinein.
Der Raum mit den Spinden war hell erleuchtet und wie an normalen Montagmorgen üblich, überflutet mit Schülern. Ein reges Treiben herrschte, jeder war damit beschäftigt, seine Sachen zu packen und pünktlich in den Unterricht zu kommen. Spindtüren wurden zugeknallt, Bücher eilig in den Rucksack gestopft oder sehnsüchtige Blicke ausgetauscht. Eine Gruppe Mädchen stand im hinteren Teil des Ganges und tuschelte – vermutlich über die neusten Gerüchte oder die süßesten Jungs – mit gesenkten Köpfen. Meine Hand in Liz's begann zu schwitzen, ich fühlte mich unsicher und schwindlig als wir uns auf den Weg zu unseren Spinden im hinteren Teil des Korridors machten. Ich zog meinen Kopf ein und blickte auf den Boden, doch ich spürte sie – die erschrockenen Blicke, die auf meinem Rücken klebten und immer mehr wurden, je weiter ich den Gang entlanglief. Es wurde geflüstert hinter mir:
„Das ist doch Cassandra Waters!",
„ich dachte, sie wäre umgezogen",
„ich hab gehört, ihre Familie ist total psycho geworden, vor allem ihr Vater",
„meine Mutter hat mir verboten, mit ihr zu reden, weil...",
„du kennst die Geschichte nicht? Vor sieben Wochen gab es einen...", und so weiter.
Liz drückte wieder meine Hand, drehte ihren Kopf nach hinten und warf den Leuten böse Blicke zu. Doch sie sagte nichts. Sie liebte mich wie eine Schwester, doch sie war nicht der Mensch, der schlagfertig ihre Freunde vor anderen verteidigen konnte. Das war eher ich gewesen. Aber ich konnte es nicht mehr. Meine Kräfte, mein ganzes einstiges Ich hatten mich verlassen. Das spürte ich jetzt mehr, als während der ganzen letzten Wochen zuvor. Es fiel mir schwer mich daran zu erinnern, was ich an dieser Stelle vor sieben Wochen gesagt, wie ich gehandelt hätte. Ich fühlte mich anders, wie eine komplett neue, traurige Version von mir. Und das Schlimmste daran war die Tatsache, dass ich es akzeptierte. Es war einfach so.
„Cass!", ein schlaksiger Junge mit schwarzen Locken, grünen Augen und einer Brille kam auf mich zu. Es war Peter, mein bester Freund. „Hey", ich lächelte zaghaft. Er nahm mich in die Arme und drückte mich fest.
„Ich bin da", flüsterte er mir ins Ohr. Ich nickte und sog seinen süßen, warmen Geruch in meine Nase. Peter war mein Fels in der Brandung. Während Liz den kleinen Wirbelwind in meinem Leben darstellte, der mich zu den spontansten Aktionen antrieb oder mir ins Gewissen redete, war Peter das stille Gewässer, das mich beruhigte und mich bestärkte. Vor zwei Jahren war es genau diese Eigenschaft gewesen, die mich dazu verleitete mich in Peter zu verlieben. Doch nach nur sechs Monaten unserer Beziehung merkten wir beide, dass wir uns zwar liebten, es uns aber nicht glücklich machte. Wir trennten uns und ein paar Monate fühlte es sich komisch zwischen uns an, aber dann kam Peter mit seiner jetzigen Freundin Tatjana zusammen und unser Verhältnis stabilisierte sich. Das war vor einem Jahr gewesen. Seitdem waren wir wieder gute Freunde. Tatjana war ein nettes Mädchen, das unsere gemeinsame Vergangenheit akzeptierte und schon bald fester Bestandteil unserer Gruppe wurde. Ich mochte sie wirklich. Es war ungewöhnlich, dass sie nicht bei Peter war, deswegen fragte ich ihn nach ihr:
„Wo ist denn Tatjana?". Peter ließ mich los und schaute mich mit seinen grünen Augen warm an. „Sie ist leider krank. Die Sommergrippe geht wieder herum. Aber wenn sie wüsste, dass du hier wärst, würde sie wahrscheinlich trotzdem in die Schule kommen.", „dann sagen wir ihr es besser nicht", antwortet ich. Peter lächelte und ich versuchte es ihm nachzutun, doch es gelang mir nicht. Liz schaltete sich ein: „Leute, ich will euch ja nicht stören, aber es klingelt in fünf Minuten und ich will nicht zu spät zu Englisch kommen."
Sie wackelte mit den Augenbrauen, „vor allem nicht bei unserem neuen Lehrer Mr. Right.",
„Mr. Right?" fragte ich. War das ein Codename für einen Lehrer, den Liz scharf fand?
„Er heißt wirklich so", antwortet Liz, die, wie es schien, meine Gedanken gelesen hatte, „und glaub mir Cass, Herman Right ist so ziemlich der letzte Kandidat, der für mich als mein Mr. Right in Frage kommen würde. Ich würde ihm als Bachelorette jedenfalls keine Rose geben." Sie zwinkerte mir zu und Peter neben mir lachte. Ich zog nur einen Mundwinkel nach oben. Liz tauschte einen besorgten Blick, der unauffällig sein sollte, mir jedoch nicht entging, dann zog sie Peter und mich zu unseren Spinden.
Eilig packte sie ihr Mathebuch aus und tauschte es gegen das Englischbuch, während ich mir in dem Chaos meines Spindes versuchte einen Überblick zu verschaffen. Doch wie es aussah, lag mein Englischbuch zu Hause. Super. „Das sieht Mr. Right gar nicht gern", merkte meine Freundin an, als ich die Sache mit dem Buch erklärte. Ich zog eine Augenbraue nach oben.
„Cass, jetzt mal unter uns, dieser Mr. Right ist echt unangenehm. Ich will dir keine Angst machen, aber dieser Typ nimmt kein Blatt vor den Mund. Verhalte dich einfach ruhig und versuche so wenig wie möglich aufzufallen. Ich will nicht, dass er auf dir herumhackt. Nicht heute". Sie schaute mich mitfühlend an. Ich seufzte. So wie es aussah, war heute einfach nicht mein Tag.
„Ja, der Kerl ist ein echter Blödmann", bestätigte Peter. „Er hat letzte Woche eine Schülerin nachsitzen lassen, weil sie die Vokabeln, die sie lernen sollte nicht konnte. Außerdem soll er ziemlich gereizt reagieren. Aber Cass, das schaffst du schon. Ich glaub an dich". Peter drückte mich noch einmal fest, dann verabschiedete er sich mit den Worten, dass er zu Mathe müsse und ging. Es klingelte. Liz packte wieder meinen Arm und zog mich zu unserem Klassenzimmer. Als wir eintraten waren die anderen schon alle da, es war mucksmäuschenstill. Ich dachte zuerst, dass es an mir läge, da mich alle mit großen Augen anstarrten und ich bereitete mich innerlich auf das „Das-ist-DIE-Cassandra-Waters" -Getuschel vor, bis ich den hageren Mann am Tisch entdeckte und sofort begriff, dass die eiserne Stille sein Verdienst war.
Herman Right war ein dünner Mittvierziger, mit braunem lichten Haar, vielen Falten, einer kleinen silbernen Brille mit runden Gläsern, frettchenhaften Augen und einer spitzen, hakenartigen Nase. Sein Lächeln war gekünstelt und kühl, als er uns eintreten sah und seine dunklen Augen fixierten mich. „Guten Tag die Damen", sagte er mit einer tiefen, vor Sarkasmus triefenden Stimme. „Schön, dass Sie mich – gerade noch rechtzeitig - mit ihrer Anwesenheit beehren." Mr. Right saß mit gefalteten Händen hinter seinem Pult. Sein grau-weiß-kariertes Hemd und seine schwarze Hose strahlten zusammen mit seiner Körperhaltung eine förmliche Ruhe aus, doch alles an ihm wirkte irgendwie hinterhältig. Ich verstand Liz. Mr. Right war das genaue Gegenteil von dem, was sein Name vermuten ließ. Er stand auf und ging auf uns zu.
„Und Sie sind?", seine Stimme war kalt. Ich schluckte. „Cassandra Waters", antwortete ich leise. Seine Augen weiteten sich kurz, nur eine Sekunde, dann legte sich der bleierne Ausdruck wieder auf sein Gesicht.
„Wie? Könnten Sie das bitte wiederholen, Sie sprechen so leise.". Er taxierte mich mit seinem Blick. „Cassandra Waters", wiederholte ich laut und deutlich. „Ah, Fräulein Waters, ich habe schon von Ihnen gehört. Das Mädchen, das seit sechs Wochen die Schule schwänzt."
Er lächelte missbilligend, während eine Art böses Glimmen seinen Blick verschleierte. Mir lief es kalt den Rücken hinunter. „Ich hoffe Sie besuchen uns nun regelmäßig, Miss. Waters. Und ersparen Sie uns bitte das Heischen nach Mitleid. Ich meine ich bitte Sie, jeder in dieser Welt bekommt, was er verdient hat, nicht wahr?". Liz und ich erstarrten im selben Moment, die Klasse hielt die Luft an. Das hatte er gerade nicht wirklich gesagt?!
„Sie stehen ja immer noch. Setzen Sie sich". Mr. Right wirkte gelangweilt, während Liz uns geschockt zu unseren Tischen in die letzte Reihe führte und wir uns setzten. Ich konnte nicht glauben, was ich soeben gehört hatte. Jeder bekommt was er verdient hat? Wie konnte er nach meinem Verlust so etwas behaupten? Warum hatte ICH das verdient?
„Schlagen Sie bitte alle die Seite 46 auf. Wir lesen nun die Sonette von Shakespeare, zu denen wir auch am Ende dieses Semesters, also in gut zwei Monaten eine Klausur schreiben werden. Konzentration bitte.". Liz holte ihr Buch heraus und schlug die Seite auf. Victoria, ein dunkles Mädchen mit schwarzen Locken wurde aufgerufen und begann zu lesen. Die Gedichte waren gut gewählt und Mr. Right dozierte, trotz seiner gereizt klingenden Stimme, erstaunlich gut. Es verging eine halbe Stunde und ich glaubte schon, ich hatte mich am Anfang des Unterrichts verhört als plötzlich mein Name aufgerufen wurde:
„Cassandra Waters, wo ist Ihr Buch?". Mister Right blickte zu uns herüber. Sein Blick glich dem eines Geiers, der Beute witterte. „Ich habe es leider zu Hause vergessen, Mr. Right. Ich lese bei meiner Freundin Liz mit, wenn das in Ordnung ist." Ich spürte wie Liz sich neben mir versteifte und das machte mich nervös. Meine Hände begannen zu schwitzen.
„In Ordnung? Sie fragen mich, ob das in Ordnung ist?", Mir Right kam mit langsamen Schritten auf mich zu, sein Blick schien durch meine Knochen hindurchzugehen. Es kam mir irgendwie vor, als hätte er auf so eine Gelegenheit gewartet, auch wenn er mich gar nicht kannte. Er blieb vor mir stehen, beugte sich zu mir herunter, seine Augen wirkten schwarz vor...Hass.
Ja, es war Hass, der sich in seinem Blick abzeichnete. Er versuchte ihn hinter seinem kühlen Blick, seiner ruhigen förmliche Haltung zu verstecken, hatte eine halbe Stunde gewartet, um mich erst dann auf das vergessene Buch anzusprechen, doch nun war der perfekte Moment gekommen. Wie eine Schlange, die verharrt bevor sie zupackt, dachte ich bei mir selbst.
„Miss Waters das ist ganz und gar nicht in Ordnung. Ich weiß nicht, was Sie gedacht haben, dass Sie nach sechs Wochen Ihres Nichterscheinens einfach hier hereinspazieren und denken, es wäre alles IN ORDNUNG", er hob seine Stimme, „aber das ist es ganz und gar nicht. Ich wurde über die kleinen, dreckigen Geheimnisse Ihrer Familie unterrichtet, die für Ihre Klassenkameraden bereits normal sind. Über die Drogengeschichten, die Gewaltexzesse. Man sagte mir, dass Sie nicht so seien, dass sie anders sind. Aber ich kenne Menschen wie Sie Miss Waters und ich sage Ihnen eins: So etwas verbreitet sich wie eine Seuche."
Aus seiner Stimme klang pure Boshaftigkeit, purer Zorn. Er lehnte sich immer weiter zu mir und begann zu schwitzen, während er lauter und lauter wurde. Es schien, als verliere er die Kontrolle. „Sie gehören zu diesem einen kleinen Prozent unserer Gesellschaft, zu diesem asozialen Pack, die vom Staat mitfinanziert werden müssen. Und so lange Sie hier bei mir im Unterricht sind", - seine Stimme wurde leiser, nur ich konnte ihn noch hören „solange werde ich Sie nicht anders behandeln, als das Mädchen wofür ich Sie halte. Das Mädchen, das sich nachts in den kleinen dunklen Gassen herumtreibt. Das andere in ihre dreckigen Spielchen mithineinzieht. Das Mädchen, das genau so enden wird, WIE IHR VERSOFFENER GROßER BR..",
„DAS REICHT!". Ich sprang von meinem Sitz auf, und schlug mit meiner geballten Faust so hart auf die Tischplatte vor mir, dass einige meiner Mitschüler erschrocken zusammenzuckten und Liz mich ängstlich ansah. Mit hasserfülltem Blick starrte ich Mr. Right in die Augen, der sich so in Rage geredet hatte, dass sein Gericht rot angelaufen war und seine Schlagader am Hals pulsierte. Er schwitzte stark und eine lose graumelierte Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht und verdeckte einen Teil seiner wahnsinnig wirkenden Augen. Bei meinem Ausruf zuckte auch er zusammen und plötzlich wirkte es so, als wäre ihm bewusst geworden, was er soeben getan, was er soeben gesagt hatte. Mit zitternden Finger fuhr er sich über das Gesicht und strich sich die Haarsträhne aus seinen Augen, während er einen Schritt nach hinten machte, was wohl deeskalierend wirken sollte. Doch dazu war ich nicht bereit. Noch nie in meinem Leben hatte jemand so abfällig über mich und meine Familie gesprochen.
Mit bebender Stimme sagte ich: „Sie kommen hierher ohne mich zu kennen, ohne etwas über meine Familie zu wissen. Sie bilden sich ein, mich verurteilen zu dürfen, für Dinge, die ich nicht einmal getan habe, um irgendwelche Komplexe, irgendwelche kranken Bedürfnisse in Ihrem Innern zu befriedigen.", bei diesen Worten zuckte er zusammen, „doch wissen Sie was? Was Sie von mir halten ist mir scheißegal. Sie kennen mich nicht. Niemand hier kennt mich.". Ich drehte mich zu meiner Klasse, zu meinen erstarrten Mitschülern um. „Falls Sie mich also so behandeln wollen, wie das asoziale Pack zu dem ich laut Ihnen gehöre, dann schön, tun Sie das. Aber dann wundern Sie sich nicht, wenn ich Sie so behandele wie die zehn Prozent Arschlöcher zu denen Sie sicherlich gehören."
Die gesamte Klasse schnappte nach Luft. Doch es war mir egal. Mein gesamtes Leben ging gerade den Bach herunter, da kam auch nicht mehr darauf an, ob meine Schulkarriere weiter in geraden Bahnen verlief. Mit wütenden Griffen schnappte ich mir meine Sachen, ruckte meinen Stuhl an den Tisch zurück und verließ mit einem knappen „Auf Wiedersehen" die erstarrte Klasse samt Lehrer.
Ich lief den Korridor entlang, an den Spinden vorbei und zu den Mädchentoiletten. Meine Tasche verlor ich unterwegs, es war mir egal. An der Toilette angekommen, ging ich in die letzte Kabine ganz hinten im Gang. Ich setzte mich auf den Toilettendeckel, zog meine Beine an meinen Körper heran und umklammerte sie mit beiden Händen. Ich wanderte mit meinem Blick über die vielen Kritzeleien an der Wand entlang, denn ich wollte nicht darüber nachdenken, was dieser Lehrer über meine Familie und ich zu ihm gesagt hatte. Ich wollte nicht darüber nachdenken, wie enttäuscht meine Mutter von mir sein würde, nachdem sich schon mein Vater heute Morgen so sehr verloren hatte. Ich war das einzig Normale, was ihr in ihrem wirren Leben blieb. Und nun zerstörte ich durch mein Verhalten selbst das. Meine Augen wanderten immer hektischer die Wand entlang, suchten etwas, über das ich nachdenken, mit dem ich mich beschäftigen konnte. Da stand ein „Hey auch hier?" und dort ein „Halte die Toilette rein" und daneben ganz klein in der Ecke mit Bleistift geschrieben, fast schon unleserlich ein „I love...B."
Ich erstarrte. Die Zeit schien stillzustehen, es war, als drückte mir ein bleiernes Gewicht die Luft ab. Und dann, erst ganz langsam, doch dann mit voller Wucht, brach der Damm, den ich mir seit Wochen um mein Herz herum aufgebaut hatte und ich fing bitterlich an zu weinen. Ich schluchzte immer lauter, schrie und schlug mit meiner flachen Hand wieder und wieder auf diese dämliche Inschrift, die vermutlich gar nicht ihn meinte. Ihn. Meinen großen Bruder. Mein Bruder, der seit sieben Wochen tot war. Dessen Leiche man nicht gefunden hatte und vermutlich nie finden würde. Dessen Auto man in einem Graben entdeckte, voller Dellen, gerammt von einem anderen Auto, das unauffindbar war.
Es ging um meinen großen Bruder, der einfach aus dem Leben gerissen wurde. Mein Beschützer, der immer für mich da gewesen war, mir beigebracht hatte stark zu sein. Der Mensch, der der Grund dafür war, dass mein Vater mit seinem Leben und mit uns nicht mehr zurechtkam und mein Englischlehrer uns als ein asoziales Pack abstempelte.
Ich schluchzte und weitere Tränen liefen meine Wangen hinab. Dann streckte ich meinen Arm aus und strich mit meinen Fingerspitzen über das mit Bleistift geschriebene B., das von einem Herz umrandet war. „Du fehlst mir", flüsterte ich und meine Stimme brach, „Du fehlst mir, Benjamin."
[…] In der vergangen Nacht ereignete sich auf dem East-Highway ein schwerer Verkehrsunfall, der mindestens ein Todesopfer forderte. Gegen zwei Uhr wurde der Schüler Benjamin Waters (20) von einem unbekannten Fahrzeug seitwärts gerammt und von der Straße gedrängt. Dabei überschlug sich der Wagen mehrmals und landete in einem Graben. Die Polizei geht aufgrund des hohen Blutverlusts, welches im Fahrzeug vorzufinden war, vom Tod des Schülers aus. Die Leiche konnte jedoch noch nicht gefunden werden. „Wir bitten um jede Hilfe“, so Polizeichef Stephenson. „Im Namen von Benjamins Familie fordern wir alle, die etwas gesehen oder gehört haben auf, sich bei uns zu melden. Auch wenn Benjamin tot ist, ist es oberstes Gebot den oder die Verantwortliche zu finden und ihrer gerechten Strafe, sei es fahrlässiger oder geplanter Mord zuzuführen"
Benjamin Waters lässt seine Eltern und eine Schwester zurück. Der Schüler stand vergangenes Jahr wegen Veräußerung von Heroin und Kokain, sowie des dadurch verursachten Todes der Schülerin Ray R. (15) in Verdacht und wurde polizeilich beobachtet. Ob sein Ableben mit diesen Sachverhalten in Verbindung steht, konnte jedoch noch nicht geklärt werden. Die Polizei geht davon aus, dass […]
Meine lieben (zwar wenige, aber dennoch lieben:D) Leser!
Ich konnte leider sehr lange nicht uploaden, weil ich durch das Studium sehr beschäftigt war. Ich habe die Geschichte aber NICHT aufgegeben und bemühe mich dieses Jahr wirklich mehr zu schreiben. Jetzt hatte ich gerade so Lust darauf und deswegen ist hier ein kleines Zwischenkapitel, um die Spannung zu halten. Bin gespannt, was ihr denkt... Ich jedenfalls freue mich, weil ich in TRUST noch so viel Verwirrung stiften und Geheimnisse lüften werde. :D
Eure Kim :)
Ich starrte mit verschränkten Händen hinauf zu meiner Zimmerdecke und betrachtete die Leuchtsterne, die ich mit meinem Vater und Benjamin angebracht hatte, als ich fünf Jahre alt war. Wenn ich meine Augen gerade so weit offenließ, dass die Konturen des Bildes unscharf wurden, ich aber noch etwas erkennen konnte, sah es mit ein wenig Fantasie fast wie ein echter Sternenhimmel aus. Ein glitzernder Sternenhimmel, der Wünsche in Erfüllung gehen ließ und an dem jeder Stern seinen eigenen Platz hatte. Der immer da war, und dessen Licht niemals von einem Sturm geschluckt werden würde. Ein Himmel wie für eine Fünfjährige gemacht. Was für eine schöne Vorstellung es doch wohl gewesen sein musste. Ich lächelte leicht.
„...ich meine, es ist einfach krass, was da passiert ist! Die ganze Schule spricht darüber. Wie konnte man dieses Detail nur übersehen? Sogar der Elternbeirat will zusammenkommen und sich beschweren. Glaubst du das? Der tut sonst NIE etwas... ich meine, man weiß doch nicht mal sicherlich, ob Benjamin wirklich dafür verantwortlich war!" Ich zuckte zusammen und mein Lächeln verschwand. Das Bild wurde scharf und nun konnte ich deutlich die Flecken und Fehler der Leuchtsterne erkennen. Ihr Glimmen war nur noch schwach und es so aus, als ob sich einer von den anderen abwenden würde. Ein kleiner hatte einen Zacken verloren und ein weiterer war sogar abgefallen. Es war ein Stern gewesen, den Benjamin angeklebt hatte.
„Er war es nicht". Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Liz schaute zu mir herüber und runzelte ihre kleine Stirn, als hätte sie nicht damit gerechnet, das ich antworten würde oder als hätte sie Zweifel an dem, was ich sagte. Vielleicht war es beides. „Ben...Benjamin", ich schluckte, „hätte so etwas niemals getan. Er war jemand, der es hasste, anderen Menschen Schaden zuzufügen. Wenn er mich zufällig grob anfasste tat es ihm schon leid. So etwas...", ich holte Luft „kann einfach nicht er gewesen sein".
„Wenn er es so sehr hasste anderen wehzutun, wieso hat er dann Drogen verkauft?".
Liz hob die Augenbrauen, blickte jedoch sofort nach unten, als sie meinen wütenden Blick sah. „Die Polizei hat nichts gefunden. Weder im Haus noch sonst wo" antwortete ich in unterdrücktem Tonfall, „du solltest lieber mir glauben, als dem Geschwätz unserer Mitschüler".
„Ich weiß, tut mir leid" entschuldigte sie sich, doch als sie meinen verletzten Blick sah ergriff sie meine Hand. „Hey ehrlich, das war nicht so gemeint. Du weißt doch wie das bei mir ist. Manchmal bin ich einfach nur dumm".
Sie klimperte mit ihren Augen und ich seufzte. Liz wollte ich jetzt nicht böse sein.
„Schon okay", sagte ich, griff mir ein Kissen und legte mich auf den Bauch. „Aber was passiert jetzt mit Mr. Right?".
Allein schon bei der Erinnerung an diesen Lehrer wurde mir mulmig zumute und ich musste an mich halten, um nicht wieder wütend zu klingen. Liz streckte sich auf meinem Bett aus und setzte zu einer Antwort an. Sie war nach der Schule sofort zu mir gekommen und hatte mir erzählt was passiert war, nachdem meine Mutter mich völlig aufgelöst vorgefunden und unserer Rektorin die Hölle heiß gemacht hatte.
„Fassen wir mal zusammen: Mr. Right, oder wie ich ihn nenne: Mr. Er-ist-bald-weg-vom-Fenster", sie stupste mich aufmunternd an, doch ich runzelte nur die Stirn und gab ihr zu verstehen fortzufahren „jedenfalls kommt er rein zufällig an unsere Schule und übernimmt unsere Klasse. So weit so gut, wäre da nur nicht die Tatsache, dass anscheinend niemand richtig seine Unterlagen geprüft oder ihm die richtigen Fragen gestellt hat. Sonst wäre ihm nicht nur aufgefallen, dass er seit Monaten in ärztlicher Behandlung ist, nein, viel schlimmer ist die Tatsache, dass Herbert Right der Onkel von Ray Right ist. Der Schülerin, die...",
„... mein Bruder umgebracht haben soll", beendete ich ihren Satz und mir wurde schlecht. Ich wusste, dass Benjamin nichts mit der Sache zu tun hatte, mein Gott, er hatte ja nicht mal Drogen verkauft, obwohl es alle dachten. Doch allein die Erinnerung, dass ein Mann mir in die Augen geblickt hatte, der in mir die Komplizin des Mörders seiner Nichte sah, jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken.
„Er hätte es der Schulleitung mitteilen müssen", fuhr Liz unbeirrt fort, „doch er sah es als Gelegenheit dich kennenzulernen und seine Wut an dir auszulassen." Erneut lief mir ein Schauer über den Rücken, kälter noch als der erste. „Wer weiß, vielleicht war es sogar der Grund, warum er überhaupt an unserer Schule kam. Schließlich liegt es nahe, dass Benjamin hier unterrichtet wurde. Dennoch...dennoch ist es erstaunlich, dass er sich in dieser Situation so ...zurückgehalten hat, findest du nicht? Ich meine klar, er ist ziemlich ausgerastet und was er zu dir gesagt hat ist unverzeihlich. Aber dennoch... wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, hätte ich nicht versprechen können, dass ich mich nicht auf dich gestürzt hätte. Nicht das du etwas dazu kannst!" Sie warf mir einen entschuldigenden Blick zu, doch ich nickte nur stumm. Dasselbe war mir auch schon durch den Kopf gegangen. Klar, war Herbert Right explodiert, doch weit weniger, als man von einem Mann, der in seinen Augen einer weiteren Mörderin ins Gesicht blickte, hätte erwarten können. Es war fast so, als wäre er auf diese Situation gefasst gewesen.
„Heute wurde er jedenfalls suspendiert und wenn er Glück hat bleibt es dabei und er bekommt eine andere Klasse zugewiesen. Falls sich jedoch der Elternbeirat wirklich beschweren will und da hat deine Mutter ein Wörtchen mitzureden, schließlich ist sie die beste Freundin der stellvertretenden Vorsitzenden", sie warf mir einen Blick zu „dann kann es sogar zu einer Kündigung kommen." Liz legte ihren Kopf auf ihre Arme und gab mir mit einem Schulterzucken zu verstehen, dass das alles war was sie wusste. Ich nickte abermals und seufzte, während ich meinem Sternenhimmel wieder einen kurzen Blick zuwarf. So gerne würde ich in die heile Welt meines fünfjährigen Ichs zurückkehren. Weg von meinem bescheuerten ersten Schultag, weg von Herbert Right, von meinen blöden Mitschülern und dem traurigen Rest von mir selbst. Hinein in eine Welt, in der alles gut war und in der Benjamin noch leben würde.
„Themenwechsel!" verkündete Liz laut, als hätte sie meine Stimmung bemerkt. Sie setzte sich in einen Schneidersitz und klatschte freudig in die Hände, während ich mich ebenfalls aufrappelte. „Jetzt kommt was Schönes. Nein Interessantes. Nein HOTTES!"
Liz braune Kulleraugen glitzerten aufgeregt, während sie ihre Ray- Ban zurück auf ihre Nase schob, die ihr vor lauter überschäumender Gefühle heruntergerutscht war. „Es sind neue Jungs da! Neue Kerleeee", das letzte Wort sang sie förmlich, während sie mit gefalteten Händen in den Himmel blickte, als bedanke sie sich für ein Geschenk Gottes.
Ein „Ach ja?", war alles, was ich dazu beitragen konnte. Immerhin hatte ich gerade mit einem toten Bruder, einem irren Vater und einem Lehrer, der mir nur vermutlich den Tod wünschte genug Probleme. Für Jungs und dem damit verbundenen Liebeskummer blieb einfach kein Platz mehr übrig. Doch Liz ignorierte mich gekonnt. Entweder wollte sie mich wirklich nur ablenken, oder sie hatte tatsächlich das Bedürfnis mit jemandem über diese neuen Kerle zu sprechen. Vermutlich wieder beides.
„Du MUSST sie sehen, wirklich sie sind der Wahnsinn". Ihre Wangen färbten sich rot und ich musste tatsächlich schmunzeln, da dies sonst nie passierte. Hatte sich Liz etwa am ersten Tag in jemanden verguckt? Oder war sie einfach nur aus dem Häuschen?
„Der eine ist hellblond, der andere braunhaarig und der letzte honigblond". Noch einmal klatschte sie in die Hände. „Darunter kann ich mir jetzt wirklich viel vorstellen Liz", kommentierte ich amüsiert. Irgendwie schaffte es dieses kleine Nervenbündel immer, mir ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Sie war eine so gute Freundin. Liz lächelte mich vielsagend an und ihre braunen Haare umrahmten ihr Gesicht dabei auf eine süße Art und Weise. „Du wirst schon sehen, was ich meine. Sie sind kurz nach dir in die Schule gekommen. Einer hat sogar nach dir gefragt".
Sie schenkte mir ein anerkennendes Grinsen, doch meines erstarrte in diesem Moment auf meinem Gesicht. Nicht nur, dass es mir auf eine seltsame Art unangenehm war, dass einer von diesen angeblich attraktiven Jungen nach mir gefragt hatte. Nein, die Tatsache, dass sie kurz nach mir angekommen waren und damit mitbekommen haben mussten, wie meine Mutter mich heulend vom Mädchenklo hinter sich hertrug, während alle um mich herum tuschelten, trieb mir die Schamesröte ins Gesicht. Tapfer lächelte ich jedoch weiter. Ich wollte nicht schon wieder eine trübe Stimmung heraufbeschwören. Also antwortete ich nur „Mal sehen" und blickte in alle Richtungen, nur nicht in ihr Gesicht. Liz verstand dies zusammen mit meiner Röte vermutlich als Nervosität, woraufhin sie lachte und zweideutig mit den Augenbrauen wackelte. „Du wirst schon sehen", wiederholte sie, während sie nach meiner Hand griff und sie drückte „morgen wird alles besser werden. Mr. Right ist weg und die heißesten Typen an unserer Schule sind interessiert an dir. Das wird dein zweiter erster Tag". Ich schenkte ihr abermals ein falsches Lächeln, während ich versuchte mich zu motivieren. Ich hoffte so sehr, dass Liz recht behielt. Eine weitere Katastrophe würde ich nicht überstehen.
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28.02.2018 : Huhu! Es hat sich so einiges geändert. Nicht nur das sich das erste Geheimnis von vielen weiteren gelüftet hat (in meinem Kopf hängen die Beziehungen wie eine Art Spinnennetz zusammen - Ohne Witz, ich habe es sogar aufgezeichnet :D), sondern auch die Kapitelanzahl und ein Teil des Inhalts haben sich verändert (in Kapitel 3 haben sich Sätze und der Inhalt von Mr. Right ein wenig geändert). Auch die Sache mit den Zwischenkapiteln habe ich eingeführt. An sich finde ich das eine echt gute Idee (Selbstlob hihi ***), da ich so schon inhaltliche Details vorraussetzen kann, ohne das Cassandra Liz oder sonst wer alles noch einmal erklären müssen.
Ein weiteres Kapitel ist bereits geschrieben und ich hoffe, ich schaffe es diese Woche noch ein bis zwei weitere vorzuschreiben. Denn: Uni is calling ...
Tut mir jedenfalls leid, wenn ich nicht regelmäßig hochladen kann, aber ich bleibe auf jeden Fall dran!
Hermann Right - 20.12.2016
Der Patient befindet sich seit circa drei Monaten in medizinischer Behandlung. Er kommt regelmäßig am Ersten des Monats und aus freien Stücken, da er laut eigenen Angaben „den Herausforderungen des Alltags nicht mehr gewachsen ist“.
Seit Juni leidet Hermann Right an den Folgen eines schweren Schicksals. Seine fünfzehnjährige Nichte Ray Right wurde im Badezimmer nach einer Party, die im Hause des Patienten stattfand, durch eine Überdosis der Droge Heroin tot aufgefunden. Sein Sohn befand sich zu diesem Zeitpunkt nicht im Haus. Die junge Schülerin stand dem Patienten sehr nahe, ihr Verhältnis beschrieb er wie „das eines Vaters zu seiner Tochter“.
Hermann Right steht einem solchen Verlust nicht zum ersten Mal gegenüber. Im Jahr 2010 starb seine Frau Annie Right (36) ebenfalls an den Folgen einer langjährigen Drogensucht.
Auffallend am Patienten ist, dass ihn nicht der Tod zweier geliebter Menschen, sondern vielmehr das Nicht-Bestrafen der vermeintlichen Täter und Mittäter in einen instabilen Zustand versetzt. Seiner Meinung seien „alle, nicht nur diejenigen, die die Drogen verkaufen sondern auch deren Freunde und Verwandte schuldig, da sie etwas Ungewöhnliches oder Kriminelles oftmals bemerken und es nicht nur tolerieren, sondern irgendwann auch akzeptieren. Ihre schwächlichen Hilfeversuche stoßen auf Widerstand und um den Menschen nicht zu verlieren sieht man einfach weg. Man kennt den geliebten Sohn, die Tochter, das Geschwisterkind, den Freund doch gut genug, dass man sicher sein kann, dass es nichts Schlimmes ist.
Ja, gerade Geschwister und Freunde, lassen sich doch in die Sache mithineinziehen und helfen den Dealern Leute mit Drogen zu töten, was sie zu Mittätern macht. Sie werden jedoch nicht bestraft, weil man ihnen nichts nachweisen kann und machen im Hintergrund einfach weiter. DAS ist es, was mich nachts nicht schlafen lässt. Weil ich weiß, dass das Töten an unschuldigen jungen Leuten weitergeht!“.
Die Ärzte sind sich einig, dass die Haltung des Patienten bezüglich der oben genannten Aussage, den Umständen des Todes seiner Frau Annie geschuldet ist. Wie sich nach ihrem Ableben herausstellte, war es Hermann Rights bester Freund gewesen, ein entfernter Verwandter des Drogenlieferanten seiner Frau, der sie nach dessen Verhaftung in seinem Namen weiterhin mit Heroin versorgte. Diese Tatsache belastet den Patienten sehr, vor allem da ihm sein Freund sehr nahestand und ihm bei seinem Umzug geholfen hatte, der Annie von ihrem Drogenkontakten fernhalten sollte. Seit dieser Zeit fühlt sich Herman Right nicht mehr sicher: „Ich habe das Gefühl von Verrätern umgeben zu sein und ich kann nichts dagegen tun. Wer weiß, wann sie wieder zuschlagen“, so die Aussage des Patienten in einer Therapiesitzung im Januar 2011.
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06.03.2018: Ich habe es geschafft und dieses Mal innerhalb einer Woche ein Kapitel hochgeladen *yippie*. Gut, es ist zwar "nur" ein Zwischenkapitel, aber immerhin. Außerdem ist es wichtig für die Handlung, mehr werde ich nicht verraten.
Andererseits... Findet ihr Hermann Right nun immer noch so schlimm, wie er am Anfang war? Oder kann man ihn verstehen? Jetzt hat sich ja noch ein weiteres Geheimnis gelüfet.
Jedenfalls habe ich eine zweite gute Nachricht: Ich habe ganze zwei (richtige :D) Kapitel vorgeschrieben. Im nächsten kommen sie endlich..... die Jungs!!! Immerhin soll das ja auch eine Liebesgeschichte werden . Nur noch eine Woche warten, dann kommt endlich das von mir lang ersehnte in Word fünf Seiten ennehmende Kapitel online. Bis dann :)
Mit hochgezogenen Schultern und einem tiefen Seufzen betrat ich an meinem zweiten ersten Tag unsere Schule, Liz an meiner Seite. Meine Mutter hatte mich zuerst nicht gehen lassen wollen, immerhin stand ich gestern kurz vor einem Nervenzusammenbruch und hatte den gesamten Nachmittag völlig aufgelöst in meinem Bett verbracht. Doch Liz hatte ihr weisgemacht, dass es sehr wichtig wäre, dass ich heute wieder an die Schule ginge, schließlich brauchte ich nach dem Durcheinander mit Benjamin und Mr. Right endlich wieder eine feste Konstante in meinem Leben und je früher ich sie finden würde, desto besser würde es mir gehen.
Ich schielte zu meiner linken Seite und sie schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln, während wir den Korridor entlangliefen. Ich wollte das hier nicht. Ich wollte zu Hause in meinem Bett sein, wo mich niemand sehen, mir niemand diese Blicke zuwerfen konnte, die an meinem Rücken klebten seit ich durch die Tür getreten war. Kein Getuschel, kein Gequatsche. Nur die Augenpaare, die mich auf meinem Weg zum Spind verfolgten und meinen zweiten ersten Tag noch schlimmer als den ersten machten. Ich musste tief schlucken und kämpfte gegen das Gefühl an in einem stummen Meer mit lautlosem Schreien unterzugehen. Ich tat das hier für Liz und meine Mum rief ich mir ins Gedächtnis. Um den Kummer, der sich durch Benjamins Tod ergeben hatte durch meine Ausbrüche nicht immer wieder zu verstärken. Weiterhin stur auf den Boden schauend bemitleidete ich mich selbst, als ich plötzlich merkte wie sich Liz neben mir verkrampfte und „Cass, Achtung..." sagte.
WUMPS!
Mein Kopf stieß gegen etwas Hartes und erschrocken wich ich zurück, schaute nach oben...und blickte in nichts anderes als einen See flüssigen Goldes.
Seine Augen strahlten förmlich von innen heraus und sein markantes Kinn wurde von einem vollen Mund betont. Die Augenbrauen, dunkler als sein hellblondes verwuscheltes Haar, zogen sich ärgerlich zusammen, während er sich mit schmerzhafter Miene an die starke Brust fasste. Ich blinzelte, weil ich kurzzeitig dachte ich bildete ihn mir vielleicht ein. Doch meine vermeintliche Illusion machte einen sehr realen Schritt auf mich zu und knurrte mit tiefer Stimme: „Pass gefälligst auf wo du hinläufst. Das ist verdammt noch mal nicht witzig!" Dann lief er an mir vorbei und rempelte mich mit seiner Schulter. Ich war sprachlos und konnte nicht einmal schwören, dass mir der Mund nicht offenstand. Wie in Zeitlupe drehte ich mich zu Liz um und hauchte: „Wer war das?".
Sie wurde rot und antwortete mit piepsiger Stimme: „Der Hellblonde".
Ich sog die Luft ein und beobachtete wie der „Hellblonde" ohne sich noch einmal umzudrehen in einem der Klassenzimmer verschwand. „Er sieht nicht schlecht aus", murmelte ich und merkte wie sich auch meine Wangen zart rosa färbten.
„Nicht schlecht?! Ist das dein verdammter Ernst?" Liz hatte sich wieder gefasst und zog mich hinter sich her zu unseren Spinden, wo sie ihre Tür so klappte, dass wir oder besser gesagt ich, größtenteils vor den Blicken der anderen abgeschirmt war. „Der Kerl ist die totale Sexbombe!", sagte sie aufgeregt und ihre Stimme schnellte schon wieder in unbekannte Höhen.
„Ich habe es dir ja gesagt. Hast du sein Gesicht gesehen? Diese Augen, hach. Wobei du vielleicht eher deines hättest sehen sollen". Sie kicherte und ich machte ein verlegenes „Pscht" und versuchte ihr meinen Finger auf die Lippen zu legen, den sie jedoch spielerisch wegschlug.
„Cass, Cass ich kenne dich jetzt schon seit fünf Jahren, aber so habe ich dich noch nie gesehen. Dass du nicht gesabbert hast war die größte Leistung die du erbracht hast." Sie lachte wieder und ich wisperte: „Sei nicht so laut. Uns hören doch alle."
Tatsächlich hatten wohl ein paar meiner Mitschülerinnen den peinlichen Zusammenstoß und mein dümmliches Verhalten mitbekommen und schienen nun die Ohren zu spitzen, um herauszufinden, was das gerade war. Jedenfalls lachten auch sie, nur war es kein sympathisches Lachen wie das von Liz, sondern es war hochmütig und abfällig. Wieder wurde ich Rot, diesmal nicht aus Verlegenheit, sondern aus Scham. Ich wendete meinen Blick ab und mich überschwappte eine Welle tiefer Verzweiflung und Verletztheit.
Zuerst war ich die Schwester eines Drogendealers gewesen, gestern die Verrückte und heute spielte ich den Clown. Seit fünf Wochen war ich die abwesende Schülerin über die alle sprachen und dann versuchte ich aus eigener Kraft meinen Weg zurückzufinden und schaffte es an zwei von zwei Tagen erneut zum Gesprächsthema und Gespött meiner Mitschüler zu werden. Mein gestriger Plan nicht aufzufallen, sodass die anderen langsam wieder Vertrauen zu mir fassen konnten, ging total daneben und auch die Sache mit dem keine-Gefühle-zulassen war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Kurz gesagt: Wie hatte ich annehmen können, dass mein Leben jemals wieder besser laufen würde? Genau wie mein Vater steckte ich in meiner ganz persönlichen Hölle fest, das wurde mir jetzt klar. Nur laufe ich nicht einfach weg dachte ich verärgert, während ich mich zu meinem Spind drehte und anfing die Bücher in meine Tasche zu räumen.
„Na und? Es ist doch egal, ob sie uns zuhören, früher hat uns das auch nicht interessiert. Bist du jetzt ernsthaft sauer?". Meine Freundin schaute mich irritiert an, ich irritiert zurück. Ich hatte sie ganz vergessen, obwohl seit meiner Aufforderung leiser zu sein nicht mehr als fünfzehn Sekunden vergangen sein konnten. Die Gedanken und Gefühle wirbelten seit Wochen so schnell durch meinen Kopf, dass ich innerhalb einer Minute von amüsiert, zu traurig, zu wütend und wieder zurück wechseln konnte.
Ich sagte: „Nein bin ich nicht", doch mein Satz ging im ersten Läuten der Schulglocke unter. Schweigend gingen wir in unser Klassenzimmer und setzten uns an unsere Plätze. Ich wollte Liz gerade mitteilen, dass es mir leid tat, da ich mich komisch verhielt und es wertschätze, dass sie trotz meiner peinlichen Aktionen immer noch zu mir hielt, doch ich kam nicht dazu, da die Tür aufging und meine Biologielehrerin samt Begleitung das Zimmer betrat. Ich konnte förmlich hören wie sämtliche Mädchen in unserem Raum scharf die Luft einzogen, Liz und ich mit eingeschlossen. Denn da waren sie: Der Braunhaarige, der Honigblonde und mein bereits angerempelter Hellblonde. Es wurde still.
„Meine Damen und Herren", begann die alte Misses Parker und schaute mit ihrer Brille, die sie seit den 1980-ern nicht mehr ausgezogen zu haben schien in die Runde. „Wie Sie sehen stoßen dieses Jahr drei neue Schüler zu Ihrer Jahrgangsstufe. Da der ein oder andere ein paar gemeinsame Fächer mit Ihnen haben wird und es mühsam wäre jede Stunde mit einer Vorstellungsrunde zu beginnen, werden sich die Herren in jeder Klasse einmal vorstellen. Bitte", sie machte eine ausladende Handbewegung, ein Zeichen für die „Herren" anzufangen. Der Honigblonde trat vor. Er hatte schulterlanges Haar und tiefgrüne Augen, in denen es listig funkelte. Wie die zwei anderen strotzte er nur so vor Selbstsicherheit und verzog seinen Mund zu einem süffisanten Lächeln, das einige Mädchen förmlich dahinschmelzen ließ. Mich schreckte diese Überheblichkeit jedoch ab. Ich hatte noch nie Kerle gemocht, die ihr Ego heraushängen ließen und dieser Kandidat war definitiv einer von ihnen.
„Ich bin Andrian", sagte er und wies auf seine zwei Freunde neben ihm, „dass da sind Brian", er zeigte auf den Dunkelhaarigen, dessen kurzes Haar stylisch nach oben gekämmt war. Er trug einen silbernen Lippenpiercing, einen schwarzen Hoodie und sein hellbrauner Blick lag auf mir, wie ich plötzlich mit Erschrecken feststellte.
„Das war der Typ, der nach dir gefragt hat", flüsterte Liz mir zu. Brian runzelte die Stirn und ich fragte mich, ob er vielleicht meinen Zusammenstoß mit seinem Freund vorhin mitbekommen hatte. Hielt er mich jetzt für bekloppt?
„...und Jace", fuhr Andrian unterdessen fort und wies auf den Jungen, den ich vorhin angerempelt hatte. Jace schien mich nicht wiederzuerkennen wofür ich dankbar war, sein Blick glitt durch die Menge und es schien als würde ihn das alles nicht interessieren. Auch er war Mitglied des Überheblichkeits-Clans stellte ich fest und sofort war ich nicht mehr so angetan von ihm. Wenn ich überhaupt jemals angetan war.
„Wir sind 19 Jahre alt und leben in der Nähe von hier. Brian und ich haben Physik und Psychologie, Jace Kunst und Geschichte als Hauptfach. Vielleicht sieht man sich ja". Andrian lächelte und diesmal war ich es, die die Stirn runzelte. Psychologie und Kunst. Von all den Fächern, die sie hätten wählen können hatte sich jeder für eines meiner beiden Hauptfächer entschieden, was bedeutete, dass ich einen von ihnen so ziemlich jeden Tag zu Gesicht bekommen würde. Auch Liz schien das klar zu werden, denn sie stupste mir vielsagend mit dem Ellbogen in die Seite.
„Vielen Dank", beendete Misses Parker die knappe Vorstellung und klatschte in die Hände. „Ich bin mir sicher Sie werden sich bei uns wohlfühlen und schnell Freunde finden", ein paar kicherten, da ihr Satz sich anhörte, als würde sie mit ein paar kleinen Kindern reden, doch Misses Parker warf einen ärgerlichen Blick in den Raum woraufhin es wieder still wurde.
„Geben Sie ihr Bestes und zeigen Sie Fleiß, dann stehen Ihnen nach Ihrem Abschluss alle Türen offen. Vor allem von Ihnen Jace habe ich viel gehört, Sie sollen ein begnadeter Künstler sein." Ich hob erstaunt die Augenbrauen und betrachtete Mr. Ignorant, der, wie ich feststellte, ebenfalls einen silbernen Ring an seiner rechten Augenbraue trug.
Jace nickte Misses Parker knapp zu und widmete sich dann wieder der Leere über unseren Köpfen, woraufhin eine kurze peinliche Pause entstand. Eingebildeter Kerl, dachte ich nur und konnte mir auf einmal nicht mehr ins Gedächtnis rufen, was ich vor zehn Minuten noch so toll an ihm gefunden hatte. Er war bestimmt jemand, der dachte er könnte jede haben. Wobei... ich schaute mich um und entdeckte Victoria, die Jace förmlich an den Lippen hing. Vielleicht lag ich mit meiner Annahme gar nicht einmal so falsch.
„Nun denn", Misses Parker klatschte ein zweites Mal in die Hände, „der Unterricht geht jetzt weiter. Sie können nun in die nächste Klasse gehen". Andrian, Brian und Jace nickten und machten sich auf den Weg nach draußen. An der Tür angekommen drehte sich Brian um und warf mir einen weiteren Blick zu, was nicht unbemerkt blieb. Ein paar Mädchen blickten neidisch zu mir herüber und ich fragte mich erneut, was ich eigentlich falsch machte. Ich kannte diesen Jungen nicht und trotzdem fiel ich auf, da ich durch seine Blicke Aufmerksamkeit auf mich zog. Was war nur los? Was wollte er von mir?
Nach unserer Biologiestunde, die alles andere als ruhig verlief, da Brian, Jace und Andrian in den hinteren Mädchenreihen das Gesprächsthema Nummer eins darstellten, machten Liz und ich uns auf den Weg zur Mensa. Wir holten uns unsere Tabletts und setzten uns an unseren Tisch, den wir nicht nur mit Tatjana und Peter, sondern früher auch mit meinem Bruder geteilt hatten. Eine Welle des Schmerzes erfasste mich, als ich mich hinsetzte und meine Hand, die das Tablett umfasste verkrampfte sich.
„Hey Cass", begrüßte mich Tatjana und ihr rötlich schimmerndes Haar leuchtete im hereinfallenden Licht auf, während ihre mandelförmigen Augen mich mitfühlend ansahen:
„Wie geht es dir?".
Ich blickte auf mein Essen und zuckte mit den Schultern. „Ganz gut denke ich. Und dir? Hast du die Sommergrippe gut überstanden?". Ich wollte von mir ablenken und zog halbherzig einen Mundwinkel nach oben, Tatjana ging darauf ein: „Ja alles bestens, Danke. Habe mich nur gewundert, dass es so schnell vorbei war. Denn mir war echt übel, keine Angst, ich erspar euch die Einzelheiten." Sie kicherte und Liz und Peter neben ihr stimmten mit ein. Mein hochgezogener Mundwinkel blieb wo er war. Sehr überzeugend Cassandra, dachte ich mir und schaute auf mein Essen. Du wirkt alles andere als normal.
„ICH habe mich gewundert, dass der neue scharfe braunhaarige Brian, der gestern nach Cass gefragt hat, seine Blicke vorhin nicht von ihr lassen konnte und ich denke, dass sie uns etwas vorenthält", wechselte Liz das Thema, woraufhin mich alle am Tisch erstaunt ansahen. Ich verschluckte mich an meinem Gurkensalat.
„Das stimmt nicht" hustete ich, während Liz mir auf den Rücken klopfte, „ich kenne den Typen nicht und habe mich auch gefragt, warum er mich angesehen oder überhaupt nach mir gefragt hat". Mit normaler Stimme fügte ich hinzu: „Oder was er mir damit sagen wollte".
„Was es auch war, er versucht es anscheinend weiterhin", Tatjana nickte mit dem Kinn hinter mich und ich drehte meinen Kopf. Und tatsächlich: Nicht weit von mir saßen Jace, Andrian und Brian, der meinen Blick auffing und ihn einen intimen Moment lang festhielt, bevor er endlich wegsah. Mein Herz begann schneller zu schlagen.
„...und er sieht verdammt heiß dabei aus", fügte Liz Tatjanas Kommentar hinzu, die sich ebenfalls umgedreht hatte. „Leute, ich glaube nicht, dass Cass momentan in der Stimmung für solche Albernheiten ist", warf Peter hinter mir leise in den Raum. Brian sagte etwas und plötzlich schauten auch Andrian und Jace in meine Richtung. Schnell wandte ich mich wieder meinen Freunden zu. „Ist schon gut", sagte ich zu meinen auf einmal stillen Freundinnen und warf Peter ein leises dankbares Lächeln zu, das er erwiderte.
„Es ist nur so, dass ich momentan wirklich kein Interesse an denen da habe", ich zeigte hinter mich, „egal aus welchem Grund auch immer der eine mich anstarrt. Da ist die Sache mit meinem Bruder", ich konnte seinen Namen nicht aussprechen und warf einen traurigen Blick auf den leeren Stuhl neben Tatjana, während sich ein Kloß in meinem Hals bildete,
„...und meinem Vater zu Hause. Da kann ich einfach noch nicht über irgendwelche Liebeleien nachdenken. Vor allem mein Vater...er... er ist...", meine Augen wurden feucht und ich merkte, wie sich das Pflaster an meinem Herzen zu lösen begann und sich Tränen einen Weg nach draußen bahnen wollten. Ein erneuter Gefühlsausbruch drohte mich zu übermannen und schon wieder schien ich die gerade noch ausgelassene Stimmung zum Kippen zu bringen.
„Schon okay", Tatjana fasste meine Hand und gab mir mit einem Blick zu verstehen, dass ich mich für nichts zu schämen brauchte.
„Ja, wir können auch über etwas ganz anderes reden. Du musst dich für nichts rechtfertigen", stimmte Liz ihr zu und lächelte mich an. Ich schaute von ihr zu Tatjana und nun stiegen mir Tränen in die Augen, weil ich so gerührt war. Womit ich schon wieder wie eine schwangere Frau von einem Gefühl zum nächsten wechselte. Super.
„Oder aber diejenigen lassen sich nicht so einfach unter den Tisch kehren", warf Peter ein und deutete mit argwöhnischer Miene hinter mich. Erneut drehte ich mich um, doch es war nicht Brian, der mich weiterhin anstarrte und mein Herz schneller pochen ließ. Ein arrogant dreinblickender Andrian war vom Tisch aufgestanden und steuerte nun direkt auf mich zu. Ich hörte Liz rechts von mir murmeln:„Was will der denn?", doch ich kam nicht dazu ihr mitzuteilen, dass ich mich dasselbe fragte, da er in diesem Moment bei unserem Tisch ankam und mich mit einem süffisanten Lächeln musterte.
„Du bist Cassandra Waters, nicht?" fragte er mit lässig klingender Stimme und ich spürte wie sich sämtliche Köpfe der Mensa nach mir umdrehten. Und wieder stehe ich im Mittelpunkt dachte ich resigniert, während ich ihm mit einem „Ähm...ja", dümmlich antwortete. Andrian musterte mich erneut und schien einen Moment zu überlegen, wie er beginnen sollte, während ich langsam ungeduldig wurde. Konnte der Typ nicht einfach sagen was er wollte und dann verschwinden? Ich wollte meine Ruhe und vor allen Dingen nicht ständig diese Aufmerksamkeit. Mit hochgezogenen Augenbrauen starrte ich ihn deshalb auffordernd an, mir mitzuteilen, was er mir mitzuteilen hatte. Die alte Cass hätte an dieser Stelle einen coolen Spruch gerissen, aber so viel Selbstvertrauen hatte ich nicht mehr. Wie bereits gesagt, ich hatte mich verändert.
Indessen stand Andrian immer noch vor unserem Tisch. Nach ein paar weiteren endlosen Sekunden fragte er schließlich eindringlich:
„Können wir reden?".
Perplex starrte ich ihn an, der Mädchentisch rechts von uns wurde gefährlich still. Reden? Über was denn? Ich kannte diesen überheblichen Kerl mit seiner gebräunten Haut und den gefährlich wirkenden Augen überhaupt nicht. Er war der Typ Mann, der sich mit den leicht bekleideten Tussis an unserer Schule abgab, nicht mit mir.
Als ich keine Anstalten machte zu antworten, seufzte Andrian frustriert auf, als wäre ich blöd oder schwer von Begriff und beugte sich zu mir hinunter. Mein pochendes Herz schlug nun noch schneller und diese unbehagliche Nähe ließ mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Er sollte von mir weggehen. Sein Gesicht war auf meiner Höhe und sein Mund bewegte sich in Richtung meines Ohres, während seine grünen Augen mich fokussierten. Ich war wie hypnotisiert. Dann flüsterte Andrian mit leiser Stimme:
„Tu nicht so als wüsstest du nicht worum es geht Cassandra Waters. Ich komme wegen Benjamin".
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Und da sind sie..... Brian, Andrian und Jace! Endlich!
Ich hoffe, dass euch das Kapitel gefallen hat und ich euch Lust auf mehr mache:)
Lasst mir gerne einen Vote oder einen Kommentar da, damit ich weiß, ob es gut
war oder was ich besser machen soll :)
Da das Kapitel sehr lange ist kommt nächste Woche kein Upload, erst die Woche darauf.
Doppelte Länge bedeutet doppelter Aufwand. Es geht jedoch auf jeden Fall weiter.
Und noch etwas: Vielen Dank für über 150 Aufrufe *-* Ich hoffe ich begeistere den einen
oder anderen.... LG <3
Wie erstarrt blickte ich meinem Gegenüber in die Augen, während sich meine Gedanken wild überschlugen. Was hatte er da gerade gesagt? Ich ließ meinen Blick kurz über meine Freunde schweifen, die mich fragend ansahen, da sie offenbar nichts von Andrians Flüstern mitbekommen hatten, bevor mein Blick zurück zu seinen wissenden Augen schnellte.
Nein, ich wusste nicht worum es ging und ehrlich gesagt wurde mir leicht mulmig zumute, weil mir die Nähe dieses Typen und seine Frage Angst machte, doch gleichzeitig hatte irgendein alter Teil von mir, der sich zwischen all den Trümmern und Scherben versteckte auch die Neugierde gepackt.
Wusste er etwa etwas über Benjamin, dass ich nicht wusste?
Hatte er vielleicht Informationen über seinen Unfall?
Konnte er mir helfen, die verstreuten Puzzleteile zusammenzufügen?
Ich unterdrückte das Unbehagen und den Schmerz, der mich zu überwältigen versuchte und mich am liebsten den Kopf einziehen ließe und sagte stattdessen leise und schwach: „Okay". Andrian lächelte und erhob sich, während ich mir meine Jacke vom Stuhl griff und ebenfalls aufstand. Als hätte man einen Knopf gedrückt, drehten sich sämtliche Köpfe nach uns um und in der ohnehin schon leise tuschelnden Mensa wurde es erschreckend still.
Ich versuchte mich klein zu machen, während ich den Blicken der anderen – inklusive der erstaunten und sorgenvollen Blicke meiner Freunde – auswich und mich zusammen mit Andrian auf den Weg in die grüne Außenanlage unserer Schule machte. Solange dieser alte Teil von mir die Kraft hatte an der Oberfläche zu bleiben, konnte ich nicht zulassen, dass er von misstrauischen Aussagen, die von Peter, Tatjana oder Liz kamen zunichte gemacht wurde. Dafür und für den Schmerz, der mich wie in den letzten Wochen sicher einholen würde, hatte ich später genug Zeit. Nun klammerte ich mich an der Hoffnung fest, dass ich etwas erfahren könnte, dass all das ein wenig erträglicher machte, eine Erklärung vielleicht, ein paar Einzelheiten, die ich noch nicht in Benjamins Zimmer gefunden oder von seinen Freunden erfahren hatte.
Meine Gedanken wirbelten weiter in wilden Kreisen, als Andrian stehen blieb und sich zu mir umdrehte. Wir waren ein Stück weit weg von der Mensa hinter einer Ecke unseres Schulgebäudes verschwunden, wo wir gut abgeschirmt vor den Blicken Neugieriger waren. Es war warm, eine leichte Brise wehte und nur die leicht orange -, und rotfarbenen Blätter an den Bäumen ließen darauf schließen, dass der Herbst schon bald vor der Tür stand. Er sah mich an, seine honigblonden Haare, durch den Wind etwas verwuschelt umrahmten sein Gesicht auf eine sexy Art und Weise, während seine leicht hochgezogenen Augenbrauen und sein weiterhin überhebliches Grinsen eine erwartungsvolle Miene auf sein Gesicht zauberten.
„Und?", flüsterte er und kam mir wieder näher, was mich automatisch einen Schritt zurücktreten ließ. Auch wenn er gut aussah, so schreckte mich der Ausdruck in seinen grünen Augen doch ab. Ich konnte es nicht benennen, doch wirkte er auf mich wie jemand dem ich nicht vertrauen sollte, so verrückt das auch klang, immerhin kannte ich ihn kaum. Da ich nicht wusste, wovon er sprach, noch weniger was ich darauf erwidern sollte, besann ich mich auf die Spiegelmethode, die ich in Psychologie gelernt hatte und zog nun meinerseits die Augenbrauen hoch, ebenfalls eine erwartungsvolle Miene aufgesetzt.
Andrian stöhnte frustriert auf und sah sich kurz nach allen Seiten um, bevor er abermals einen schnellen Schritt auf mich zu machte und plötzlich mein Handgelenk packte. Schnell entriss ich es ihm. Was bildete er sich ein?
„Hör zu, wir können das auf die ahnungslose oder die schnelle Tour machen. Da mir die ahnungslose Tour zu lange dauert, kommen wir bitte gleich auf den Punkt.", sagte er ungeduldig, streckte seine linke Hand aus und öffnete sie.
Mit einem fordernden „Gib ihn mir", fügte er seinen für mich sinnfreien Sätzen einen weiteren hinzu.
Wovon um alles in der Welt sprach er?
Als ich ihn immer noch wie vom Donner gerührt mit großen Augen anstarrte, wurde Andrians Blick ärgerlich und ein Muskel an seinem Kiefer begann zu zucken. Nach einem weiteren kurzen Blick über die Schulter, packte er mich auf einmal an meiner Bluse und stieß mich gegen die Mauer. Mir entfuhr ein keuchendes „Aua" und ich fasste mir an den brennenden Rücken, während ein Adrenalinstoß meinen Körper erfasste.
Warum um alles in der Welt tat er mir weh?
Was war mit diesem Typen nicht in Ordnung?
Plötzlich ängstlich versuchte ich an ihm vorbeizugehen, doch Andrian versperrte mir den Weg. Sein Gesicht lag im Schatten und die tiefgrünen Augen funkelten gefährlicher denn je, als sich ein unheimliches Glimmen in seinen Blick stahl. Eine Gänsehaut erfasste mich und mir ging alles zu schnell, als er abermals mein Handgelenk packte, dieses Mal mit voller Kraft.
„Mach keinen Scheiß, Cassandra", fuhr er mich an, während ich schmerzhaft mein Gesicht verzog. Grob sagte er: „Gib mir den Stoff!".
„Den Stoff?!", krächzte ich, meine Stimme nicht mehr als ein Flüstern, mein Verstand vor plötzlicher Angst wie gelähmt, mein Handgelenk pulsierend, da kaum Blut hindurchfloss.
„Den Stoff!?", äffte Andrian mich abfällig nach.
„Erspar dir das Unschuldsplädieren! Gib mir das Kokain, dass mir Ben noch schuldet, dann sind wir quitt". Ben, sagte ich, in Gedanken völlig überfordert mich mit etwas anderem zu befassen. Mit diesem Spitznamen hatten ihn nur enge Freunde und ich ihn gerufen. Wie in Trance schaute ich zu Andrian auf, meine Sinne für einen kurzen Moment wie in Nebel gehüllt. War ER etwa ein guter Freund von Benjamin gewesen? Andrian holte mich zurück in die Wirklichkeit. Er zerrte mich am Arm und knurrte mir ins Gesicht, unterdrückte Aggression war in seiner Miene zu lesen.
„Cassandra ich frage dich jetzt ein letztes Mal, bevor ich nicht mehr nett zu dir bin", ich blickte auf meinen schmerzenden Arm.
„Sag mir jetzt wo das verdammte Kokain ist". Der Nebel löste sich und die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Benjamin. Die Drogengerüchte. Ich als seine „Komplizin", wie Hermann Right es sagen würde. Ich schüttelte den Kopf.
„Ben verkauft keine Drogen", sagte ich und überging den Schmerz, der in mir aufstieg, da ich von meinem Bruder im Präsens sprach. Es gab jetzt definitiv Wichtigeres und wenn ich nicht bald aus der Situation herauskam, so vermutete ich, würde ich größere Schmerzen haben. Andrian kam meinem Gesicht näher, so nahe, dass sich unsere Nasenspitzen berührten.
„Natürlich tut er das, Schätzchen", flüsterte er charmant und die Wut in seinem Blick, die kurzzeitig dem Spott gewichen war, kam zurück. „Und", knurrte er, „das weißt du auch.
Genauso wie du weißt, dass er die kleine Right auf dem Gewissen hat. Genauso wie du weißt, dass er Mir", er tippte sich auf die Brust, um seinem Satz Ausdruck zu verleihen „noch Kohle in Form von weißem Pulver schuldet. Das Du", er grub seinen Zeigefinger in mein Schlüsselbein, „mir jetzt geben wirst".
Er entfernte sich wenige Zentimeter und ich musste tief einatmen, da ich vor Angst die Luft angehalten hatte. Dann löste ich, Andrian in die Augen schauend, mein Handgelenk aus seinem Griff. Er ließ mich gewähren, doch die Wut und Ungeduld flackerte weiter in seinem Blick.
„Okay hör zu", begann ich mit klopfendem Herzen und musterte ihn kurz. Seine hohen Wangenknochen, seine muskulöse Statur. Wie konnte jemand, der oberflächlich so anziehend aussah in Wahrheit ein gewalttätiger, geisteskranker Drogenkonsument sein?
„Ich...", sagte ich und trat einen Schritt zu ihm. Eine Hand ließ ich in meine Jacke gleiten, woraufhin die Aggressivität aus seinem Blick verschwand und ein zufriedener Ausdruck seine selbstsichere Miene erhellte. Meine Hand aus der Tasche ziehend kam ich ihm näher, hob ein Bein....
und trat ihm so fest ich konnte in die Eier.
Eine winzige Sekunde lang starrte er mich perplex an, doch dann fiel Andrian um, wie ein gefällter Baum. So schnell ich konnte sprang ich über ihn und rannte in Richtung der Mensa. „Das wirst du bereuen!", hörte ich ihn hinter mir stöhnen, doch darüber zerbrach ich mir in diesem Moment nicht den Kopf.
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Ich hoffe euch gefällt das Kapitel xxx
Zwei Stunden und dreißig Minuten später machte ich mir jedoch sehr wohl Gedanken darüber, was Andrian mit dem „Bereuen" gemeint hatte. Ehrlich gesagt machte es mich halb wahnsinnig und ich hatte mir in der letzten Stunde die schlimmsten Szenarien ausgemalt, was meine ängstlich blasse Gesichtsfarbe um ein paar weitere Nuance aufhellte.
Würde er mich versuchen alleine anzutreffen? - Auf jeden Fall.
Würde er mich noch einmal verletzen? - Nicht sicher, aber doch sehr wahrscheinlich.
Also versuchte ich mich den restlichen Tag so oft wie möglich bei Liz, Peter oder Tatjana aufzuhalten. Was nicht wirklich einfach ist, wenn man bedenkt, dass ich ihnen nicht die Wahrheit über Andrians und meinem Zusammenstoß erzählt hatte und sie das wussten.
„Ist alles okay?",
„Über was habt ihr geredet?",
hatten sie gefragt, nachdem ich völlig außer Atem bei der Mensa ankam. Es hatte geklingelt und wir waren eine der letzten, die sich im Raum aufhielten.
„Andrian ist total geisteskrank! Lasst uns schnell weggehen, bevor er wiederkommt. Er hat es auf mich abgesehen", hatte ich ihnen hektisch erzählt, während ich wie Andrian vorhin rechts und links über meine Schulter geschaut hatte. Nun war ich diejenige, die nicht gesehen werden wollte.
„Was hat er dir angetan Cass?". Peter war vorgetreten, als wolle er mich beschützen.
„Er hat mich bedrängt und geschubst. Wie schon gesagt, der Typ ist nicht ganz dicht, weswegen wir wirklich losgehen sollten". Die letzte Passage hatte ich überdeutlich betont, ein Zeichen der Dringlichkeit meinerseits. „Wir sind zu viert, er ist alleine. Wir müssen gar nichts. Warum hat er dich bedrängt?" Nun war auch Liz nähergetreten.
„Er wollte...ach keine Ahnung, was er wollte... wahrscheinlich etwas von mir?!". Das war die Lüge gewesen und dazu eine wirklich schlechte. Sechs Augenpaare hatten mich im gleichen Moment durchschaut. „Er hat dich noch nie zuvor gesehen, nach deinem Namen gefragt und dich in eine Ecke gedrängt, weil er scharf auf dich war? Und das am ersten Tag an seiner neuen Schule?", hatte sich Tatjana eingeschaltet, wofür ich sie einen klitzekleinen Moment hasste.
„Ja, so war es. Irgendwie. Können wir jetzt bitte gehen? Ich fühle mich hier nicht wohl". Ich hatte eine frustrierte Handbewegung gemacht, woraufhin sich die Augenpaare einen mehr als eindeutigen Blick zuwarfen und dann nickten oder mit den Schultern zuckten. Ab diesem Moment hatten die auffordernden Seitenblicke meiner Freunde begonnen, die jede auf seine Weise darauf zielten mich zum Reden zu bringen, nach dem Motto: „Du kannst uns alles erzählen" oder auf Liz's Art: „Du glaubst doch nicht, dass ich dir das ernsthaft abkaufe, oder? Was ist wirklich passiert?"
Ja, was war dort im Garten geschehen? Diese Frage stellte ich mir auch. Es wäre einfach die Wahrheit zu sagen, immerhin war es ja nichts Schlimmes, oder?
Andrian hat mich bedrängt, weil er dachte, dass Benjamin tatsächlich Drogen verkauft hat und weil mein Bruder noch Schulden bei ihm hatte, sollte er es ihm in Form von Kokain zurückzahlen, ist das nicht komisch?
Fertig, ein kleiner Satz, der alles zusammenfasste, der schnell über die Lippen gebracht werden konnte. Doch was wäre dann? Es war einfach das Geplapper der Schüler abzustreiten, immerhin entstanden und verloren sich Gerüchte. Manche hielten sich fester als andere, aber solange es nichts gab, was sie bestärkte - es wurden ja keine Drogen ins Benjamins Zimmer gefunden! - gingen sie mit der Zeit in all den anderen unter. Wenn jedoch ein völlig neuer, beliebter Junge daherkommt, der genau weiß, wie er andere für sich einnehmen kann und erzählt, dass Benjamin Drogendealer war, sieht die Sache schon anders aus. Nun gäbe es einen Zeugen, einen Außenstehenden, der ihn dabei gesehen hat, Drogenkonsum hin oder her.
Jemand, der Ben kennt.
Ich stellte mir vor, was in den nächsten Wochen passieren würde. Das Flüstern meiner Mitschüler würde lauter werden, die Blicke ängstlicher oder abfälliger. Ich wäre nicht mehr das Mädchen, dessen Bruder bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, das Mädchen über dessen Bruder gemunkelt wurde, dass er Drogen verkaufte, dessen Lehrer sie ohne jeglichen Grund attackiert hatte. Ich wäre nicht mehr nur ein Tagesgespräch, dass sich mehrere Wochen hält, bevor es von der Ankunft heißer Typen abgelöst wird und plötzlich wieder integriert wird, da man vergessen hat sich von ihr fernzuhalten.
Ich wäre Cassandra Waters, Schwester von Benjamin Waters, früherem Drogendealer.
Schwester des Mörders von Ray Right.
Eine Mittäterin.
Ich stellte mir die Blicke meiner Freunde vor, die das Vertrauen in mich verloren, da ich ihnen nicht die Wahrheit gesagt habe. Moment, die Wahrheit? - Ben war kein Drogendealer! Andererseits: Woher kannte Andrian ihn? Benjamin hatte sich nie mit solchen Typen abgegeben. Meine Unsicherheit wuchs, je mehr ich mir über das vorherige Gespräch Gedanken machte und war der einzige Grund, der mich davon abhielt, meinen Freunden alles zu erzählen. Zu groß war die Angst meine und vor allem Bens Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Also schwieg ich und starrte Löcher in die Luft, während ich mich bei Liz und Co. aufhielt und ihnen gleichzeitig so gut es ging auswich, so paradox das auch klang. Bis schließlich auch die letzte Unterrichtsstunde zu Ende ging und ich mich mit meiner besten Freundin auf den Weg zu unseren Spinden machte. Ängstlich lief ich hinter ihr her, meine Blicke zu allen Seiten wandernd, penibel darauf bedacht Andrian nicht in den Weg zu laufen. Doch natürlich hatte ich Pech. Er wartete schon auf mich. Lässig lehnte er zusammen mit Jace und Brian an meinem Spind und schaute mir mit wütender Miene entgegen, was meinen Herzschlag auf der Stelle beschleunigte. Scheiße, dachte ich und sah im Geiste das Damoklesschwert auf mich herunterfallen. Ich war erledigt.
„Hallo Cassandra", begann erstaunlicherweise Brian mit ruhiger Stimme das Gespräch. Misstrauisch blickte ich zu ihm hinüber. Bestimmt hatte Andrian ihnen alles erzählt und sie wollten mich gemeinsam fertigmachen. Ich betrachtete Jace, der im Hintergrund stand und mal wieder ignorant in eine andere Richtung starrte. Welche Rolle würde er dabei spielen?
„Wir oder genauer gesagt Andrian wollten mit dir sprechen. Das vorher mit der...", er warf einen kurzen Blick zu Liz und ehe ich mich versah verließ ein Wort meine Lippen:
„Belästigung?"
Andrian stieß ein abfälliges Schnauben aus. „Ja genau, die Sache, dass Andrian dich „belästigt" hat", er betonte das Wort überdeutlich und sein Blick hielt den Meinen fest, als wolle er mir zugleich etwas anderes vermitteln, „jedenfalls...war das absolut nicht in Ordnung von ihm. Andrian ist manchmal etwas, sagen wir voreilig und impulsiv"
- „oder schlichtweg blöd", meldete sich plötzlich Jace dazwischen. Er warf mir einen kurzen Blick zu und ich meinte so etwas wie schalkhafte Anerkennung in seinem Blick zu lesen, doch zu kurz war der Moment, als das ich mir wirklich sicher sein konnte. Andrian schenkte ihm einen hasserfüllten Blick, doch Jace lächelte reuelos, was ihn mir sogleich etwas sympathischer machte, ignoranter Arsch hin oder her.
„Jedenfalls", lenkte Brian die Aufmerksamkeit wieder auf sich. „ist Andrian hier, um sich bei dir zu entschuldigen Cassandra". Ein erstauntes „Was?" verließ meine Lippen und ich glaubte mich verhört zu haben.
„Ja", meldete sich nun wieder Jace zu Wort, auch wenn er dabei nicht mich, sondern seinen wütenden honigblonden Freund anstarrte, „er hat zusammen mit uns darüber nachgedacht und entschieden, dass es falsch war sich an seinem ersten Tag so unbeliebt zu machen.". Mit einem Klaps auf Andrians Rücken fügte er hinzu: „Hop hop!".
Abermals warf dieser ihm einen hasserfüllten Blick zu, was Jace jedoch ein weiteres Mal geflissentlich ignorierte. „Also schön", begann mein Peiniger und trat einen Schritt nach vorne. „Cassandra es tut mir leid". Man sah ihm an, dass es ihm all seine Kraft kostete die Worte auszusprechen. Ich fragte mich warum er das tat. Jeder konnte ihm ansehen, dass es ihm nicht ernst damit war. Sein Blick versuchte mich förmlich in Flammen aufgehen zu lassen. Warum zum Teufel wurde er also von Brian und Jace dazu gedrängt?
Ich blickte zu den beiden hinüber und merkte wie sich meine Augen zu schlitzen verengten, während ich die reuelose Entschuldigung seitens Andrian mit einem kurzen „Okay. Schon gut", quittierte. Ich wollte die Situation so schnell wie möglich beenden und von hier verschwinden. Irgendetwas stimmte mit diesen Kerlen nicht, doch was es auch war, ich konnte sie nicht durchschauen. Aus diesem Grund schien es mir das Beste, auf Abstand zu gehen. Liz schien der gleichen Meinung zu sein: „Also ich weiß ja nicht, was hier genau abgeht, aber ich würde vorschlagen, wir beenden unser Gespräch an dieser Stelle. Es wäre vermutlich besser, wenn sich unsere Wege die nächsten Tage erst einmal nicht kreuzen. Vor allem Andrians und Cassandras Wege." Ihre Stimme klang ein wenig unsicher, wie schon gesagt, war sie nicht der Typ, der andere verteidigte, noch dazu schien sie uns die Geschichte nicht ganz abzukaufen, so wie sie ihren Blick schnell zwischen uns hin und her wandern ließ. Ich rechnete ihr es aus diesem Grund hoch an, dass sie für mich das Wort ergriff.
Andrian schnaubte wütend, nickte jedoch nach einem Stoß von Jace (der mir mit jedem weiterem Schlag immer sympathischer wurde) widerstrebend. Auch Brian nickte geistesabwesend, sah mich dann jedoch nachdenklich an. Er übernahm das Wort: „Ja, das ist vermutlich besser so.", er drehte sich zu Jace und Andrian um: „lasst uns gehen. Tschüss ihr beiden". Dann liefen die Dreien, jeder mit seinem ganz eigenen Gesichtsausdruck, an uns vorbei und beendeten die unangenehme Situation genauso schnell, wie sie sie begonnen hatten. Andrian blickte hasserfüllt, Jace eindringlich zu mir herüber und Brian...legte mir blitzschnell einen kleinen zusammengefalteten Zettel in die Hand. Ich erstarrte kurz, doch schloss instinktiv meine Hand, während ich hoffte, dass Liz die Aktion nicht gesehen hatte. Diese war jedoch zu sehr beschäftigt den Jungs misstrauisch hinterher zu blicken.
Während sie sich zu mir umdrehte schob ich Brians Zettel tief in meine linke Hosentasche. Liz schaute mich einen langen stummen Moment an und schien mich mit ihrem Blick zu durchleuchten wie einen Rucksack, den man am Flughafen auf gefährliche Inhalte durchsuchte. Dann sagte sie leise: „Ich weiß nicht, was das gerade war Cass und wir wissen beide, dass du etwas vor mir verheimlichst. Aber ich merke, dass du nicht darüber reden willst, also..." sie blickte auf die Uhr an der Wand, „schlage ich vor, dass wir uns beeilen, um den Bus noch zu erwischen. Du wirst schon zu mir kommen, wenn du mich brauchst."
Ich hätte sie küssen können, doch schämte mich viel zu sehr für mich selbst, als dass ich irgendeine Regung zeigte.
„Danke", erwiderte ich nur knapp. Mit einer Kopfbewegung nach rechts fügte ich hinzu: „Ich muss nur noch kurz auf's Klo okay?". Liz nickte und ich ging zu den Toiletten. In der Kabine mit dem eingeritzten „B" schloss ich mich ein und holte Brians Zettel heraus. Meine Hände zitterten, als ich das verknitterte Papier auseinanderfaltete und die Botschaft darin las. Meine Augen wurden feucht und ich zog scharf die Luft ein. Zwei kleine Sätze standen dort. Doch sie erschufen einen Berg neuer Fragen, der sich vor mir auftürmte und mich unter sich zu begraben versuchte.
In krakeliger Schrift stand dort: Cassandra, Ben fehlt mir auch. Sei stark!
Es fühlt sich an, als würde ich mich nach Jahren wieder melden, dabei waren es "nur" zwei Monate. Hoffentlich ist das Kapitel wüdig genug, um eine so lange Pause zu entschuldigen :D Vermutlich eher nicht...aber was soll's, ich lade es trotzdem hoch xx
Tag der Veröffentlichung: 03.10.2017
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