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Ghosts We Keep

Kennt ihr das, wenn ein verlorener Gegenstand wieder zum Vorschein kommt und all die damit verbundenen Erinnerungen von neuem zum Leben erwachen? Auf einmal seht ihr euch von einer anderen Perspektive, hört den Ball dribbeln, wenn ihr euch an das gemeinsame Basketballspiel mit Freunden erinnert. Habt das Gesicht eurer Eltern vor Augen, als ihr eure alten Mitschriften durchblättert. Die erste schlechte Note. In etwa so ging’s mir als ein uraltes Bild meiner Kindheitsfreundin aus meinem Portemonnaie fiel. Ich hatte längst vergessen, dass ich es überhaupt besaß und doch genügte nur ein Blick damit ich uns lachen hören konnte, als wir in diesem viel zu engen Fotoautomaten, die dümmsten Grimassen schnitten. Es war nur ein winzig, kleiner Moment und doch hatte ich damit eine Reihe von Erinnerungen aktiviert, die mich in Wellen überfluteten. Ich kniete mich auf den Boden und legte das Foto behutsam zurück an seinen Platz. Manchmal reichten diese kleinen Dinge schon aus, um sich zu fragen, was aus den Menschen geworden war, die einst so viel Platz und Bedeutung in unserem Leben eingenommen hatten. Ihre Nummer hatte ich schon längst nicht mehr, mir fiel nicht einmal der Grund ein, weshalb ich sie überhaupt erst gelöscht hatte. Doch um meine Neugierde zu folgen kehrte ich zurück an dem Ort, an dem unsere Freundschaft begonnen hatte. Ein kleiner Vorort, an dem die Zeit still zu stehen schien. Ich stieg aus dem Bus und erkannte sogleich, dass sich hier wirklich nichts verändert hatte. In diesem verschlafenen kleinen Ort gab es einen kleinen Blumenladen, einen Bäcker und einen Friseur. Alle drei mussten sich so rentiert haben, dass ihnen auch diese schlappe 10 Jahre meiner Abwesenheit nichts anhaben konnte. Anders, als mein kleines Foto, das nur einen einzigen Moment in sich beherbergte, strotzte dieser Ort nur so vor Nostalgie. Die Essence unsere Kindertage. Mir war nicht klar, was mich hier her zurückgezogen hatte. Es lag kein Sinn darin. Aber der Wind trug ihre Stimme fort als mich meine Schritte fast automatisch, zurück an dem Ort brachten, der uns zu Freunden gemacht hatte.

 

„Komm da runter – sofort – du tust dir noch weh“ erinnerte ich mich. Das war genau hier, bei dieser Mauer, an der ich entlangwanderte. Ich musste weiter nach oben, die Straße rauf, auf einem Hügel – dort standen wenige Einfamilienhäuser, unter anderem, die unseren. „Ganz sicher nicht“ erwiderte sie belustigt. Das Ding, auf dem sie wanderte, war schon alt und bröckelig als wir hier in der Gegend gemeinsam zur Schule und wieder zurück gingen. Jetzt wirkte sie rissiger und instabiler, aber sie stand noch. Manchmal wusste ich nicht ob sie es liebte mich aus der Haut fahren zu sehen oder ob sie einfach nur tun wollte wonach ihr geradestand, vermutlich war es ein Mittelding aus beidem. „Na gut. Ich komm runter. Aber du hörst auf ihm die kalte Schulter zu zeigen. Er hat Mist gebaut. Aber er ist kein schlechter Mensch, okay?“ – „Ach hör auf, auf wessen Seite stehst du eigentlich, dass du ihn jetzt vor mir verteidigst!“ Ich ging einen Schritt schneller, denn ich musste zugeben, es belastete mich was ich erfahren hatte. Nichts destotrotz würde ich darüber hinwegkommen. Nur nicht heute und auch wenn ich jetzt wütend wurde, noch während ich darüber nachdachte, war ich doch dankbar, dass sie meine beste Freundin war.

„Na – auf deiner! Weißt du doch“ rief sie mir hinterher.
   „Ich hasse dich.“ murmelte ich mürrisch in mich hinein und bliess die Wangen dabei auf, wie ein Eichhörnchen, das Futter in seinen Wangen verstaut hatte.

„Lüge!“ ich konnte in ihrer Stimme hören, wie breit sie lächelte, als sie mich enttarnte. Neuerdings war das auch nicht so schwer, das sagte ich ihr immerzu, wenn ich wütend wegen irgendeiner Kleinigkeit war. „Diesmal nicht“ sagte ich und unterdrückte ein Lächeln, während ich mein Tempo erneut anzog. Eigentlich mochte ich diesen allwissenden Ausdruck in ihren Zügen, als wäre sie mir stets 3 Schritte voraus, was meine Emotionen betraf. Ich lief vor, denn ich ging davon aus das sie, die Mauer hinabsteigen und mich danach direkt einholen würde. Allerdings unterschätzte ich ihren Sinn zur Vernunft und sie folgte mir schnellen Schrittes noch während sie auf der Mauer entlang ging. Ein dumpfer Aufprall, hinter mir, ließ mich sofort erstarren. Ich drehte mich um und sah sie auf dem Boden sitzend. Rasch kehrte ich zu ihr zurück, um nach ihr zu sehen. Ein Blick auf ihre Knie verriet mir das sie sich aufgeschrammt hatte, doch sie rieb mit schmerzverzerrtem Gesicht ihren Rücken, was darauf schließen ließ, dass sie sich ihre vier Buchstaben verletzt hatte. „Ich hab dir doch gesagt, du sollst runterkommen“ mahnte ich sie als ich dort so vor ihr kniete.

„Uhm, soll ich dich stützen oder so?“ bot ich ihr an – „Bin doch schon unten.“ murmelte sie verletzt. Doch sie nahm dankbar meine Hilfe an.

„Du bist echt, die größte Lügnerin“ lächelte sie schelmisch. „Du tust immer so, als wäre dir alles und jeder egal. Aber dann kommst du trotzdem immer wieder zurück“ Ich versuchte sie nicht anzusehen, aber ich presste die Lippen gegeneinander und fühlte mich ertappt. Hier war ich also und tat genau das. Vielleicht hatte das Haus inzwischen neue Besitzer gefunden, dachte ich mir. Vielleicht war ihre Familie ja auch umgezogen. Ich würde es gleich selbst erfahren, sobald ich die große, alte Eiche erreicht hatte. Dort rückten auch die niedlichen Vorstadt-Häuschen mit ihren typischen roten Backsteindächern in Sichtweite. Ich legte meinen Hand auf das von Sonnlicht aufgewärmte Holz der Eiche und sah hinauf in die Wipfel.

„Ich hab so gute Neuigkeiten“ erinnerte ich mich daran, wie ich ihr fast schon ins Ohr quietschte, während ich quasi auf der Stelle auf und ab hüpfte. Ich erdrückte sie beinahe mit meiner Freude. „Es ist etwas unglaubliches passiert“ sagte ich ihr, noch ganz aufgeregt, von dem was ich zu berichten hatte.

„Wirklich – na gut, dann lasse ich dir den Vortritt. Ich hab auch Neuigkeiten.“ Das hätte sie mir nicht zwei Mal sagen müssen. Ich erzählte ihr davon das ich an meiner Wunsch-Uni akzeptiert wurde und das ich dafür umziehen musste. Natürlich klärte ich sie sofort darüber auf, dass es nicht das Ende unserer Freundschaft bedeuten musste, dass ich ihr – wie gewohnt – jeden Tag auf den Keks fallen würde, mit Anrufen, Textnachrichten und wenn ich nicht gerade zu faul dafür wäre auch mit Briefen. Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie wurde etwas blass um die Nase, doch sie drückte mich fest an sich und gratulierte mir zu meinem Erfolg. Erst jetzt rief ich mir in Erinnerung, dass sie mir nicht verraten hatte welche Neuigkeiten sie für mich hatte. Doch meine kleine Reise in die Vergangenheit sollte hier noch nicht ihr Ende finden. Irgendetwas in mir suchte nach einer Spur oder dergleichen. Ich sah mir unsere alten Häuser an, sie waren noch immer bewohnt. Wie ich vermutet hatte. Vielleicht sollte ich einfach an ihrer Haustür klopfen – vielleicht lebte ihre Familie noch dort und – und was dann? Das war doch krank. Niemand kommt nach 10 Jahren zurück und fragt nach seiner besten Freundin.

 

„Immer noch ein Angsthase, wie damals, hm?“ hörte ich sie sagen. Direkt neben mir. Ich drehte mich um, aber ich sah sie nicht und dafür gab es nur 2 rationale Erklärungen.

1. Irgendetwas stimmte mit diesem Ort nicht – doch eher unwahrscheinlich. Die andere Erklärung war

2. Irgendetwas stimmte mit mir nicht. Viel wahrscheinlicher, denn seit ich hier angekommen war sah ich uns überall.

„Ehrlich gesagt, ich hab dich viel eher hier erwartet. Aber du hattest schon immer ‚ne lange Leitung.“ hörte ich sie erneut neben mir sprechen. Okay das reicht, sie machte sich eindeutig über mich lustig. Sie hatte mich kommen sehen und jetzt trieb sie ihre Spielchen mit mir. Typisch für sie. Ich folgte dem Klang ihrer Stimme, die manchmal weit entfernt von mir klang. Als würde sie sich hinter einem Busch oder einem parkenden Auto verstecken und von dort aus zu sprechen. Doch manchmal war sie auch nah hinter mir und ich könnte ihre Stimme hören, gerade also als würde sie mir etwas zuflüstern wollen.

„Was machen wir hier?“ fragte ich sie, als wir zurück an der Eiche waren. Sie grinste unschuldig, aber ihr Ausdruck erinnerte mich an blanke Absicht.

„3 Dinge“ wurde sie geheimnisvoll. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und wartete auf diese Aussagen. Alles an diesem Treffen war ungewöhnlich. Die Art, wie ich mich daran erinnert hatte, wie ich hierher zurückgefunden hatte und auch ihr plötzliches Auftauchen.

„Danke – dass du zurückgekommen bist“ die erste Sache.

„Ich hoffe du bist mir irgendwann nicht mehr böse deswegen und – das war dann wohl der zweite Punkt.

„Warum so kryptisch?“ wollte ich sie unterbrechen. Auf einmal hörte ich, wie jemand meinen Namen rief und meine Aufmerksamkeit ruhte nur wenige Augenblicke auf der Quelle des Lärms, den diese Stimme verursachte. Doch fühlte ich urplötzlich die Wärme ihrer Lippen auf meiner Wange und dann war sie verschwunden. Es war ihre Mutter, die mich bei meinem Namen gerufen hatte. Sie hatte mich wohl gesehen und war nun etwas außer Atem als sie mich endlich erreicht hatte. Ich blickte auf die Eiche und legte meine Stirn in Falten. Verdammt hatte sie sich schon wieder irgendwo versteckt? „Schon so lange her, seit du das letzte Mal hier warst – aber es freut mich, dich zu sehen und sie sicher auch“ ihr Blick fiel auf den kleinen Stein und ein Kreuz das vor der Eiche als eine Art Denkmal aus dem Boden ragte. Das war mir zum ersten Mal aufgefallen. Ich biss mir auf die Lippen.

„Komm doch noch kurz mit rein, wenn du möchtest. Ich hab gestern erst Kuchen gemacht. Wir können Sie später gemeinsam besuchen gehen und ihr ein paar Blumen dalassen“ redete sie auf mich ein und obwohl sie neben mir stand, wurde ihre Stimme immer leiser neben meiner neu gewonnen Realisation. Da verstand ich erst was meine beste Freundin mir hatte sagen wollen.

 

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Tag der Veröffentlichung: 24.03.2021

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