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Titelseite

Michaela Feitsch

 

 

Die

Stundenwelt

 

Geschichten aus der Siebenwelt

Erster Band

Cheyenne

 

 

 

 

 

Impressum

IMPRESSUM

 

2. überarbeitete Ausgsbe, erschienen Juli 2017

Text Copyright  2016 Michaela Feitsch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Michaela Feitsch

Lektorat: Astrid Pfister

 

Vorwort

 

 

»Ich schenke dir eine Welt.

Sie wird für Sieben Stunden existieren.

Ich werde das Schicksal dieser Welt

in deine Hände legen.«

 

 

Der Lehrer

(Gespräch mit dem Novizen)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1 Std. 49 Min. 59 Sek.

1.Kapitel

 

 

»Opa, Opa erzählst du mir bitte noch einmal die Geschichte von der Entstehung unserer Welt?«
Der Großvater klappte seine Taschenuhr mit einem Handgriff auf. Das Federwerk des mechanischen Zeitmessers rumorte im Inneren und wies ihn auf die späte Stunde hin.

Er schenkte seinem Enkel ein nachsichtiges Lächeln. 

»Ach Jimmy, du sollst doch jetzt schlafen. Morgen ist schließlich dein sechster Geburtstag, den erlebt man doch nur einmal. Glaub mir, du wirst es bereuen, wenn du nicht richtig ausgeschlafen bist, denn wir haben morgen so einiges vor. Ich verspreche dir, es wird ein wirklich aufregender Tag.«
Dem Jungen fielen darauf unzählige Ausreden ein, warum eine Geschichte aber jetzt genau das Richtige wäre. Der Großvater ließ sich nach einer kurzen Diskussion, die sein einziger Enkel regelmäßig gewann, schließlich doch erweichen. Er begann zu erzählen.
»Es war einmal, vor langer Zeit, da existierte eine Welt namens Erde. Auf diesem fremden Planeten lebten eine Vielzahl von Religionsgemeinschaften. Über diese Welt und ihre Religionen ist uns so gut wie nichts bekannt, jedoch eine Kleinigkeit wissen wir genau. Eines Tages ereignete sich in einem Kloster oder Tempel einer dieser Religionsgemeinschaften eine ganz besondere Sache. Unsere Siebenwelt wurde erschaffen. Hörst du mir auch noch aufmerksam zu Jimmy?« 

Der Junge nickte aufgeregt.
Der Großvater sprach weiter: »Der Meister und sein Schüler spazierten von dem Klostergemäuer in den Garten der Abtei. Auf dem Weg die Treppen hinab, unterhielten sie sich über den freien Willen der Menschen und über das gesamte Schicksal der Erde. Der Schüler vertrat die Auffassung, dass die Menschen, wenn man ihnen den richtigen Weg nur zeigen würde, den Fortbestand der Erde bestimmt sichern könnten. Sie würden intuitiv richtig entscheiden und für den Erhalt und das Wohlbefinden ihrer Welt aus freien Stücken sorgen können. Der Meister jedoch gab zu bedenken, dass jede große Ära der Geschichte irgendwann einmal ihr Ende gefunden hatte. Seien es die Ägypter oder die Azteken, die Römer oder die Griechen gewesen. Jedes große Reich war letztendlich von der Oberfläche der Erde gefegt worden. Er rief ihm auch die Weltkriege in Erinnerung, die stattgefunden hatten und wies auf die Weltmächte hin, die ihnen noch in den Untergang folgen würden. Der Novize erwiderte, wenn es aber machbar wäre, den Frieden auf der Erde zu erhalten, dann müsste es doch schließlich auch möglich sein, den Menschen den richtigen Weg weisen zu können. Und ihnen begreifbar zu machen, was wirklich von Bedeutung war, um ihre Existenz zu sichern. 

Egal, welche Einwände der Gelehrte auch hervorbrachte, der Schüler beharrte darauf, dass es doch sicher möglich wäre, die Menschen auf den richtigen Pfad zu lenken. 

Daraufhin antwortete ihm der Lehrer: »Ich schenke dir eine Welt. Sie wird für sieben Stunden existieren. Ich werde das Schicksal dieser Welt in deine Hände legen. Sie wird sieben Epochen währen, die jeweils eine Stunde andauern werden. Jede Ära einer Epoche wird nicht länger als zehn Minuten anhalten. Du bist der alleinige Herr dieser Welt und zuständig für alles, was mit ihr geschieht. Du wirst der Schöpfer der Bewohner auf ihr sein und auch ihre Umgebung und ihr Leben wirst du mitgestalten. Versuche, die Welt in Balance mit sich selbst zu bringen und ihr Fortbestehen zu sichern. Doch bedenke, dass auch die Bewohner dieser Welt für ihr eigenes Schicksal sorgen werden. Denn sie besitzen einen freien Willen und du kannst ihr Handeln lediglich in die richtige Richtung lenken, sie jedoch nie vollkommen beeinflussen.«
 Jimmy zappelte nun nervös hin und her. 

»Aber Opa, wie konnte der Lehrer dem Schüler denn eine eigene Welt schenken? Konnte er zaubern? Wie hat er das bloß geschafft?«
»Die Magie dafür steckte bereits in einem Amulett, Jimmy. Unsere Welt hat in Wirklichkeit schon immer existiert, der Lehrer hat sie nur für seinen Schüler greifbar gemacht.« 

Der Großvater ließ den Verschluss seiner Taschenuhr aufschnappen und bettete sie auf Jimmys Handfläche. Die Zylinderhemmung leistete ihren Beitrag und trieb das Räderwerk gemächlich in derselben Geschwindigkeit an.

»Der Lehrer überreichte seinem Novizen einen chromfarbenen Anhänger, so ähnlich wie meine Taschenuhr. Die Medaille war flach und an den Seiten im Abstand von einem Millimeter mit Einkerbungen versehen, die die komplette Münze umschlossen. Auf einer Seite befand sich eine Inschrift, in einer Sprache, die der junge Novize nicht lesen konnte.
Der Lehrer erklärte seinem Schüler daraufhin, dass dies die ursprüngliche Sprache seiner Welt sei, bis zu dem Moment, in dem sie von ihm neu erschaffen würde und beginnt zu sein. Dann wird sie jeder Sprache mächtig sein, die ihr Herr ihr erlaubt zu verstehen.
Der Meister sah die wachsende Verwirrung des Novizen in dessen Gesicht. Er lächelte: »Du wirst alles, was du soeben gehört hast, verstehen können, sobald du die Welt vor dir siehst und mit ihr interagierst. Bis dahin lausche den Worten, die ich dir leihe, um später verstehen zu können.«
Der wissbegierige Junge drehte das Medaillon in seinen Händen. Die Münze wurde von zwei weiteren Ringen umschlossen, die sich hin und her drehen ließen.
Eigentlich wirkt dieser Anhänger genau wie ein Planet, dachte der neue Besitzer. 

Plötzlich öffnete sich das Medaillon und legte eine Vielzahl von Zahnrädern frei, die jedoch bewegungslos auszuharren schienen. 

Im Inneren des Verschlusses erspürte der junge Novize eine zarte Gravur, als er mit den Fingern vorsichtig darüber glitt. Ein leichtes Schimmern erschien und offenbarte ein Symbol, das in die Oberfläche eingeritzt war. Er erkannte das Abbild einer geschwungenen Sanduhr, die allerdings keinerlei Sand enthielt.
Der Lehrer erklärte weiter: »Der Sand der Zeit hat noch nicht begonnen zu fließen, deshalb ist die Uhr noch leer und die Zahnräder des Getriebes der Welt stehen noch still. 

Nur ich vermag es, sie zu füllen und den Sand durch das Uhrwerk zu leiten. 

Für den weiteren Verlauf aber bist du zuständig. Du wirst sehen können, wie dir die Zeit durch die Finger rinnt, wie der Sand durch das Glas. Du wirst sehen, wie dir eine Minute plötzlich vorkommen wird wie zehn Jahre oder eine Stunde wie nur eine Sekunde. Und du wirst erkennen, wie sich der Pfad deiner Welt immer mehr gestaltet und ob es dir möglich sein wird, den Ablauf der Zeit so zu beeinflussen, dass es dir gelingt, die Welt über ihr Ablaufdatum hinaus zu erhalten.«

Der Meister ließ sich zu Boden sinken und füllte seine Faust mit Erde. Langsam ließ er den Staub seiner eigenen Welt über das Zeigerwerk des Medaillons rieseln. Der Novize staunte, denn die Gravur der Sanduhr begann, sich mit Sand zu füllen. Die Zahnräder im Inneren des Anhängers rieben von einer Sekunde auf die nächste emsig aneinander. Die Ringe, die gerade eben noch am Rand der Münze geruht hatten, setzten sich ohne das Zutun des Schülers, in Gang. Sie drehten sich schwungvoll um ihre eigene Achse. Der Anblick, den dieses Schauspiel bot, erschien ihm völlig grotesk und doch wunderschön zugleich. Mit jeder Drehung dehnte sich die Münze weiter aus und modellierte sich zu einer Kugel.
Dem Schüler war sogleich bewusst, dass er beginnen musste zu handeln, wenn er diese neue Welt unter seinem Einfluss gedeihen lassen wollte.«
 Jimmy sah seinen Großvater mit fragendem Blick an. 

»Aber Opa, der Lehrer kann doch gar nicht zaubern. Warum streut er die Erde über den Anhänger und die Zeit der Welt beginnt zu fließen?«
Der Großvater suchte nach einer passenden Antwort. Seinen Enkel mit unerklärlichen Dingen abzuspeisen, schien ihm von Mal zu Mal schwerer zu fallen. 

»Weißt du, Jimmy. Die Magie steckte bereits in der unbekannten Welt. Der Lehrer hat lediglich den Zauber geweckt, indem er die Erde seiner Heimat über die Apparatur des kleinen Schmuckstückes gestreut hat. Aber jetzt weiter mit der Geschichte, denn es ist schon spät. Die Stundenwelt war also geboren.
Der Schüler betrachtete das Konstrukt, das sich ihm darbot. Die Grundzüge des neuen Planeten, das Meer und die Küste mit dem weißen Sand, die saftigen Wiesen und Felder, die Berge und Täler, der große Wald, sowie eine groteske Anordnung von Inseln inmitten des Ozeans, ragten bereits empor. Ebenso abstrakt, wie die Zeit auf dieser Welt verging, war es dem Novizen unmöglich ihre wirkliche Größe zu erahnen. Alles, was mit dieser Kugel zu tun hatte, schien sich seltsam zu verhalten; relativ zu sein.
Er entschied sich, mit dem Gestalten der Oberfläche zu beginnen, um nicht noch mehr wertvolle Zeit zu verschwenden, denn die ersten zehn Minuten waren bereits verstrichen. Seine Welt zählte nun also ungefähr zwanzig Jahre in unserer Zeitrechnung.
Der erste Gedanke, der dem Novizen in den Sinn kam, war, die Welt mit friedliebenden Lebewesen zu besiedeln. Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, sah man zuerst Tiere und gleich darauf Menschen durch die Wälder streifen. Die Welt wirkte im Einklang mit ihren Bewohnern. Hirsche, die durch die Berglandschaft huschten, Elefanten und Nashörner, die in den zahlreichen Flüssen badeten. Giraffen und Büffel, die aus den Seen und Teichen tranken, ohne von den Menschen – dem Stamm der Navajo – gejagt oder vertrieben zu werden. Die Eingeborenen achteten die Natur und all die Schätze, die sie ihnen zum Leben anbot. Auch die Menschen respektierten sich gegenseitig und halfen sich, wo sie nur konnten.
Diese Harmonie bestand auch die nächsten Minuten fort, doch die Welt schien Still zu stehen, sie entwickelte sich nicht sichtbar weiter. Wieder waren zehn weitere Minuten verstrichen. 

Es würde sich keine Hochkultur aus seinem Volk entwickeln, erkannte der Novize. Er sah sich gezwungen, erneut zu handeln. Der Herr der Welt entschied, dass die Navajo Gesellschaft bekommen sollten. Wieder war der Gedanke kaum zu Ende gedacht, reagierte die Welt sogleich darauf. Auf dem klaren blauen Meer näherten sich anmutig weiße Wolken dem Ufer, die sich in ihrer Schönheit allerdings als Trugbild herausstellten. Sie entpuppten sich als Segelschiffe, welche die Neuankömmlinge – das Volk der Progressio – in diese Welt geleiteten. Für den gewünschten Fortschritt schien die neue Gemeinschaft gut geeignet zu sein, denn auch sie wirkten friedliebend und suchten lediglich die Freundschaft der Ureinwohner. Die Progressianer erwiesen sich als richtige Wahl, denn sie vermittelten den Navajo die Fähigkeit des zukunftsorientierten Denkens und förderten die gemeinsame Entwicklung zu einer Hochkultur. Gemeinsam würde ihnen gelingen, was eine Nation allein nicht vermocht hätte. Zwischen dem alten und dem neuen Volk wurden Bande geknüpft und im Laufe der Zeit gefestigt. Beziehungen wurden untereinander eingegangen, die Kulturen vermischten sich und eine weitere ethnische Identität entstand aus dieser Vereinigung: die Novellio!
Der Herr der Welt war zufrieden mit seiner Schöpfung und seinen drei Völkern, die sich seiner Meinung nach, einwandfrei kombinierten und ergänzten. Seine Welt schien zu gedeihen und endlich zu der gewünschten Hochkultur zu erblühen. Ein weiteres Einschreiten seinerseits schien ihm nicht nötig zu sein. Er lehnte sich entspannt zurück und besah seine Schöpfung ruhigen Blickes.
Das neu entstandene Volk verschmolz nach einigen Minuten zur Gänze mit den Progressianern. Der Weiterentwicklung zu einer Hochkultur stand nun wirklich nichts mehr im Wege. Einzig der Stamm der Navajo litt unter der Veränderung. Die Ureinwohner konnten sich nicht vollständig an die neue Gesellschaft anpassen und wurden deshalb in Reservate, außerhalb der Stadt, zurückgedrängt.
Die Navajo und das neue Volk lebten sich fortan immer weiter auseinander und ihre Lebenseinstellungen begannen zusehends auseinanderzuklaffen, bis schließlich zwei völlig getrennte Gruppen entstanden. Der alte Stamm der Navajo verschwand fast gänzlich aus dem Bewusstsein der groben Bevölkerungsschicht. Somit geriet ihre eigene Abstammung in Vergessenheit.«
Dem kleinen Jimmy fielen die Augen zu. Er gähnte seinen Großvater an. 

»Opa ... zu welchem Volk gehören denn wir? Zu den Novellianern?«
Der Großvater lächelte und deckte seinen Enkel zu. 

»Diese Frage beantworte ich dir morgen, Jimmy. Schlaf gut.« 

Der Großvater streichelte dem Jungen ein letztes Mal über die Stirn, stützte sich auf seinen Wanderstab, den er als Gehstock verwendete, und humpelte langsam zur Zimmertür.
Der Junge beschloss, einen weiteren Versuch zu starten, um noch nicht schlafen gehen zu müssen, und rief in die Dunkelheit: »Großvater?«

***

 

Das penetrante Piepen des Weckers riss Cheyenne aus dem Schlaf. 

Schon wieder ein Traum über diesen Jungen!
Sie schlug mit der rechten Hand, nach dem grauen Blechkasten auf ihrem Nachttisch und brachte das Gerät zum Schweigen. Das leichte Aroma von frischen Eiern und Speck zog sanft unter dem Türspalt ihres Zimmers hindurch.
Elise ist heute wohl vor mir aufgestanden, dachte Cheyenne.

Begleitet wurde der sanfte Geruch von leiser Musik, die aus dem Küchenradio dudelte und sich durch das Schlüsselloch in ihr Zimmer spielte. 

In Gedanken immer noch bei der Geschichte der Siebenwelt, schlüpfte sie endgültig aus ihrem Bett. Auch ihre Eltern hatten ihr in ihrer Kindheit diese Geschichte erzählt, wenn sie den Weg ins Land der Träume nicht so schnell gefunden hatte. Jedoch hatten sie ihr viel ausführlicher über die Progressio und die Novellianer erzählt.
Immerhin sind die Novellianer das vorherrschende Volk unserer Gegenwartskultur
.
Cheyenne öffnete, noch halbverschlafen, den Rollladen des Fensters. Die Sonne durchflutete den gesamten Raum mit Licht. Schnell kniff sie die Augen zusammen. Die chromfarbenen Zahnräder, die die Sonne antrieben, glänzten gerade besonders kräftig. Heute würde ein heißer Tag werden. 

Als sie unbedacht das Fenster kippte, bereute sie es sofort. Die aufsteigende Hitze fand schnell einen Weg durch den offenen Spalt und kämpfte sich in ihr Zimmer. Cheyenne schloss es hastig mit einem Knall. Sie hatte keine Zeit und musste sich dringend fertigmachen. 

Wie jeden Montag sollte sie bereits um neun Uhr bei Dr. Livingston sein, der Standardtermin bei ihrem Therapeuten. Sie bestritt ihre morgendlichen Rituale. Anschließend hastete sie in die Küche, rief Elise ein kurzes »Tschüss, wir sehen uns später!« zu, und eilte dann aus der Wohnung.

Kaum in der Praxis angekommen, empfing sie Anna-mit-der-sanften-Stimme wie üblich. 

»Guten Morgen Miss Washington. Der Doktor hat noch einen Patienten. Es wird aber nicht mehr lange dauern und er findet sicher gleich Zeit für Sie. Sie können einstweilen gerne Platz nehmen.«
Wie aufgefordert setzte sie sich, ohne der Sprechstundenhilfe weiter Beachtung zu schenken. Nach Plaudern stand ihr gerade überhaupt nicht der Sinn, denn heute war einer dieser Tage, an dem sie am liebsten ihren Kopf unter dem Kissen vergraben hätte und nicht aufgestanden wäre. Schon in der Sekunde des ersten morgendlichen Augenaufschlags spürte sie, dass sich heute die Katastrophen aneinanderreihen würden: wie bei einer Spinne, die Reihe für Reihe ihr Netz webt.
Als sie aus ihrem Zimmer gehastet war, war sie mit dem Oberarm an der Türklinke hängengeblieben (schon wieder ein blauer Fleck, irgendwann ende ich noch als Schlumpf). Kaum hatte sie die Küche betreten, schrie die Espressomaschine nach Entkalkungsmittel und weigerte sich strikt, das schwarze Gold zu produzieren. 

Elise hatte sie triumphierend mit einer Tasse Kaffee in der Hand angelächelt und ihr zugeprostet. »Möchtest du auch Ham and Eggs frisch aus der Pfanne zum Frühstück? Ich habe eine riesige Portion gemacht.«
Cheyenne zog die Nase kraus. »Es riecht aber nach Speck.«
Elise kicherte hinter vorgehaltener Hand. »Hihi, ja du hast Recht. Wir hatten keinen Schinken mehr zu Hause, also hab ich stattdessen einfach Speck genommen. Willst du?«
»Nein danke, ich bin immer noch Vegetarierin, wie du weißt. Außerdem bin ich sowieso schon spät dran. Es wundert mich, dass du so zeitig schon munter bist ... und das in den Sommerferien. Ist alles in Ordnung bei dir?«
Elise pustete auf ihr Frühstück. »Ja ja, ich habe mich nur freiwillig gemeldet, um einer Gruppe Schülern Nachhilfe zu geben. Du weißt schon. Die Nachzügler, die sonst sitzen bleiben, wenn ihnen niemand eine helfende Hand reicht. Du kennst das ja, Lehrer ist man auch in seiner Freizeit. Das lässt sich nicht so einfach abschütteln ... ach ja, und danach treffe ich mich mit Stuart zum Mittagessen: Wahlslogans besprechen.«
Sie wünschte Elise einen aufregenden Tag, weil Elise Aufregung liebte, und machte sich leicht gestresst auf den Weg.
Als Cheyenne bereits die halbe Strecke zur U-Bahn zurückgelegt hatte, bemerkte sie, dass sie noch ihre Hausschuhe trug. Vor lauter Hektik hatte sie ganz vergessen, sich ihre Straßenschuhe anzuziehen. Also musste sie wieder zurück nach oben, um die gemütlichen Flauschtreter gegen schicke Sandalen zu tauschen. Außer Atem erreichte sie endlich die U-Bahn, die zum Glück im selben Moment quietschend in der Station zum Stehen kam. Sie zwängte sich hinein und steckte auch gleich fest, eingepfercht wie in einer Büchse, zwischen all den anderen freiwilligen Sardinen. Ein Fremder nutzte die Unbeweglichkeit und grabschte nach ihrer Brieftasche, wobei er allerdings nur ihren Kosmetikbeutel erwischte. Glück im Unglück sozusagen.
Und nun wartete sie, angespannt von dem beschwerlich nachklingenden Morgen, auf ihren Termin. 

Wahllos angelte sie sich eine der Zeitschriften, die auf einem großen Stapel in der Mitte des Couchtisches lagen und blätterte darin. Auf den ersten Blick erkannte sie nur wenige tiefgründige Berichte. Das Haus des Vizebürgermeisters von Vorstadt-Süd hat einen neuen Anstrich bekommen. Das Stundenfest fällt dieses Jahr mit der Neueinstellung der Sonne zusammen, und die Spendenaktion für die Heimatlosen wurde unerwartet abgesagt ....

Sie wollte das Heft eigentlich schon wieder zuklappen. Denn es wirkte seicht und übertrieben farbenfroh. Und langweilig.
Eindeutig kein guter Tag
.
Dieser Gedanke wurde noch zusätzlich durch den Fremden untermalt, der soeben aus dem Praxisraum geschossen kam.
Jetzt starrte sie doch lieber weiterhin wie gebannt in ihr buntes Magazin, anstatt aufzusehen. Der Mann rempelte sie im Vorbeigehen an und trampelte ihr dabei auf den Fuß (das wäre mit den weichen Pantoffeln bestimmt nur halb so schmerzhaft gewesen). Er drehte sich im Vorbeigehen nicht einmal zu ihr um und eilte dann, ohne ein entschuldigendes Wort, einfach so davon. Als wäre das noch nicht genug, hinterließ er eine Geruchsstraße aus zart süßlichem Rosenduft, von der ihr augenblicklich übel wurde.
Ihre Nase fing durch die Luftverpestung an zu kitzeln. Sie kniff die Augen fest zusammen, um das heraufsteigende Niesen zu unterdrücken. Völlig perplex hielt sie die Augen weiterhin geschlossen, denn ihr Unterbewusstsein drückte den ON-Schalter und startete unerwartet ihr Kopfkino. Erneut erblickte sie die Umrisse des Jungen und dessen Großvater auf der dunklen Leinwand ihrer geschlossenen Lider.

***

 

»Großvater, bitte erzähl mir noch eine Geschichte.«
Der alte Mann, der schon entkräftet von der Letzten war, setzte sich wieder zu seinem Enkel ans Bett, holte tief Luft und begann etwas Neues zu erzählen, um seinen Enkel endlich zum Einschlafen zu bewegen. 

»Du hast gewonnen. Ich erzähle dir jetzt deine Lieblingsgeschichte. Die Geschichte vom Tage deiner Geburt. Aber danach ist endgültig Schlafenszeit.«
Diese düstere Geschichte war bestimmt nicht für jedes Kleinkind geeignet, doch da sie Jimmys Lebensbeginn schilderte, liebte der Junge sie über alle Maßen. Der Großvater hatte die Begebenheit über diesen Tag im Laufe der Jahre mit vielen kleinen Details ausgeschmückt, an denen sich der Junge stets erfreute, denn an seine Eltern fehlte ihm jede Erinnerung. Er hatte sie an seinem ersten Tag auf dieser Welt verloren. Ihr plötzlicher Tod klang aus dem Mund seines Großvaters wie ein Märchen und half Jimmy, seine Eltern tief in seinem Herzen zu bewahren.
»Deine Geburt verlief ohne größere Komplikationen und dauerte nur drei Stunden, in denen deine Mutter kaum Schmerzen ertragen musste. Als sie dich zum ersten Mal in den Armen hielt, sagte sie, du wärst ihr schmerzloses Wunder und eines Tages würdest du andere Menschen von ihrem Leid und ihren Schmerzen befreien.
Deine Mutter fühlte sich nach der Geburt so ausgezeichnet, dass ihr zuständiger Arzt entschied, sie müsse nicht über Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben und dürfe sofort nach Hause. Deine Eltern, die ihrem Arzt natürlich vertrauten, machten sich auf den Weg. Denn seine Entscheidungen waren bis zu dieser Stunde noch niemals falsch gewesen. Es war der dreiundzwanzigste Juli vor sechs Jahren, und das Wetter spielte verrückt. In diesem Jahr zeigte sich ein außergewöhnlicher Sommerbeginn, wie er uns schon seit Jahren nicht mehr untergekommen war. An einem Tag herrschte purer Sonnenschein bei mindestens dreißig Grad, und man drohte in der Hitze dahin zu schmelzen, doch bereits am nächsten Tag hagelte es und es herrschte Eiseskälte, bei der man den Wunsch verspürte die Winterjacke hervorzukramen, damit man nicht zu einem Eiszapfen mutierte.
An diesem besagten Tag tobte draußen ein wilder Sturm, der die Äste gegen das Zimmerfenster deiner Mutter peitschen ließ. Der Wind heulte laut auf und trieb sein Lied durch die endlos verwinkelten Gassen der Siebenwelt. Obwohl die Gefahr bestand in den Sturm zu geraten, freuten sich deine Eltern sehr über die Neuigkeit, das Krankenhaus noch heute verlassen zu dürfen, sodass sie trotz des nächtlichen Unwetters beschlossen, ihren Sohn James –dich – nach Hause zu bringen. Ihnen gefiel der Gedanke, dass er seine erste Nacht auf dieser Welt in seinem eigenen Zimmer verbringen würde.
Sie verließen das Krankenhaus und es regnete bereits in Strömen. Dein Vater entschied, sein Auto alleine von der hintersten Reihe des Krankenhausparkplatzes zu holen. 

Er zog sich im Laufschritt die Jacke über den Kopf, um sich vor den fallenden Tropfen zu schützen. Die nassen Nadeln stachen ein feuchtes Fleckengemälde in das Rückenteil seiner Jacke und hinterließen bizarre Muster auf dem groben Stoff. Seinen Blick hielt er nach unten gerichtet, weshalb ihm seine Brille ständig von der Nase rutschte. Er fuhr einen alten verrosteten Kombi, der schon alleine durchs Hinsehen auseinanderfiel. In dem noch kalten Innerraum des Wagens richtete er sich erneut das Drahtgestell in seinem Gesicht und steckte den Schlüssel in das Zündschloss, allerdings ohne ihn zu drehen. Er begann das Standardverfahren, das bei jeder Fahrt wie ein kleines Ritual von ihm angewendet wurde: Kurz durchatmen und hoffen, dass der Wagen dieses Mal beim ersten Versuch anspringt. Augen zukneifen, jetzt: Anstarten. 

Der Motor schwieg wie gewohnt. Nächster Versuch. Beim zweiten Drehen protestierte das Fahrzeug mit einem kurzen Ruckeln, als wäre es sein letztes Mal, doch dann war es endlich geglückt. Der Wagen sprang an. 

Das Auto setzte sich gemächlich, ja fast zaghaft in Bewegung. Dein Vater überquerte vorsichtig den Parkplatz und sammelte deine Mutter – meine Tochter – und dich, direkt vor dem Ausgang des Krankenhauses ein. Sie hielt dich fest in ihren Armen, drückte ihr Kind an ihren warmen Körper, um es vor dem herabprasselnden Regen zu schützen. Dein Vater sprang sofort aus dem Auto, und hielt deiner Mutter die Wagentür auf. Er nahm dich vorsichtig aus ihren schützenden Händen und legte dich behutsam in die Babytrageschale.
Deine Eltern verließen den Parkplatz und bogen in Richtung Bundesstraße ab. Denn ihr Zuhause lag außerhalb der Stadt, in den Wäldern der Siebenwelt.« 

Der Großvater schmunzelte und streichelte Jimmy über den Scheitel. 

»Es ist ein ruhiger Ort, an dem es sich ausgezeichnet leben lässt, wie du ja weißt. Immerhin wohnen wir beide noch hier, in dem Haus deiner Eltern.« Er deckte Jimmy ordentlich zu und knüpfte wieder bei der Geschichte an. »Dein Vater, eigentlich ein sehr konzentrierter Autofahrer, beging wegen seiner überschäumenden Gefühle einen fatalen Fehler. Er schenkte deiner Mutter einen zärtlichen Blick weshalb er einen kurzen Moment; nur für den Bruchteil einer Sekunde, nicht auf die Straße achtete, was ihnen zum Verhängnis werden sollte. Der Wagen rammte ein parkendes Auto und kam dabei ins Schleudern. Die Reifen schlitterten über den nassen Asphalt. Sein liebevoller Gesichtsausdruck wandelte sich zu einer bestürzten Grimasse. Egal wie sehr sich dein Vater auch bemühte, er schaffte es einfach nicht, den Kombi wieder unter Kontrolle zu bringen. Er stieg mit voller Wucht auf die Bremsen, die vor lauter Anstrengung laut aufkreischten. Der Wagen vollzog eine Drehung um die eigene Achse, die Räder blockierten. Durch die Reibung des Getriebes erklang eine unheilvolle Musik, die das nahende Unheil ankündigte. Der alte Wagen prallte gegen eine Mauer.
Deine Eltern drehten sich in derselben Sekunde als der Wagen die Wand berührte zu dir um und lächelten dich an. 

Und sie wussten, du würdest überleben. Du warst das Letzte, was sie in ihrem Leben sahen.«

***

 

Abrupt verschwanden die Bilder und Cheyenne saß wieder in dem Warteraum ihres Therapeuten. Zitternd kaute sie an den Resten ihres kleinen Fingernagels. Die Geschichte von diesem schlimmen Unfall kannte sie bereits. Denn in der ersten Nacht nach der Transplantation hatte sie von genau  diesem Vorfall geträumt. Nur hatte sie selbst in dem Traum, auf dem Rücksitz hinten im Wagen gesessen.
Was der Großvater dem Jungen nicht erzählt hatte, war, dass das Genick der Frau durch den heftigen Aufprall brach. Der Vater hatte vergessen sich anzugurten, und knallte deshalb mit der Stirn frontal gegen die Scheibe. Dabei wurde seine linke Schläfenseite zertrümmert und diese Verletzung führte zum sofortigen Tod. 

Das kleine Bündel saß gesichert und verpackt, eingehüllt wie in einem riesigen Marshmallow, in seiner Babytrageschale, sodass es nicht einmal richtig durchgeschüttelt wurde, aber trotzdem heftig brüllte. Ein weißer Plüschhase, der ursprünglich neben dem Kind auf der Rückbank gelegen hatte, flog durch das Auto und wurde mit voller Wucht gegen die Frontscheibe geschleudert.
Cheyenne war bis jetzt nicht auf die Idee gekommen ihren ersten Traum mit den darauffolgenden über den sechsjährigen Jungen zu verbinden. Sie hatte schon lange nicht mehr daran gedacht, sondern ihn einfach als Nachwirkung der Narkose abgetan. Doch in diesem Moment erkannte sie zum ersten Mal den Zusammenhang. Eine neue Erkenntnis, die vieles erklären würde. Wenn ein Zug erst einmal rollte, sollte man ihn nicht aufhalten.
Sie sprang auf und eilte zügig in den Praxisraum. Sie ließ Dr. Livingston keine Zeit für Begrüßungen, sondern hetzte zu ihrem Platz, setzte sich direkt auf den Patientenstuhl und begann sofort zu reden: »Bruce, du weißt doch, dass ich seit fast einem Jahr diese Träume habe ... und die ich seit meiner Transplantation immer öfter habe. Ich glaube, ich verstehe jetzt endlich, woher sie kommen ... Vor allem, weil ich sie anscheinend nicht mehr nur nachts habe.«
Er blickte sie einen Moment lang verwirrt an. 

»Diese Träume sind unverarbeitete Eindrücke. Das haben wir doch schon zur Genüge besprochen.« Er hielt kurz inne. »Aber was meinst du damit, du träumst sie nicht mehr nur in der Nacht?«
»Ich hatte gerade eben einen ... Tagtraum. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob dieses Wort wirklich passend beschreibt, was ich erlebt habe. Ich glaube ...« Sie überlegte kurz, ob sie ihre Gedanken in Worte fassen und ihnen somit eine Berechtigung verleihen sollte.

»Ich glaube, es war ... eine Vision.«
Ihre Stimme zitterte hörbar. Als die junge Frau diese Worte aussprach, überkam sie ein kalter Schauer. Wie bedeutungsvoll ihre soeben gewonnene Erkenntnis war, wurde ihr erst bewusst, als sie den Satz zu Ende gesprochen hatte. Seit der Herztransplantation sah Cheyenne Erinnerungen, die sie nicht kannte, hörte Gedanken, die sie nie zuvor gedacht hatte, und erlebte Eindrücke, von denen sie nichts gewusst hatte.
Diese Bilder in ihrem Kopf waren keine von ihr verdrängten Erinnerungen, die sie erst jetzt Schritt für Schritt verarbeiten konnte. Die Theorie ihres Arztes hatte sie somit für nichtig erklärt.

Cheyenne wirkte fast selbstbewusst als sie mit dem Finger auf ihren Therapeuten zeigte und ihm zuzwinkerte.
»Bruce. Ich habe den Verdacht, dass diese Erinnerungen nicht meine eigenen sind – und ja, ich weiß, unterbrich mich jetzt bitte nicht – das mit den Träumen war ja eigentlich schon besprochen, geklärt und abgehakt, –aber könnte es nicht vielleicht sein, dass diese Erinnerungen jemand ... anderem gehören? Wenn ich meine ganzen Träume über diesen Jungen nochmals rückwirkend analysiere; vor allem in Bezug auf meinen ersten Traum, den Autounfall ... Sie scheinen zwar alle zu irgendwelchen Momenten oder Gefühlen in meinem Leben zu passen, aber zum Beispiel der Traum über dieses Unglück ... Ich habe meine Eltern nicht verloren ... sie leben! Ich habe nur nicht mehr viel Kontakt zu ihnen. Das ist etwas Anderes.«
Der Therapeut faltete seine Hände und stützte die Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab. »Möchtest du vielleicht über die Beziehung zu deinen Eltern sprechen? Oder über die Depressionen, die du als kleines Mädchen hattest?«
»Bruce, bitte. Nein. Ich will ... ach, was will ich ... wie sage ich dir das nur ...« 

Cheyennes Unsicherheit schraubte sich unaufhaltsam durch ihre Gedankenwindungen, wie ein Bohrer durch die Wand.
»Ich will ... ich möchte, dass du mir hilfst herauszufinden, wem diese Erinnerungen ... diese Lebenswelt gehört.«
Sie hielt inne. So würde sie ihn bestimmt nicht davon überzeugen können. Argumente waren jetzt angebracht. Sie holte tief Luft und sprach weiter. 

»Und falls wir niemanden finden, dann bestätigt sich deine Theorie und es sind doch meine eigenen Gedanken. Dann werde ich es akzeptieren und wir können weiter daran arbeiten. Also ... wirst du mir helfen? Ich meine, immerhin ist das eine Win-Win Situation für uns beide. Du kannst mein Verhalten beobachten, mich weiter analysieren und mich dadurch irgendwann normal machen. Und ich finde wieder zu mir selbst, weil ich meine Theorie überprüfen kann.«
Bruce Livingston, eine stabile Persönlichkeit, die keinerlei Glauben an das Übernatürliche besaß, schüttelte den Kopf. 

»Cheyenne. Ich helfe dir doch indem ich mit dir spreche. Ich bin ein Theoretiker in einem Büro, kein Detektiv, der sich im öffentlichen Raum bewegt, um aktiv nach Fakten zu suchen. Unter solchen Bedingungen arbeite ich nicht.«
Cheyenne verzweifelte langsam an ihm. Sie ließ sich in ihrem Stuhl zurücksinken und fixierte die Uhr an der Wand. 

Tick. Tack. 

Sie brauchte seine Hilfe so sehr, konnte oder wollte er das nicht verstehen? Niemand, außer Bruce, wusste über diese verrückten Träume Bescheid. Natürlich hatte sie Elise davon erzählt, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Sie wollte es vermeiden, ihrer Mitbewohnerin ein falsches Bild von sich zu vermitteln. Auch ihren Eltern hatte sie kein Wort über diese Träume erzählt, um sie nicht unnötig zu beunruhigen. Außer Bruce konnte sie niemanden um Hilfe bitten. 


Seit sie sich erinnern konnte, ging sie regelmäßig zu ihm, denn es ist seit jeher so üblich, herzkranke Kinder schon früh in Therapie zu stecken, damit sie lernen, mit der entstehenden Einschränkung zu leben. Die Therapeuten sollen ihnen die Möglichkeit einer Orientierung bieten, wie Bruce es gern formulierte.
Bruce und ein ganzes Team von Ärzten waren dafür zuständig sie auf eine mögliche Transplantation vorzubereiten, die jedoch in Kindertagen nicht kam.
Schon als sie ein Kleinkind war, entdeckten die Ärzte das Loch in ihrem Herzen. Ein kleiner schwarzer Fleck, ein Schatten auf der Seele, der ihre Welt zu verdunkeln schien. Anfangs hofften die Ärzte noch das Loch würde von selbst wieder verschwinden, aber als es das nicht tat, versuchten sie, es durch etliche Operationen zu schließen. Dies misslang bei jedem Versuch und durch die vielen Eingriffe wurde ihre Herzwand von Mal zu Mal poröser. Die Ärzte sahen nur noch eine geringe Chance für ihre Genesung und rechneten deshalb mit einer Lebenserwartung von höchstens zwanzig Jahren, wenn sie bis dahin kein Spenderorgan erhalten würde. 

Doch sie bewies ihnen das Gegenteil und hielt durch, bis sie schließlich im Alter von Zweiundzwanzig ihr neues Herz bekam. Seitdem war fast ein Jahr vergangen.
Bruce war nicht nur ihr Therapeut, er war auch über die Jahre zu ihrem besten Freund geworden. Er war ihr Vertrauter, der ihr in all der Zeit zur Seite stand und sie unterstützte. Warum konnte er das denn jetzt nicht für sie tun?
»Bruce ... ich ... brauche dich. Ich habe doch sonst niemanden. Und allein ... schaffe ich das einfach nicht.« 

Sie hätte heute Morgen wirklich nicht aufstehen sollen. 

Die Uhr ermahnte sie mit einem weiteren Tick.
Ja, es schien sich zu bestätigen. Heute war eindeutig einer dieser verfluchten Tage. 

Verzweifelt wie sie war, bildete sich langsam ein Knoten in ihrem Hals. 

Tack.
Ihre Stimme versagte. Der Knoten wuchs mit jedem Atemzug an. Sie begann zu schluchzen. Der Bach aus Tränen ließ sich nicht mehr aufhalten und brach einfach so aus ihr heraus. All die Schmerzen, die sie durchgestanden hatte. Tick

All das Leid, das sie erfahren hatte ... Wer bist du und warum tust du mir das an? Niemand wollte ihr antworten. 

Sie war allein. Tack

Niemand würde sich um sie kümmern, niemand würde ihr glauben.

Und niemand würde ihr helfen. 

Tick. Tack. Tick. Tack. 

Am Rande ihres geistigen Abgrunds stand sie vollkommen alleine. Einsam. Verlassen. 

Tick antwortete die Uhr. 

Dieses Gefühl war kaum noch zu ertragen.


Cheyenne ergriff die Flucht und rannte aus dem Therapieraum. Schon allein, um dem monotonen Ticken der Uhr zu entkommen.
Die Zeit vergeht, sie eilt dahin und rinnt einem unaufhaltsam durch die Finger.
Sie fühlte sich unter Druck gesetzt, verstand aber nicht genau, warum. Sie musste handeln; etwas unternehmen. Diese Träume überfielen sie seit geraumer Zeit jede Nacht und wurden von Mal zu Mal intensiver. Sie verlor sich teilweise sogar völlig in ihnen. Ja, wahrscheinlich hatte sie Angst. Ein angsterfülltes Leben, das so nicht weiter gehen konnte.
Bruce lief ihr hinterher. Was wollte er jetzt noch von ihr? 

»Cheyenne, warte! Ich kann dir vielleicht nicht dabei helfen, aber es gibt jemanden, der es unter Umständen kann.«
Sie sah ihn mit feuchten Augen an. Der See drohte erneut über die Ufer zu treten. Wortlos hielt er ihr eine Visitenkarte entgegen. Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu.
»Cheyenne, er kann dein Problem vielleicht lösen. Er ist ein Detektiv.«
Verzweifelt war sie. Aber genug, um einen Detektiv zu beauftragen? Dieser würde sie vielleicht für verrückt erklären, wenn sie ihm ihre Geschichte erzählte. 

Andererseits, was gab es denn schon großartig zu verlieren?
Sie nahm die Karte entgegen und musterte sie. 

Kein erkennbarer Name. Keine Nummer. Auf der Karte stand nur ein einziges Wort:

Dagget

 

 

2. Kapitel

2.   Kapitel

 

Cheyenne wälzte sich unruhig von einer Seite zur anderen. Egal was sie tat, der Schlaf wollte einfach nicht zu ihr finden. Sie fiel erst spät in einen farblosen Traum. 

Vor ihr baute sich eine monochrome Abbildung der Wälder der Siebenwelt auf. Ihre Perspektive hatte sich aber im Vergleich zu den bisherigen Träumen verändert. Bis jetzt hatte sie dem Jungen immer nur zugesehen, so als wäre sie ein stiller Beobachter. 

Doch jetzt betrachtete sie die Welt zum ersten Mal durch die Augen des sechsjährigen Jungen, als wäre sie ein Teil von ihm. Sie hörte seine Gedanken und teilte seine Gefühlswelt. 

Sie verschmolzen zu ein und derselben Person.

***

 

Mein Großvater durchquerte mit mir das enge Gehölz des Waldes, scheinbar ohne System. Unter unseren Füßen befand sich kein erkennbarer Weg. Die Blätter der Büsche streiften ständig mein Gesicht. Das Tageslicht drang nur vereinzelt durch die Kronen der mächtigen Bäume, die wie Riesen über uns emporragten. 

Die Baumkronen standen immer dichter, Schatten begleiteten mittlerweile jeden unserer Schritte. Es wurde düsterer und ich bekam zunehmend Angst, obwohl mein Großvater direkt vor mir ging. Mit seinem Wanderstab versuchte er die vor ihm liegenden Äste zu teilen und uns einen Weg durch das enge Geäst zu bahnen. Die Angst in mir, dass wir uns verirren könnten wuchs an. Ich kämpfte mit einer beginnenden Panikattacke, die sich langsam ihren Weg von meinem Steißbein bis hin zu meinem Nacken bahnte, weiter in meine Arme emporstieg, und von dort bis in meine Fingerspitzen strömen wollte.
Was würde uns am anderen Ende des Waldes erwarten?


Ich zitterte und mein Herz pochte wie verrückt. Plötzlich spürte ich eine unsichtbare Hand, die sich behutsam auf meine Schulter legte. Anstatt mich zu erschrecken, überkam mich ein Gefühl der Erleichterung. Ich wusste instinktiv, welches vertraute Gesicht ich erblicken sollte, würde ich über meine Schulter sehen.
Seit ich denken konnte, gab es einen besonderen Freund in meinem Leben, den nur ich sehen konnte und der immer für mich da war, sobald ich Angst bekam oder Probleme hatte. Dieser Freund stand mir auch in diesem Moment der Furcht bei und blieb dicht hinter mir bis ich mich wieder beruhigt hatte. Mein Großvater wandte mir immer noch den Rücken zu und versuchte, sich einen Weg durch das Dickicht vor uns zu schlagen.

Es gelang ihm.

Es kam mir so vor als würden wir eine Grenze in eine andere Welt überschreiten. Nichts erinnerte mehr an die Stadt oder an den düsteren Weg hierher, der mir immer noch einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Gerade eben hatten wir uns noch in den Fängen der drohenden Dämonen des Waldes befunden, und nun, nur einen Augenblick später, löste sich das beängstigende Blättermeer in Luft auf. Ich konnte endlich wieder durchatmen. Die Gefahr war gebannt. Vor mir erhob sich eine überschaubare Anzahl kleiner Holzhütten. 

Die Schattenhand auf meiner Schulter löste sich langsam von mir, auch die Angst wich unweigerlich in ihr weit entfernt liegendes Versteck zurück. Ich spürte förmlich, wie sie aus meinen Gliedern, aus meinen Armen und Schultern wich und sich tief in meiner Seele schlafen legte. Bis zu dem Tag an dem ihr nächster Auftritt, in einer unklaren Zukunft gefragt sein würde.
Diese Art Hütten hatte ich bis jetzt noch nirgendwo gesehen. Opa bemerkte meinen verblüfften Gesichtsausdruck. Er lächelte mich triumphierend an. 

»Alles Gute zu deinem sechsten Geburtstag, Jimmy! Wir befinden uns hier in einem Indianerreservat der Navajo. Ich bin an diesem Ort aufgewachsen und habe fast mein ganzes Leben hier verbracht. Das Reservat habe ich zum ersten Mal verlassen, als deine Mutter geheiratet hat. Das zweite Mal erst wieder bei deiner Geburt, als ich die Vormundschaft für dich übernommen habe.« Der Großvater hielt kurz inne. »Und auch deine Mutter wurde hier geboren.«
Das waren ja Neuigkeiten. Am liebsten hätte ich sofort darauf los geplappert. Aber ich schwieg, darauf wartend, dass mein Großvater weiter erzählte. 

»Sie war überglücklich in ihrem Heimatdorf, sehnte sich jedoch innerlich nach einem Leben außerhalb des Reservats. Ihre Neugier auf den Rest der Welt war einfach gigantisch und ihr Fernweh entwickelte sich über die Jahre hinweg, bis der Drang die Welt zu entdecken schließlich überhand gewann. Sie wünschte sich so sehr, in eine öffentliche Schule gehen zu dürfen und Freunde zu finden, die ihre Herkunft nicht erahnten. Aber sie wollte auch eine Ausbildung erhalten, die ihr im Reservat leider verwehrt blieb. Nach langen Diskussionen entschied ich, sie in dieselbe Schule gehen zu lassen, die auch du in Kürze besuchen wirst. Und dort begegnete sie zum ersten Mal deinem Vater.« 

Mein Opa nahm mich an der Hand und führte mich durch das Dorf.
»Schon als Kinder verhielten sich die beiden wie dieselben Seiten eines Buches und waren einfach unzertrennlich. Dein Vater, der aus der Neustadt stammte, besuchte sie oft heimlich in unserem Dorf. Und auch sie lernte durch ihn die Sitten und Bräuche der Stadtmenschen kennen, die ihr vorher vollkommen unbekannt gewesen waren. Als deine Mutter schließlich alt genug geworden war um selbst zu entscheiden, traf sie schweren Herzens einen Entschluss; sie verließ das Reservat, um mit deinem Vater zusammenleben zu können. Nachdem sie sich den Segen ihrer Familie geholt hatte, zog sie mit ihrem zukünftigen Mann in ein leer stehendes Haus im Wald; in unser jetziges Zuhause. Das Haus lag ruhig und friedlich in einer kleinen Bucht, umgeben von den Bäumen der Siebenwelt, die wie ein Regenbogen, in allen Farben zu schimmern schienen. Der Zauber des Waldes sollte ihrer Liebe Schutz und Zuflucht bieten und ihnen ihre eigene kleine Welt schenken in der sie sein konnten, wie sie wirklich waren.« 

Er drehte sich schwungvoll im Kreis und deutete auf die Bäume. »Und nun weißt du, wer du wirklich bist Jimmy. Deine Wurzeln liegen hier in diesem Dorf, bei den Ahnen deiner Mutter: den Navajo! Und bei deinem Vater, der ein geborener Novellianer war.«
An diesem Geburtstag erfuhr ich so viel über meine Herkunft. Niemals hätte ich geahnt, dass meine Mutter von einem anderen Volk abstammte als mein Vater. 

Mein Opa beobachtete jede meiner Regungen, während ich über seine Worte nachdachte. 

Meine Augen wurden immer größer und ein leichtes Lächeln huschte über mein Gesicht. Ich hatte meinen Opa schon immer verehrt, doch jetzt hatte ich ein weit tieferes Verständnis für ihn als je zuvor. Denn es ging mir tatsächlich so ähnlich wie ihm. Wir beide waren in diese fremde, kalte Welt gestoßen worden, die eigentlich nie unsere war. 

Er war ein Indianer. Ein Navajo aus den Geschichten, die er mir abends vor dem Einschlafen erzählte. Er trug die Kultur seiner Ahnen auch noch in der Stadt mit sich, bei jedem einzelnen Schritt, den er tat, war er ständig von dieser besonderen Aura umgeben. Bei jedem Atemzug und in jedem Moment in dem sein Herz schlug, war er sich darüber bewusst, wer er war und woher er stammte.
Diese Gedanken schwirrten wie wild durch meinen Kopf und erfüllten meinen Körper mit einem Gefühl, das ich bis dahin nicht gekannt hatte. Es war mehr eine Ahnung, die meinen Leib durchflutete als ein greifbarer Gedanke.

 

***

 

Der nahtlose Traum ließ die nächsten Jahre wie im Flug vergehen und vollführte einen unvorhergesehenen Sprung in eine andere Zeit. 

Cheyenne erkannte den Großvater wieder. Sein graues Haar hatte sich mittlerweile gänzlich weiß gefärbt, seine Gesichtszüge offenbarten weitere faltige Stellen, die mehr vom Leben geprägt zu sein schienen, als noch an Jimmys sechstem Geburtstag.
Sein Enkel, der um weitere sechs Jahre gealtert war, saß weinend an seinem Bett und hielt die schwache Hand des alten Mannes fest umschlungen. Er vollzog die letzten Atemzüge seines Großvaters mit, wobei jedes Ausatmen ein Stück von ihm selbst mit sich zu tragen drohte. 

Der Junge zitterte am ganzen Leib und seine Augen füllten sich mit Tränen. Doch er wagte es nicht, sie auch nur für einen einzigen Moment zu schließen, um die Tränen wegzublinzeln. 

Cheyenne spürte, dass er noch nicht bereit dazu war seinen Opa gehen zu lassen. 

Mit jeder Sekunde wurde die Atmung des Großvaters flacher und verzehrte immer mehr von dem, was ihn ausmachte. Als wäre Jimmy versteinert, hielt er die Luft an, während der einzige von ihm geliebte Mensch den er noch auf dieser Welt hatte, seinen letzten Atemzug tat.
»Großvater ... nach den Legenden deines Volkes wirst du nach deinem Tod in das Reich auf der anderen Seite der Spiegel treten, an dem die geliebten Menschen, die bereits von uns gegangen sind, auf uns warten. Das heißt, du wirst meine Eltern wiedersehen und ihnen erzählen können, wie tapfer ihr Sohn sich gehalten hat ... Du wirst mir unendlich fehlen.« Jimmy küsste zärtlich die Hand des alten Mannes.
Zu sterben, wo er geboren worden und aufgewachsen war, war sein letzter Wunsch gewesen. Der Tod, dieser kalte Hauch, der uns alle öfter im Leben streift und dem wir immer wieder entrinnen können, irgendwann holt er uns doch alle ein und entwickelt sich zu einem Sturm, der uns am Ende mit sich reißt.
Es schmerzte den Jungen in der Seele, das spürte Cheyenne. Doch er musste es akzeptieren und seinen Großvater gehen lassen. Der Kummer überkam ihn nun vollends. Jimmy schloss die Augen.

***

 

Mit trockenem Mund schreckte Cheyenne hoch. Ihr Atem ging schnell und unregelmäßig. Der Druck in ihrer Brust ließ auch nach dem Aufwachen nicht nach. Ihr Atem presste sich nur schwerfällig aus ihrer Lunge. Sie wollte schreien, doch ihre Zunge rastete schwer wie ein Stein in ihrem Mund. Auch die Lippen wollten sich einfach nicht öffnen, so als wären sie über Nacht zusammengewachsen. 

Ich brauche meine Medikamente. Sofort!
In der Dunkelheit ertastete sie die krampflösende Medizin auf ihrem Nachttisch. Ein Glas Wasser neben der Medikamentenpackung stand wie jede Nacht bereit und wachte über ihren Schlaf. Dieses Mal hatte es seine Beschützerfunktion eindeutig vernachlässigt. 

Sie schluckte schwer und das Medikament entspannte augenblicklich ihren ganzen Körper. 

Mit einer unerwarteten Intensität fühlte den Schmerz des Jungen immer noch in ihrem Geist nachwirken, als wäre es ihr eigener. Es kam ihr so vor, als wäre sie es gewesen, die gerade einen geliebten Menschen verloren hatte. Noch immer hallten die Gedanken des Jungen in ihrem Kopf wider. 

Seit Jimmys sechstem Geburtstag hatte sich einfach alles für ihn geändert. Er war nun stolz auf seine Abstammung und hatte begonnen, seinen Großvater mit anderen Augen zu sehen. Und nicht nur ihn, auch sich selbst. Denn die beiden schienen seit diesem Augenblick stärker verbunden zu sein. Wenn sein Großvater ihn in den nächsten Jahren umarmt hatte, dann hatte er das mit der Liebe seiner ganzen Familie und mit den Ursprüngen seiner Herkunft getan. Das Geheimnis, das der Großvater so lange für sich behalten hatte, bis Jimmy alt genug gewesen war, um es zu verstehen, stand nun nicht mehr zwischen ihnen. Die Barriere die ihre Leben bis dahin getrennt hatte, und sie zu Individuen aus ungleichen Welten gemacht hatte, war verschwunden. Und jetzt, genau sechs Jahre später, an Jimmys zwölftem Geburtstag, starb sein geliebter Großvater.
Diese Träume wollten ihr einfach keine Verschnaufpause gönnen. Nach dem Tag der Transplantation schlichen sie sich leise in ihre Welt. Anfangs traten sie nur sporadisch auf, doch über die Monate hinweg wurden sie immer intensiver und der Junge besuchte sie mit der Zeit regelmäßig im Schlaf.
Ausgelöst durch die Medizin überfiel sie eine bleierne Müdigkeit. Sie ließ sich wieder in ihr Bett fallen. Diesmal sank sie zurück in einen traumlosen Schlaf.
Sie erwachte erst wieder durch die Wärme der Mittagssonne; durch die Strahlen, die durch den halb heruntergelassenen Rollladen drangen und sich zärtlich auf ihrem Gesicht abzeichneten.


Zum Glück waren zurzeit Sommerferien und es gab deshalb keinen Bedarf an Aushilfslehrern. So konnte sie sich zu Hause vergraben und die Welt vor ihrem Fenster für den verbleibenden Tag einfach ausschalten. Träge kletterte sie aus ihrem Bett. Der Traum der letzten Nacht lief nochmals vor ihrem geistigen Auge ab.
Es war eine Vision
.
Grübelnd verließ sie ihr Zimmer und schlenderte zum Küchentisch. Die Visitenkarte, die Bruce ihr gestern gegeben hatte, schaute ihr hämisch entgegen. Sie ignorierte die Karte und lauschte.

Die restliche Wohnung war seltsam ruhig. Cheyenne ging in die Küche, in der Elise sonst immer um diese Zeit tobte, und rief nach ihrer Mitbewohnerin, doch eine Antwort blieb aus. 

Sie war anscheinend allein zu Hause.
Cheyenne hatte ganz vergessen, dass Elise heute wieder beim Wahlkampf mithalf. Sie unterstützte aktiv die rote Partei, die schon seit Jahren über Brot-West, dem Viertel in dem sie wohnten, regierte.
Gedankenverloren nahm sie die Visitenkarte in die Hand und drehte sie in alle Richtungen. Sie inspizierte jede Unebenheit, entdeckte jedoch nichts Auffälliges. Diese Karte enthielt keinerlei Informationen, außer einem Namen. Einem sehr Ungewöhnlichen, wie sie fand. Sie kannte niemanden, der so hieß, nicht einmal so ähnlich. 

Dagget.
Wenn man mit so einem Namen gestraft war, musste man wohl einen Außenseiterberuf wie Polizist oder Detektiv ergreifen. Jedenfalls stellte sie sich Detektive genau so vor. Einzelgänger mit einer rauchigen Stimme, die viel zu viel trinken, rauchen und immer unglücklich verliebt sind. Ein Klischee, das wusste sie. Aber auch sehr gut möglich wenn man so darüber nachdachte.
Immer noch starrte sie die Karte an. Ein Kaffee würde ihr jetzt bestimmt helfen. Gut, dass sie gestern noch die Maschine entkalkt hatte. Ein Punkt für sie. 

Dieser Tag schien besser zu werden als der letzte. Mit dem frisch gebrühten Kaffee setzte sie sich zurück an den Tisch, der direkt am Fenster stand. So konnte sie jeden Morgen den Ausblick auf das Bäckereiviertel der Neustadt genießen.
Sie liebte den Geruch, den die unzähligen Bäckereien beim Zubereiten des ersten Gebäcks und Brots des Tages so früh am Morgen verbreiteten. In diesem Viertel reihte sich eine Bäckerei an die nächste. Eine allein roch schon nach einem Sonntagsfrühstück, aber der Duft den sie gemeinsam verströmten war ein wahres Geschenk des Himmels.
Cheyenne wohnte erst seit einem halben Jahr mit ihrer Arbeitskollegin Elise zusammen. Denn die Angst ihrer Eltern ihr könnte etwas passieren, wenn sie sich alleine eine Wohnung nahm, war viel zu groß. 

Sie genoss die Ruhe die momentan in der Dreizimmerwohnung herrschte. Elise war eindeutig die Lebhaftere von ihnen beiden. Ständig war sie unterwegs, nahm an Veranstaltungen teil und ging auf wilde Partys.
Ihr Zuhause, hell und freundlich, wirkte auf sie gerade wie eine sanfte Ruhestätte, aber ohne den Beigeschmack dafür sterben zu müssen. Gedankenversunken trank sie aus ihrer Lieblingstasse - die mit dem kaputten Henkel – die ihr an dem Tag der Transplantation aus der Hand gefallen war. 

Sie hatte die Tasse damals fallen gelassen, als sie in der Küche ihrer Eltern gestanden und sich für den anstehenden Arbeitstag fertiggemacht hatte. 

Sie brach von einer Sekunde auf die Nächste einfach zusammen und krümmte sich vor Schmerzen. Ihre Mutter kam daraufhin erschrocken die Küche gelaufen und rief sofort einen Krankenwagen, der sie im Eiltempo ins Krankenhaus gebracht hatte. So gesehen hatten ihre Eltern richtig entschieden. Denn hätte sie zu diesem Zeitpunkt schon alleine gewohnt, wäre sie wahrscheinlich gestorben und hätte nie ihr neues Herz erhalten. Der Tag, an dem sie diese Tasse fallen ließ, war sehr ereignisreich gewesen. Das war Schicksal und diese Tasse hatten ihre Eltern für sie aufgehoben um sie für immer an diesen lebensverändernden Tag zu erinnern.
Der Kaffee schwappte über und Cheyenne bekleckerte sich. Nicht nur sich selbst, nein auch noch den Tisch. Der Kaffee rann unaufhaltsam über die Tischplatte. Wie in Zeitlupe beobachtete sie die dunkle Flüssigkeit die sich ihren Weg bahnte, über die Visitenkarte lief, und zu guter Letzt hinunter auf den Boden tropfte. Sie sollte sich wohl besser auf das konzentrieren, was sie gerade tat, und nicht in unnötige Gedanken versinken.
Sehr schön, jetzt durfte sie die nächste halbe Stunde mit der Beseitigung des Übels verbringen. Die Visitenkarte landete im Müll, der Pyjama in der Waschmaschine und der restliche Kaffee in der Spüle. Die Lust auf die schwarze Brühe war ihr wirklich gründlich vergangen.
Diesen Tag würde sie auf jeden Fall zu Hause verbringen. Aber nicht in Selbstmitleid versunken, so viel war ihr klar. 

Carpe diem ...  Nutze den Tag, dachte sie.
Und so verbrachte sie ihre freie Zeit staubsaugend, bügelnd, Staub wischend, Geschirr abwaschend, die Küche putzend, Wäsche waschend, Bett machend und zu guter Letzt: Müll entsorgend. 

Wenn sie schon zu Hause blieb, wollte sie ihre Zeit wenigstens sinnvoll nutzen. Elise würde sich bestimmt darüber freuen, wenn sie nach Hause kam und die ganze Wohnung vor Sauberkeit strahlte.
Cheyenne entleerte den Abfall im Müllraum des Wohnhauses. Die Visitenkarte des Detektivs fiel aus dem Beutel und flatterte zu Boden. Verärgert bückte sie sich danach. 

Blödes Ding, bringt mir nichts und macht mir auch noch zusätzlich Arbeit. 

Der Kaffeefleck auf dem kleinen Stück Karton war mittlerweile eingetrocknet. Sie ließ behutsam einen Finger darüber gleiten.
Moment; dort war noch etwas Anderes zu erkennen. Eine Nummer

Das heiße Getränk hatte unerwartete Arbeit geleistet und der Karte eine versteckte Information entlockt. Die Zahlen waren anscheinend mit einem wasserabweisenden Stift oder mit etwas Ähnlichem, aufgeschrieben worden. Ein schlauer Kerl. 

Vielleicht war er doch der Richtige für diese Aufgabe. Der Tag wurde immer besser.
Sie eilte zurück in die Wohnung und schnappte sich den Hörer des Festnetzanschlusses. 

Es war endlich an der Zeit zu handeln.

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 18.03.2017

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