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MERMANS MAIDEN




Schon als ich noch ein kleines Mädchen auf dem Hof meiner Eltern in der Auvergne war träumte ich vom Meer, obwohl ich es noch nie gesehen hatte, sondern es nur aus Erzählungen kannte. Und selbst jetzt, nach Wochen der Überfahrt über den Atlantik wurde ich seiner nicht müde. Den ganzen Tag lang konnte ich an der Reeling des großen Segelschiffs stehen und das Wasser betrachten. Es gab nichts schöneres für mich, als die Wellen und den Wind, der meine langen, kastanienbraunen Haare flattern ließ.
Außerdem war ich erfüllt von Hoffnung. Hoffnung für ein neues Leben in der neuen Welt. Lange hatte ich gespart um mir die teure Überfahrt nach Amerika leisten zu können und jetzt endlich wurde mein Traum wahr. Ich war unterwegs, auf einem riesigen Viermaster, der die Karibik zum Ziel hatte. Dort wollte ich, Joséphine Chevrier, 21 Jahre alt, von nun an leben. Heute noch würden wir in Port-au-Prince vor Anker gehen und man konnte bereits Land am Horizont ausmachen.
Glücklich lächelnd stand ich wie schon so oft an der Reeling und blickte auf das Meer hinaus, das glitzernd und strahlend vor mir lag. Es waren auch viele andere Leute an Deck um das herrliche Wetter zu genießen, doch das interessierte mich nicht wirklich. Ich kannte niemanden davon genauer und der Ozean faszinierte mich im Moment viel mehr. Plötzlich übertönte ein lauter Ruf das Rauschen der Gischt und das Schreien der Möwen: „Piraten!“
Entsetzt zuckte ich zusammen und fuhr herum. Tatsächlich, da auf der anderen Seite des Schiffs waren zwei fremde Segel am Horizont aufgetaucht. Ich konnte noch nicht viel erkennen und fragte mich, ob sich der Matrose auf dem Ausguck, der gerufen hatte nicht geirrt haben könnte, doch schon bald sah ich es ebenfalls: die Flaggen der zwei anderen Schiffe waren eindeutig Piratenflaggen. Angst stieg in mir hoch.
Natürlich hatte ich die vielen schrecklichen Geschichten, die man sich über die Seeräuber erzählte gehört, doch hatte ich gehofft, dass wir ihnen unterwegs nicht begegnen würden. Aber da waren sie und kamen immer näher. Ihre Boote waren zwar kleiner als das unsere, dafür aber umso schneller und wendiger. Nach kurzer Zeit konnte man bereits einzelne Gestalten an Deck unterscheiden. Unsere Besatzung rüstete sich derweil zum Kampf.
Ich überlegte, ob ich mich wie die anderen Passagiere unter Deck flüchten sollte, doch dort fühlte ich mich immer so bedrängt und eingeengt, als müsse ich ersticken, also kauerte ich mich lieber hinter einer großen Taurolle zusammen und machte mich möglichst klein.
Als schließlich Schreie und Kampflärm ertönte wagte ich vor Angst kaum zu atmen. Ein Schuss krachte und ich zuckte unwillkürlich und hielt mir die Ohren zu. Tränen der Furcht standen mir in den Augen. Ich versuchte die schrecklichen Bilder, die durch meinen Kopf spukten zu verdrängen, doch es ging nicht. Immer schlimmer wurden meine Vorstellungen davon, was geschehen würde, wenn die Piraten siegten. Zu sterben wäre dann vielleicht sogar noch das angenehmere Schicksal.
Plötzlich hörte ich einen lauten Ruf: „Hey du!“, und blickte ängstlich auf. Vor mir stand ein großer Mann, seinen Säbel auf mich gerichtet. Schmutzig war seine Kleidung, seine Haut wettergegerbt und sein Bart und seine Haare wirkten eher wie wirres Gestrüpp und hätten dringend mal wieder der Pflege bedurft. Entsetzt richtete ich mich auf. Er musterte mich, derweil ich die Lage an Deck erfasste. Blut, Chaos und Tote, vor allem auf unserer Seite. Wir hatten verloren. Ich begann zu zittern. Noch nie zuvor im meinem Leben hatte ich solche Angst empfunden wie jetzt gerade. Der Pirat kam einen Schritt auf mich zu, bereit mich zu packen und ich wich zurück bis ich an die Reeling stieß. Weiter ging es nicht.
Da fasste ich einen Entschluss. Das Land war nicht mehr allzu weit entfernt und ich war eine gute Schwimmerin. Vielleicht würde ich es also schaffen. Besser als die Alternative. Blitzschnell fuhr ich herum und stürzte mich kopfüber ins Meer, der Griff des Seeräubers verfehlte mich knapp.

Ich musste mich wohl im Fall gedreht haben, denn ich kam mit dem Bauch auf dem Wasser auf und sämtliche Luft wurde mir aus den Lungen gepresst. Trotzdem schaffte ich es, mich wieder an die Oberfläche zu und mit kräftigen Zügen begann ich auf das rettende Land zuzuschwimmen. Zum Glück hatten wir nicht besonders viel Seegang und das Meer war relativ ruhig und bildete nur verhältnismäßig kleine Wellen, die aber immer noch nicht mit denen des Sees zu vergleichen waren auf dem ich schwimmen gelernt hatte. Außerdem sog sich mein Kleid voll Wasser und es fiel mir immer schwerer, mich oben zu halten. Bald schon ergriff Erschöpfung von mir Besitz, doch ich musste weiter, musste durchhalten. Ich wollte nicht ertrinken!
Irgendwann bemerkte ich, dass ein Stückchen vor mir das klare Wasser plötzlich viel seichter wurde und ich dort endlich den Grund ausmachen konnte. Ein steiler Abhang trennte diese Küstenzone von der Tiefsee. Sobald ich darüber wäre würde ich es fast geschafft haben. Doch auf einmal spürte ich etwas seltsames. In mir stieg das unerklärliche Verlangen auf, unterzutauchen, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Ich kämpfte dagegen an, doch schließlich besiegte es mich. Kurz vor dem Abhang holte ich tief Luft und schwamm ein Stück nach unten. Dort öffnete ich die Augen und erstarrte.
Was ich sah war vollkommen unglaublich. Rund um mich herum bewegte sich etwas.
Wohl hatte ich Geschichten über Meerjungfrauen gehört, doch sie nie geglaubt und die sechs fremdartigen Wesen, die mich umschwammen waren auch keine Frauen. Es waren Männer.
Ihre bloßen Oberkörper gingen an der Hüfte in schillernde, schuppige Fischschwänze mit zarten, hauchdünnen Flossen über und ihre Gesichter waren ausnahmslos wirklich hübsch, so dass ich zugegebenermaßen jedem von ihnen auf der Straße hinterher gesehen hätte, wären sie Menschen gewesen. Ihre Bewegungen wirkten wie ein Tanz und es war wunderschön anzusehen.
Plötzlich kam einer von ihnen mit langen, fließenden blonden Haaren etwas auf mich zu.
„Hübsches Mädchen!“, erklang seine Stimme, die schöner war als alles, was ich jemals zuvor gehört hatte. Ich war so von ihr fasziniert, dass ich mich gar nicht darüber wunderte, wie jemand unter Wasser sprechen konnte.
„Meerprinzessin!“, raunte ein anderer nahe an meinen Ohr und streifte mich mit seinen weichen Flossen.
„Willkommen in unserem Reich!“, lachte ein dritter und zwinkerte mir zu.
Ich war wie verzaubert von ihren unglaublichen Stimmen so dass ich, als ein Lockenkopf mit leuchtend roten Haaren und Schuppen mir zurief, dass ich ihm folgen sollte tatsächlich tat, was er sagte. Weiterhin von den Meermännern umschwommen tauchte ich tiefer nach unten.
„Komm mit uns! Komm!“, flüsterten sie und ich gehorchte.
Immer wieder streiften sie mich zärtlich und ich konnte nicht mehr klar denken. Ein blauer Nebel legte sich über mein Bewusstsein und obwohl mir die Luft langsam knapp wurde schwamm ich weiter mit ihnen. Tief in mir wusste ich, dass sie mich ertränken wollten, aber ich konnte nicht anders. Das war ihr Zauber.
Es wurde immer dunkler um mich herum. Nur noch wenige Lichtstrahlen drangen bis hier hinunter und brachten die Schuppen der Meermänner zum Glitzern, ich sah immer weniger. Doch irgendwie schwächte das ihre Macht über mich und mit einem Schlag kam die Angst. Das Meer war ein kaltes, tiefes Grab und ich wollte leben! Mit aller Kraft kämpfte ich gegen die Verzauberung an, begann voller Panik zu strampeln und um mich zu schlagen. Meine Lungen schmerzten.
Ich würde es nicht schaffen. Die Oberfläche war zu weit entfernt, es war aussichtslos. Die Meermänner umkreisten mich wie Haie als meine Bewegungen schwächer wurden. Meine Muskeln erschlafften und um mich herum wurde alles schwarz. Es war vorbei. Das letzte, was ich hörte war die schönste aller Stimmen.
„Irgendwie schade um sie“, flüsterte sie.

Also, wer dramatische, traurige Enden mag hört hier auf zu lesen, Happyend-Liebhaber bitte weiter!



Plötzlich bekam ich wieder Luft. Warme, weiche Lippen lagen auf den meinen und der Atem des Meermannes, der mich hielt strömte in meine Lungen. Er hatte seine Arme um mich geschlungen und zog mich mit sich durchs Wasser, der Oberfläche und dem Licht entgegen. Ich war verwirrt, was vielleicht an akutem Sauerstoffmangel lag, vielleicht aber auch daran, dass diese Beatmung einem innigen Kuss glich. Ich strampelte um mich von ihm zu lösen, aber es nützte nichts. Unter Wasser war er mir weit überlegen, das hier war sein Element. Erst als ich endlich prustend und schnaufend auftauchen konnte ließ er mich los.
Mit dem bisschen an mir verbliebener Kraft schwamm ich ans Ufer, die Meermänner immer noch neben mir. Am Strand, außerhalb ihrer Reichweite wandte ich mich schließlich zu ihnen um. Derjenige, der mich nach oben gebracht hatte war mir bis ins seichte Wasser gefolgt. Er saß im weißen Sand, seine Schwanzflosse bewegte sich rhythmisch hin und her und seine Schuppen glitzerten in den verschiedensten Blautönen, unglaublich, wie seine Augen. Er gab ein unbeschreiblich schönes Bild ab.
„Wieso hast du mich gerettet?“ fragte ich ihn, „Zuerst habt ihr noch versucht, mich zu ertränken!“
Er legte den Kopf mit den nassen, schwarzen Haaren schief und meinte: „Wir sind das Meer, das Meer ist launisch. Ich ändere meine Meinung ständig. Du darfst uns nicht mit menschlichen Maßstäben messen, wir sind anders“
Irritiert schaute ich ihn an, dann wandte ich mich schnell ab und ging den Strand entlang davon, auf der Suche nach einem Dorf oder wenigstens irgendwelchen Menschen. Nur weg von hier.
Doch plötzlich erklang noch einmal die schönste Stimme der Welt.
„Kommst du morgen wieder hierher?“, rief mir der Meermann hinterher. „Bitte!“

3 Jahre später:
Ich liebe das Meer. Ich habe es schon immer geliebt, es gibt nichts schöneres für mich, auch wenn es noch so launisch und uns Menschen manchmal unverständlich ist. Es macht mich glücklich.
Außerdem liebe ich den Meermann mit den schimmernden blauen Augen, seinen glitzernden Schuppen, dem übermütigen Lächeln und der herrlichen, einzigartigen Stimme. Und heute werde ich ihn heiraten.
Nicht wie Menschen heiraten, sondern auf die Art der See, denn wenn die See liebt, dann liebt sie beständig und ewig. Wenn heute Abend die Sonne untergeht werde ich kein Mensch mehr sein, sondern eine Tochter des Meeres, eine Meerjungfrau und ich werde mit meinem Meermann zusammen sein können.
Leise flüstern die Wellen am Strand, lecken zärtlich um meine Füße, als ich ins Wasser gehe. Kurz darauf sind meine Beine bereits komplett von kleinen, grünen Schuppen bedeckt.

Impressum

Texte: verval
Bildmaterialien: auch
Tag der Veröffentlichung: 06.10.2012

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