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Erstes Kapitel



Hieroglyphen




Verdammt. Ich hasste Hieroglyphen. Das Ding da, das aussah wie ein toter Vogel, was bedeutete das? Der Satz davor hieß: „Im Namen von Anubis, Seth und Osiris, dies sind die Schriften von Ahoum' Na“ (oder so ähnlich). Dann kommt der tote Vogel und dann irgendwas von wegen: „Meine Feinde fürchten mich, mich, den Meister des Nudelsalats...“
...Nein, Unsinn, das Zeichen bedeutete „Nekromantie“, also „den Meister der Nekromantie...“
Ich hasste es. Warum musste ich solchen Käse lesen? Ich war so müde!
Der Kaffee wirkte auch nicht mehr und ich wusste nicht mal, ob ich aufstehen könnte, wenn ich es jetzt gewollt hätte. Eigentlich mochte ich nicht mal Kaffee. Oder besser gesagt: Ich mochte früher keinen Kaffee. Ziemlich schwer, das noch zu sagen, wenn man weder riechen noch schmecken kann.
Aber ich konnte das mal. Diese Sinne hab ich erst vor zwei Jahren eingebüßt. Es war ein Unfall, ein Fehler von mir, der mich beinahe mein Leben gekostet hätte. Es ist nämlich so, ich bin eine Totenbeschwörer-Azubi (so quasi). Korrekterweise heißt das „Adept“ und das damals war meine erste größere Beschwörung. Ich habe eine tote Katze wieder aufstehen lassen (war ziemlich widerlich) und dabei eine Dummheit begangen, die keinem Totenbeschwörer passieren sollte: Ich hab mich mit dem Zauber zu eng an den Kadaver gebunden und als das Ding dann zum zweiten Mal verreckt ist, hat es meinen Geruchs- und Geschmackssinn mitgenommen. Aber ich hatte noch Glück, es hätte auch mein Leben sein können.
Naja, vielleicht wäre es auch gar nicht so schlimm gewesen zu sterben, dann hätte ich wenigstens meine Totenbeschwörer-Ausbildung nicht fertig machen müssen. Seufzend ließ ich meinen Kopf auf die Tischplatte voller Papiere und leerer Kaffeetassen sinken. Das war so anstrengend, es trieb mich an den Rand der vollkommenen Erschöpfung. Ich schloss die Augen.

Das Läuten irgendeines Handys in dem Café in dem ich saß riss mich aus dem Schlaf. Verdammt! Ich hätte nicht einschlafen dürfen, sondern den altägyptischen Text fertig lesen müssen. Verzweifelt warf ich einen Blick auf meine kleine Armbanduhr. Es war kurz vor halb acht Uhr abends und in zehn Minuten begann mein Unterricht. Ich durfte nicht zu spät kommen, mein Meister würde mich umbringen!
Entsetzt versuchte ich aufzuspringen, aber es wurde eher ein mühsames Hochstemmen daraus. Mit fahrigen Bewegungen schob ich meine Papiere zusammen und stopfte sie in meine schwarze Mappe. Dann hastete ich einem menschlichen Bedürfnis folgend auf die Toiletten zu. Beim Händewaschen viel mein Blick dann schließlich auf den Spiegel, etwas, das ich normalerweise zu vermeiden versuchte. Unzufrieden starrte ich das Bild an, dass sich mir bot.
Ein blasses, eingefallenes Gesicht mit dunklen Augenringen, das die stechenden eisgrauen Augen auch nicht hübscher machten. Meine schwarzen Haare wirkten strohig und stumpf und deswegen trug ich sie immer hochgesteckt. Früher, bevor ich mit meine Ausbildung zur Totenbeschwörerin begonnen hatte, war das noch nicht so gewesen. Viele Leute hatten mir gesagt, dass ich schön sei. Aber die Anstrengung, die meine Studien von mir verlangten forderte ihren Preis. Auch mein Körper war mager und ich glaube nicht, dass ich irgendetwas an mir habe, dass einem Mann auch nur annähernd als attraktiv erscheinen könnte.
Aber ich hatte sowieso keine Zeit für solchen Firlefanz wie einen Freund. Ich hatte zu tun. Entschlossen zog ich meinen knielangen schwarzen Mantel enger um mich und eilte los. Gut, dass ich meine Rechnung im Café schon bezahlt hatte.
Trotzdem war ich mehr als fünf Minuten zu spät als ich an der Haustür meines Meisters klingelte. Schon jetzt zog ich den Kopf ein und machte mich auf ein Donnerwetter gefasst. Hoffentlich fiel ihm keine allzu schlimme Strafe ein. Ich hatte keine Lust wieder stundenlang auf den Knien den Boden seines Labors zu schrubben.
Doch auf mein Läuten erhielt ich keine Antwort. Nachdenklich drückte ich die mit einem Löwenkopf verzierte Klinke nach unten. Die Tür öffnete sich leise knarrend und ich trat in den dunklen Flur.
„Meister?“, meine Stimme klang so unsicher, wie ich mich fühlte.
Aber es kam wieder keine Antwort. Langsam schloss ich die Tür hinter mir und tastete mich durch die Dunkelheit (mein Meister hielt aus Sparsamkeit Licht im Flur für unnütz) bis zum Ende der Ganges vor. Dort befand sich die hinter der Wandverkleidung versteckte Tür zu den Kellergewölben mit dem Laboratorium. Nur durch einen kleinen Zauber ließ sie sich öffnen.
„Ka-la-da-ni-ta“, murmelte ich die magischen Silben und drückte dagegen. Von unten schien ein fahles Licht herauf. Wenigstens das, ich war schon mehrmals die Treppe hinunter gefallen, weil ich nichts gesehen hatte. Auch hier gab es keine Glühbirnen oder so.
„Meister?“, rief ich noch einmal während ich tiefer stieg.
Durch einen gemauerten Rundbogen betrat ich einen großen, unterirdischen Raum. Er war so quasi das Vorzimmer zum Labor meines Meisters. Den Boden bedeckte ein riesiger Orientteppich und es gab ein bequemes Sofa und mehrere Sessel. Ich mochte diesen Raum normalerweise irgendwie.
Heute warf ein Leichenlicht flackernde Schatten an die Wand. Das ist eine spezielle, von Totenbeschwörern angefertigte Kerze, die sehr hell und silbern leuchtet (die Bestandteile zähle ich jetzt lieber nicht auf, ist ziemlich unappetitlich).
Der Teppich war heute voller Blut.
Und mitten darauf lag mein toter Meister. Seine grauen Haare waren ebenfalls von Blut verklebt und seine blauen Augen starrten ins Leere. Jemand hatte ihm beide Arme und Beine abgehackt und aus seinem Bauchraum quollen die Gedärme. Da wollte wohl jemand sehr sicher gehen, dass er nicht wieder kam, bei Totenbeschwörern konnte man da sonst nämlich nie so sicher sein. Die Wände waren mit großen Hieroglyphen aus seinem Blut beschmiert.
Manchmal war es gut, nichts mehr riechen zu können.
Ich schluckte zweimal schwer, dann tastete ich mich wieder die Treppe nach oben und den Flur entlang bis ich das Telefon fand. Es war ein altes Ding, noch mit Drehscheibe und es dauerte ewig, im Dunkeln zu wählen.
„Büro des Hohen Rates der Schwarzmagier und Nekromanten von Edinburgh, Belinda Gibbson am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“, erklang die gekünstelt freundliche Stimme einer Sekretärin.
Ich versuchte kein einziges Gefühl mitklingen zu lassen als ich entgegnete: „Mein Name ist Cailin Lamont, ich bin die Schülerin von Meister Ha-duri Na und ich habe soeben meinen Meister in seinem Haus ermordet aufgefunden.“
Am anderen Ende der Leitung herrschte einen Moment lang Schweigen.
„Bleiben Sie wo sie sind, es wird Sie sofort jemand aufsuchen“, meinte die Frau dann. Die gekünstelte Freundlichkeit war aus ihrer Stimme verschwunden und sie wirkte unsicher und geschockt.
Ohne ein weiteres Wort legte ich auf und stieg mit schweren Schritten wieder die Treppe hinunter, die Geheimtür ließ ich offen stehen. Erschöpft legte ich mich auf das glücklicherweise von Blutflecken verschont gebliebene Sofa neben der Leiche. Natürlich hätte es angenehmere Plätze gegeben, aber das musste jetzt sein. Gefühlskälte und kein Ekel schufen Eindruck unter Schwarzmagiern und das war wichtig für mich. Mein alter Meister war tot und ich brauchte einen neuen, der sich bereit erklärte, meine Ausbildung zu vollenden. Ansonsten waren zehn harte Jahre voller Qualen umsonst und ich würde niemals eine richtige Totenbeschwörerin werden.
Leider war es gar nicht so einfach, einen Lehrmeister zu finden, vor allem für ein 17-jähriges, halb ausgebildetes Mädchen. In der geheimen Welt der Nekromanten behaupteten seit Jahrtausenden hartnäckig die Männer ihre Macht und es gab nur wenige Frauen, die in diese Gesellschaft aufgenommen wurden, von Sekretärinnen, Köchinnen und Putzfrauen mal abgesehen und das wollte ich sicher nicht werden.
Bald darauf hörte ich Schritte auf der Treppe und richtete mich auf. Ich gab mein Bestes um so elegant und ungerührt wie möglich zu wirken, als die vier Männer nacheinander den Raum betraten.
Der erste hatte ein faszinierendes, attraktives Gesicht und langes blondes Haar, das ihm offen über die Schultern seines schwarzen Trenchcoats fiel. Er war vielleicht 30 und natürlich wusste ich, wer er war. Sein Name war Meister Nanin Gal, „Der Schöne“, Herr des Hohen Rates von Edinburgh.
Der Mann hinter ihm war relativ klein, an die 40, hatte eine Glatze, viele Tattoos und trug eine schwarze Lederjacke, Meister Ranin-ta, „Der Mann mit den Bildern“, danach kam Meister Gison, „Die Ratte“ mit teurem Anzug und schwarz gefärbten Haaren.
Als letztes betrat der mächtigste und stärkste Schwarzmagier von Edinburgh hoch erhobenen Hauptes den Raum. Auch er trug schwarz, wie die meisten Totenbeschwörer und sein Mantel, auf dem echt-silberne Knöpfe funkelten war eindeutig handgeschneidert. Er war etwa 25 und konnte vom Aussehen her leicht Meister Nanin Gal Konkurrenz machen. Schimmernde schwarze Haare trafen auf ebensolche Augen, die stolz und arrogant funkelten. Meister No-te Kadea, „Der schwarze Hund“
Wie es die Regeln unserer Gesellschaft verlangten erhob ich mich, verneigte mich tief vor den wichtigsten Männern der Stadt und hoffte, dass sie mir meine Müdigkeit und Erschöpfung nicht ansehen würden.
Die vier bedachten mich jeder mit einem knappen Nicken, dann machten sie sich an die Untersuchung des Tatorts. No-te Kadea kauerte sich neben der Leiche nieder und betastete mit bloßen Fingern die Wunden. Totenbeschwörer kannten wirklich keinen Ekel. Kurze Zeit darauf leckte er auch noch seinen blutigen Zeigefinger ab und ich musste wirklich an mich halten um weiterhin keine Empfindung in meiner Miene zu zeigen.
„Er wurde höchstwahrscheinlich von einem anderen Schwarzmagier getötet, denn der ganze Raum und sein Körper sprühen noch vor Macht. Die beiden müssen sich einen ziemlich harten Kampf geliefert haben bis der Unbekannte Meister Ha-duri Na mit einem wahrscheinlich magischen Schwert erstach. Danach hat er ihm dann Hände und Füße abgeschlagen und ihn von oben bis unten aufgeschlitzt um durch die Verstümmelung zu verhindern, dass wir ihn wieder erwecken oder dass er irgendwie von selbst wiederkommt. Und dann haben wir ja noch die Hieroglyphen an den Wänden, die uns der Mörder hinterlassen hat“, teilte er uns seine Erkenntnisse mit, während er sich wieder erhob und seine Hände kurzerhand an einem der Sessel abwischte bevor er sich den Mauern zuwandte um die fremdartigen Zeichen zu betrachten. Auch ich machte mir jetzt zum ersten Mal die Mühe, sie zu entziffern.
„Im Namen von Seth“, stand dort in erstaunlich gut zu lesen, für das, dass es mit Blut geschrieben war. Ich hätte das nie so hinbekommen. Warum es da stand war allerdings eine andere Frage auf die sich anscheinend niemand wirklich einen Reim machen konnte.
„Sieht aus wie das Werk eines Irren“, brummte Meister Ranin-ta.
Das an sich war nichts ungewöhnliches, durchgeknallte Totenbeschwörer gab es öfter mal, Berufsrisiko. Leichen wieder aufstehen zu lassen und zu kontrollieren ist nicht unbedingt zuträglich für die geistige Gesundheit. Doch dieser hier schien leider relativ mächtig zu sein, denn ihm war es gelungen, meinen alten Meister zu besiegen, der selbst zu den Besten seines Fachs gehört hatte.
„Wir werden in jede Richtung ermitteln“, meinte Meister Nanin Gal bestimmt, „und zuerst möchte ich hören, wie Fräulein Lamont den Toten gefunden hat.“
Vier kalte Augenpaare richteten sich auf mich.

Ich gab mein Bestes um so sachlich wie möglich zu berichten, nicht zu schüchtern, aber auch nicht zu stolz und aufmüpfig zu wirken. Gar nicht so einfach, wenn man gnadenlos über den Mord an seinem ehemaligen Meister verhört wird. Wenigstens musste ich mir keine Sorgen machen, dass sie mich verdächtigen würden. Ich glaube kaum, dass sie mich für mächtig genug hielten um diese Tat begangen zu haben.
„Wir müssen zurück und den ganzen Rat informieren, dann müssen wir eine Meldung an alle Totenbeschwörer, auch die aus anderen Städten herausgeben und genug Leute für eine Hausdurchsuchung hier auftreiben“, meinte Meister Ranin-ta schließlich, nachdem sie mit mir fertig waren und machte Anstalten den Raum zu verlassen.
Ich nahm allen meinen Mut zusammen und fragte: „Und was wird aus mir, hohe Herren? Ich habe keinen Lehrmeister mehr und bin noch nicht voll ausgebildet.“
Sie tauschten einige nachdenkliche Blicke.
„Es wird schwer werden, jemanden zu finden, der dich haben will. Niemand übernimmt gerne halb ausgebildete Adepten von anderen Meistern“, bemerkte Meister Gison. Der Zusatz: „Schon gar nicht, wenn es Mädchen sind“, hing unausgesprochen in der Luft.
Es verging eine geschlagene Minute in Schweigen, während jeder über dieses Problem nachdachte. Ich zitterte innerlich, hoffte aber, dass er mir keiner anmerken würde. Diese vier Männer würden jetzt ihr Urteil über mein ganzes weiteres Leben fällen.
Schließlich, als ich schon fast verzweifelte, meinte Meister No-te Kadea, der mich die ganze Zeit über mit seinen dunklen Augen gemustert hatte plötzlich: „Ich nehme sie.“
Ich schnappte nach Luft, die anderen starrten ihn entgeistert an. Das hatte niemand erwartet, vor allem ich nicht. Er hatte noch nie Interesse daran gezeigt, einen Lehrling auszubilden und eigentlich war er dafür auch noch verhältnismäßig jung. Außerdem, warum ausgerechnet mich? Da musste mehr dahinter stecken, nur wusste ich leider nicht was. Ich hoffte, dass ich mir nicht erst über seine Motive klar werden würde, wenn es zu spät war. Totenbeschwörern konnte man nie trauen.
„Wenn das Ihr Wunsch ist Kadea, dann soll es so sein“, meinte Meister Nanin Gal und riss mich auf diese Weise aus meinen Gedanken.
„Das ist es entgegnete No-te Kadea stolz.
„Dann unterstelle ich Cailin Lamont hiermit Ihrer Verantwortung. Die Übernahmezeremonie werden wir morgen Abend um 18.00 Uhr abhalten. Jetzt werde ich mich erst einmal um die Ermittlungen kümmern“, mit diesen Worten wandte sich der Oberste des Hohen Rates ab und verließ den Keller. Wir anderen folgten ihm die Treppen hinauf.
Im dunklen Gang legte sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter und No-te Kadea drehte mich zu sich herum.
„Du wirst morgen nach der Zeremonie in mein Haus ziehen. Ich bevorzuge es, meinen Lehrling direkt bei mir zu haben. Deine Koffer werden um 13.00 Uhr bei dir zu Hause abgeholt“, meinte er bestimmt.
Es war klüger, ihm nicht zu widersprechen, also beeilte ich mich, zu nicken. Außerdem war das kein ungewöhnlicher Wunsch, viele Meister nahmen ihre Adepten bei sich im Haus auf um ihre Fortschritte besser verfolgen zu können und sie unter Kontrolle zu haben. Zu groß war die Gefahr, dass sie mit der neu erlernten, erstaunlichen Macht dumme Dinge anstellten. Aber Meister Ha-duri Na war dafür wohl zu geizig und zu eigenbrötlerisch gewesen.
Ich wollte mich abwenden, doch No-te Kadea hielt mich noch einmal zurück.
„Du wirst dich zusammenreißen, wehe du machst mir Schande!“, schnaubte er und schritt an mir vorbei.
Na das konnte ja lustig werden! Der Kerl war ja fast noch unfreundlicher, als mein alter Meister. Hoffentlich würde sich das mit der Zeit ändern. Oder auch nicht, eigentlich war das nur der übliche Totenbeschwörer-Umgangston. Man gewöhnte sich daran.
Jetzt musste ich aber erstmal nach Hause. Und ins Bett. Verdammt, war ich müde. Gähnend und mir die Augen reibend setzte ich mich in Bewegung und verließ das Haus, ich stieg die Stufen hinunter und trottete den Bürgersteig entlang. Für die zwei Kilometer Heimweg brauchte ich zwanzig Minuten. Ich weiß, sehr langsam, aber ich war so fürchterlich erschöpft.
Vor einem ziemlich verfallenen Reihenhaus blieb ich schließlich stehen und kramte in meiner Manteltasche nach meinem Schlüssel. Ich bemühte mich, so leise wie möglich zu sein, doch mein Vater hörte mich trotzdem.
„Wo warst du die ganze Zeit?“, schrie er so laut, dass es die Nachbarn wohl auch noch hörten und kam aus dem Wohnzimmer ins Treppenhaus gewankt. Seine Alkoholfahne schlug mir schon von weitem entgegen. Bei Anubis, ihn konnte ich jetzt wirklich nicht auch noch gebrauchen.
„Ich war beim Unterricht, Papa“, erklärte ich trotzdem so nachsichtig wie möglich. Mehr würde ich ihm nicht erzählen, es interessierte ihn nicht und er musste es auch nicht wissen. Außerdem würde er es morgen schon wieder vergessen haben. Das war wohl eine der Nebenwirkungen davon, ständig besoffen zu sein. Ich war um jede Sekunde froh, dich ich nicht mit ihm zu Hause verbringen musste. Eigentlich kam ich nur zum Schlafen her. Bevor er noch etwas erwidern konnte lief ich die Treppe hinauf und schloss mich in meinem Zimmer ein. So wie ich war ließ ich mich ins Bett fallen.

Es war der erste Tag seit langem, an dem ich wieder einmal ausschlafen konnte und nicht schon um 6.00 Uhr aufstehen musste um zu lernen oder irgendetwas anderes, Totenbeschwörer-mäßiges zu tun. In die Schule ging ich schon seit Jahren nicht mehr, meine Ausbildung nahm meine gesamte Zeit in Anspruch. Nur irgendein Schwarzmagier-Zauber hielt das Jugendamt und andere davon ab, hier aufzukreuzen und nach mir zu sehen. Die Öffentlichkeit wusste nichts von Leuten wie mir, wir lebten im Verborgenen und tarnten uns gut. Magie war schon etwas nützliches.
Um acht stand ich dann trotzdem auf, schließlich musste ich noch packen. Ich suchte zuerst alle meine Koffer und Taschen zusammen, doch das waren nicht besonders viele, also stieg ich in den Keller hinunter und holte mir ein paar Kartons, die dort gelagert waren. Mein Vater lag laut schnarchend auf dem alten, abgewetzten Sofa, die Schnapsflasche griffbereit neben sich. Säufer.
Angewidert wandte ich mich ab und stieg die Treppe wieder hinauf. Das ging nun schon seit Jahren so, kurz vor meinem siebten Geburtstag war meine Mum davongelaufen und seitdem tat er sein Bestes um sich tot zu saufen. Ein Wunder, dass es ihm noch nicht gelungen war. Wahrscheinlich war er auch vorher schon Alkoholiker gewesen, nur hatte ich es damals nicht bemerkt, seitdem war es unerträglich.
Deprimiert begann ich damit, meine Schränke und Regale auszuräumen. Es tat mir irgendwie überhaupt nicht Leid, ihn jetzt auch noch zu verlassen indem ich auszog. Ich empfand nicht mehr für ihn, als für einen Fremden. Vages Mitleid, etwas Trauer, dass er sein Leben so ruinierte und das unvermeidbare Bisschen Ekel und Abscheu. Vor langer Zeit schon hatte ich festgestellt, dass ich zunehmend gefühlskalt wurde, aber ehrlich gesagt: Das war mir egal!
Ordentlich verstaute ich meine Sachen in den Koffern und Kartons, um kurz vor elf war ich fertig. In meiner Manteltasche kramte ich nach etwas Geld. Es kamen gerade noch ein paar Münzen zum Vorschein, aber für ein kleines Mittagessen würde es hoffentlich gerade noch reichen. Da unser Kühlschrank immer leer war musst ich mich irgendwie anders ernähren. Wenn ich überhaupt etwas aß.
Leise verließ ich das Haus und ging zur nächsten Bäckerei, wo ich mich mit etwas Brot eindeckte und im Geschäft nebenan versorgte ich mich noch mit Käse. Zur Feier des Tages leistete ich mir sogar einen Apfel, für mehr reichte das Taschengeld, dass mir mein Meister bezahlt hatte auch nicht mehr. Ich hoffte, No-te Kadea würde etwas großzügiger sein. Ansonsten verbannte ich den Gedanken an ihn, die Zeremonie, all diese Ereignisse und meine Zukunft aus meinem Kopf. Ich wollte nicht daran denken, würde mich noch früh genug damit beschäftigen müssen. Lieber wiederholte ich irgendwelche altgriechischen Vokabeln aus dem kleinen Vokabelheft, dass ich immer mit mir führte, derweil ich auf einer Bank im Park saß und mein Mittagessen vertilgte.
Um halb eins ging ich schließlich wieder nach Hause und trug nach und nach meine Sachen zur Straße hinunter, damit sie abgeholt werden konnten. Gerade als ich den letzten Koffer draußen abgestellt hatte, stand plötzlich mein Vater im Türrahmen. Mit blutunterlaufenen Augen stierte er den Haufen an, den meine Habseligkeiten auf dem Bürgersteig bildeten.
„Was tust du da?“, brachte es mühsam hervor.
„Ich ziehe aus Papa“, entgegnete ich nur.
Er brüllte regelrecht: „Wohin willst du denn!?! Was fällt dir überhaupt ein!?!“
Ich überlegte einen Moment, was ich ihm antworten sollte, die Wahrheit konnte ich ihm schlecht sagen, vor allem, da die Nachbarn schon neugierig aus ihren Fenstern lugten.
Schließlich viel mir etwas ein, ich gebe zu es war nicht perfekt, aber in Ermangelung besserer Alternativen entgegnete ich schließlich: „Zu meinem Freund. Erinnerst du dich nicht? Das war doch schon lange so besprochen und geplant! Ich hab in dir doch schon vorgestellt, der große Schwarzhaarige.“
No-te Kadea würde mich umbringen, wenn er mich jetzt hören könnte. Mein Vater hingegen starrte mich einfach nur an.
„Es gibt einen, der dich will?“, schrie er dann zornig, „dich hässliches, kleines Wechselbalg?““
Danke! Wütend funkelte ich ihn an. Ich wusste selbst, dass ich nicht gerade eine Schönheit war, aber das machte es nur noch schlimmer.
„Ja, stell dir vor!“, zischte ich jetzt ebenfalls wütend.
Er kam die Treppe herunter auf mich zu und packte mich am Arm.
„Du wirst hier bleiben“, forderte er.
Meine Stimme überschlug sich fast. Ich schrie: „Fass mich nicht an!“
Er ballte die Hände zu Fäusten und holte aus, wohl um mich zu schlagen, als plötzlich eine schwarze Limousine ums Eck bog und vor uns auf der Straße hielt. Ein wirklich professionell aussehender Chauffeur in einer eleganten, schwarzen Uniform stieg aus und kam um den Wagen herum.
Verdammt, hoffentlich war No-te Kadea nicht dabei. Wenn der herausfand, dass ich ihn als meinen Freund ausgegeben hatte, wäre das mein Ende. Und niemand wusste, dass ich weiße Lilien auf meinem Grab haben wollte. Mein Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich.
Doch der Chauffeur öffnete niemandem die Tür sondern kam einfach nur auf mich zu, meinen Vater, der ihn und das Auto vollkommen perplex anstarrte beachtete er gar nicht.
„Sind das ihre Sachen, Fräulein Lamont?“, erkundigte er sich nur und machte eine bezeichnende Bewegung zu dem Haufen auf dem Bürgersteig. Ich nickte unsicher.
„Ich werde ihre Koffer sofort mitnehmen. Sie selbst, mein Fräulein, wird Meister Kadea um 17.00 Uhr hier abholen“, meinte er und machte sich daran, den ganzen Kram im Auto zu verstauen.
Ich wollte ihm zur Hand gehen, doch er schüttelte den Kopf. Mir blieb nichts anderes über, als mich zu bedanken, als er fertig war.
Er salutierte: „Stets zu Diensten.“
Erst als der Wagen die Straße hinunter verschwunden war, konnte ich wieder klar denken und auch mein Vater fasste sich langsam. Selbst in seinem Zustand war er noch in der Lage gewesen zu erkennen, dass mein angeblicher Freund anscheinend ein immenses Vermögen besaß, wenn er eine Limousine samt Chauffeur schicken konnte um meine Koffer abzuholen. Meine Hoffnung, dass mein Vater mich in Ruhe lassen würde, weil er erwartete auch einen Gewinn aus diesem Vermögen ziehen zu können wurde enttäuscht. Wahrscheinlich erreichte der Gedanke, wie viel Schnaps er sich dann leisten konnte gar nicht sein von Alkohol und Zorn umnebeltes Hirn.
„Wie kannst du deinem Vater nur so etwas antun!?!“, schrie er, „Was habe ich nicht alles für dich getan! Du undankbares Ding!“
„Nichts hast du für mich getan. Gar nichts!“, fauchte ich erzürnt. Langsam verlor ich die Geduld. Bevor er wieder zu einer Antwort ansetzen konnte zischte ich: „Ich tue, was immer ich will! Und ich will und werde ausziehen. Auch ohne deine Erlaubnis.“
Er packte mich erneut grob am Arm, nachdem er mich vorhin losgelassen hatte und zerrte mich mit sich, wieder auf das Haus zu und brüllte: „Das werden wir ja sehen!“
Ich wollte mich wehren, doch ich hatte keine Kraft. Ich versuchte ihn zu treten und zu schlagen, doch er schien es nicht mal zu bemerken. Ich war zu schwach, der Fluch eines jeden Adepten, Das Studium kostete uns alle unsere Kraft und machte uns fast wehrlos.
„Lass mich los, oder du wirst es bereuen!“, schrie ich, doch auch das half mir nicht. Im Gegenteil. Ich fing mir eine saubere Ohrfeige ein.
Jämmerlich und demütigend. Ich musste mich von einem Besoffenen, der eigentlich schon Schwierigkeiten hatte, nur gerade zu gehen in mein Zimmer zerren und dort einsperren lassen. Erschöpft ließ ich mich inmitten des leeren Raums zu Boden sinken. Die kahlen Wände schienen mich zu verspotten und sie erinnerten mich unweigerlich an eine Gefängniszelle. Ich stütze meinen Kopf in die Hände und versuchte einen Ausweg aus dieser elenden Situation zu finden.
Natürlich würde mich No-te Kadea hier herausholen, wenn er nachher kam, aber das wäre unglaublich peinlich und würde sicherlich keinen guten Eindruck machen. Ich musste selbst hier herauskommen und das vor 17.00 Uhr.
Im Kopf ging ich alle Möglichkeiten für eine Flucht durch. Das Fenster war zu weit oben und außerdem vergittert, eine der dummen architektonischen Besonderheiten unseres verdammten Hauses. Schreien würde mir auch nichts nützen. Mit meinem Vater konnte man nicht reden. Und Magie, nun, das war so eine Sache. Es war zu gefährlich, vor allem wenn man den richtigen Zauber nicht kannte und um ein wenig herumzuprobieren war ich viel zu unerfahren. Diese Idee schlug ich mir lieber gleich aus dem Kopf.
Doch auch nach Stunden des Nachdenkens war ich zu keinem besseren Ergebnis gelangt. Es war bereits dreiviertel fünf und die Zeit wurde langsam knapp. Ob ich es nicht doch versuchen sollte? Ob ich es wagen konnte? Langsam erhob ich mich vom Boden und ging zur Tür, dann rüttelte ich an der Klinke. Nicht das ich mir umsonst all diesen Ärger machte. Doch die Tür blieb zu. Ich würde wohl oder übel meine Zuflucht zur Magie nehmen müssen.
Ich zitterte leicht, als ich mich nach etwas zum Schreiben umsah, denn das würde den Zauber, den ich versuchen wollte ungemein erleichtern. Auch ein scharfer Gegenstand würde helfen, dann konnte ich mein Blut benutzen, aber zu meinem Bedauern konnte ich nichts finden. Egal, es würde auch ohne gehen, hoffte ich zumindest.
Unsicher trat ich wieder auf die Tür zu, dann atmete ich noch einmal tief durch. Steht mir bei, ihr Götter der Finsternis und der Toten! Ich streckte die Zungenspitze aus dem Mundwinkel derweil ich mit dem Finger konzentriert alle mir bekannten Zeichen für „offen“ oder „öffnen“ oder „öffne dich“ an die Tür zeichnete. Eines davon würde schon das richtige sein. Dann trat ich einen Schritt zurück und versuchte jetzt, das auch in jeder Sprache zu sagen, die ich herrschte und bei der auch nur die geringste Aussicht auf einen magischen Erfolg bestand.
Nachdem ich lateinisch, altgriechisch, altägyptisch, persisch, arabisch, englisch, die eigene Sprache der Totenbeschwörer und schottisch ausprobiert hatte fiel mir nicht mehr ein. Doch es tat sich nichts.
„Verdammt! Bei Anubis!“, wetterte ich und stampfte zornig mit dem Fuß auf.
Die Schatten in den Ecken meines Zimmers begannen sich in Bewegung zu setzten, waberten wie Nebel. Ängstlich und erschrocken wich ich zurück. Mein Zauber wirkte, aber nicht so wie ich erwartet und gehofft hatte! Es war wohl doch ein Fehler. Wer weiß ob ich jetzt nicht ein Höllentor oder so etwas geöffnet hatte? Ich begann wieder zu zittern, als die Schatten näher kamen, regelrecht auf mich und die Tür zukrochen. Magie war gefährlich! Wieso hatte ich elende Idiotin etwas versucht, wovon ich keine Ahnung hatte? Wahrscheinlich würde ich jetzt sterben.
Die Schatten kamen immer näher, zuckten wie lebendige Wesen, schienen leise zu flüstern. Ich konnte nicht davonlaufen, saß zwischen ihnen und der verschlossenen Tür fest. Vergeblich rüttelte ich an der Klinke. Das Gefühl, als mich der erste Schatten sanft streifte war scheußlich und kalt, er war hungrig und boshaft.
Doch er tat mir nichts. Die Schatten drückten sich stattdessen an die Tür, bis das helle Holz vollkommen schwarz war. Ich wich so schnell ich konnte davor zurück. Das rettete mir mein Leben. Wäre ich nur noch einen Schritt näher bei der Tür gestanden hätte mich die Explosion getötet. Trotzdem wurde ich von der Druckwelle gegen die Wand geschleudert und winzige Holzsplitter zerkratzten mein Gesicht. Die Schatten waren wieder verschwunden. Und die Tür mit ihnen. Dort wo sie gewesen war klaffte jetzt ein Loch in der Mauer. Das hatte ich nicht beabsichtigt, aber es gab jetzt wichtigeres, woran ich denken musste, zum Beispiel No-te Kadea und die Aufnahmezeremonie. Mühsam rappelte ich mich auf und eilte die Treppe hinunter, zur Tür hinaus. Mein Vater hielt mich nicht auf, wahrscheinlich war er weggegangen um seine Alkoholvorräte aufzustocken, was ich als äußerst glückliche Fügung empfand. Draußen auf dem Bürgersteig versuchte ich mich einigermaßen passabel herzurichten. Ich bürstete mir den Schmutz von der Kleidung, erneuerte meine Frisur und wischte mir das bisschen Blut aus dem Gesicht. Man sollte ja nicht sofort sehen, dass ich gerade eine Explosion herbeigeführt hatte.

Man sollte auch meinen, dass ich weniger aufgeregt war als letztes Mal, weil ich die Aufnahmezeremonie ja schon kannte, doch das war nicht der Fall. Damals war ich sieben Jahre alt gewesen und ich erinnerte mich noch allzu genau. Ich hätte gut und gerne auf mein zweites Mal verzichten können. Meine Hände zitterten bereits, als ich in No-te Kadeas schwarze Limousine stieg, die mich um 17.00 Uhr vor meinem Haus abholte und als er mich dann auch noch mit seinen harten, kalten Augen musterte drückte ich mich so tief wie möglich in das schwarze Lederpolster der Rückbank und wurde mit Sicherheit noch blasser als ich ohnehin immer war. Die ganze Fahrt über schwiegen wir.
Um 17.15 Uhr parkte der Chauffeur den Wagen schließlich vor dem Gebäude, in dem der Hohe Rat von Edinburgh seinen Sitz hatte und öffnete uns die Tür. Ich wollte aussteigen, doch No-te Kadea hielt mich am Arm zurück.
„Ich hoffe, du weißt, was du zu tun und zu sagen hast!“, bemerkte er mit einem blick, der einen das ebenfalls hoffen ließ.
Glücklicherweise hatte ich nichts anderes erwartet und mich vorbereitet.
„Natürlich, Meister!“, entgegnete ich deswegen so überzeugt wie möglich und war froh, dass er daraufhin seinen unbarmherzigen Griff um mein Handgelenk lockerte. Stattdessen legte er seine Hand jetzt auf meinen rücken und schob mich aus dem Auto. Ich stolperte vor ihm her die Treppen des Gebäudes hinauf und in die große Eingangshalle hinein. Helle, fast goldene Marmorplatten glänzten mit poliertem Mahagoni um die Wette und beige Sofas boten bequeme Sitzmöglichkeiten für die unzähligen Totenbeschwörer, die hier zu tun hatten, sich mit ihren Kollegen trafen oder heute vor allem darauf warteten, dass die Zeremonie begann. Es war ein beeindruckender Anblick.
Doch ich hatte keine Zeit um mich umzusehen. Zwei Frauen, die bis zu unserem Eintritt reglos an einer Wand gewartet hatten kamen auf mich zu. Beide trugen dunkelrote Blusen, schwarze Blazer, ebenfalls schwarze, ziemlich kurze Röcke und verflucht hohe Schuhe. Sie waren keine Totenbeschwörerinnen sondern Sekretärinnen, die der Hohe Rat angestellt hatte und es war ihre Aufgabe, mich für die Zeremonie anzukleiden.
Sie führten mich einige Treppen hinauf und Gänge hinunter in einen kleinen Raum mit rotem Teppichboden, mehreren Stühlen, einem Tisch, einem riesigen Spiegel und einem wunderschönen Paravent aus schwarzer Seide mit goldenen Stickereien. Sie setzten mich auf einen der Stühle und begannen wortlos damit, meine Haare kunstvoll hochzustecken, diese durften nämlich nachher nicht im Weg sein. Dann musste ich mich komplett ausziehen, nur meine schwarzen Hotpants durfte ich anlassen. Eine der Sekretärinnen hing mir eine lange schwarze Robe um die bloßen Schulter und band sie wie einen Bademantel zusammen. Immer noch hatte niemand ein Wort gesprochen und das würde wahrscheinlich auch nicht mehr geschehen. Ich war zu sehr mir meinen eigenen Gedanken beschäftigt und die zwei Frauen wussten, dass Totenbeschwörer meist nach dem Grundsatz lebten, dass Schweigen, vor allem bei Untergebenen, Gold sei.
Fünf vor sechs war ich dann schließlich bereit. Barfuß schritt ich erneut lange Gänge entlang bis zu einer hohen Tür, die mir ein anderer Adept mit funkelnden Augen in der Farbe von goldenem Honig aufhielt.
Ich war wie in Trance. Die vielen Schwarzmagier, die sich in der großen Halle, die ich jetzt betrat eingefunden hatten um der Zeremonie beizuwohnen, nahm ich fast überhaupt nicht wahr. Alles was ich sah war No-te Kadea, der auf einem Podest am anderen Ende des Versammlungssaales stand und auf mich wartete. Auch er trug eine lange Robe, allerdings in blutrot und voll gestickter Runen, Hieroglyphen und anderer Schriftzeichen. Aufrecht und stolz strahlte er eine Macht aus, die den ganzen Raum zu füllen schien und mich unvermeidbar zu ihm hinzog, auch wenn ich am liebsten davongelaufen wäre, so schnell mich meine Füße trugen. Doch stattdessen hob ich den Kopf und versuchte, es ihm mit meiner Haltung gleichzutun, was aber wahrscheinlich eher weniger erfolgreich war. Langsam und möglichst würdevoll stieg ich die Treppe zu dem Podest hinauf und stellte mich, das Gesicht zur Menge, den Rücken zu meinem neuen Meister, hin. Er legte mir beide Hände auf die Schultern, Eine Handfläche zeigte dabei nach unten, die andere nach oben, das sollte das Geben und Nehmen in einer solchen Verbindung darstellen.
Mit klarer Stimme meinte er: „Mein Name ist No-te Kadea, Meister der schwarzen Magie und ich nehme hiermit dieses Mädchen als meine Adeptin an. Ich schwöre, mein Wissen an sie weiterzugeben und sie zu unterstützen alles zu erlernen, was sie können muss.“
Ich zögerte einen Moment, doch dann sagte auch ich meinen Spruch auf: „Mein Name ist Cailin Lamont, Adeptin der schwarzen Magie und hiermit unterstelle ich mich und meine Ausbildung diesem Meister. Ich schwöre, ihm immer zu gehorchen und seinen Anweisungen treu zu folgen.“
Er nahm seine Hände von meinen Schultern und ich drehte mich mit dem Gesicht zur Wand. Er schritt um mich herum, bis er wieder hinter mir stand und damit begann der Teil, den ich gefürchtet hatte. Es kostete mich große Mühe stillzuhalten.
No-te Kadea griff um mich herum und öffnete meine Robe, dann zog er sie mir aus und reichte sie einem daneben stehendem Adepten. Mein Rücken musste für die Zeremonie frei sein. Mehr als nur halb nackt, die Arme vor der Brust verschränkt und mit Sicherheit rot vor Scham, wartete ich. Hinter mir tauchte mein neuer Meister seine beiden Hände in ein goldenes Gefäß voller warmen, frischen Stierbluts und strich es mit dann auf die Stelle an meiner Wirbelsäule, knapp unterhalb der Schulterblätter. Seit zehn Jahren befand sich dort nun schon eine Anzahl kleiner Narben, die das Zeichen Meister Ha-duri Nas bildeten. Es musste zuerst entfernt werden, bevor No-te Kadea seines hinzufügen konnte. Er drückte seine Hände darauf und murmelte die nötigen Beschwörungsformeln. Es brannte höllisch, doch die Magie tat was sie sollte und kurz darauf war mein Rücken wieder unversehrt. Allerdings würde das nicht lange so bleiben.
Mein neuer Meister begann nämlich jetzt erstaunlich sanft damit, mit dem tiefroten Stierblut Runen auf meine Schultern zu malen und flüsterte dabei uralte Zauberworte. Ich hätte derweil beinahe zu weinen angefangen, doch das hätte auch nichts geholfen, sondern nur unwürdig gewirkt. Es war so schon demütigend genug, so dazustehen, auch wenn mich jeder nur von hinten sah außer vielleicht No-te Kadea, der aber wohl zu beschäftigt war und viel zu viel Konzentration für seine Magie brauchte um sich darum zu kümmern, dass er mich fast nackt sah. Totenbeschwörersitten waren barbarisch und rücksichtslos.
Irgendwann, als mein ganzer Rücken mit blutigen Schriftzeichen bedeckt war, beschrieb No-te Kadea mitten darauf mit seinen Fingern einen großen Kreis. Ich hielt den Atem an und biss die Zähne zusammen während er einen Schritt von mir zurücktrat. Ich brauchte den Ritualdolch, den ihm ein weiterer Adept reichte gar nicht zu sehen, um zu wissen, dass er wirklich scharf war. Ich versuchte mich seelisch auf die jetzt folgenden Schmerzen einzustellen. Damals, als kleines Kind, hatte ich fürchterlich geschrien, denn die dabei wirkende Magie machte alles nur noch schlimmer. Doch erstaunlicherweise tat es nicht halb so weh wie bei Meister Ha-duri Na, als No-te Kadea mit einigen raschen Schnitten sein Symbol in meine Haut ritzte. Schlimmer war die Demütigung, ich fühlte mich wie eine Kuh, die ein Brandzeichen aufgedrückt bekommt. Während sich auf meinem Rücken mein eigenes mit dem Stierblut mischte und langsam und warm hinunter ran musste ich weiterhin vollkommen still stehen und warten bis es aufgehört haben würde. Mein neuer Meister wusch derweil seine Hände in einer Schüssel warmen Wassers, die ihm gereicht wurde und säuberte gründlich den Dolch. Eine gute Viertelstunde später legte er mir schließlich meine Robe wieder um und knotete sie sogar selbst zu. Damit war es geschehen, ich war jetzt ganz und gar seine Adeptin.

„Komm!“, gebot er, „Wir fahren nach Hause.“
Ziemlich erleichtert folgte ich ihm aus der Versammlungshalle, durch den Eingangsbereich und aus dem Gebäude. Die anderen Totenbeschwörer, die ihn ansprachen fertigte er mit einigen wenigen Worten ab, wofür ich ihm sehr dankbar war. Meister Ha-duri Na hatte sich damals noch stundenlang mit seinen Kollegen unterhalten und ich hatte daneben stehen und mir zahlreiche dumme Kommentare anhören müssen. No-te Kadea indes verfrachtete mich kurzerhand in seine Limousine und gab dem Chauffeur Anweisung, sich zu beeilen. Nichts wäre mit lieber gewesen. Ich wollte nur duschen und eine Zeit lang mit meinen Gedanken alleine sein. Außerdem trugen wir beide noch unsere Roben und würden uns erst bei ihm zu Hause wieder umkleiden, unsere anderen Sachen lagen in einem wirren Haufen auf dem Boden des Autos. Im Moment hätte ich sie nur blutig gemacht. Ich hoffte allerdings, dass ich nicht das Sitzpolster ruinieren würde und lehnte mich deswegen, und weil mein Rücken immer noch etwas schmerzte, auch nicht an.
Ich dachte, dass No-te Kadea auch diese Fahrt in Schweigen verbringen würde, doch plötzlich brach er die Stille und meinte: „Du kannst morgen frühstücken kommen wann es dir beliebt oder es auch ganz bleiben lassen und erst zum Mittagessen erscheinen. Wir werden erst am Nachmittag mit deinem Unterricht beginnen.“
Dann schwieg er wieder einige Augenblicke.
„Du hast dich gut gehalten heute Abend“, sagte er dann, als der Wagen bereits hielt.
Vor Staunen wäre mir beinahe der Kiefer herunter geklappt. Ich hatte nicht erwartet, von ihm ein Lob zu erhalten und ich war das auch nicht gewöhnt. Ha-duri Na war der Auffassung gewesen, dass nicht zu schimpfen des Lobes schon genug sei. Und er hatte oft geschimpft.
„Jetzt steig schon aus und schau mich nicht so an!“, riss mich Meister No-te Kadea da aus meinen Gedanken und schüttelte seufzend den Kopf. Ich sprang regelrecht aus dem Wagen. Und erstarrte. Vor mir stand das beeindruckendste Haus, dass ich jemals gesehen hatte. Eine riesige Villa, errichtet aus dunkelgrauem Stein, mit unzähligen hohen Fenstern und Unmengen von Kaminen auf dem Dach. Sie stand in einem etwas verwilderten Garten, der, obwohl es bereits November war, einen eigenartigen Reiz hatte. Im Sommer würde er bestimmt voller blühender Sträucher und Stauden sein, deren Duft ich leider niemals würde genießen können, aber deren Anblick sicher alleine schon bezaubernd war.
Ich wurde ziemlich grob aus meinem Staunen gerissen, denn No-te Kadea, der schon an der Haustür war rief unwillig: „Jetzt komm schon, ich habe nicht den ganzen Abend Zeit und du willst sicher nicht hier draußen übernachten!“
Nein, wollte ich nicht. So schnell ich konnte folgte ich ihm und betrat direkt hinter ihm das Haus. Das Innere war genauso beeindruckend wie außen. Es hatte einen wunderbaren, altmodischen Flair, wirkte aber dennoch modern. Schon die Eingangshalle, mit ihren Treppen und unzähligen Türen war mein Staunen wert.
„Hier geht es in die Küche und ins Esszimmer, da kannst du morgen zum essen hinkommen“, erläuterte No-te Kadea und wies auf eine davon, während er mich ins obere Stockwerk führte. Wir gingen einen Gang entlang und schließlich blieb er vor einer Tür stehen.
„Das ist dein Zimmer, direkt daneben ist das Bad. Deine Koffer wurden bereits hinauf gebracht. Ich wünsche eine gute Nacht“, mit diesen Worten wollte er sich abwenden, doch das Erscheinen eines älteren Mannes, den ich für den Butler halten musste, hielt ihn davon ab. Über seinem Arm hing der Kleiderhaufen, den wir in der Limousine hatten liegen lassen und er begann jetzt sehr umständlich, die Sachen auseinander zu suchen.
Ich hatte meinen Besitz schon fast wieder zusammen, als der Butler plötzlich meinte: „Das gehört wohl auch noch Ihnen, junges Fräulein“ und mit vollkommen ernster, ungerührter Miene meinen schwarzen Spitzen-BH aus dem Haufen zog.
„Zweifellos!“, bemerkte mein Meister, seine Mundwinkel zuckten und in seine Augen stahl sich ein fröhliches Leuchten, dass ich ihm gar nicht zugetraut hätte.
„Ähm ja“, entgegnete ich nur und versteckte das Ding schnell unter meinen anderen Sachen.
Ich war noch immer fürchterlich rot, als sich die Tür hinter mir schloss.
„Mir hat das entzückende Wäschestück ja wohl kaum gehört“, erklang es dann auch noch amüsiert draußen auf dem Gang, bevor sich endlich die Schritte zweier Personen entfernten.
Im Namen von Anubis! Heute war eindeutig nicht mein Tag. Ich sollte mich sofort ins Bett legen, nicht das mir noch etwas passierte. Aber statt diese kluge Idee weiter zu verfolgen, verbrachte ich erst einmal ein paar Augenblicke damit, mein Zimmer zu bewundern. Es war groß, viel größer als das, das ich im Haus meines Vaters hatte und es war auch viel schöner. Es hatte viele große Fenster mit leichten, zartrosa Vorhängen davor, einen eigenen Kamin, in dem ein kleines Feuer flackerte und sogar einen wunderbaren Erker, wo eine Bank voller Polster und Kissen stand. Die Wände zierte eine Tapete mit einem Muster aus Rosen und Steifen in rosa, hellgrün und weiß, was einen hübschen Kontrast zu dem Boden aus dunklen Holzdielen bildete. Auch die Regale, Schränke und Stühle waren aus dem gleichen Holz und fügten sich harmonisch in das Zimmer. Genauso wie das riesige Himmelbett. Wie, bei allen altägyptischen Göttern, hatten die das hier herein bekommen?
Normalerweise war das alles hier überhaupt nicht mein Stil und ich hätte es selbst nie so eingerichtet, aber dann hätte ich etwas verpasst. Es war einfach unglaublich. Ich wollte gar nicht wissen, wie reich No-te Kadea eigentlich sein musste und wo das Geld herkam erst recht nicht. Während ich mich noch weiter umsah und mich so jung und unbeschwert fühlte wie schon lange nicht mehr, entdeckte ich plötzlich eine ultramoderne, bestimmt auch verdammt teure Hifi-Anlage. Sofort kramte ich in meinen Koffern und Kartons, die mitten im Zimmer standen nach den wenigen CDs, dich ich besaß. Ich hörte eigentlich so ziemlich alles, aber diese Anlage schrie regelrecht zu Einweihung nach einem guten, klassischen Stück. Nur klassische Musik tat mir nicht in den Ohren weh, wenn sie mal etwas lauter aufgedreht war und gerade das wollte ich jetzt tun. Hoffentlich hielt sich No-te Kadea in einem ganz anderen Teil des Hauses auf.
Zur Ouvertüre aus L'arlésienne von Bizet begann ich meine Sachen auszupacken und mich in meinem neuen zu Hause einzurichten. Irgendwann nahm ich all meinen Mut zusammen und beschloss, jetzt auch das Bad zu erkunden und endlich zu duschen, um das Blut an meinem Rücken loszuwerden. Ich schaltete die Musik aus, öffnete die Tür und spähte vorsichtig auf den Gang hinaus. Niemand da. Leise huschte ich zur nächsten Tür und lugte in das Zimmer dahinter. Tatsächlich, das Bad. Es war schwarz-weiß gekachelt, das Fenster umrahmten dünne, weiße Vorhänge. Goldene Kerzenleuchter, Döschen und ähnliches standen überall herum, ebenfalls weiße Handtücher lagen zum Gebrauch bereit.
Fast andächtig platzierte ich Zahnbürste, Zahnpasta, meinen Kamm und meine ganzen anderen Sachen auf der Ablage über dem Waschbecken. Niemand anderes schien das Bad zu benutzen, weil sonst nichts herumstand. Außerdem war das Haus groß genug und hatte deswegen sicher auch genug Bäder. Mein Albtraum No-te Kadea hier drinnen plötzlich vor mir stehen zu haben würde also hoffentlich nicht in Erfüllung gehen.
Ich schloss trotzdem sicherheitshalber die Tür ab, bevor ich begann mich auszuziehen. Dann stellte ich mich unter die Dusche. Es gab auch eine Badewanne, aber ich hatte keine Lust mit einem Haufen Schmutz und Stierblut im Wasser zu liegen.
Ich duschte lange und ausgiebig, benutzte die duftende Seife und das Shampoo, das für mich bereitstand und war wirklich zufrieden. An den ganzen Luxus, den No-te Kadea mir jetzt bereits bot, konnte ich mich gewöhnen. Nur fürchtete ich, dass ich dafür andere Sorgen haben würde. So wie ich ihn bisher einschätzte war er ein verdammt strenger Lehrmeister. Außerdem war er nun mal ein Totenbeschwörer und das sagte schon alles.
Nachdem ich lange genug warmes Wasser über meinen Körper hatte fließen lassen stellte ich mich vor den vom Boden bis zur Decke reichenden Spiegel und betrachtete nachdenklich sein Zeichen auf meinem Rücken. Groß und rot prangte es dort und wies mich als seine Adeptin aus, aber es konnte noch mehr als das. Es war magisch und es diente dazu, den Lehrling kontrollieren zu können. Nicht selten trieben die neue Macht und das Wissen Adepten in den Wahnsinn und das war gefährlich, sie konnten schon früh allerlei Unheil anrichten. Erst nach Vollendung der Ausbildung wurde das Zeichen bei einer weiteren Zeremonie wieder entfernt.
Bis es bei mir endlich so weit war, würde No-te Kadea immer wissen wo ich war, sofern er es denn wissen wollte. Außerdem konnte er mir wehtun. Sehr. Einmal hatte Meister Ha-duri Na sein Zeichen dazu benutzt, mich zu bestrafen und allein die Erinnerung daran trieb mir Tränen in die Augen. Glühender Schmerz hatte sich damals von meinem Rücken aus über meinen gesamten Körper verbreitet, bis ich mich schreiend am Boden wand. Schließlich hatte mich eine gnädige Ohnmacht aus diesem Albtraum erlöst. Nichts fürchtete ich im Moment mehr, als dass mein neuer Meister Gefallen an dieser Strafe für ungehorsame Adepten finden könnte.


Zweites Kapitel


Schwarzer Tee




Am nächsten Morgen wurde ich von hellem Sonnenschein geweckt, der durch die Fenster fiel und mein ganzes neues Zimmer in warmes Morgenlicht tauchte. Gerne wäre ich noch etwas liegen geblieben, in die dicken, weichen Daunendecken gekuschelt, doch der Hunger trieb mich aus dem Bett. Schließlich hatte ich gestern nicht gerade viel zu Mittag gegessen und Frühstück und Abendessen waren ja vollkommen ausgefallen, wie, wenn ich mich recht erinnerte vorgestern auch schon. Ich vergaß ziemlich häufig, etwas zu mir zu nehmen oder ich hatte keine Zeit, kein Geld oder einfach keinen Appetit. Essen macht keinen Spaß mehr, wenn man überhaupt nichts schmeckt.
Trotzdem huschte ich, nachdem ich mich angezogen und frisiert hatte, in die Küche hinunter. Auch dieser Raum war sonnendurchflutet, die Möbel aus hellem Holz nahmen den dunklen Fliesen die Härte und bunte Polster auf den Stühlen im angrenzenden, etwas höher gelegenen Essbereich brachten Farbe hinein. Eins musste man No-te Kadea lassen: er hatte Geschmack.
An dem langen Tisch saßen sein Butler und sein Chauffeur, augenscheinlich beim Frühstück, von ihm selbst war weit und breit nichts zu sehen.
„Guten Morgen“, meinte ich schüchtern.
Die beiden wandten sich zu mir um und entgegneten meinen Gruß.
Der Butler sagte: „Guten Morgen, Fräulein Lamont! Verzeihen Sie, wir hatten Sie nicht so früh erwartet. Was kann ich Ihnen anbieten? Rührei? Gebratenen Speck? Spiegelei? Toast? Und wünschen Sie dazu Kaffee oder Tee?“
Ich war von diesem Angebot vollkommen überrumpelt.
„Ähm...“, war das einzige, was ich im Moment herausbrachte.
„Wenn Sie sich nicht entscheiden können mache ich einfach alles“, fügte der Mann daraufhin hinzu und blickte mich erwartungsvoll an.
„Nein! Bitte machen Sie sich wegen mir nicht so viel Mühe!“, protestierte ich. Wozu auch? Ich schmeckte doch sowieso nichts, mir war es doch egal, was ich aß. Ich warf einen raschen Blick auf das, was bereits auf dem Tisch stand und meinte: „Wenn ich vielleicht etwas von dem Rührei haben könnte und etwas Toast mit Butter dazu?“
„Aber sicher, mein Fräulein. Ist Ihnen schwarzer Tee recht?“
Ich nickte schnell und wurde schon im nächsten Moment genötigt, mich zu setzen. Mit einem schüchternen Lächeln ließ ich mich dem Chauffeur gegenüber nieder. Zuerst hatte er seine professionelle, gefühlslose Miene aufgesetzt, doch dann erwiderte er mein Lächeln und meinte freundlich: „Ich bin übrigens Royce, Fräulein Lamont.“
Er war vielleicht dreißig Jahre alt, sehr schlank, hatte kurzes, blondes Haar und sah zweifellos gut aus. Vor allem stand ihm seine Uniform.
„Freut mich Ihre Bekanntschaft zu machen!“, entgegnete ich.
„Und mein Name ist Wilson“, bemerkte der Butler, derweil er Teller und Tasse vor mich hinstellte. Nachdem er mich mit frischem Toast versorgt hatte nahm er ebenfalls wieder am Tisch Platz.
„Danke!“, ich schenkte auch ihm ein möglichst strahlendes Lächeln und machte mich dann hungrig über mein Essen her. Schade, dass ich es nicht angemessen genießen konnte, es schmeckte mit Sicherheit ausgezeichnet.
„Haben Sie Interesse daran, nach dem Frühstück das Haus zu besichtigen?“, erkundigte sich Wilson nach einiger Zeit, „Meister Kadea hat sich heute schon früh ins Büro fahren lassen. Er wurde mit den Ermittlungen in dem Mordfall an Ihrem vorherigen Meister betraut und wird erst am späten Nachmittag nach Hause kommen. Ich soll Sie davor ein wenig herumführen.“
„Gerne!“, entgegnete ich und ließ zu, dass mein Teller noch einmal gefüllt wurde. Wäre ich alleine gewesen hätte ich nie so viel gegessen, aber ich wollte nicht unhöflich erscheinen und nahm deswegen dankend an. Außerdem war es viel schöner in Gesellschaft zu frühstücken.
„Sie wissen also, was genau Meister Kadea tut?“, fragte ich bemüht ein Gespräch zu beginnen und einige Informationen zu sammeln.
Wilson nickte.
„Ich kenne ihn schon, seit er ein kleiner Junge war. Mein ganzes Leben lang habe ich für seine Familie gearbeitet und da bereits sein Vater ein Schwarzmagier war ist es nicht erstaunlich, dass er ebenfalls diesen Weg eingeschlagen hat. Wenn Sie sich wundern, dass das nicht vor den Angestellten geheim gehalten wurde, dann kann ich Ihnen nur sagen, dass ich das für ziemlich schwierig halte“, erläuterte er.
Das konnte ich mir vorstellen.
„Außerdem“, mischte sich da plötzlich Royce ein, „frage ich mich, wie er uns wohl Ihre Anwesenheit hier erklärt hätte, wenn wir die Wahrheit nicht kennen würden. Ob er sie als seine Tochter ausgegeben hätte? Nein, denn dazu ist er wohl noch zu jung. Dann schon eher als seine Freundin.“
Für diesen Kommentar erntete er einen strengen Blick von Wilson, doch ich musste unwillkürlich kichern. Das mit der Freundin war nicht allzu abwegig. Auf einen ähnlichen Gedanken war ich ja schließlich auch schon gekommen. Aber ich war nicht No-te Kadea. Seine Ausrede wäre wirklich interessant gewesen.
Doch bevor ich mich ausgiebiger mit diesem Thema befassen konnte fragte Wilson: „Möchten Sie jetzt das Haus sehen, Fräulein Lamont?“ und ich hatte sofort besseres zu tun.
Staunend folgte ich ihm durch das ganze Gebäude, bewunderte die vielen, geschmackvoll eingerichteten Räume, die gewaltige Bibliothek, das Dachgeschoss mit der Kunstsammlung Meister Kadeas, den Ballsaal, der allerdings nie benutzt wurde, wie mir Wilson erklärte und das große Wohnzimmer. Doch was mich am meisten begeisterte war die Orangerie. Sie war riesig und voller verschiedenster Pflanzen. Wieder wünschte ich, etwas riechen zu können, denn allein die Zitrusbäume mussten herrlich duften.
Mitten in diesem Urwald befand sich ein Pool, Salzwasser, kein Chlor und ich hatte noch nie etwas vergleichbares gesehen. Wenn meine Ausbildung eines Tages beendet war, wollte ich mir auch so etwas leisten können, aber die Chance darauf war eher gering. Außer ich heiratete No-te Kadea.
Ok, ich geb's zu, das gerade war ein schlechter Witz.
„Es gibt auch noch einen Keller, aber den wird Ihnen Meister Kadea wohl selbst zeigen“, riss mich Wilson da plötzlich aus meinen Gedanken.
Ich nickte, schließlich hatte ich das auch nicht anders erwartet. Die meisten Schwarzmagier hatten ihre Laboratorien und Beschwörungsräume im Keller und sie wachten eifersüchtig über die Geheimnisse, die sie dort bargen. Außerdem war es an diesen Orten meist ziemlich gefährlich und ich wäre niemals freiwillig alleine hinunter gegangen. Vor allem beim mächtigsten Totenbeschwörer von Edinburgh. So lebensmüde war ich dann auch wieder nicht.
Ich ließ mich also gerne mit zurück in die Küche nehmen, wo ich von Royce über den neusten Klatsch und Tratsch der Promiwelt aufgeklärt wurde, was mich zwar nicht wirklich interessierte, aber besser als altägyptische Texte über den Klatsch und Tratsch am Hof des Pharaos war es allemal.
So verbrachte ich also meinen Vormittag so müßig wie seit Jahren nicht mehr. Es war unglaublich angenehm mal nichts tun zu müssen, keine Aufgaben, die es zu erledigen galt, keine Texte, die übersetzt werden mussten, nichts, was man sich unbedingt vor der nächsten Unterrichtsstunde noch einprägen sollte. Nur der schleichende Verdacht, dass das nicht lange so bleiben würde, sobald sich No-te Kadea erst einmal intensiv mit meiner Ausbildung beschäftigte.
Ich genoss also auch meinen freien Nachmittag noch so gut es ging. Nach dem Mittagessen, dass Wilson zubereitete und das sicherlich toll schmeckte, zumindest wirkte es so, sah ich auf No-te Kadeas riesigem Plasmabildschirm fern, Nachrichten, Tiersendungen, seltsames Polizei-Zeug. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal fern gesehen habe! Wenn das überhaupt jemals der Fall war. Ich war auch noch nie im Kino oder so, dafür war in meinem Leben bis jetzt einfach keine Zeit.

Irgendwann hörte ich energische Schritte auf dem Gang. Dann sprang die Tür auf und Meister No-te Kadea rauschte ins Zimmer.
„Ach hier bist du Mädchen! Verdammt, ich suche dich schon die ganze Zeit. Komm jetzt endlich!“, rief er und schon war er wieder weg.
Ich musste mich wirklich beeilen, um ihn einzuholen und ihm durch die Eingangshalle und einen langen Gang hinunter zu folgen. Schließlich fand ich mich auf einer steilen, schmalen Wendeltreppe wieder. Allerdings gingen wir nicht nach unten in den Keller, wie ich erwartet hatte, sondern nach oben, in den ersten Stock. Vor einer schweren Eichentür blieb Meister Kadea plötzlich so abrupt stehen, dass ich beinahe in ihn hineingerannt wäre. Er strich mehrmals über das Holz und flüsterte dabei leise. Eine Reihe Runen, die in die Tür graviert waren begannen rötlich zu glühen und ich wusste, dass es wohl besser war, diese Tür niemals einfach so zu öffnen. Wer trotzdem so dumm war konnte sich auf einen schmerzhaften Tod gefasst machen. Doch nachdem No-te Kadea die magische Falle entschärft hatte, musste man sich da keine Sorgen mehr machen und ich schlüpfte hinter ihm in den Raum.
Vor drei gewaltigen Fenstern stand ein großer Schreibtisch aus dunklem Holz und ein rot gepolsterter Stuhl mit einer sehr hohen Lehne. Alle möglichen Utensilien lagen über- und untereinander darauf herum und sogar am Boden waren noch Papiere und Zettel verstreut. Bücher stapelten sich in den Regalen an den Wänden. Ein Computer mit einem großen Flachbildschirm stand auf dem Tisch. Das war No-te Kadeas Arbeitszimmer und es war für einen Totenbeschwörer, für den Ordnung lebenswichtig sein konnte, erstaunlich chaotisch.
„Setzt dich!“, meinte er mit einer nachlässigen Geste auf einen kleineren Stuhl hin, der vor dem Schreibtisch stand und ließ sich dann mir gegenüber nieder.
„Ich will wissen, was du kannst. Sag mir die Konjugation des Verbs „sein“ auf arabisch auf“, forderte er.
Doch bevor ich zu einer Antwort ansetzen konnte fügte er noch hinzu: „Und dann sag es nochmal auf persisch. Aber alles möglichst schnell.“
Das war leicht, viel zu oft schon hatte mein alter Meister das von mir verlangt. Auch mit den nächsten Fragen zu altgriechisch, lateinisch und Keilschrift kam ich ohne weiteres zurecht. Doch Meister Kadea steigerte nach und nach den Schwierigkeitsgrad und bald schon musste ich lange überlegen bis ich ihm eine befriedigende Antwort geben konnte. Verdammt anstrengend war es außerdem.
Irgendwann dachte ich schon, ich hätte es endlich geschafft, als er plötzlich eine Pause in seinem Kreuzfeuer von Fragen einlegte. Doch was dann kam erschreckte mich fürchterlich.
„Beschwöre mir hier auf der Stelle eine Flamme herauf, ergreife von ihr Besitz und zünde damit das Feuer im Kamin an“, befahl er.
Ich wurde blass und starrte ihn entsetzt an.
„Was? A-aber, das kann ich nicht, so etwas habe ich noch nie getan!“, stotterte ich.
Er richtete sich ruckartig auf, dann sank er in seinen Stuhl zurück und schlug die Hände vor dem Kopf zusammen.
„Nein, bitte“, stöhnte er, „sag mir nicht, dass du nicht einmal dazu in der Lage bist. Deine Kenntnisse in Sprachen, Geschichte und Theorie waren ja ganz annehmbar, aber so etwas grundlegendes wie Feuer zu beherrschen musst du doch wenigstens können. Du bist seit zehn Jahren in der Ausbildung und solltest eigentlich in spätestens zwei Jahren damit fertig sein!“
Ich biss mir auf die Lippe. Meister Ha-duri Na hatte mich nie viel praktisch üben lassen, vor allem nicht mehr nach dem Unfall mit der Katze und es war schon ein Wunder, dass ich gestern bei der Tür überhaupt etwas erreicht hatte.
Meister No-te Kadea nahm indes die Hände wieder vom Gesicht und mit einem neuerlichen Stöhnen meinte er: „Dann werden wir uns wohl darum kümmern müssen. Aber ich habe noch zu tun. Nimm du dir das blaue Buch, dass da ganz unten in diesem Stapel liegt und setzt dich damit irgendwohin. Versuch bitte zu verstehen, was du liest.“
Ja Meister, natürlich werde ich versuchen zu verstehen was ich lese. Das tue ich nämlich immer! Ich folgte also seinen Anweisungen und suchte das betreffende Buch, was gar nicht so einfach war. Erst musste ich den richtigen Stapel finden, der zufällig der höchste und instabilste im ganzen Zimmer war, und dann das Buch herausziehen. Leider entschied der Stapel, dass ihm das nicht gefiel und rächte sich mit einem Bücherregen, der mitsamt Unmengen von Staub über meinem Haupt niederging.
„Bei Osiris! Kannst du nicht aufpassen?“, erklang sofort Meister Kadeas genervte Stimme. Er sah von seinem Schreibtisch auf funkelte mich wütend an.
„Verzeihung Meister“, erwiderte ich mit gesenktem Kopf und rieb mir den Staub von meiner Kleidung, die heute nur aus einer schlichten, schwarzen Jeans und einem ebenfalls schwarzen Rollkragenpullover bestand. Besonders erfolgreich war dieses Unterfangen allerdings nicht.
„Wenn so etwas nochmal vorkommt, darfst du hier aufräumen!“, fauchte Kadea.
Entsetzt starrte ich ihn an. Er erwiderte meinen Blick einen kurzen Moment, dann begann er lauthals zu lachen.
„Verdammt, Mädchen“, kicherte er, „ schau nicht so erschreckt. Jetzt hab ich Mitleid mit dir und kann meine Drohung sicher nicht mehr wahr machen!“
Kopfschüttelnd widmete er sich wieder seinem Papierkram. Ich ließ mich mit meiner Beute auf dem Teppich, der vor dem Kamin lag nieder und vertiefte mich in eine Abhandlung über die Kunst des Besitzergreifens. Eine ziemlich langweilige Abhandlung.
Draußen war es bereits dunkel, als No-te Kadea verkündete: „Das reicht für heute. Komm, wir gehen Abendessen. Wilson wird sowieso schon ungeduldig auf uns warten weil das Essen kalt wird. Lass das Buch einfach liegen.“
Na, das erklärte einiges. Wenn er das immer so machte und seine Bücher einfach liegen ließ, brauchte einen die Unordnung nicht zu wundern. Er scheuchte mich aus dem Zimmer und mit einer raschen Handbewegung aktivierte er die Zauberrunen an der Tür um sein Arbeitszimmer vor unerwünschten Eindringlingen zu schützen. Sicher waren auch die Fenster gesichert.
Vor mir her ging er in Richtung Küche. Nein, ich muss mich verbessern, er schritt. Er schien immer zu schreiten. Wahrscheinlich schlurfte er auch morgens nicht halbnackt ins Badezimmer so wie ich, No-te Kadea schritt halbnackt ins Badezimmer.
Auf dem Esstisch erwartete uns ein Festmahl, noch immer dampfend standen dort Schüsseln und Töpfe mit Reis, Nudeln, Gemüse, Fleisch, verschiedenen Soßen. Ich fragte mich, wer das alles essen sollte.
Doch mein Meister schien sich daran nicht zu stören. Er ließ sich am Kopf der Tafel nieder und bedeutete Wilson und mir, ebenfalls Platz zu nehmen. Royce war, soweit ich wusste bereits zu Hause. Er wohnte nicht hier sondern mit seiner Frau und seinen Kindern in einem relativ kleinen Haus, das aber zumindest einen schönen Garten haben sollte, so hatte er es mir zumindest heute Mittag erzählt.
Deswegen war er auch jetzt zum Essen nicht hier und das bestärkte mich nur in der Überzeugung, dass wir nur zu dritt nie alles aufessen konnten. Doch ich wurde bald eines Besseren belehrt. Bei Anubis, noch nie habe ich jemanden so viel essen sehen wie Meister Kadea.
„Du hast dich mal wieder selbst übertroffen, Wilson!“, meinte er zwischen zwei Bissen, dann widmete er sich wieder seinem übervollen Teller. Dem dritten. Ich hätte mich schon nach dem zweiten übergeben. Und dazu trank er eine ganze Kanne schwarzen Tee.

Nachdem der Tisch abgedeckt und Wilson mit dem Abwasch beschäftigt war, bemerkte ich plötzlich, dass No-te Kadeas scharfer Blick auf mir ruhte. Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her.
„Wir müssen etwas wegen deinem Aussehen unternehmen“, stellte er auf einmal fest, „Für einen Totenbeschwörer ist sein Ruf ungemein wichtig und man sollte vor allem eins: auffallen. Deswegen trägt zum Beispiel Nanin Gal seine Haare so lang, Obwohl er es gar nicht nötig hätte, weil er wirklich gut aussieht und deshalb sowieso Eindruck hinterlässt.
Da du nun nicht besonders hübsch bist, musst du dir stattdessen einen besonderen Stil zulegen, nicht immer nur schwarz in schwarz.“
Danke! In letzter Zeit schienen es alle darauf anzulegen, mein Selbstbewusstsein zu schädigen. Aber da er leider Recht hatte nickte ich gehorsam und wartete, was er noch zu sagen hatte.
„Ich will, dass du heute deinen Schrank durchsiehst und dir dann morgen, derweil ich arbeite einige neue Sachen kaufst“, redete er weiter, „aber bitte nichts, womit du aussiehst, als würdest du gleich nach dem Unterricht auf den Strich gehen und keine Pastellfarben. Ich hasse Pastellfarben und habe keine Lust, ihren Anblick ständig zu ertragen. Schaffst du das alleine oder muss ich mich auch noch darum kümmern?“
„Nein, das kann ich schon“, erwiderte ich schnell.
Alles was er wollte, aber bloß nicht No-te Kadea als mein Stylingberater! Er hatte zwar unleugbar Geschmack, aber es war eine äußerst unbehagliche Vorstellung, wie er meinen Schrank durchsah und mich zum Einkaufen schleppte. Er hatte eindeutig gestern Abend schon genug von meiner Wäsche gesehen!
Allerdings gab es da leider ein anderes Problem.
„Meister? Ich fürchte, ich habe nicht genug Geld, um mich neu auszustatten“, bemerkte ich schüchtern.
„Wie viel hast du denn?“, fragte er.
Ich wurde rot.
„Gar nichts“, flüsterte ich.
„Ich hätte es mit denken können“, stöhnte er, „dann nimm meinetwegen meine Kreditkarte. Ich gebe sie dir morgen.“
Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf und mein Unterkiefer klappte nach unten.
Er begann wieder zu lachen.
„Alle altägyptischen Götter! Deine Gesichtsausdrücke sind einfach zu süß!“, sagte er während er sich bereits erhob und zur Tür schritt. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um, seinen Mund immer noch zu einem amüsierten Grinsen verzogen: „Gute Nacht!“
Der Mann machte mich fertig.
Nachdem er verschwunden war zog auch ich mich nach einem kurzen „Gute Nacht“ an Wilson in mein Zimmer zurück. Ich hatte noch zu tun.
Es dauerte nicht besonders lange, meine Kleidung zu sichten. Lauter ähnliche, möglichst billig eingekaufte Stücke in schwarz. Ach nein, da war mal was dunkelblaues und hier grau! Aber ansonsten nicht besonders abwechslungsreich. Zumindest besaß ich nichts in Pastellfarben, so dass ich wenigstens nichts im Kamin verbrennen musste und bald schon hatte ich eine ziemlich genau Vorstellung von dem, was ich für meinen neuen Stil kaufen musste.
Zufrieden schmiegt ich mich später in die weichen Kissen und Decken in meinem riesigen Bett.

Ein lautes Klopfen an meiner Tür riss mich aus dem Schlaf. Es was schon fast ein Hämmern. Stöhnend richtete ich mich auf.
„Ja?“, rief ich und unterdrückte ein Gähnen.
„Endlich bist du wach!“, erklang es von draußen, „wir gehen joggen!“
„Was!?!“, schrie ich jetzt und war mit einem Schlag hellwach.
No-te Kadea vor meiner Tür schnaubte.
„Ja, du hast richtig gehört! Zieh dich an, wir treffen uns in zwei Minuten unten in der Halle“, meinte er und war verschwunden.
Verdammt! Ich sprang regelrecht aus dem Bett und rannte zu meinem Kleiderschrank. So schnell ich konnte schlüpfte ich wieder in einen schwarzen Rollkragenpullover, eine schwarze Jogginghose und mein einziges Paar Turnschuhe. Meine Haare band ich zu einem Pferdeschwanz während ich schon die Treppe hinunter lief.
Es war fünf Uhr früh und der Kerl schmiss mich aus dem Bett um joggen zu gehen? Wollte er mich quälen? Hatte ich ihn irgendwie verärgert? Hoffentlich tat ihm seine Hand vom dem Gehämmere an meiner Tür so richtig weh, das gönnte ich ihm nämlich!
Er wartete bereits in der Halle auf mich, seine schlanke, aber für einen Totenbeschwörer wirklich erstaunlich muskulöse Gestalt in einen schicken, aus einem engen grauen T-shirt und einer schwarzen Hose bestehenden Sportdress gehüllt.
„Da bist du ja endlich!“, empfing er mich, „Ich wollte in einer Stunde im Büro sein, aber das schaffe ich jetzt wohl nicht mehr ganz.“
Hilfe, wie lange wollte der den joggen gehen und warum musste ich mit? Doch bevor ich ihm eine diesbezügliche Frage stellen konnte hatte er mich schon zur Tür hinaus geschoben, hinaus in die Kälte eines Novembermorgens. Oder besser gesagt einer Novembernacht. Zitternd stand ich auf dem Bürgersteig.
„Na komm schon“, forderte Meister Kadea und derweil er ein irrsinniges Tempo anschlug, so dass ich fast rennen musste um mit ihm Schritt zu halten erzählte er: „Ich finde es wirklich bedauerlich, dass die meisten Adepten in so schlechter, körperlicher Verfassung sind. Es wird nur alle Kraft in das Studium und die geistigen Fähigkeiten gesteckt, aber niemand denkt daran, auch etwas Sport zu betreiben und Zeit habt ihr dafür sowieso meist nie. Ich wette ein Kindergartenkind ist fitter und stärker als du! Außerdem siehst du aus, als wärst du halb verhungert und das muss sich auch ändern“
Dieser Mensch war eindeutig der freundlichste und höflichste, der mir jemals begegnet war. Bestimmt hatte er noch mehr solcher schmeichelhafter Bemerkungen auf Lager.
Leider war ich so mit atmen und laufen beschäftigt, dass ich ihm nicht in angemessener Weise antworten konnte. Verdammt war das anstrengend. Ich keuchte und schmerzhaftes Seitenstechen hatte sich auch schon eingestellt.
„Meister, bitte, können wir nicht etwas langsamer laufen?“, bat ich heftig schnaufend.
Der warf mir einen scharfen Blick zu, zügelte aber erstaunlicherweise sein Tempo. Bald konnte ich gar nicht mehr, mein Herz schlug viel zu schnell und ich konnte nicht mehr klar sehen. Mein Kreislauf war noch nie besonders leistungsfähig gewesen. Die Hälfte der Strecke durfte ich also gehend zurücklegen, während No-te Kadea neben mir immer noch joggte. Ich war unglaublich erleichtert, als wir wieder vor seinem Haus standen. Gerade wollte ich ihm durch die Tür folgen, doch da überkam mich ein seltsames Gefühl. Magie und Kraft, irgendwo hinter mir. Ich fuhr herum, konnte aber in der Dunkelheit nichts erkennen. Mein Meister schien nichts bemerkt zu haben und ich würde ihm auch nicht davon erzählen. Nicht, dass er mich neben unsportlich auch noch für wahnsinnig hielt.
Er sah mich bereits ungeduldig an und fragte: „Worauf wartest du? Komm rein. Royce wird dich nachher in die Stadt fahren, bis dahin kannst du dich in die Bibliothek setzen, such dir ein Buch auf lateinisch, denn da hast du gestern noch Schwächen gezeigt. Ich will heute Abend fünf Seiten Übersetzung, handgeschrieben, Betrug in irgendeiner Form werde ich nicht dulden!“
Als ob ich vorgehabt hätte, irgendwo abzuschreiben! Ich war es gewohnt, öde, alte Texte zu übersetzen. Wenigsten ließ er mich selbst aussuchen was ich lesen wollte. Ich nickte also brav und entgegnete. „Natürlich Meister.“
„Viel Spaß“, sagte er und ich meinte in seinen Augen ein verräterisches Funkeln aufblitzen zu sehen. Er wusste ganz genau, dass ich keinen Spaß haben würde. Mit raschen Schritten verschwand er die Treppe hinauf.
Ich folgte ihm in etwas gemäßigterem Tempo. Mit meiner Übersetzung konnte ich auch noch anfangen, nachdem ich mich geduscht hatte. Und vielleicht sollte ich mich nochmal ein bisschen hinlegen. Nur ein oder zwei Stunden. Ich gähnte.

„Fräulein Lamont? Soll ich Sie jetzt in die Stadt fahren?“, erklang Royce' Stimme. Ich blickte von meiner Übersetzung auf. Er stand in der Tür zur Bibliothek und sah mich erwartungsvoll an. Nur allzu gerne ließ ich Latein Latein sein.
Es war kurz nach zehn als er mich mit No-te Kadeas schwarzer Limousine vor dem ersten Geschäft, in das ich gehen wollte, absetzte.
„Ich hole Sie um halb eins wieder ab“, meinte er, während er mir die Tür aufhielt.
Ich lächelte ihn fröhlich an und entgegnete: „Danke! Bis später Royce.“
„Stets zu Diensten“, erwiderte er, „Ich wünsche Ihnen viel Spaß.“
„Werde ich haben!“, lachte ich und machte mich, No-te Kadeas Kreditkarte in der Tasche auf um shoppen zu gehen. Das mich alle Leute anstarrten ignorierte ich. Man sah nun mal nicht jeden Tag eine solche Limousine mit Chauffeur und ein junges Mädchen, das daraus ausstieg.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, wirklich billig einzukaufen, allerdings gestaltete sich dieses Vorhaben weit schwieriger als erwartet. Die Versuchung war einfach zu groß und nach zwei Stunden hatte ich so viele Taschen und Tüten, dass ich sie fast nicht mehr alleine tragen konnte. No-te Kadea würde mich umbringen, vor allem, da sich meine Ausgaben bereits auf 602 Euro und genau fünf Cent beliefen. Wenn ich mich nicht verrechnet hatte. Soviel Geld gab ich sonst im Jahr nicht aus.
Nachdenklich saß ich auf einer Bank im Einkaufszentrum und dachte darüber nach, ob es irgendwelche Verteidigungszauber gegen erzürnte Meister gab, aber mir fiel nichts ein. Ich bereitete mich schon mal seelisch darauf vor, sein Arbeitszimmer aufräumen zu dürfen. Oder schlimmeres.
Während ich so meinen Gedanken nachhing überkam mich plötzlich wieder das seltsame Gefühl von heute morgen. Da war Magie, uralt und mächtig. Erschrocken sah ich mich um, doch ich konnte nichts auffälliges entdecken. Nur Menschen, die wie ich unterwegs waren um einzukaufen. Manche waren ebenfalls mit Taschen beladen, andere hatten weniger dabei. Manche waren alleine, andere in kleinen Gruppen. Und einer starrte mich an.
Er machte sich nicht einmal die Mühe wegzusehen, als ich seinem Blick begegnete. Dunkelbraune Augen, die seltsam zu glühen schienen, als wäre in ihnen die Hitze einer riesigen Wüste gespeichert musterten mich. Ebenholzschwarze, schimmernde Haare umrahmten das markante, für einen Europäer etwas zu dunkle Gesicht, dass keinerlei Regung zeigte. Es erinnerte mich an irgendetwas, nur wollte mir im Moment absolut nicht einfallen, was es war.
Der Mann war wirklich schön, sah sogar besser aus als Nanin Gal, No-te Kadea oder jeder Schauspieler, den die Medien verehrten. Aber er machte mir Angst.
Ich erhob mich, nahm meine Sachen und ging weiter um zu sehen, ob er mir folgen würde. Er tat es. Im Namen von Anubis, wer war der Mann? Was wollte er von mir? Hatte vielleicht er Meister Ha-duri Na getötet und war jetzt hinter mir her?
Angst schnürte meine Kehle zusammen. Hier vor den ganzen Menschen konnte er mir doch nichts tun, oder? Ich wünschte, Meister Kadea wäre hier, er war mächtig genug mich zu beschützen. Doch im gleichen Moment, in dem mir der Gedanke kam, verwarf ich ihn wieder. Wenn dieser Mann die Quelle der Macht war, die ich schon die ganze Zeit wahrnahm würde auch No-te Kadea nichts gegen ihn ausrichten können.
Ich hatte gerade den Plan gefasst, mich auf der Damentoilette zu verstecken, als das seltsame Gefühl plötzlich weg war. Ich fuhr herum und hielt nach dem Mann Ausschau, doch auch der war verschwunden. Die Angst blieb trotzdem und ich blickte immer wieder furchtsam um mich, jedoch ohne noch einmal eine Spur von ihm zu entdecken. Verdammt, war ich froh, als ich wieder bei Royce in der Limousine saß.

Er half mir auch meine Taschen und Tüten in mein Zimmer zu transportieren, wo ich mir gleich etwas von den neuen Sachen anzog. Mit einem alten, kurzen, natürlich schwarzen Rock und einem schwarzen Pullover kombinierte ich eine Strumpfhose mit einem leuchtenden Unionjack-Muster. Die eine Hälfte der englischen Flagge zierte das eine Bein, die zweite das andere. Hoffentlich war das No-te Kadea auffällig und besonders genug. Mir zumindest gefiel es.
Was ihm sicher nicht gefallen würde war, dass ich bisher erst zweieinhalb Seiten Übersetzung vorzuweisen hatte. Nachdem Mittagessen setzte ich mich also wieder in die Bibliothek, verdrängte alle Gedanken an den seltsamen Kerl von heute Vormittag aus meinem Kopf und konzentrierte mich voll und ganz auf dummes Latein. Ich schrieb gerade den letzten Satz auf meine fünfte Seite, als die Tür geöffnet wurde und No-te Kadea den Raum betrat.
„Zeig her was du hast!“, begrüßte er mich und ließ sich neben mir in einen Sessel fallen.
Ich reichte ihm meine Arbeit und das Buch, aus dem ich übersetzt hatte, er begann es zu lesen. Schon nach wenigen Wörtern schnalzte er unwillig mit der Zunge.
„Den Ausdruck da hast du nicht genau genug wiedergegeben, statt 'im Schatten lauern' wäre 'im Schatten dräunen' viel besser gewesen!“, bemerkte er.
„Aber das Wort kenne ich doch nicht mal!“, verteidigte ich mich, doch er blieb davon völlig unbeeindruckt.
„Hier, der ganze Satz klingt schief. Gib dir doch ein wenig mehr Mühe“, klagte er.
Ich ignorierte seine Anschuldigung einfach. Was war dem mit dem heute los? Seine Laune schien ja abgrundtief schlecht zu sein. Das konnte lustig werden. Hoffentlich wollte er nicht jetzt auch noch von mir wissen, wie viel Geld ich ausgegeben hatte, dass würde ihm den Rest geben.
Irgendwann hatte er genug an meiner Übersetzung herumkritisiert, legte sie weg und wandte sich mir zu.
„Bis morgen Nachmittag will ich noch einmal zehn Seiten, diesmal aber besser!“, befahl er und ich konnte nur mit Mühe ein Stöhnen unterdrücken.
Er erhob sich und schritt zur Tür, über die Schulter rief er mir zu: „Jetzt komm mit, wir werden einige praktische Übungen durchführen.“
O Anubis, steh mir bei! So schnell ich konnte folgte ich ihm. Er führte mich erneut in sein Arbeitszimmer und hieß mich, vor ihm Platz zu nehmen. Dann beugte er sich vor und legte die Fingerspitzen aneinander. Ich wich unwillkürlich in meinem Stuhl vor ihm zurück.
„Das ist schon mal der erste Punkt“, stellte er fest, „Weiche nie vor jemandem zurück, das macht ihn dir überlegen. Wenn ich mich zu dir hin beuge musst du das unbewegt hinnehmen oder, dich besser noch ebenfalls nach vorne lehnen. Egal wie unangenehm dir das ist. Glaub mir, es lässt dich selbstbewusster und mächtiger erscheinen.“
Langsam kam er um den Tisch herum, blieb vor mir stehen, stemmte die Hände auf die Armlehnen meines Stuhls und näherte sein Gesicht dem meinen. Ich hatte keinen Platz um noch weiter zurückzurutschen und musste deswegen stillhalten. Der Mann machte mir Angst! Und wahrscheinlich bezweckte er genau das.
Was er aber wohl nicht erwartet hätte waren die andern Gefühle und Spekulationen, die seine plötzliche Nähe in mir auslöste. Ich hätte es ja selbst nicht erwartet, aber ich erwischte mich bei dem Gedanken, wie es wohl wäre, ihn zu küssen. Sicher nicht unangenehm.
Aber er war verdammt nochmal mein Meister! Und er wollte sicher auch nichts von mir. Trotzdem lehnte ich mich etwas zu ihm hin. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht und er zog sich zurück, wieder auf seine Seite des Schreibtischs.
„Nicht schlecht“, meinte er, „Ich hatte nicht erwartet, dass du meinen Ratschlag so gut umsetzen würdest. Versuch immer dran zu denken. Nie vor jemandem zurückweichen, am besten immer auf ihn zu!“
Für mich hatte das vorhin eher weniger nach einem „Ratschlag“ gelungen, das war ein Befehl gewesen. Aber wenn er meinte. Ich nickte also schön brav, wie es von mir erwartet wurde, verdrängte sämtliche Gedanken an No-te Kadeas Lippen aus meinem Kopf und konzentrierte mich auf das, was er jetzt von mir verlangte.
„Wir werden heute die Aufgabe versuchen, die ich dir gestern schon gestellt habe“, sagte er, „Zuerst musst du eine Flamme heraufbeschwören. Hast du irgendeine Idee, wie das funktionieren könnte?“
Ich überlegte einen Augenblick, dann meinte ich: „Ich könnte irgendein Zeichen für 'Feuer' auf den Tisch malen, es dann aussprechen und versuchen Magie in meine Worte zu legen.“
„Komm ja nicht auf die Idee, alleine mit Magie herumzuexperimentiern“, entgegnete er nur, „Wenn du deinen momentanen Plan in die Tat umsetzt, fackelst du meinen Schreibtisch ab und das ganze Zimmer wahrscheinlich mit. Nimm für den Anfang erstmal ein Zeichen für 'Flamme' statt für 'Feuer'. Sonst kannst du gleich 'Inferno' benutzen.
Man schreibt es auch nicht auf den Tisch, sondern in die Luft, dorthin, wo du die Flamme haben willst. Welche Sprache ist dabei egal, Hauptsache du kannst das Wort richtig aussprechen. Ich an deiner Stelle würde es mit persisch probieren, da gab es ja lange Zeit diesen Feuerkult.
Und stell dir genau vor, was du erreichen willst.“
Ich nickte, dann versuchte ich, seinen Anweisungen zu folgen, schrieb wie befohlen in die Luft, sagte den richtigen Ausdruck und stellte mir vor, was ich haben wollte, doch nichts geschah.
„Ach, bei Anubis!“, stieß ich in meiner Enttäuschung hervor.
Und die Flamme loderte.

„Du solltest es ab jetzt immer in ägyptisch versuchen“, murmelte No-te Kadea, nachdem er sich von seinem ersten Staunen erholt hatte, „Irgendetwas in dir reagiert darauf. Du musst irgendeine besondere Verbindung dazu haben. So etwas ist zwar ungewöhnlich aber möglich. Wirke deine Zauber immer im Namen von Anubis, wenn das dein Lieblingsgott ist.“
Ich nickte. Irgendwie hatte mich Anubis immer schon fasziniert. Ich mochte die Sache mit dem Schakalkopf. Nicht, dass ich glaubte, dass es ihn wirklich gab, wie die meisten Totenbeschwörer war ich Atheistin, aber es war so üblich, dass man statt „Oh mein Gott“ lieber andere Götter, also zum Beispiel die ägyptischen erwähnte, an die die meisten Schwarzmagier früher geglaubt hatten. Besonders in Ägypten, Babylon, Persien und bei den Assyrern war unsere „Berufsgruppe“ weit verbreitet gewesen. Weniger hier in Europa. Deswegen musste auch jeder Adept diese Sprachen erlernen. Man sollte die Texte, die damals abgefasst wurden verstehen können und daraus lernen, Latein und Griechisch dienten auch diesem Zweck. Viele der Floskel und Formeln für komplizierte Beschwörungen waren daraus entlehnt.
„Cailin!“, erklang da die Stimme meines Meisters, „Wo bist du nur mit deinen Gedanken? Willst du die Flamme da ewig über meinem Schreibtisch hängen lassen? Wende lieber mal das was du gestern gelesen hast praktisch an und ergreife von ihr Besitz.“
Das klang so ganz einfach, aber das war es nicht. Man musste irgendwie seine Macht ausstrecken und damit in die Flamme eindringen, aber ich hatte so etwas noch nie getan und ich bezweifelte, dass es funktionieren würde. Trotzdem konzentrierte ich mich.
„Streck die Zungenspitze nicht aus dem Mundwinkel wenn du versuchst Magie anzuwenden“, beschwerte sich da Meister No-te Kadea, „Das sieht viel zu süß aus für eine Totenbeschwörerin. Gewöhn dir diese Angewohnheit ab, sonst wird dir niemand den Respekt entgegenbringen, der für deinen Ruf in unserer Gesellschaft unerlässlich ist.“
Nur gut, dass er nicht zu süß für einen Totenbeschwörer war. Er war glücklicherweise unfreundlich, kritisch und stolz genug.
Aber leider hatte er Recht. Schwarzmagier suchten nur zu gerne bei ihresgleichen nach Schwächen und wenn sie welche fanden waren sie unerbittlich. Nirgendwo sonst wurden so harte Konkurrenzkämpfe gefochten wie im Hohen Rat. Kein Wunder, dass No-te Kadeas Laune immer am schlechtesten war, wenn er von der Arbeit dort nach Hause kam.
Ich bemühte mich also meine Zungenspitze im Mund zu behalten während ich mich zum zweiten Mal konzentrierte.
„Bei Anubis“, flüsterte ich leise.
Wenn mein Meister meinte, dass das half war es zumindest einen Versuch wert und tatsächlich spürte ich kurz darauf die Flamme. Es war, als gehörte sie zu meinem Körper. Ich genoss dieses Gefühl, ihre Hitze, ihr Licht, ihre Energie. Noch nie zuvor hatte ich so etwas tun dürfen. Ohne auf weitere Anweisungen No-te Kadeas zu warten begann ich sie Richtung Kamin zu bewegen.
Alles auf dieser Welt war Energie in irgendeiner Form. Magie war nur die Kunst, diese Energie zu fühlen und zu kontrollieren. Das hatte ich schon in einer meiner ersten Unterrichtsstunden gelernt. Jeder konnte das erlernen, aber nur so weit es seine Anlagen und Gene zuließen. Irgendwo, bei einer bestimmten Menge an Energie war bei jedem Schluss, nur lag dieses Limit unterschiedlich hoch, je nachdem, wie selbstsicher, stark und konzentrationsfähig man war. Manche scheiterten bereits an der Aufgabe, die ich gerade zu vollführen versuchte.
Doch mir viel es nicht schwer. Ich wusste nicht, wie viel Potenzial wirklich in mir steckte, aber diese winzige Flamme war kein Problem und auch als das gesamte Holz brannte konnte ich es noch ohne weiteres beherrschen. Ich fühlte, dass es nur meines Wunsches dazu bedürfen würde um es zu löschen oder im Gegenteil noch höher lodern zu lassen.
Doch bevor ich mich an dieser Macht berauschen konnte mischte sich Meister Kadea ein: „Vedammt, ich hatte nicht erwartet, dass du das sofort schaffst. Im Moment bin ich sogar geneigt anzunehmen, dass du mich belogen hast und so etwas schon öfter getan hast.“
Ich zuckte erschrocken zusammen und verlor sofort die Kontrolle über das Feuer, doch es brannte alleine ganz normal weiter.
„Ich habe so etwas wirklich noch nie getan!“, beteuerte ich, „Bisher habe ich nur ein paar Insekten und Nagetiere an mich gebunden und als wandelnde Leichen wieder aufstehen lassen.“
ich zögerte einen Moment, dann fügte ich noch hinzu: „Und eine Katze.“
Von dem Unfall dabei würde ich ihn nicht wissen lassen, wenn es nicht unumgänglich nötig war. Er musste ja nicht wissen, wie sehr ich gepatzt hatte und dass ich jetzt nicht mehr riechen und schmecken konnte.
Er schien zum Glück nichts zu ahnen, den als er weiter sprach beschäftigte er sich mit etwas ganz anderem.
„Das ist doch normalerweise das letzte, das man im Unterricht durchnehmen sollte. Nicht weil es vom magischen Gesichtspunkt her besonders schwer wäre, sondern weil dabei am meisten Leute wahnsinnig werden und Adepten sollten es nicht lernen, bevor sie aus der Pubertät sind, weil sie da meist noch nicht allzu gefestigt in Charakter und Selbstwertgefühl sind!“, ereiferte er sich, „Außerdem ist es nicht besonders nützlich! Was hab ich den davon, wenn ich eine untote Fliege oder sogar Schnecke beherrsche. Was hat sich dein Meister nur dabei gedacht?“
Hm, das wüsste ich auch gerne.
„Vielleicht hat er nicht an das mit der Pubertät gedacht?“, schlug ich vor, „Oder er wollte mich loswerden indem er mich in den Wahnsinn treibt? Oder er hat gehofft, dass ich mit einer untoten Spinne in seinem Haus die leider allzu lebendigen Fliegen fangen könnte?“
„Eigentlich war das gerade eine rein rhetorische Frage, Cailin. Aber deine Theorien sind sehr interessant, wenigstens weiß ich jetzt, was ich nicht versuchen sollte um dich loszuwerden wenn du nochmal so einen Unsinn redest. Das mit dem in den Wahnsinn treiben scheint nämlich nicht zu funktionieren“, meinte Meister Kadea trocken, doch in seinen Augen funkelte es verräterisch und seine Mundwinkel zuckten.
Ich wagte es also, zu entgegnen: „Ja, und aus der Pubertät bin ich, wie ich hoffe auch schon.“
„Ach und warum bist du dann so frech? Schämst du dich denn gar nicht, so respektlos mit deinem Meister zu reden, du ungezogenes Ding?“, sagte er, doch sein unverhohlenes Grinsen nahm seinen Worten die Schärfe.
Ich wollte gerade zu einer schlagkräftigen Antwort ansetzen, als plötzlich das Telefon auf seinem Schreibtisch läutete. Seine Miene zeigte Erstaunen, derweil er abhob.
„Hier No-te Kadea“, meldete er sich, „Was ist?“
Sein Gesprächspartner sagte irgendetwas, das ich nicht verstand, dann meinte mein Meister: „In Ordnung, ich komme sofort“ und legte auf.
Mit einer Handbewegung wischte er die Frage weg, die mir auf der Zunge lag und wählte erneut eine Nummer.
„Royce, ich brauche den Wagen, sofort!“, befahl er und knallte den Hörer auf die Gabel. Wie schön, er hatte wieder zu seinem unfreundlichen, schlecht gelaunten Ich zurückgefunden.
„Es hat wieder einen Mord gegeben“, schnaubte er, „Scheinbar der gleiche Täter wie bei Meister Ha-duri Na. Ich muss zum Tatort, weil ich mit der Aufklärung dieses Falls betraut wurde. Das war's dann wohl mit Feierabend.“
Er erhob sich und ich folgte ihm, aus seinem Arbeitszimmer und in die Eingangshalle.
„Soll ich irgendeine Aufgabe erledigen derweil Sie weg sind, Meister?“, fragte ich ihn als er sich bereits seinen Mantel umlegte.
„Nein verdammt“, knurrte er, „du kommst natürlich mit. Worauf wartest du noch?“
Ich beeilte mich sehr, ebenfalls Schuhe und Mantel anzuziehen. Allerdings waren die Schnürstifefeletten mit sieben Zentimetern Absatz die falsche Wahl, denn es fiel mir unglaublich schwer mit No-te Kadea Schritt zu halten, als er zum Auto hastete, das Royce bereits am Straßenrand bereithielt.
Endlich neben ihm in der Limousine sitzend versuchte ich mich nicht von seiner eindeutig noch verschlechterten Laune abschrecken zu lassen und erkundigte mich: „Wieso darf ich eigentlich mitfahren?“
Er starrte mich einen Moment lang an, als ob er sich nicht entscheiden konnte, ob er mich verhexen, fressen oder einfach nur anschreien sollte, doch dann meinte er: „Du bist meine Adeptin und sollst sehen, was ich mache, ich werde dich auch demnächst ins Büro mitnehmen. Das gehört zu deiner Ausbildung. Außerdem willst du eine Totenbeschwörerin werden. Je eher du dich an den Anblick von Leichen gewöhnst, desto besser und ich habe keine Lust, zu diesem Zweck ständig irgendwelche Toten in mein Haus zu schleppen.“
Den Rest der Fahrt über schwieg ich, denn ich wollte meinen Meister nicht noch mehr reizen. Doch als wir endlich anhielten und ausstiegen konnte ich mich nicht mehr bremsen.
„Das ist ja der Hohe Rat!“, keuchte ich mit einem Blick auf das Gebäude vor mir.
„Ganz genau. Ein Mord direkt in unserem Hauptquartier. Wie demütigend!“, entgegnete er mit beißendem Spott und hastete vor mir die Treppen hinauf. Verdammt, konnte er nicht ein wenig langsamer machen? Ich hatte nicht ganz so lange Beine wie er, war nicht halb so durchtrainiert und trug nebenbei noch Schuhe mit Absatz und einen kurzen Rock, der bei jedem Schritt viel zu weit nach oben rutschte. Irgendwann, mir kam es vor, als wären wir bereits kilometerweit durch das Gebäude geeilt, schien er doch zu bemerken, dass ich nicht so schnell konnte wie er.
„Jetzt komm schon!“, rief er und blieb stehen um auf mich zu warten.
Ich rannte fast um ihn einzuholen. Wobei ich nicht damit rechnete, dass in einem so erhabenen, elegant ausgestatteten Gebäude wie dem des Hohen Rates eine Falte im Teppichboden des Gangs zu finden sein könnte. Mit flachen Schuhen hätte das kein großes Problem dargestellt, aber so verlor ich leider das Gleichgewicht und fiel. Meinem Meister direkt in die Arme.
Einen kurzen Moment fand ich mich atemlos und eng an seine Brust gepresst wieder, dann gab ich mein Bestes um mich aus dieser demütigenden und recht verwirrenden Situation zu befreien. Mit Mühe richtete ich mich wieder auf und flüsterte mit roten, glühenden Wangen: „Danke schön. Bitte entschuldigen Sie, aber da war eine Falte im Teppichboden.“
„Kein Problem, gern geschehen“, erwiderte No-te Kadea, „ich bin nur froh, dass ich keine Frau bin und deswegen nie in die Verlegenheit geraten werde, solche Schuhe tragen zu müssen.“
Der einzige Vorteil meines peinlichen Unfalls war, dass sich seine Laune dadurch anscheinend etwas gebessert hatte und er jetzt ein etwas langsameres Tempo anschlug als zuvor. Anubis, oder wer auch immer für die Falte im Teppichboden zuständig war, sei dank.

Ich lief fast in Meister Kadea hinein, als er unvermittelt in einem Türrahmen stehen blieb. Neugierig lugte ich an ihm vorbei. Vor uns lag ein Büro. Hohe Regale säumten die Wände und es lag auf der Hand, dass sie normalerweise mit unzähligen Büchern und Akten gefüllt sein mussten, doch diese waren stattdessen überall auf dem Boden verteilt. Blutlachen darunter und darauf. Neben dem umgestürzten Schreibtisch lag eine Teekanne, deren Inhalt sich langsam mit der roten Flüssigkeit vermischte.
„Schwarzer Tee“, sagte No-te Kadea, obwohl das eigentlich vollkommen belanglos war.

Drittes Kapitel


Heckenschütze




Die Leiche des jungen Mannes war genauso entstellt wie es die Meister Ha-duri Nas gewesen war. Auch seine Arme und Beine waren abgetrennt und sämtliche Organe, die sich eigentlich im Körper befinden sollten lagen stattdessen daneben herum. Zwei Bücherregale waren umgekippt und die dadurch frei gewordene Wandfläche zierten große, blutige Hieroglyphen. Ich machte mir nicht die Mühe, zu lesen, was da stand, ich wusste es sowieso: „Im Namen von Seth“
Während No-te Kadea auf den Toten zuging um ihn genauer zu untersuchen blieb ich in der Tür stehen. Auch Nanin Gal und Meister Gison waren da und ich war mir ihrer missbilligenden Blicke nur allzu sehr bewusst.
Anscheinend waren sie nicht gerade begeistert davon, dass mein Meister mich mitgebracht hatte oder sie konnten mich einfach nicht ausstehen.
„Wie bei Meister Ha-duri Na“, verkündete No-te Kadea schließlich, „der ganze Raum und die Leiche voller Macht, die Tatwaffe wohl wieder das magisches Schwert. Gibt es diesmal irgendwelche Zeugen?“
Ein kollektives Kopfschütteln.
„Wahrscheinlich nicht, es waren schon alle zu Hause, um diese Uhrzeit arbeitet niemand mehr. Sie können morgen ein wenig herumtelefonieren, aber ich bezweifle, dass das etwas nützt“, meinte Meister Nanin Gal schließlich.
„Wer hat ihn den dann gefunden?“, wollte mein Meister jetzt wissen.
Wieder war es Nanin Gal, der das Wort ergriff: „Ich. Ich war noch im Hohen Rat, weil ich mich für eine Rede, die ich morgen halten muss vorbereiten wollte. Deswegen ging ich auch hierher ins Archiv, ich wollte etwas nachschlagen lassen, und so fand ich ihn.“
Es dauerte einen Moment, bis ich verstand, dass der Tote der Archivar des Hohen Rates gewesen sein musste und das hier sein Büro. Wahrscheinlich führte die zweite Tür am anderen Ende des Raums in das Archiv selbst. No-te Kadea betrachtete derweil nachdenklich die vielen blutgetränkten Akten und Bücher auf dem Boden. Dann hob er seinen Blick und meinte: „Eigentlich können Sie gehen. Es ist nicht notwendig, dass Sie hier herumstehen, weil Sie mir nicht wirklich helfen können.“
„Dafür haben Sie ja Ihre Adeptin dabei“, bemerkte Meister Gison gehässig, „Meinen Sie nicht, dass das Mädchen zu Hause über seinen Büchern besser aufgehoben wäre als hier, wo es doch nur im Weg herumsteht?“
Der Blick, mit dem No-te Kadea ihn daraufhin musterte hätte mich zu Eis erstarren lassen und seine Stimme klang kalt und hart als er erwiderte: „Vor Ihnen brauche ich mich nicht zu rechtfertigen! Es geht Sie überhaupt nichts an, wie ich meine Adeptin ausbilde und...“
Doch Nanin Gal unterbrach ihn: „Schweigen Sie, beide! Kommen Sie Gison, wir gehen und lassen Kadea in Ruhe arbeiten, sonst sind wir es nämlich, die im Weg herumstehen“
Mit diesen Worten drehte sich der Herr des Hohen Rates um und verließ den Raum. Meister Gison ließ sich etwas mehr Zeit. Er schien der Meinung zu sein, genau da entlang gehen zu müssen, wo ich stand. Zuerst wollte ich ihm aus dem Weg gehen, doch dann erinnerte ich mich an die Lektion, die mit mein Meister heute Nachmittag erteilt hatte. „Weiche nie zurück!“, dachte ich und blieb, wo ich war. Meister Gison funkelte mich einen Augenblick lang wütend an, doch dann ging er.
„Gut gemacht!“, lobte mich No-te Kadea und schon fühlte ich mich gut, obwohl neben mir eine Leiche lag.
„Ich hätte diese widerliche Ratte am liebsten erschlagen“, schimpfte er, „einen treffenderen Namen hätte der Kerl sich gar nicht aussuchen können“
Jeder Totenbeschwörer erhielt nach Beendigung seiner Ausbildung einen neuen Namen in der Sprache der Toten und des Jenseits, also der der Schwarzmagier. Man wählte etwas, dass zu einem passte. Nanin Gal bedeutete zum Beispiel „der Schöne“ und No-te Kadea hieß wörtlich übersetzt „der schwarze Hund“. Wie mein Meister darauf gekommen war wusste ich nicht. Irgendwann würde ich ihn fragen, aber nicht jetzt. Er schien schon wieder in Gedanken mit etwas anderem beschäftigt zu sein.
„Warum?“, fragte er.
„Hä?“, fragte ich.
„Warum wurden er und Ha-duri Na ermordet? Ich kann nicht glauben, dass das das Werk eines Irren sein soll. Irgendetwas muss doch dahinter stecken“, stellte er fest und sah sich noch einmal im Raum um.
„Vielleicht hat der Mörder hier im Archiv etwas gesucht und der Archivar hat ihn gestört. Oder er hatte ihn entlarvt“, schlug ich vor.
No-te Kadea schien ernsthaft darüber nachzudenken.
„Vielleicht“, meinte er schließlich, „aber es nützt uns nichts, hier herumzustehen und zu raten. Ich brauche richtige Anhaltspunkte um ermitteln zu können. Morgen werde ich nach Zeugen suchen. Jetzt fahren wir erstmal nach Hause. Zeit fürs Bett, sonst kommst du morgen nicht aus den Federn und wir wollen doch wieder joggen gehen“
Ich stöhnte und er lachte. Von wir wollen konnte hier gar keine Rede sein, ich konnte mir nicht einmal vorstellen, dass er wirklich wollte. Aber warum tat er es dann? Vielleicht ging er tatsächlich gerne joggen. Bei Anubis, anscheinend war er der Irre.
„Was grinst du so, Kätzchen?“, fragte er.
„Kätzchen!?!“, rief ich erstaunt und auch empört und starrte ihn an.
Er ging neben mir und in seinen Augen lag dieses faszinierende, fröhliche Funkeln.
„Ja, du bist ab jetzt mein kleines Kätzchen. Ein bisschen tollpatschig aber klug, süß, mutig und nicht zu vergessen unglaublich frech“, lachte er und ich begann mir wirklich ernsthafte Sorgen um den Geisteszustand dieses Mannes zu machen. Seine Launen waren unerträglich, mal war er die Unfreundlichkeit in Person, dann konnte man ihn schon fast wieder mögen. Und jetzt verpasste er mir einfach einen dämlichen Spitznamen! Eine Totenbeschwörerin, die Kätzchen genannt wurde. Wer hatte da heute noch was davon erzählt, dass ich nicht zu süß sein durfte?
Aber trotzdem musste ich lächeln, als er mir die Tür der Limousine aufhielt. No-te Kadea, „der schwarze Hund“ und Kätzchen. Herrlich!
„Übrigens, dein Outfit gefällt mir“, bemerkte er noch als wir uns in der Eingangshalle eine gute Nacht wünschten.
„Danke“, murmelte ich und wurde rot.

„Kätzchen! Aufstehen, du hast doch wohl nicht geglaubt, dass du dem Joggen entkommen kannst!“, kam es von draußen vor meiner Tür.
Nein, das hatte ich nicht geglaubt, nicht einmal zu hoffen gewagt. Heute war es noch früher als gestern, es war nicht fünf, sondern dreiviertel fünf. Ich stöhnte und mein Meister vor der Tür lachte.
„Beeilung, sonst schmeiß ich meinen Plan, aus den zehn Seiten die ich dir aufgegeben habe zwei zu machen über den Haufen und es werden stattdessen zwölf!“, rief er.
So schnell hatte ich mich noch nie zuvor angezogen und bereits eine Minute später stand ich bei ihm unten in der Halle.
„Ich wusste doch, dass das wirkt“, spottete er und schob mich hinaus in die Kälte.
Erstaunlicherweise schien er heute für einen Totenbeschwörer untypisch gute Laune zu haben. Keine Ahnung warum. Am joggen lag es sicher nicht, es war so schrecklich wie gestern und ich schaffte wieder nicht mehr als die halbe Strecke, bevor ich mich auf eine langsamere Gangart verlegen musste. Außerdem sah ich mich die ganze Zeit möglichst unauffällig um, doch ich fühlte nicht wieder diese Macht von gestern und von dem Mann oder einem anderen Verfolger konnte ich auch nichts entdecken. Wäre mir heute wieder etwas aufgefallen hätte ich No-te Kadea davon erzählt, aber so ließ ich es bleiben. Ich fürchtete, dass er annehmen könnte ich litte unter Verfolgungswahn, leider weit verbreitet unter Schwarzmagiern. Es wäre allerdings besser gewesen, wenn ich dieses Risiko in Kauf genommen hätte.
Wieder zurück in seinem Haus wollte ich gleich nach oben verschwinden, duschen und mich sofort wieder ins Bett legen, doch mein Meister hielt mich auf.
„Dusch dich, zieh dich an und komm wieder herunter zum Frühstück. Du wirst mich heute ins Büro begleiten“, ordnete er an.
Ich hätte gleich wissen müssen, dass er die zehn Seiten Übersetzung aus einem bestimmten Grund reduziert hatte. Dafür würde ich heute einfach keine Zeit haben. Aber eigentlich gefiel mir die Aussicht darauf, mit ihm in die Arbeit zu kommen. Ich beeilte mich mit duschen und gab mir wirklich Mühe, etwas passendes zum Anziehen zu wählen.
Letztendlich entschied ich mich für eine enge Hose mit einem roten Schottenmuster und den fast unvermeidlichen schwarzen Rollkragenpullover. Das Highlight meines Outfits waren jedoch die unzähligen kleinen Blumen aus glitzerndem rotem Glas, die ich in meinem Haar befestigte. Ich hatte sie gestern einfach kaufen müssen und jetzt, als ich sie trug, fand ich mich zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wenigstens wieder ein bisschen schön.
Verhältnismäßig gut gelaunt ging ich hinunter in die Küche. No-te Kadea saß bereits über einen gewaltigen Teller mit gebratenem Speck, Rührei, Toast mit Marmelade und einem Croissant gebeugt am Esstisch. Vor ihm stand eine riesige Schüssel Obstsalat und eine Kanne Tee, neben ihm Wilson, der das wohl alles zubereitet hatte. Anscheinend war ich nicht die Einzige, die unter Kadeas notorischem Frühaufstehen litt.
„Guten Morgen, Fräulein Lamont!“, grüßte mich mein Leidensgenosse, derweil er meinem Meister Tee nachschenkte, „Was kann ich Ihnen heute anbieten?“
„Gibt es vielleicht noch Croissant?“, erkundigte ich mich. Ich hatte noch nie zuvor Croissant gegessen und ich würde zu gerne wissen, wie es schmeckte. Oder noch besser Schokocroissant. Aber da erinnerte ich mich daran, dass ich es wohl nie erfahren würde.
„Nein, eigentlich ist es egal, was ich esse, geben Sie mir einfach irgendetwas“, meinte ich bitter.
Mein Meister sah von seinem Teller auf und musterte mich scharf, sagte aber nichts nichts. Ich wusste nicht, ob er etwas ahnte.
„Sie können gerne ein Croissant haben, Fräulein Lamont. Es ist frisch gebacken“, meinte Wilson und stellte mir einen Teller hin. Ich nickte nur.
Es schmeckte genauso wie alles andere, nach nichts, und der Blätterteig fühlte sich im Mund komisch an. No-te Kadea schien es allerdings gut zu finden, denn nachdem er alles, was auf seinem Teller liegen hatte vertilgt hatte, nahm er sich noch Nachschlag und die halbe Schüssel Obstsalat verspeiste er auch noch. Wahrscheinlich ging er joggen um die ganzen Kalorien, die er so im Lauf des Tages zu sich nahm wieder abzubauen, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass das reichte, da hätte er schon wesentlich länger joggen müssen.
Als er endlich fertig war erhob er sich, winkte mir im zu folgen und verließ schnellen Schrittes das Haus. Vielleicht brauchte er die Kalorien ja auch dafür, immer so dahinzuhetzen.
Royce wartete bereits mit der Limousine und hielt uns die Tür auf.
„Guten Morgen, Fräulein Lamont! Ihre Frisur heute ist wirklich schön“, begrüßte er mich und ich schenkte ihm dafür ein riesiges Lächeln.
„Da hat er Recht, Kätzchen“, sagte Meister Kadea als der Wagen losfuhr, „Hast du diese Blumen gestern gekauft?“
„Ja“, bestätigte ich, „und die Hose auch“
Er nickte anerkennend und lieferte mir so wieder einen Höhepunkt der heutigen Tages. Dann meinte er sogar: „Ich hatte gehofft, dass du Geschmack hast und das hat sich zum Glück als richtig herausgestellt.“
Doch seinen nächsten Worte erschreckten mich.
„Weißt du, wie viel du in etwa ausgegeben hast?“, fragte er und ich senkte den Kopf und wurde rot.
„Ich glaube genau 602 Euro und fünf Cent“, flüsterte ich.
„Du hast mitgerechnet?“, sagte er und klang fast ein wenig schockiert. „Ich rechen nie mit, wie viel Geld ich ausgebe, dass sehe ich doch noch früh genug auf meinem Kontoauszug. Und du hättest dir ruhig noch ein wenig mehr leisten können. 600 Euro hat alleine mein Mantel gekostet!“
Ich starrte ihn nur entgeistert an, doch dann fing ich mich wieder.
„Wenn Sie nächstes Mal mitkommen und meine ganzen Tüten tragen, damit ich sie nicht selber schleppen muss, kann ich mir mehr kaufen“, wagte ich festzustellen.
„Jetzt werde bloß nicht frech!“, lachte er, „Glaubst du, dass ich nichts besseres zu tun habe, als mit meiner ungezogenen Adeptin in die Stadt shoppen zu gehen?“
„Doch, das haben Sie wohl. Zum Beispiel unglaubliche teure Mäntel für 600 Euro zu kaufen“, hielt ich dagegen. Es machte wirklich Spaß, mit ihm zu streiten.
Er funkelte mich gespielt wütend an und sagte: „Nichts gegen meinen Mantel! Die Knöpfe sind aus echtem Silber und er ist maßgeschneidert, wie übrigens alle meinen Kleidung“
Ich kicherte. Jetzt hatte er mich eine gute Vorlage geliefert. Erstaunt riss ich die Augen auf.
„Auch Ihre Socken und Unterhosen?“, fragte ich so unschuldig wie möglich.
Doch leider war er nicht um eine Antwort verlegen. Nachdem er seine angebliche Empörung überwunden und sich von seinem Lachanfall erholt hatte, meinte er: „Ja natürlich! Dein hübscher schwarzer BH etwa nicht?“
Als ich daraufhin rot wurde und das Wortgefecht aufgab musste er nur noch mehr lachen.
„Ach Kätzchen, wenn ich geahnt hätte, dass du mir zu so guter Laune verhilfst, ich hätte Meister Ha-duri Na schon vor Jahren selber aus dem Weg geräumt, damit ich dich zu meiner Adeptin machen kann. Vielleicht war das ja das Motiv des Mörders, vielleicht wollte er einfach dein Meister werden. Nur leider war er zu langsam“, sagte er und lehnte sich entspannt und immer noch mit Lachtränen in den Augen in die Polster des Sitzes zurück.
Der Humor dieses Mannes war manchmal reichlich seltsam, doch ich musste trotzdem grinsen. Und seine gute Laune ausnutzen.
„Meister Kadea?“, fragte ich, „Warum haben Sie mich denn zu Ihrer Adeptin gemacht? Das hat Ihre Kollegen und ehrlich gesagt auch mich ziemlich erstaunt.“
Er beugte sich etwas nach vorne.
„Eben darum habe ich es getan“, meinte er schließlich, „ich wollte meine Kollegen erstaunen und ärgern. Diese Idioten wollten dich nicht nehmen, weil du ein Mädchen bist und sie alle versnobte, chauvinistische Affen sind. Bis auf Nanin Gal vielleicht, aber der hat keine Zeit für einen Adepten.
Und ich werde ihnen beweisen, dass du gut bist. Eines Tages wirst du eine der mächtigsten Totenbeschwörerinnen der Welt sein, kaum einer wird dir das Wasser reichen können, denn du hast Potenzial. Ein wenig von deinem Ruhm wird dann auch auf mich, deinen ehemaligen Meister, zurückfallen“
Er grinste, doch ich fühlte mich auf einmal unsicher und es war, als hätte ich einen riesigen Kloß im Hals.
„Sie sollten nicht so große Erwartungen in mich setzen, ich glaube nicht, dass ich denen gerecht werden kann“, meinte ich leise.
Doch er schüttelte nur den Kopf. Wir mussten jetzt eigentlich aussteigen, aber er hielt mich noch einmal zurück und entgegnete überzeugt: „Manchmal haben Schwarzmagier untrügliche Instinkte was Macht angeht und irgendetwas sagt mir, dass man dich besser nicht unterschätzen sollte.
Aber deswegen solltest du jetzt nicht hochmütig und faul werden. Du wirst dir gefälligst weiterhin Mühe bei deinem Studium geben! Sonst sorge ich dafür, dass du es bereust.“
Dann ließ er mich aussteigen. Schweigend eilte ich hinter ihm durch die Gänge des Gebäudes des Hohen Rats und fragte mich, wie man sich hier auskennen sollte, alles sah gleich aus. Zum Glück hatte ich heute keine hohen Schuhe an und wir stießen auch auf keine Falte im Teppichboden, über die ich stolpern konnte um mich zu blamieren, denn es war viel bevölkerter als gestern Abend. Ständig begegneten wir irgendwelchen Totenbeschwörern oder Sekretärinnen oder was weiß ich noch für Leuten, die No-te Kadea alle ehrerbietig grüßten, bis wir schließlich vor einer Tür am Ende eines Ganges standen, die er mit Schwung aufstieß und hineinschritt. Der Raum dahinter war ein Empfangszimmer und am Schreibtisch saß eine Sekretärin. Sie hatte schwarzes Haar, das allerdings zweifellos gefärbt war und ein ziemlich ansprechendes Gesicht, dass sie meiner Meinung nach nur leider mit etwas zu viel Schminke entstellte. Knallrote Lippen und eindeutig zu dunkle Smoky eyes, die schon fast meinen Augenringen Konkurrenz machten. Nur sah ich nicht freiwillig so aus.
„Guten Morgen, Meister Kadea!“, schnatterte sie fröhlich.
„Guten Morgen, Belinda“, entgegnete er und ich meinte, an seinem Gesichtsausdruck zu erkennen, dass sein Morgen jetzt nicht mehr allzu gut war. Beinahe hätte ich gekichert.
Trotzdem ließ er sich dazu herab, uns einander vorzustellen.
„Cailin, das ist meine Sekretärin Belinda Gibbson, Belinda, das ist meine Adeptin Cailin Lamont“, nuschelte er.
„Ach wir haben doch schon miteinander telefoniert!“, flötete die Frau, „Sie haben doch den Mord an Meister Ha-duri Na gemeldet.“
Ich nickte. Bei Anubis, die Frau ging mir jetzt schon auf die Nerven, kein Wunder, dass No-te Kadea immer so schlechter Laune war, wenn er von der Arbeit heimkam, wenn er die den ganzen Tag ertragen musste. Glücklicherweise zog er mich schnell mit sich einen Raum weiter in sein Büro.
Es war nicht ganz so chaotisch wie sein Arbeitszimmer, aber ordentlich war es immer noch nicht. Auf den zwei Stühlen, die für Besucher gedacht waren stapelten sich die Akten.
„Räum einen davon einfach frei. Stell alles auf den Boden“, meinte mein Meister mit einer Handbewegung in die Richtung, „Die sind nur so voll, damit Besucher sich nicht hinsetzen können und nicht so lange bleiben. Und sie auch nicht“
Er nickte in Richtung Tür und ich wusste genau, an wen er dachte.
Er überlegte einen Moment, dann musterte er mich scharf und sagte: „Am besten du nimmst den Stuhl und setzt dich neben mich.“
Ich folgte seiner Anweisung brav, auch wenn ich nicht wusste, wozu das gut sein sollte. Ich konnte ihm doch genauso einfach gegenüber sitzen. Aber als ich meinen Stuhl neben seinen stellte und mich setzte zog er mich samt Stuhl sogar noch näher zu sich hin. Es wurde immer rätselhafter. Doch bevor ich ihm eine diesbezügliche Frage stellen konnte flog die Tür auf und Belinda stöckelte mit wiegenden Hüften herein.
„Hier ist die Post, Meister!“, flötete sie und legte sie vor ihn hin. Dabei bückte sie sich so, dass mein Meister einen perfekten Ausblick auf ihr Dekollté hatte. Er sah nicht einmal hin, obwohl ich zugeben musste, dass es wirklich etwas zu sehen gab, im Gegensatz zu mir hatte sie nämlich Oberweite. Das legte für mich den Schluss nahe, dass er das sowieso oft genug zu sehen bekam, ob er wollte oder nicht.
Jetzt brummte er nur und schob mir einen Zettel hin.
„Kätzchen, schau dir das mal an!“, meinte er dann ungewöhnlich freundlich und beugte sich zu mir.
„Hä? Was soll ich denn...“, setzte ich an, doch er zwickte mich schnell in den Arm.
„Hm, ja, sehr interessant“, sagte ich stattdessen und war mir der hasserfüllten Blicke, die seine Sekretärin auf mich abschoss nur allzu bewusst. Jetzt wusste ich, woher der Wind weht.
Als sie den Raum verlassen hatte konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und bekam einen Lachanfall. Es schüttelte mich regelrecht.
„Verzeihen Sie“, prustete ich, „vielleicht hätten Sie sich eine hübschere Adeptin suchen sollen, dann wäre Ihre Show noch überzeugender.“
Er zuckte mit den Schultern und grinste ebenfalls.
„Wieso denn Kätzchen? Es hat doch funktioniert. Sie ist eifersüchtig. Hoffentlich schmollt sie jetzt den Rest ihres Lebens, aber ich sollte mir wohl nicht zu viel erwarten. Ein paar Stunden Ruhe würden mir schon reichen.
Und du bist gar nicht so hässlich, nur etwas mager. Na ja, halb verhungert, aber das kann sich ja ändern“
Darüber, ob das jetzt als Kompliment oder Beleidigung gedacht war, wurde ich mir nicht ganz klar. Ich versuchte es mal positiv aufzufassen.
„Haben Sie jetzt eigentlich eine andere, vernünftigere Aufgabe für mich, als Ihre Sekretärin eifersüchtig zu machen?“, fragte ich.
„Ja, geh raus und sag ihr, dass du eine Liste mit sämtlichen Leuten brauchst, die hier im Hohen Rat arbeiten und/oder gestern irgendwann dagewesen sind, am besten mit Informationen, wann sie das Gebäude betreten und verlassen haben“, entgegnete er und grinste fies.
Ich stöhnte, warf ihm einen unfreundlichen Blick zu, erhob mich dann aber doch, ging ins Vorzimmer und richtete seinen Auftrag aus.
Als ich wieder hereinkam meinte ich: „Wenn ich da draußen drauf gegangen wäre, hätten Sie ganz alleine daran Schuld! Ihre Sekretärin hatte eindeutig Mordlust in den Augen“
Er sah von den Briefen auf, die er gerade las.
„Da bestand nie Gefahr, du wärst ihr ohne weiteres Herr geworden Kätzchen. Das bringt mich auf eine Idee, wie ich sie loswerden könnte. Ich mache dir einen Knutschfleck an den Hals, dann versucht sie dich umzubringen und ich kann sie feuern“, sagte er und ein träumerischer Ausdruck trat in seine Augen.
Heute war er für meine Begriffe eindeutig zu guter Laune. Ich wurde zum was-weiß-ich-wievielten Mal an diesem Tag knallrot. Wenn das so weiterging verwandelte ich mich irgendwann endgültig in eine Tomate! Fast war ich froh, als Belinda Gibbson mit der gewünschten Liste wieder hereinkam und ich etwas zu tun bekam und nicht mehr über Knutschflecken an meinem Hals nachdenken musste.
No-te Kadeas Sekretärin übernahm die erste Hälfte der Liste, rief jeden, der darauf stand an und erkundigte sich, ob er etwas gesehen hatte, was er zur fraglichen Zeit getan hatte, diese Sachen eben. Ich bekam den zweiten Teil der Liste und verbrachte folglich den restlichen Vormittag damit, schlecht gelaunte Totenbeschwörer abzutelefonieren und zu befragen.
Wenn No-te Kadea immer so schöne Sachen machen musste hatte ich noch einen Grund gefunden, warum er schlecht gelaunt war, wenn er von der Arbeit kam.
Um die Mittagszeit herum stand mein Meister plötzlich auf, griff nach seinem Mantel und meinte: „Komm, wir gehen etwas essen“
Erleichtert legte ich meine Liste zur Seite und folgte ihm gehorsam wieder durch die Gänge nach draußen. Unterwegs trafen wir auf Meister Nanin Gal, der ebenfalls im Begriff war, das Gebäude zu verlassen.
„Kadea!“, rief er, „Gehen Sie auch etwas essen? Möchten Sie sich vielleicht mir anschließen? Ich gehe leider nur zu McDonalds, weil ich nicht viel Zeit habe, aber ich hoffe, dass Sie mir trotzdem die Ehre Ihrer Begleitung erweisen werden.“
Und so ging ich schließlich mit den zwei mächtigsten Totenbeschwörern von Edinburgh essen. Bei McDonalds.

Man könnte behaupten, dass man bei McDonalds nichts verpasst, wenn man nicht schmecken und riechen kann. Möglich, dass das wahr ist, allerdings sollte man bedenken, dass sich die meisten Burger im Mund verhältnismäßig seltsam anfühlen. Irgendwie schwabbelig und schleimig. Das man nichts schmecken kann verstärkt dieses Gefühl noch. Ich war nahe dran, meinem Meister das zu beichten, als er mir immer wieder aufs neue etwas zu essen mitbrachte, wenn er sich selbst noch etwas holte.
„Ich kann nicht mehr!“, klagte ich, als der fünfte Bigmac vor mir stand.
„Verdammt, aber du musst mehr zu dir nehmen, wie bereits erwähnt siehst du aus, als wärst du halb verhungert!“, stellte No-te Kadea klar.
Nanin Gal lachte: „Was quälst du sie denn so? Ich wusste gar nicht, dass du so grausam sein kannst. Armes Mädchen, was tut er dir sonst noch alles an?“
„Er schleppt mich morgens um fünf Uhr in der Früh zum Joggen!“, beschwerte ich mich und funkelte meinen Meister an.
„Stimmt überhaupt nicht“, verteidigte sich dieser, „heute war es dreiviertel fünf!“
Nanin Gal lachte wieder. Irgendwie war mir dieser Mensch sympathisch. Neben No-te Kadea der einzige Totenbeschwörer, auf den das zutraf. Auch mein Meister schien ihn zu mögen und die beiden verstanden sich erstaunlich gut. Außerdem hatte der Herr der Hohen Rates Mitleid mit mir. Er schob das Tablett vor mir weg und meinte: „Den muss sie nicht mehr essen, Kadea. Nicht jeder kann so viel hinunterschlingen wie Sie.“
Mein Meister zuckte die Schultern und nahm sich einfach den Burger, der ursprünglich meiner gewesen wäre für sich selbst. Nicht, dass ich etwas dagegen gehabt hätte, ich musste nur darüber nachdenken, dass er dieser McDonalds-Filiale wahrscheinlich gerade so viel einbrachte, wie sie sonst in einer Woche verdienten.
„Haben Sie eigentlich schon etwas herausgefunden?“, erkundigte sich Nanin Gal da plötzlich und seine Miene war auf einmal sehr ernst.
No-te Kadea schnaubte unzufrieden.
„Nein, überhaupt nichts, es ist wie verhext!“, sagte er, „Es gibt keine Zeugen, keine Spuren, keine anderen Hinweise darauf, das sich ein Wahnsinniger in der Stadt befinden könnte, nichts! Und ich zerbreche mit stundenlang meinen Kopf über mögliche Motive, ohne das etwas dabei herauskommt.“
„Meister?“, mischte ich mich ein. Mir war auf einmal eine Idee gekommen, aber vielleicht war das ja nur Blödsinn. Trotzdem fragte ich: „Haben Sie das Archiv schon nach ähnlichen Fällen in der Vergangenheit durchsucht? Oder Totenbeschwörer aus anderen Städten danach gefragt, ob sie dasselbe bei ihnen machen könnten?“
Er starrte mich entgeistert an, dann schlug er sich mit der Hand vor die Stirn.
„Verdammt!“, fluchte er, „Das hätte mir auch schon eher einfallen können. Ich wusste doch, dass ich für diese Aufgabe nicht geeignet bin, ich habe noch nie zuvor versucht einen Mordfall zu lösen. Gleich morgen gehen wir ins Archiv und suchen, Kätzchen, auch wenn das ohne Archivar etwas schwer werden könnte. Trotzdem müssen wir es versuchen, denn wir dürfen dem Täter keine Zeit lassen, Akten verschwinden zu lassen. Wenn er es nicht schon getan hat.“
„Das wäre zumindest ein Motiv für den Mord an unserem Archivar“, warf Nanin Gal ein, „vielleicht fürchtete der Mörder, dass er etwas entdecken könnte, oder er hat ihn dabei erwischt, wie er etwas beseitigen wollte.“
Hoffentlich kam bei diesem Plan mehr heraus, als bei unseren Telefonaten heute.
„Ich werde heute noch Totenbeschwörer in anderen Städten bitten, ihre Archive zu durchsuchen und ihr beginnt am besten morgen“, erklärte Nanin Gal, während er aufstand.
Mein Meister hatte auch endlich seinen Burger verschlungen und schien vorerst satt zu sein, deswegen machten wir uns auf den Weg zurück zum Hohen Rat.
Dort wurde ich von neuem von den zornigen Blicken seiner Sekretärin durchlöchert, musste noch mehr unfreundliche Leute anrufen und war wirklich froh, als No-te Kadea seinen Arbeitstag für beendet erklärte. Bei der Heimfahrt schmiegte ich mich nur in das weiche Polster der Rückbank und döste vor mich hin. Zum Glück war der Unterricht am Nachmittag nicht besonders anstrengend, wir übten nur einige wenige, einfache Zauber, die ich ohne weiteres wirken konnte. Nur die zwei Seiten Übersetzung ärgerten mich und meinen Meister. Wieso musste er nur so kleinlich sein! Früher kam Latein auf meiner Sprachen-Hassliste erst an zweiter Stelle, seit er meine Texte korrigiert an erster. Sogar beim Abendessen quälte er mich noch mit irgendwelchen Konjugationen und nicht einmal, als ich todmüde ins Bett fiel konnte ich dieser elenden Sprache entkommen. Ich träumte, dass ich Octavian heiratete, und zwar auf lateinisch. Leider wies mein Octavian auch noch eine frappierende Ähnlichkeit mit No-te Kadea auf und so war ich fast froh, als mich jener am nächsten Morgen um fünf Uhr weckte.

Als ich durch die Tür trat zuckte ich fröstelnd zurück. Es war noch kälter als gestern, die eisige Luft schmerzte in meinen Lungen und ich wäre am liebsten wieder hinein und unter meine warme, dicke Decke geflüchtet. Nur leider blockierte mein Meister die Tür. Fast hätte ich angenommen, dass er meine Gedanken erraten hatte, denn er schob mich, eine Hand an meinem Rücken vorwärts, die Treppe hinunter und ließ die schwere Tür hinter uns ins Schloss fallen.
„Nicht stehen bleiben“, meinte er, „dann friert dich nur noch mehr!“
Gehorsam setzte ich mich also in Bewegung, unterdrückte ein Stöhnen und folgte No-te Kadea durch die Dunkelheit des Novembermorgens.
Wir hatten den Großteil unserer üblichen Strecke bereits hinter und und joggten gerade durch einen kleinen Park, an dichten, kahlen Sträuchern und Bäumen und fahl leuchtenden Straßenlaternen vorbei, als ich mich wieder einmal beobachtet fühlte. Erschrocken blieb ich stehen und sah mich ängstlich um, konnte jedoch nichts verdächtiges entdecken.
Mein Meister hatte auch angehalten, als ihm aufgefallen war, dass ich ihm nicht mehr folgte. Ungeduldig drehte er sich jetzt zu mir um.
„Was...“, begann er, doch er beendete seinen Satz nicht, stattdessen weiteten sich seine Augen entsetzt. Dann ging alles unglaublich schnell. Nur zwei riesige Schritte und er war bei mir, riss mich mit sich zu Boden, bevor ich begriff, wie mir geschah.
Irgendetwas schlug in einen Baum neben uns ein und dann sah auch ich den roten Punkt. No-te Kadea lag über mir und auf seiner Stirn zeichnete sich klar und scharf der Laserstrahl der Zielvorrichtung eines Präzisionsgewehrs ab.
„Vorsicht!“, schrie ich und das Adrenalin, das die Angst durch meinen ganzen Körper jagte, lieh mir unerwartete Kräfte. Nur so gelang es mir, mich und meinen Meister aus der Schusslinie zu rollen, normalerweise wäre er mir viel zu schwer gewesen.
Aber anscheinend war ich nicht schnell genug. No-te Kadea zuckte zusammen und stieß einen knurrenden Schmerzenslaut aus, dann war er still.
Die Gedanken rasten durch meinen Kopf. War er tot oder vielleicht nur verwundet? Was konnte ich tun? Irgendwann würde der Heckenschütze treffen, wenn mir doch nur ein Zauber einfallen würde, mit dem ich uns schützen oder verteidigen konnte!
Wenn das bei meinem Meister überhaupt noch nötig war.
Erneut sah ich den roten Punkt über seinen Körper tanzen, dann verschwand das Licht aus meinem Blickfeld, aber mir war klar, dass es jetzt auf meiner Stirn prangte, wie ein seltsames, fremd anmutendes Mal. Noch einmal brachte ich die Kraft auf, mich und meinen Meister herumzurollen.
Schwer atmend und voller Panik blickte ich auf ihn nieder, in seine dunklen, weit geöffneten Augen. Doch sie waren nicht starr und kalt, wie die eines Toten, sondern funkelten äußerst lebendig.
Dieses Mal rollte er uns aus dem Weg, so dass ich wieder unter ihm lag und dann, mit einem gewaltigen, flinken Satz war er wieder auf den Beinen. Seine linke Hand fuhr durch die Luft, zeichnete hastig fremde Buchstaben hinein und er fauchte ein Wort, das ich nicht kannte, dessen Klang mir jedoch einen kalten Schauder über den Rücken jagte.
Sofort schien die Dunkelheit um uns herum lebendig zu werden, Schemen bewegten sich darin. Ich meinte, ein vielstimmiges, zorniges Knurren und Jaulen zu hören und wagte vor lauter Angst nicht, mich zu bewegen, denn ich wusste, was mein Meister da beschworen hatte.
Trockene Blätter raschelten, aufgewühlt von vielen Pfoten, während die Schattenhunde die Jagd aufnahmen.

Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, aber irgendwann erklang ein Bellen, gefolgt von einem schauderhaften Geräusch, dass mich an das Reißen von Stoff erinnerte. Mein Meister rief einen kurzen Befehl. Dann war es endlich still.
Noch immer voller Panik wandte ich mich zu ihm um.
Er saß auf dem Boden und untersuchte vorsichtig seinen rechten Arm, wo knapp unterhalb der Schulter Blut den grauen Pullover dunkel färbte. Da hatte ihn also der Schuss vorhin getroffen. Selbst bei dem schwachen Licht, dass die ein paar Meter entfernte Straßenlaterne warf konnte ich erkennen, dass sein Gesicht schmerzverzerrt war.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte ich entsetzt und sank neben ihm auf die Knie.
Er schüttelte nur den Kopf und richtete sich auf, wobei er jedes Anzeichen von Schmerz aus seinem Gesicht verbannte.
„Das hat Zeit bis später. Wir müssen erst die Leiche desjenigen finden, der auf uns geschossen hat und ihn untersuchen“, knurrte er, „Wenn die Hunde etwas von ihm übrig gelassen haben, heißt das.“
Ich biss mit auf die Lippen und versuchte die Angst in mir zu verdrängen. Nichts in der Welt der Totenbeschwörer flößte mir solchen Respekt ein wie die Schattenhunde. Blutrünstige Dämonen, geschaffen aus Finsternis und Magie, die sich nur zu gerne gegen jeden wanden, der ihnen über den Weg lief.
Nur sehr mächtige Schwarzmagier waren in der Lage, sie zu kontrollieren, viele wurden bei dem Versuch selbst zerfleischt.
„Jetzt weißt du, warum ich einen Namen mit der Bedeutung „der schwarze Hund“ trage“, meinte mein Meister, der zu spüren schien, was in mir vorging und ausnahmsweise mal Verständnis zu haben schien, „ denn ich bin der einzige Mann in ganz Großbritannien, der es wagt, diese Bestien zu beschwören. Sogar Nanin Gal fürchtet diese Biester, auch wenn er es nie zugeben würde. Aber jetzt sind sie weg. Komm Kätzchen!“
Er legte mir kurz seinen unversehrten Arm um die Schultern, zog mich tröstend an sich, dann schritt er vorwärts, ins Gebüsch hinein. Neben ihm flammte ein schwaches, magisches Licht auf. Ich atmete tief ein, straffte mich und tat es ihm gleich, auch die Sache mit dem Licht. Soviel hatte ich bereits gelernt, eine Taschenlampe würde ich nie wieder brauchen. Wenigstens ein Vorteil davon, Totenbeschwörerin zu werden.

Ich wäre beinahe in ihn hinein gerannt, so abrupt blieb er stehen und als ich an ihm vorbei lugte erkannte ich auch warum. Er hatte das Gewehr und die sterblichen Überreste des Heckenschützen gefunden. Viel war nicht mehr übrig, die Schattenhunde hatten ganze Arbeit geleistet, stellenweise hing das Fleisch nur noch in Streifen von den Knochen, ein Arm fehlte ganz und das Gesicht war vollkommen unkenntlich.
„Er war schon vorher tot“, stellte mein Meister kalt fest, „wir wurden von einer wandelnden Leiche beschossen. Der Totenbeschwörer, der sie geschickt hat war zu feige um uns selbst anzugreifen.“
„Na ja, ich würde Sie auch nicht angreifen, Meister, vor allem nicht nachdem ich das mit Ihren Hunden erfahren und diese Leiche gesehen habe“, gab ich zu bedenken.
„Gut zu wissen, bis jetzt musste ich ja jeden Tag fürchten, dass du mir etwas antust, aber nun kann ich beruhigt schlafen“, kicherte No-te Kadea und ich konnte mich nur von neuem über seine Abgebrühtheit wundern. Wer außer ihm riss schließlich noch dämliche Witze, nachdem er beinahe erschossen worden wäre, dabei eine Wunde am Arm davongetragen hatte und vor allem während er gerade mit einer Hand in den Eingeweiden eines Toten herumwühlte?
„Was genau versuchen Sie hier herauszufinden?“, erkundigte ich mich und beobachtete ihn skeptisch.
Er sah nicht auf während er antwortete: „Ich versuche zu erkennen, wer diese wandelnde Leiche auferweckt und beherrscht hat. Willst du auch mal?“
Ich zögerte kurz, kniete dann aber entschlossen neben ihm nieder. Das hier war mein Job. Eine Totenbeschwörerin musste so etwas können.
„Was muss ich tun?“, fragte ich meinen Ekel unterdrückend.
Er nahm meine Hand, legte sie auf die offenen Wunden der Leiche und meinte: „Jeder Magier benutzt seine Magie auf eine ganz bestimmte Weise, es ist fast wie eine Handschrift oder ein Fingerabdruck, bei jedem ein kleines bisschen anders. Sende deine Sinne in den Toten und versuche, diese Magie zu spüren.“
Ich tat was er sagte, presste meine Finger noch fester auf das blutige Fleisch und konzentrierte mich. Schon bald fühlte ich den toten Körper, als würde er zu mir gehören. Es war erstaunlicherweise leichter und weniger widerlich als erwartet, allerdings hatte ich keine Vergleichsmöglichkeiten und konnte deswegen nicht sagen, wer der Totenbeschwörer gewesen sein könnte, der sie befehligt hatte. Nur dass er unglaublich mächtig sein musste, das spürte ich.
„Wissen Sie, wer es war?“, fragte ich meinen Meister, doch der schüttelte nur den Kopf.
„Mir fällt niemand ein, dessen Magie sich so anfühlt. Irgendwie wirkt sie seltsam fremdartig und ungewöhnlich“, stellte er nachdenklich fest und erhob sich. Er wollte sich schon abwenden und wieder zurück zum Weg gehen, doch ich hielt ihn auf.
„Was machen wir mit der Leiche? Können wir sie hier einfach so liegen lassen?“, wollte ich wissen.
„Nein, können wir nicht“, sagte er und wollte in die Hände klatschen, doch dabei bewegte er seinen verletzten Arm. Er zuckte zusammen und stieß einen Schmerzenslaut aus, der seinem Namen getreu verdammt nach dem Jaulen eines Hundes klang. Sein nächstes Klatschen fiel wesentlich vorsichtiger aus.
Trotzdem wirkte sein Zauber. Bläuliche Flammen ergriffen Besitz von dem leblosen Körper und verbrannten ihn so vollständig, dass nicht einmal Asche übrig blieb. Mein Meister schritt ungerührt davon, seinen rechten Arm mit dem linken stützend.
Während ich ihm zurück zu seinem Haus folgte stellte ich meine eigenen Überlegungen an. Wer hatte den Angriff auf uns befohlen und vor allem warum? Es war höchst unwahrscheinlich, dass der Heckenschütze nur irgendwelchen Passanten aufgelauert hatte, vor allem um diese Uhrzeit. Das ganze war ein gezielter Anschlag auf meinen Meister und mich. Der Täter musste gewusste haben, dass wir morgens immer auf dieser Route joggen gingen um seine wandelnde Leiche uns auflauern zu lassen. Diese Dinger hatten keinen eigenen Willen mehr, sie waren schließlich tot. Der Schwarzmagier, der sie auferweckt hatte, hielt sie davon ab zu verwesen und steuerte sie. Und ich hatte eine Idee, wer das in diesem Fall getan haben könnte.
Dieser unheimliche Mann aus dem Einkaufzentrum. Er hatte uns schon einmal morgens beobachtet, dessen war ich mir inzwischen sicher. Mein Meister sollte ruhig denken, dass ich unter Verfolgungswahn litt, heute noch würde ich ihm von dem seltsamen Fremden erzählen. Aber erst, wenn er seine Wunde versorgt hatte.
Sobald wir zu Hause waren lief er jedoch ohne ein Wort die Treppe hinauf, mit Sicherheit in sein Schlafzimmer. Ich huschte stattdessen in die Küche und traf dort, wie erwartet auf Wilson, der das Frühstück vorbereitete.
„Guten Morgen. Sie sind spät dran, Fräulein Lamont und Ihre Kleidung ist voller trockenem Laub und was weiß ich für Schmutz“, begrüßte er mich.
Dann runzelte er die Stirn.
„Wo ist Meister Kadea?“, wollte er wissen.
„In seinem Zimmer, er wurde angeschossen. Von mir wird er sich sicher nicht helfen lassen, aber von Ihnen vielleicht. Bitte, sehen Sie nach ihm!“, flehte ich.
Hinter Wilsons Stirn rumorten mit Sicherheit unzählige Fragen, aber er stellte keine einzige davon, sondern eilte aus der Küche. Dabei brummte er etwas, dass für mich fast wie: „So typisch für ihn, verhält sich wie ein verwundetes Tier!“ klang und ich konnte ihm nur zustimmen. Der schwarze Hund versteckte sich in seinem Zimmer, leckte seine Wunden und war bestimmt aggressiv gegen jeden, der ihm helfen wollte. Mir blieb also nichts anderes übrig, als zu warten. Wenn ich es gewagt hätte, in seinem Zimmer zu erscheinen hätte er mir sicher seitenweise Übersetzung aufgegeben, da ging ich lieber duschen und mich umziehen.
Als ich wieder zurück in die Küche kam, saß No-te Kadea bereits am Esstisch, seinen verletzten Arm in einer Schlinge und vertilgte sein Frühstück, als wäre nichts geschehen. Anscheinend hatte ich mir umsonst Sorgen um ihn gemacht, wenn er so essen konnte ging es ihm wohl nicht allzu schlecht. Ich setzte mich also neben ihn und lud mir auch meinen Teller voll. Fast erschossen zu werden machte hungrig.
Irgendwann wagte ich es dann, das Wort an meinen Meister zu richten.
„Ich muss Ihnen etwas erzählen“, begann ich, „bitte halten Sie mich jetzt nicht für verrückt, aber ich wurde von jemandem verfolgt.“
Sofort ließ er sein Besteck sinken und richtete seinen scharfen Blick auf mich.
„Rede weiter!“, forderte er und ich räusperte mich und erzählte ihm von dem Mann im Einkaufszentrum und davon, dass ich seinen Blick zuvor schon einmal auf mir gespürt hatte.
Als ich geendet hatte schnaubte Meister Kadea unwillig. „Warum hast du mir das nicht früher gesagt? Verdammt, das hat doch mit Sicherheit etwas mit den Morden zu tun! Das war nicht klug von dir Kätzchen.“
Ich wusste, dass er darauf keine Antwort erwartete und senkte deswegen nur betreten den Kopf. Inzwischen kam mir mein Verhalten ja auch ziemlich dämlich vor. Meister Ha-duri Na hätte sich jetzt mit Sicherheit eine schön unangenehme, wenn nicht sogar schmerzhafte Strafe für mich ausgedacht, aber mein neuer Meister begnügte sich mit dem erteilten Tadel und widmete sich wieder seinem Essen. Doch ich war sicher, dass er dabei nachdachte und zu den gleichen Schlüssen gelangte, wie ich vorhin.
Schließlich schob er seinen Teller von sich, stand auf, winkte mir ihm zu folgen und schritt in die Eingangshalle. Während er mit seinem unverletzten Arm in seinen Mantel schlüpfte und ihn sich auf der anderen Seite einfach locker über die Schulter legte, sagte er: „Wenn dieser Fremde, denn ich kenne niemanden, der so aussieht, wie du ihn mir beschrieben hast, der Täter ist fehlt uns immer noch ein Motiv. Wieso hat er dich beobachtet?“
„Vielleicht glaubt er, dass ich etwas über Meister Ha-duri Nas Arbeit weiß, ein Geheimnis kenne, hinter dem er her ist“, schlug ich vor.
„Weißt du denn etwas?“, fragte Kadea während er die Tür öffnete.
„Nein, ich glaube nicht. Meister Ha-duri Na war nie besonders mitteilsam, aber das kann der Täter ja nicht wissen“, entgegnete ich.
Zweifelnd legte No-te Kadea den Kopf schief und sah mich noch einmal nachdenklich an, bevor er in die Limousine stieg, die Royce wieder vor dem Haus geparkt hatte.
Nachdem er seinem Chauffeur einen guten Morgen gewünscht hatte wandte er sich schließlich wieder an mich: „Ich werde versuchen herauszufinden, wer dieser Fremde ist, das würde uns schon mal viel helfen. Auf dich wartet heute aber das Archiv“
Ich stöhnte leise, dass klang nach sehr viel Arbeit. Nun ja, wenigstens würde ich dann Belinda Gibbson nicht ausgesetzt sein.

Im Jahre 1567 nach Christus tötete ein Totenbeschwörer einen anderen bei einem Duell. Im Jahre 1579 wurde ein Adept in seinem letzten Ausbildungsjahr wahnsinnig, tötete 20 oder auch 30 Zivilisten und einen Schwarzmagier. Im Jahr darauf gab es eine große Überschwemmung, ein Totenbeschwörer ertrank. Dazwischen waren alle möglichen nichtssagenden Entscheidungen des Hohen Rates aufgeführt, der in Edinburgh seit 1433 bestand. Bis zu diesem Datum reichten auch die Aufzeichnungen zurück.
Ich kämpfte jetzt bereits seit vier Stunden mit uraltem fleckigen Pergament und löchrigem Papier. Die Blätter wurden durch einen Zauber vor dem absoluten Verfall geschützt, in bestem Zustand waren sie aber trotzdem schon lange nicht mehr. Je älter die Texte waren, desto schwerer waren die Worte zu entziffern und wirklich interessant war das, was ich da las auch nicht. Inzwischen hätte ich wohl die Gesellschaft der Sekretärin meines Meisters dieser Arbeit vorgezogen, vor allem wenn ich auf die noch vor mir liegenden Berge von Akten blickte.
Ich saß im Schneidersitz auf dem roten Teppichboden des Archivs, Papier auf dem Schoß, Papier neben mir, Papier überall um mich herum. Papier, Papier, Papier! Und ich war erst beim ersten Regal von mindestens 20.
„Anubis, steh mir bei!“, flüsterte ich und stürzte mich auf den nächsten Stapel.
Neuerliche drei Stunden später stieß ich schließlich auf etwas Interessantes. Ein Bericht aus dem Jahre 1666 behandelte einen ungeklärten Mord an einem Schwarzmagier. Hinter ihm an der Wand hatten, mit seinem Blut geschrieben, die Hieroglyphen für „Im Namen von Seth“ gestanden. Gespannt nahm ich die nächste Seite zur Hand um zu sehen, ob dort noch etwas darüber stehen würde. Es berichtete von einem zweiten, ähnlichen Mord, eine Woche darauf, diesmal fanden sich allerdings die Worte „Anubis hat gesiegt“ an der Wand. Doch mehr konnte ich nicht herausfinden, zumindest nicht in diesem Jahr und im nächsten.
Trotzdem hastete ich mit meinem Fund so schnell ich konnte durch die Gänge des Hohen Rates, rannte beinahe einen Totenbeschwörer um, der mich dafür mit einem Fluch bedachte, der aber glücklicherweise ohne Magie gesprochen zu sein schien und deswegen wohl nicht wirksam werden würde und öffnete schließlich ganz außer Atem die Tür zu Meister Kadeas Vorzimmer.
„Guten Tag!“, grüßte mich seine Sekretärin süßlich, „Sie möchten sicher mit Meister Kadea sprechen“
Ich nickte einfach nur und ging auf die Tür zu seinem Büro zu, doch Belinda hielt mich auf.
„Warten Sie, ich muss zuerst nachsehen, ob er Zeit hat, Sie zu empfangen“, stellte sie mit einem hochmütigen Blick fest und ich wäre ihr beinahe an die Gurgel gesprungen. Was dachte sich dieses impertinente Weib? Wenn ich als seine Adeptin mit meinem Meister sprechen wollte hatte sie sich da nicht einzumischen! Wenn er keine Zeit für mich hatte würde er mir das selber sagen, mir den sofortigen Zutritt zu verweigern war nach Sitte der Totenbeschwörer eine Beleidigung, niemand hatte das Recht dazu. Man deutete damit nämlich an, dass man den Adepten entweder für nicht ganz zurechnungsfähig (weil er ausgerechnet jetzt zu seinem Meister wollte) oder für nervtötend und lästig (man unterstellte ja quasi, dass der Meister eventuell keine Lust haben könnte, den Adepten zu empfangen) hielt. Diese Frau war ab jetzt meine erklärte Feindin.
„Meister Kadea? Ihre Adeptin möchte Sie sprechen“, sagte sie, nachdem sie die Tür geöffnet hatte, ich schob mich einfach an ihr vorbei. Gut, dass ich wusste, dass sie ein bestimmtes Interesse an meinem Meister hatte, das ließ sich hervorragend für eine kleine Rache nutzen.
Mein spöttisches Grinsen verbergend trat ich neben ihn, beugte mich nahe zu ihm hin, legte den Bericht über die Morde vor ihm auf den Tisch und sagte: „Sieh mal, was ich gefunden habe, Ea“
Ich gab mir wirklich alle Mühe, meine Stimme zärtlich und weich klingen zu lassen, vor allem bei dem hübschen Kosenamen, den ich mir für No-te Kadea überlegt hatte. Anscheinend war meine Darstellung sehr überzeugend, denn Belinda schäumte augenscheinlich vor Wut, als sie die Tür schloss.
Mein Meister hingegen erstickte fast an einem Lachanfall, den er während ihrer Anwesenheit im Zimmer gerade noch zurückgehalten hatte.
Grinsend nahm ich einen etwas angemesseneren Platz ihm gegenüber am Schreibtisch ein. Er lachte immer noch, zum Glück. Das Ganze hätte auch schief gehen können, man duzte seinen Meister nicht und mit Kosenamen bedachte man ihn erst recht nicht, er hätte mir zur Strafe sonst was antun können, aber er verstand mich.
„Was hat sie dir getan?“, brachte er mühsam heraus.
„Sie hat darauf bestanden, Sie zu fragen, ob Sie denn überhaupt Zeit haben mich zu empfangen. Und ich kann diese Frau nicht ausstehen“, entgegnete ich.
Er schüttelte den Kopf und meinte: „Da wagt sie einiges, sie muss dich wirklich hassen! Du dürftest, dafür das sie dich beleidigt hat, nach unseren Gesetzen nämlich eine Geldstrafe oder eine anders geartete Entschädigung von ihr fordern“
Das wollte ich lieber nicht und ich wollte auch lieber nicht wissen, was unter einer anders gearteten Entschädigung zu verstehen war. Bestimmt etwas widerliches oder brutales. Ich wies No-te Kadea stattdessen also noch einmal auf meinen Fund aus dem Archiv hin.
Interessiert las er die Blätter und runzelte danach nachdenklich die Stirn.
„Dieser Mord weist zwar deutliche Parallelen zu unserem Fall auf, aber es nützt uns nicht viel, weil damals auch nicht mehr herausgefunden wurde“, stellte er fest.
„Finden Sie es nicht seltsam, dass etwas, dass vor mehreren Jahrhunderten geschehen ist sich jetzt in ähnlicher Form wiederholt hat?“, fragte ich, doch er senkte nur unzufrieden schnaubend den Kopf und las das Papier noch einmal.
„Natürlich und ich kann es mir auch nicht erklären. Zufall? Ein bestimmter Zauber? Ein Fluch? In der Welt der Magie gibt es viel zu viele rätselhafte, unbekannte Möglichkeiten und ich hasse Rätsel raten. Such weiter, ob du noch etwas findest“
Gehorsam nickte ich und machte mich wieder auf den Weg zu meinen Akten.

Viertes Kapitel



Spiel der Götter




Ich fand nichts mehr. Obwohl ich meine Mittagspause opferte und unermüdlich weiter Stapel von Akten durch las entdeckte ich nichts mehr, keinen Hinweis, der uns weiterhelfen konnte.
Mein Gesicht hinter den Händen verborgen, die Ellbogen auf die Knie gestützt saß ich in der Limousine. Hoffentlich hatte mein Meister heute etwas interessantes und abwechslungsreiches für den Unterricht am Nachmittag geplant. Ich wäre mit allem zufrieden, solange ich nur nicht wieder lesen musste, jetzt noch tanzten unzählige Buchstaben vor meinen Augen und schienen mich zu verspotten. Meine Laune war an einem Tiefpunkt angelangt und als wir vor No-te Kadeas Villa aus dem Wagen stiegen konnte mich nicht einmal der prasselnde Regen, den ich normalerweise mochte aufheitern. Ganz im Gegenteil, jetzt musste ich mich auch noch ärgern, dass ich auf dem kurzen Stück bis zur Haustür vollkommen durchnässt worden war. Klamm und kalt hing meine Kleidung an mir und aus meinen Haaren troff das Wasser.
„Geh heiß duschen und zieh dir etwas frisches an, Kätzchen. Wenn du fertig bist treffen wir uns in meinem Arbeitszimmer“, befahl mein Meister, nachdem er mich einen Moment lang gemustert hatte, und ich kam dieser Aufforderung nur zu gerne nach.
Eine Viertelstunde später stand ich, mit einem schwarzen Rollkragenpullover und einer schwarzen Jeans bekleidet und einem Handtuch um meinen Kopf und die nassen Haare gewickelt vor der Tür zum Arbeitszimmer meines Meisters. Hinein konnte ich aufgrund seines aktiven Schutzzaubers nicht. Zum Glück war mir das noch rechtzeitig eingefallen, sonst wäre ich jetzt wohl nur noch ein kleines Häuflein Asche. Ich fragte mich, ob No-te Kadea das bedacht hatte, als er mir befohlen hatte, ihn in seinem Arbeitszimmer zu treffen. Wenn ja war das nämlich als Mordanschlag zu deuten. Allerdings tippte ich eher auf Vergesslichkeit als Motiv und so schenkte ich ihm ein fröhliches Grinsen, als er die Treppe heraufkam.
Er musterte mich und meinen Handtuchturban einen Moment lang erstaunt, dann schlug er sich vor den Kopf.
„Entschuldige!“, meinte er, „Das hab ich ja ganz vergessen. Tut mir wirklich Leid, dass du mit eiIch fand nichts mehr. Obwohl ich meine Mittagspause opferte und unermüdlich weiter Stapel von Akten durch las entdeckte ich nichts mehr, keinen Hinweis, der uns weiterhelfen konnte.
Mein Gesicht hinter den Händen verborgen, die Ellbogen auf die Knie gestützt saß ich in der Limousine. Hoffentlich hatte mein Meister heute etwas interessantes und abwechslungsreiches für den Unterricht am Nachmittag geplant. Ich wäre mit allem zufrieden, solange ich nur nicht wieder lesen musste, jetzt noch tanzten unzählige Buchstaben vor meinen Augen und schienen mich zu verspotten. Meine Laune war an einem Tiefpunkt angelangt und als wir vor No-te Kadeas Villa aus dem Wagen stiegen konnte mich nicht einmal der prasselnde Regen, den ich normalerweise mochte aufheitern. Ganz im Gegenteil, jetzt musste ich mich auch noch ärgern, dass ich auf dem kurzen Stück bis zur Haustür vollkommen durchnässt worden war. Klamm und kalt hing meine Kleidung an mir und aus meinen Haaren troff das Wasser.
„Geh heiß duschen und zieh dir etwas frisches an, Kätzchen. Wenn du fertig bist treffen wir uns in meinem Arbeitszimmer“, befahl mein Meister, nachdem er mich einen Moment lang gemustert hatte, und ich kam dieser Aufforderung nur zu gerne nach.
Eine Viertelstunde später stand ich, mit einem schwarzen Rollkragenpullover und einer schwarzen Jeans bekleidet und einem Handtuch um meinen Kopf und die nassen Haarenem derart schusseligen Meister geschlagen bist.“
Er lächelte ebenfalls.
„Nicht so schlimm“, entgegnete ich deswegen etwas tollkühn, „alten Leuten passiert so etwas schließlich öfters mal.“
„Pass bloß du auf, dass du nicht alles wieder vergisst, was ich dir beizubringen versuche! Du bist auch nur 7 Jahre jünger als ich, Kätzchen!“, rief er scheinbar empört, derweil er den Schutzzauber an der Tür außer Kraft setzte. Er machte Anstalten, sie zu öffnen, doch, die Hand bereits an der Klinke, verharrte er plötzlich.
„Weißt du was, am besten ich zeige dir jetzt gleich, wie man diesen Zauber löst. Das passt nämlich hervorragend zu dem Thema, dass ich für heute geplant hatte. Diebstahlsicherungen und Alarmanlagen für Totenbeschwörer.“
Es wurden einige sehr anstrengende Stunden, denn es war nicht einfach, einen Schutzzauber zu erschaffen und einen zu brechen war noch schwerer, wenn nicht gar unmöglich. Vor allem einen von No-te Kadea. Mehrere Male steckte ich Stromschläge und Ähnliches ein als ich mich daran versuchte, Funken und Flammenstöße sengten meine Kleider an und ich war froh, dass ich überhaupt überlebte. Geduscht hatte ich sowieso umsonst, denn als der Unterricht endlich beendet war stank ich nach Feuer.
Schlecht gelaunt nahm ich beim Abendessen Platz, kaute lustlos auf meinem Essen herum und schloss mich schließlich in meinem Zimmer ein um noch einige Stunden damit zu verbringen, einige Bücher zu lesen und die Aufgaben darin zu machen, die mir mein Meister aufgegeben hatte. Von Mathe bis Magie war alles dabei, auch wenn ich mich oft fragte, wozu ich das alles können musste. Wer macht schon so sinnlose Sachen wie einen Stuhl dazu zu bringen „Greensleeves“ zu singen? Aber meinetwegen.
Immer noch das Lied im Kopf legte ich mich irgendwann zum Schlafen hin.

Doch leider nicht so lange wie erhofft.
„Aufstehen, Kätzchen!“, gellte es draußen auf dem Flur und ich fuhr ruckartig hoch. Es war fünf Uhr morgens.
„Wollen Sie wirklich joggen gehen, nachdem was uns gestern passiert ist?“, fragte ich verschlafen.
„Nein will ich nicht, aber trotzdem wirst du der sportlichen Betätigung nicht entkommen. Zieh dir deine Badesachen an!“
Während ich noch überlegte, ob es mir etwas nützen würde, ihm zu sagen, dass ich so etwas wie Badesachen nicht besaß, kam auch schon die Antwort.
„Und wenn du keine Badesachen hast ist das auch keine Ausrede! Das ist mir gestern Abend schon eingefallen und deswegen habe ich Royce noch einmal losgeschickt, um dir welche zu besorgen. Ich lege sie dir vor die Tür und erwarte dich in fünf Minuten am Pool zu sehen“, rief mein Meister und ich stöhnte.
Als seine Schritte am Gang verklungen waren erhob ich mich, öffnete die Tür und hob das kleine Häuflein auf, das davor lag. Skeptisch betrachtete ich die Sachen. Ein Bikini, rot mit schwarzen Punkten. Juhu, ich liebte Marienkäfer! Und Ironie war doch etwas schönes.
Nachdem ich meine Unlust überwunden hatte, schlüpfte ich schließlich doch in das Teil und hätte es beinahe wieder ausgezogen. Es passte zwar ganz gut, aber für meine Verhältnisse sah man viel zu viel von meinem mageren, hässlichen Körper. Bei Belinda Gibbson hätte der Bikini bestimmt wirklich gut ausgesehen und ich wünschte mir für einen kurzen Moment, mit ihr tauschen zu können. Aber wirklich nur für einen sehr, sehr kurzen.
Dann überlegte ich, dass mein Meister wohl Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen nicht als Entschuldigung für Zuspät- oder Garnichtkommen gelten ließ und beeilte mich die Treppen hinunter in die Orangerie zum Pool zu laufen. Mein Handtuch hielt ich dabei möglichst eng um mich geschlungen.
No-te Kadea saß am Beckenrand, die Beine bereits im Wasser. Er trug nur ganz normale, schlichte schwarze Badeshorts, sah aber trotzdem verdammt gut aus. Anscheinend ging er nicht nur joggen sondern trainierte auch anderweitig oder es gab einen Zauber für perfekte Sixpacks. Obwohl ich da eher auf ersteres tippte, denn sonst war es äußerst unlogisch, das viele Totenbeschwörer mit einer gewaltigen Wampe herumliefen. Außer die vertraten alle die Meinung, dass ein ganzes Fass besser war als bloß ein Sixpack.
Ich musste mich sehr zusammenreißen um nicht darüber zu sinnieren, dass mein Meister in Badekleidung garantiert besser aussah als Nanin Gal und das er auch allgemein eigentlich viel hübscher war. Und ich gab mir auch große Mühe, ihn nicht zu auffällig zu bewundern, als er mit einem eleganten Köpfer ins Wasser sprang und durch den beleuchteten Pool zu mir hinüber schwamm.
„Komm rein, es ist sogar warm!“, meinte er als er prustend vor mir auftauchte und sich sein nasses Haar aus dem Gesicht schüttelte.
Ich glitt wesentlich weniger elegant in Pool und versuchte, mit den Zehenspitzen den Boden zu erreichen. Als mir das zu meinem Entsetzen jedoch nicht gelang klammerte ich mich krampfhaft am Beckenrand fest und überlegte, wie ich mein Problem meinem Meister beichten konnte. Doch er hatte es schon erkannt.
„Sag bloß, du kannst nicht schwimmen!“, rief er und sein Gesicht zeigte deutlich sein Erstaunen.
Ich nickte nur zaghaft. Es hatte nie die Notwendigkeit bestanden, diese Fähigkeit zu erlernen, im Schwimmbad war ich sowieso nie gewesen und mein Vater hätte sicher auch nie die Geduld gehabt, es mir beizubringen.
„Dann wirst du es lernen müssen“, erklärte No-te Kadea und versuchte, mir klar zu machen, was man tun musste um nicht unterzugehen. Doch leider sank ich jedesmal wenn ich den Beckenrand losließ hinunter wie ein Stein und mehrere Male musste mein Meister beweisen, dass er Talent als Rettungsschwimmer besaß. Wäre es nicht so demütigend und peinlich gewesen hätte ich es eigentlich genossen, von ihm gerettet zu werden und es war nicht unangenehm gegen seinen Körper gepresst zu werden. Auch wenn er nun mal leider mein Meister war und ich so etwas wohl gar nicht denken sollte.
Als er mir schließlich gestattete, aus dem Becken zu klettern schaffte ich ganze zwei Schwimmzüge ohne abzusaufen und hatte sogar eine vage Hoffnung, dass ich es irgendwann doch noch lernen würde. Irgendwann. Immerhin war Schwimmen schöner als Joggen und das Wasser warm.

Nachdem ich mir das Salz vom Körper geduscht und gefrühstückt hatte fuhr ich mit No-te Kadea wieder in den Hohen Rat um meine gestern begonnene Arbeit fortzusetzen. Ich war inzwischen so etwa im Jahre 1712 angelangt und wenn es nach mir ging würde ich da auch bleiben und alle anderen Akten aus 300 Jahren Akten sein lassen, aber leider meinte mein Meister, dass sich da doch noch etwas finden lassen musste, also verbrachte ich meinen Vormittag uns den halben Nachmittag damit langweilige Berichte zu lesen.
Ich beschäftigte mich gerade mit einem zugegebenermaßen ganz interessanten Protokoll, in dem sich ein Schwarzmagier über einen anderen beschwerte und, um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen, so richtig über ihn ablästerte, als No-te Kadea den Raum des Archivs betrat, wo ich saß.
Ein rascher Blick auf die Uhr, die, fast zwischen den hohen Regalen versteckt, an der Wand hing, zeigte mir, dass es eigentlich noch nicht Zeit war um Feierabend zu machen und nach Hause zu fahren. Seltsam, was wollte Kadea wohl hier?
Ich blickte ihn erwartungsvoll an. Vielleicht war er ja doch hier, um mich abzuholen, weil wir heute früher Schluss machten.
„In einer halben Stunde beginnt eine wichtige Ratssitzung“, begann er und ich ließ meine Hoffnung fallen, „Ich muss daran dringend teilnehmen, vor allem weil es auch um die Morde gehen wird. Allerdings weiß ich noch nicht, wie lange es dauert. In einer Stunde holte dich Royce ab und dann hast du den Nachmittag frei.“
Nur knapp konnte ich mich davon abhalten, die Freude zu zeigen, die diese Mitteilung bei mir auslöste. Schüler sind immer froh, wenn Unterricht ausfällt und Totenbeschwörerschüler bilden da keine Ausnahme.
„Natürlich. Dankeschön, Meister“, sagte ich stattdessen artig, „Ihnen viel Spaß bei der Ratssitzung“
„Werde ich haben“, schnaubte er eindeutig nicht sehr begeistert, machte auf dem Absatz kehrt, warf mit noch einen Mitleid heischenden Blick über die Schulter zu und marschierte dann aus dem Raum.
Ich blieb über meine Akten gebeugt zurück und obwohl ich mich wirklich auf meinen freien Nachmittag freute, gelang es mir noch einige Seiten zu lesen bevor ich den Hohen Rat verlassen musste um auf Royce zu wartete, der mich nach Hause fahren sollte. Eine der ersten Fähigkeiten, die ein Novize lernt ist es, sich vollkommen auf etwas zu konzentrieren und alles andere auszublenden. Wenn wir uns ständig ablenken lassen würden wäre es uns wohl nie möglich, all das zu bewältigen, was wir schaffen müssen.
Aber im Auto konnte ich mich dann ausgiebig der Planung hingeben. Gemütlich in die schwarzen Lederpolster geschmiegt überlegte ich, was ich alles tun konnte. Vielleicht ein gutes, wirklich interessantes Buch lesen oder einen Film schauen. Oder einfach in der Küche herumsitzen und mit Wilson reden. Oder No-te Kadeas Arbeitszimmer durchsuchen. Ich grinste. Das war dann wahrscheinlich doch etwas zu tollkühn.
Während ich noch eine Idee gegen die andere abwog, fiel mir plötzlich noch etwas ein. Ich konnte meinen Vater besuchen gehen. Aus unerfindlichen Gründen waren alle anderen Möglichkeiten von diesem Moment an vergessen. Ich dachte nicht daran, dass es gefährlich sein könnte, alleine wegzugehen oder dass ich meinen Vater eigentlich nicht besonders gerne mochte. Ich musste ihn besuchen und damit basta.
Ich hatte mich bereits in meinem Sitz aufgerichtet und jetzt bat ich Royce, einen anderen Weg einzuschlagen, nicht zu No-te Kadeas Villa. Zu Vaters Haus.

Schon kurz darauf stand ich vor dem verfallenen Reihenhaus, in dem ich 17 Jahre meines Lebens gewohnt hatte. In keinem der Fenster brannte Licht, aber das war eigentlich nichts ungewöhnliches, wahrscheinlich schlief mein Vater.
„Soll ich hier auf Sie warten, Fräulein Lamont?“, fragte Royce, der ausgestiegen war um mir die Tür zu öffnen.
Ich winkte ab: „Nein, fahren Sie ruhig. Ich gehe zu Fuß zurück“
Ohne weiter auf ihn zu achten schritt ich auf die Eingangstür zu und drückte dagegen. Sie ließ sich ohne weiteres öffnen und ich trat in den dunklen Flur. Es roch genauso scheußlich wie früher, Alkohol und Dreck. Vorsichtig ertastete ich mir meinen Weg bis zum Wohnzimmer, nachdem ich die Tür hinter mir ins Schloss hatte fallen lassen.
„Papa?“, fragte ich, erhielt jedoch keine Antwort.
Anscheinend war er nicht zu Hause, denn ich konnte ihn weder im Wohnzimmer noch irgendwo anders finden.
Schließlich ging ich in mein ehemaliges Schlafzimmer und setzte mich dort auf den Boden um auf ihn zu warten. Das Loch in der Wand dort zeugte noch immer von meinem missglückten Zauber und ich dachte darüber nach, ob ich es inzwischen wohl besser hinbekommen würde. Dann blickte ich eine Weile aus dem Fenster. Bis mich ein Geräusch hinter mir herumfahren ließ.
„Schön, dass du meiner Einladung gefolgt bist“, meinte der Mann, der im zerstörten Türrahmen stand. Seine schwarzen Haare schimmerten im Licht der schwachen Glühbirne, die mein ehemaliges Zimmer erhellte und seine dunklen Augen schienen zu glühen, heißer noch als damals im Kaufhaus. Denn es handelte sich eindeutig um den selben Mann. Uralte Macht umhüllte mich, ließ die Luft im Raum prickeln vor Magie.
„Wieso Einladung?“, fragte ich mit trockener Stimme.
„Ich wollte dass du kommst, vielleicht hast du nicht bemerkt, dass es mein Einfluss war, der dich dazu gebracht hat, heute hier zu erscheinen, aber so ist es“, entgegnete er und zuckte lässig die braun gebrannten Schultern. Trotz der Kälte trug er nur eine weiße Hose und kein Oberteil.
Ich wich vorsichtig noch etwas weiter vor ihm zurück. Meine Kehle war wie ausgedörrt vor Angst. Noch nie hatte ich davon gehört, dass ein Magier jemanden so beeinflussen konnte, aber dieser Mann hatte das eindeutig getan. Und jetzt war ich hier, alleine mit ihm und seiner Magie.
„Was wollten Sie von mir? Bei Anubis, wer sind Sie?“, flüsterte ich.
Er lachte.
„Ich bin derjenige, den du gerade genannt hast“

Ich konnte ihn nur anstarren.
„Sie wollen mir erzählen, dass sie Anubis sind?!?“, brachte ich dann mühsam heraus. Doch noch während ich meine Frage aussprach wurde mir klar, dass er die Wahrheit sagte. Die Macht um mich herum war nicht die eines Menschen, viel zu alt und zu groß. Sie gehörte zu einem Gott oder zumindest zu einem Gott gleichen Wesen. Und jetzt wusste ich auch, woran mich die Züge des Mannes erinnerten. An einen Schakal.
Der Mann grinste und vor meinen Augen veränderte er sich. Er wuchs noch ein ganzes Stück, seine Hose machte einem weißen Lendenschurz Platz und sein Kopf zog sich in die Länge, formte sich zu einer Schnauze, die schwarzer Pelz bedeckte.
„Bei Anubis!“, keuchte ich und er stieß ein bellendes Lachen aus.
„Du musst keine Angst vor mir haben!“, meinte er dann, ließ sich im Schneidersitz auf dem Boden nieder und winkte mir, an seiner Seite Platz zu nehmen.
Vorsichtig näherte ich mich ihm. Man tat besser, was ein Gott von einem verlangte. Nachdem ich mich neben ihn gesetzt hatte blickte ich ehrfürchtig zu ihm auf. Seltsamerweise konnte ich überhaupt keine Angst mehr vor ihm haben.
Er musterte mich einen Moment lang, seinen Tierkopf schiefgelegt und meinte schließlich: „Ich weiß, dass du zahllose Fragen haben wirst, aber ich werde dir die meisten davon nicht beantworten. Ich werde dir nämlich nichts über das Jenseits oder ähnliches berichten, denn es tut einem Sterblichen nicht gut, so etwas zu wissen. Hör mir aber trotzdem genau zu, denn ich habe dir etwas wichtiges zu sagen. Es geht um die Morde. Und um dich.“
„Sie wissen wer der Täter ist?“, fragte ich aufgeregt.
Er grinste, so weit das einem Schakal möglich war.
„Ja. Aber ich werde es dir nicht sagen“, antwortete er dann, „Doch sein Motiv werde ich dir verraten, dazu muss ich aber etwas weiter ausholen“
Er sah mich an, als ob er sichergehen wollte, dass er meine ungeteilte Aufmerksamkeit besaß und ich erwiderte seinen Blick leicht irritiert aber gespannt.
„Also“, begann er schließlich, „Es gibt noch andere wie mich, du wirst von ihnen gehört haben. Mit den zweien, die Seth und Osiris genannt werden spiele ich schon seit Jahrtausenden ein Spiel. Ich weiß nicht mehr, wie wir darauf gekommen sind und wenn ich ein Mensch wäre würde ich sagen, dass ich damals besoffen war, aber naja.
Auf jeden Fall sucht sich bei diesem Spiel jeder von uns einen Auserwählten unter all den Totenbeschwörern auf der Welt. Einen alle 100 Jahre. Wir wissen zwar, wer die Auserwählten der jeweils anderen sind, dürfen es aber dem unseren nicht verraten, denn es geht darum, dass sie sich gegenseitig finden und töten müssen. Wessen Auserwählter zum Schluss übrig bleibt, der ist Sieger.“
Ein unangenehmer Verdacht keimte in mir auf, aber ich wagte es nicht seine Erzählung zu unterbrechen sonder lauschte weiter seinen Worten.
„Seth ist, wie du wissen solltest, der Gott des Chaos. Seine Auserwählten bringen immer Tod und Unruhe in die Welt und genau damit hast du es jetzt zu tun. Oft morden sie wahllos, aber der diesmal scheint klüger zu sein. Seths Auserwählter ist der Mörder, den du finden musst“
Mein Verdacht schien sich zu bestätigen und so fragte ich vorsichtig: „Ich muss ihn finden? Wollen Sie damit sagen, dass ich bei diesem Spiel mitspielen muss?“
Er nickte.
„Ja, denn ich habe dich auserwählt und an deiner Stelle würde ich nicht versuchen, mich davor zu drücken“
Seine Stimme klang auf einmal bedrohlich, seine Augen loderten regelrecht auf als er sich etwas zu mir hinüber beugte. Ich wich ein ganzes Stück vor ihm zurück.
Doch trotzdem musste ich ihm noch eine Frage stellen. Ich räusperte mich und brachte dann mühsam heraus: „Warum haben Sie mich auserwählt? Ich wüsste nicht, dass ich anderen Totenbeschwörern etwas voraus habe und mich besonders für Ihr Spiel eigne. Möchten Sie nicht gerne gewinnen?“
Vollkommen unerwartet warf Anubis seinen Schakalkopf in den Nacken und lachte.
„Auf diese Frage habe ich gewartet!“, rief er, „Hör zu, ich will es dir erklären“
Er kicherte leise.
„Ich habe dich natürlich nicht deswegen auserwählt, weil du besonders geeignet wärst. Du bist zwar verhältnismäßig mächtig, auch weil ich dir etwas von meiner Macht zuteil werden lassen kann, aber nicht fertig ausgebildet, nicht körperlich stark und du hast auch keine bedeutende Stellung in der Gesellschaft. Allerdings bin ich sehr von mir selbst überzeugt und deshalb vertraue ich meinem eigenen Fleisch und Blut.“
„Was?“, keuchte ich.
Er beobachtete amüsiert meine Reaktion.
„Die griechischen Götter sind nicht die einzigen, die Menschen ganz hübsch finden. Deine Mutter war schön und sie hatte eine Menge verborgenes magisches Potenzial, eine der Voraussetzungen dafür, dass ein Sterblicher ein Kind von einem wie uns empfangen kann, Töchterchen“, verkündete er und ich schlug die Hände vors Gesicht.
„Bei Anubis!“, stöhnte ich, „das halte ich nicht aus!“
Das war mir jetzt einfach etwas zu viel. Es ist nämlich ziemlich verblüffend und unglaublich, wenn man einem altägyptischen Gott begegnet, der einen auserwählt hat und einem dann auch noch mitteilt, dass er das Recht für sich beansprucht, dein leiblicher Vater zu sein. Ich wollte nur noch in mein Bett in No-te Kadeas Haus und in Ruhe nachdenken, was das alles jetzt für mich bedeutete. Aber das war mir nicht vergönnt.
Anubis stieß plötzlich einen ägyptischen Fluch aus, den ich als braver Novize eigentlich gar nicht kennen sollte und knurrte dann: „Was will der denn hier? Hätte der nicht zu Hause bleiben können?“
Ich fragte mich, wenn er wohl meinte und vor allem, wo hier jemand außer uns sein sollte, da hörte ich die hastigen Schritte auf der Treppe.
„Cailin!“, rief eine Stimme, die mir in den letzten paar Tagen nur zu vertraut geworden war und Meister Kadea tauchte im zerstörten Türrahmen auf.
„Verdammt, ich habe mir Sorgen gemacht! Du kannst doch nicht einfach alleine weggehen, hast du denn überhaupt nicht an den Mörder gedacht?“
Seine Stimme hatte sich während er sprach immer mehr von Besorgnis zu Wut gesteigert und ich wusste nur zu genau, dass das mir galt. Hilfesuchend blickte ich mich nach Anubis um, doch der war anscheinend noch bevor Kadea den Raum betreten hatte verschwunden. Na besten Dank auch, das war ja ein toller Gott und Vater, der einen mit seinem zornigen Meister alleine ließ.
„Das ist nicht meine Schuld!“, rechtfertigte ich mich kläglich.
No-te Kadea schnaubte abfällig und fragte: „Nein? Wessen Schuld ist es dann?“
Mit verschränkten Armen stand er vor mir und sein Fuß tippte ungeduldig auf den Boden, während er auf eine Antwort wartete.
Ich beschloss alles auf eine Karte zu setzen. Besser, einen Gott verärgern, der gerade nicht da war als einen Meister der schwarzen Magie, der direkt vor einem stand.
„Anubis“, entgegnete ich also.
„Wie bitte?“, fragte No-te Kadea und sah mich an, als würde er nicht recht wissen, ob er mich jetzt für wahnsinnig oder einfach nur für unverschämt und dreist halten sollte.
„Es ist die Wahrheit!“, rief ich, „Gerade war er noch hier“
Meister Kadea verengte seine blitzenden Augen zu schmalen Schlitzen.
„Das ist nicht lustig, Kätzchen“, meinte er, seine Stimme kalt wie Eis.
„Sie müssen mit glauben, Meister! Er hat mir gesagt, dass er mich auserwählt hat und dass er auch noch mein leiblicher Vater ist und...“, sprudelte ich hervor, doch Kadea unterbrach mich.
„Bitte, wenn ich nicht denken soll, dass du wahnsinnig geworden bist, sag mir die Wahrheit und hör auf mit diesem Unsinn“
Ich senkte betreten den Kopf. Wie sollte ich ihm klar machen, dass das kein Unsinn war? Es war dumm von mir gewesen, ihm das alles zu sagen. Ich hätte mir auch gleich denken können, dass er mir nicht glauben würde.
„Meister, bitte!“, versuchte ich es noch einmal.
„Oh Kätzchen,“ erwiderte er nur und der Zorn war verschwunden, nur Resignation und Enttäuschung blieb zurück.
„Du solltest ihr wirklich glauben, großer Kadea“, bemerkte da plötzlich eine spöttische Stimme.
No-te Kadea fuhr herum und starrte den Mann an, der auf einmal wieder im Zimmer stand als hätte er es nie verlassen. Er hatte statt seinem Sckakalkopf zwar wieder seinen Menschenkopf auf den Schultern, aber seine wahre Natur war trotzdem unverkennbar.
„Sie ist meine Tochter“, bekannte Anubis, „und ich habe ihr befohlen, nach dem Mörder zu suchen und ihn zu töten. Warum kann sie dir auch erklären und ich muss nicht meine Worte verschwenden, also sei jetzt so nett und bring sie nach Hause. Gute Nacht“
Dann war er wieder verschwunden.
„Verdammt“, sagte mein Meister.
Ich nickte nur und verbarg meinen Kopf in den Händen.
Doch No-te Kadea zog sie mir weg.
„Lass das“, meinte er, „eine Totenbeschwörerin tut so etwas nicht. Halte dich immer aufrecht. Und jetzt komm, wir fahren nach Hause, Royce wartet mit dem Wagen draußen, du hast mir einiges zu erklären“
Gehorsam straffte ich mich und folgte ihm die Treppe hinunter.

Er schwieg lange, nachdem ich geendet hatte. Nachdenklich betrachtete er die draußen vorbeiziehenden Lichter der Stadt. Ich saß ihm gegenüber in den weichen Polstern seiner Limousine und hing ebenfalls meinen Gedanken nach,
doch plötzlich sagte er: „Du siehst ihm sehr ähnlich“
Ich zog die Brauen zusammen und runzelte die Stirn. Wie kam er nur auf so etwas? Ich hätte nicht behauptet, dass ich sehr große Ähnlichkeit mit Anubis aufwies.
Aber er hatte noch mehr zu sagen: „Es ist etwas in deinen Zügen, dass mich an ihn erinnert, du hast auch manchmal diesen schakalhaften Ausdruck, vor allem wenn du zornig oder schlecht gelaunt bist“
Er überlegte einen Moment und musterte mich scharf.
„Deine Haarfarbe hast du auch von ihm. Herrliches, dunkles Schwarz. Verdammt, es wird nicht mehr lange dauern und du wirst eine unglaublich schöne Frau sein!“, stellte er dann fest, „Wenn dein Gesicht wirklich die letzten kindlichen Züge verloren hat und man dir endlich ansieht, dass du inzwischen etwas mehr isst.“
Ich konnte ihn nur verwundert anstarren.
„Danke, Meister“, entgegnete ich schließlich ein wenig verschämt. Denn seine Rede war wohl als Kompliment zu deuten und das freute mich unbändig. Ich gebe ja zu, dass „du wirst mal gut aussehen“ nicht ganz so toll ist, wie „du siehst gut aus“, aber für meine Verhältnisse war das trotzdem etwas, vor allem von meinem Meister. Er schenkte mir eines seiner seltenen, offenen, fröhlichen Lächeln und ein warmes Kribbeln erfüllte meinen ganzen Körper. Verdammt.
Bitte nicht, ich durfte mich nicht in ihn verlieben, nicht mal für ihn schwärmen. Ich würde mir nur weh tun und meinen Studien schaden. Das musste sofort aufhören, doch leichter gesagt als getan.
Ich schloss für einen Moment die Augen, konzentrierte mich mühsam auf das kalte Leder der Sitzpolster unter meinen Händen, ließ dieses Gefühl auf meinen ganzen Körper übergreifen und erstickte jedes Kribbeln damit, verwandelte die Schmetterlinge in meinem Bauch in hässliche, fette Motten.
Dann öffnete ich die Augen wieder. No-te Kadea sah wie vorhin zum Fenster hinaus, so dass ich sein elegantes Profil bewundern konnte. Die hohe Stirn, die gerade Nase, kurz und einfach: die Perfektion. Verdammt. Die Motten wollten keine Motten bleiben, sie waren viel lieber Schmetterlinge.
Kurz darauf hielt der Wagen vor No-te Kadeas Villa und wir stiegen aus. Wilson hielt uns die Tür auf und nahm uns die Mäntel ab.
„Ist das Abendessen schon fertig?“, fragte ihn mein Meister.
Der Butler nickte.
„Dann bringen Sie es uns bitte hinauf ins mein Arbeitszimmer, wir haben noch etwas zu besprechen“, befahl Kadea und bedeutete mir mit einer Handbewegung vorauszugehen. Brav wie ich bin setzte ich mich in die richtige Richtung hin in Bewegung, obwohl ich viel lieber den Weg zu meinem Schlafzimmer eingeschlagen hätte. Mit meinem Meister etwas besprechen zu müssen klang unheimlich und bedrohlich.
Auf seinen Wunsch hin löste ich den Schutzzauber an der Tür, um ihm, wie er es ausdrückte, zu beweisen, dass ich mir wenigstens das gemerkt hatte, und ließ mich dann auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch nieder. Er selbst sank in seinen rot gepolsterten Sessel, legte die Fingerspitzen aneinander und musterte mich scharf.
„Nur damit ich alles richtig verstanden habe“, begann er schließlich, „du bist die Tochter von Anubis, dem altägyptischen Gott und er hat dir das heute gesagt und dir auch noch mitgeteilt, dass du den Mörder finden musst, der Ha-duri Na und unseren Archivar getötet hat und wahrscheinlich auch hinter dem Anschlag auf uns beide steckt?“
Ich nickte nur hastig.
„Warum? Was hat er für ein Interesse daran?“, erkundigte sich No-te Kadea weiter.
„Der Mörder ist der Auserwählte Seths und er, Anubis und Osiris spielen so ein seltsames Spiel, bei dem ihre Auserwählten sich gegenseitig finden und töten müssen. Und bevor Sie fragen, Meister, wie sie auf diesen Unsinn gekommen sind wissen die drei nicht mehr“, erklärte ich und versuchte nicht zu zeigen, dass mir das eigentlich ziemlich Sorgen bereitete. Schließlich ging es da um mein Leben. No-te Kadea wirkte ebenfalls beunruhigt.
„Gehe ich recht in der Annahme, dass es keine Chance für dich gibt, dich aus der Affäre zu ziehen, Kätzchen?“, fragte er.
Ich verneinte bedauernd: „Außer Sie sagen mir eine Möglichkeit um mich vor Anubis zu verbergen“
Er schien einen Moment lang ernsthaft über diese Idee nachzudenken, entgegnete dann aber: „Nein, da ist es wahrscheinlich einfacher und sicherer, den Mörder zu finden. Wir hatten das sowieso von Anfang an vor“
„Aber wir sind nicht sehr weit gekommen“, gab ich zu bedenken.
Er zuckte die Schultern.
„Jetzt wissen wir aber mehr. Wir wissen nämlich, wonach wir Ausschau halten müssen. Glaubst du, Seths Auserwählter weiß schon, dass du für Anubis in diesem dämlichen Spiel antreten musst?“
Ich dachte einen Augenblick darüber nach. Eigentlich schien es wahrscheinlich, dass er es schon wusste, schließlich hatte er bereits versucht mich umzubringen und Meister Ha-duri Na war vielleicht auch nur deswegen gestorben, weil er eben mein Meister war. Andererseits hatte Anubis mich eigentlich erst heute auserwählt. Nein, es musste einen anderen Grund dafür geben, dass er es schon auf mich abgesehen hatte. Diese Überlegungen teilte ich auch Meister Kadea mit.
Er nickte zustimmend.
„Vielleicht hat er uns im Park diese Falle gestellt, weil er fürchtete, wir könnten ihm auf die Schliche kommen, schließlich ermittle ich in dem Fall und er kann wohl nie genau sagen, was ich schon alles herausgefunden habe. Bei dem Archivar könnte es der selbe Grund gewesen sein. Allerdings bleibt uns dann noch der Mord an Ha-duri Na“
Nachdenklich starrte er auf die unzähligen Papiere auf seinem Schreibtisch. Mir schoss plötzlich eine Idee durch den Kopf.
„Meister Ha-duri Na war fasziniert von altägyptischen Göttersagen!“, rief ich, „Wenn der Mörder das wusste, kann es leicht sein, dass er sich dadurch bedroht fühlte!“
No-te Kadea nickte.
„Siehst du, wir wissen schon viel mehr“, sagte er, „außerdem habe ich das Gefühl, dass unser Mörder etwas übervorsichtig ist und wir werden ihn finden. Auch wenn wir dafür jeden Totenbeschwörer in Edinburgh anrufen und befragen müssen“
Ich musste grinsen. Das wäre viel Arbeit, ein Plan, der meinem Meister sicherlich gefiel.
Er erwiderte mein Grinsen und meinte dann neckisch: „Ich meine natürlich auch wenn du dafür jeden Totenbeschwörer in Edinburgh anrufen und befragen musst“
Bevor ich mir eine passende Antwort überlegen konnte, klopfte es plötzlich an der Tür.
„Herein!“, rief No-te Kadea und Wilson betrat, beladen mit einem riesigen Tablett den Raum.
„Wohin?“, fragte er mit einem Blick auf den völlig überladenen, chaotischen Schreibtisch. Meinem Meister schien das allerdings keine Sorgen zu bereiten. Er fegte einfach mit seinem Arm alle Sachen zur Seite um Platz zu schaffen und ich war mir sicher, von Wilson ein halb unterdrücktes Stöhnen zu hören, dem aber wohl nicht das schwere Tablett zu Grunde lag.
Trotzdem stellte er kommentarlos Teller und Schüsseln auf dem jetzt freien Schreibtisch ab und erklärte: „Heute gibt es griechisches Gyros, dazu Fladenbrot und frisches Tsatsiki, verschiedene Antipasti und hier haben wir noch griechischen Bauernsalat mit Fetakäse und wenn Sie möchten kann ich Ihnen auch noch Reis anbieten“
Ich bewunderte den Anblick dieses Festmahls und wünschte mir, wie schon sehr oft, seit ich bei No-te Kadea wohnte, etwas schmecken zu können.
„Ich hoffe Sie sind mit meiner Weinauswahl zufrieden, Meister Kadea“, meinte Wilson derweil er ein großes Glas Rotwein auf den Tisch stellte, „und für Sie, Fräulein Lamont habe ich Wasser. Ich hoffe, dass ist in Ordnung“
Ich nickte. Ich trank meistens Wasser, schmecken konnte ich es ja sowieso nicht.
Als Wilson mein Glas vor mich hinstellte dachte ich kurz, dass er mir einen seltsamen Blick zuwarf, aber das hatte ich mir wohl nur eingebildet, denn seine Miene wirkte sofort wieder so undurchsichtig wie zuvor. Mein Meister hatte sich indes seinen Teller bereits so voll geladen, dass ich ernsthaft fürchtete, ihm würde gleich eine ganze Menge wieder herunterfallen. Hoffentlich vertrug das Papier, das No-te Kadeas „Aufräumaktion“ überstanden hatte und das jetzt unter dem Teller lag einige Fett- und Essensflecken. Ich ging etwas maßvoller zu Werke, aß bei dieser einzigen Mahlzeit aber trotzdem mehr, als früher an zwei Tagen. Auch mein Glas leerte ich ganz.
Nachdem wir aufgegessen hatten belud Wilson sein Tablett wieder, fragte uns, ob wir noch etwas wünschten und verließ, nachdem wir verneint hatten den Raum. Plötzlich richtete sich Meister Kadeas scharfer Blick auf mich.
„Wann wolltest du es mir sagen?“, fragte er kalt.
Ich zuckte zusammen. Mehr als ein mühsames „Was meinen Sie?“ brachte ich nicht heraus.
„Ich meine, dass du nicht schmecken kannst und wohl auch nicht riechen!“, rief er, „Du hast ein ganzes Glas mit Salzwasser getrunken, ohne auch nur einen Laut darüber zu äußern. Es war zwar nicht besonders viel Salz darin, aber genug, dass jeder normale Mensch es bemerken müsste“
Ich wurde noch blasser als ich es ohnehin schon war.
„Es ist wahr“, gestand ich schließlich zögerlich ein, „Ich hatte einen Unfall. Bei einer Beschwörung hat eine tote Katze meinen Geschmacks- und Geruchssinn mitgenommen und seitdem entbehre ich wirklich dieser Fähigkeiten“
Demütig senkte ich den Kopf.
Anstatt mich wie erwartet dafür zu tadeln, dass ich damals einen solchen Fehler begangen hatte meinte mein Meister nur: „Du hättest es mir eher sagen müssen. Manchmal braucht ein Schwarzmagier diese Sinne. Dir hätte weiß Gott was passieren können“
„Entschuldigen Sie“, murmelte ich betreten. Dann legte ich die Stirn in Falten.
„Wie sind sie überhaupt drauf gekommen?“, fragte ich.
Er zuckte die Schultern.
„Ich hatte da so ein Gefühl, außerdem ließen dein Nichtinteresse an Essen und deine Kaltblütigkeit gegenüber scheußlichen Gerüchen gewisse Schlüsse zu. Heute habe ich schließlich Wilson befohlen, dein Wasser mit ein wenig Salz zu versetzen um dich auf die Probe zu stellen“
Deswegen also der seltsame Blick des Butlers. Mein Meister war ein gerissener Hund.
Jetzt saß er mit seinem typischen, nachdenklichen Ausdruck auf dem Gesicht da, die Fingerspitzen aneinander gelegt und schien sich schon wieder mit etwas anderem zu beschäftigen.
„Aus gegebenem Anlass heraus sollten wir uns heute wohl ein wenig mit Verteidigungs- und Angriffszaubern beschäftigen“, meinte er schließlich.
Ich grinste. Das klang vielversprechend und interessant.
Mein Meister zog die Augenbrauen hoch.
„Freu dich nicht zu früh!“, warnte er und zeichnete irgendeine Rune in die Luft. Ein eiskalter Wasserstrahl spülte mich von meinem Stuhl.
Hustend und spukend landete ich zwischen jetzt nassen Dokumenten, die hoffentlich nicht allzu wichtig waren. Wenigstens war keines der Bücher, die überall herumlagen von diesem Wasserschaden betroffen.
„Wie...“, setzte ich an und versuchte mich aufzurappeln, doch das dämonische Grinsen meines Meisters ließ mich innehalten. Im nächsten Moment wurde ich von einem Windstoß erfasst und in die Luft geschleudert, doch glücklicherweise fiel ich diesmal nicht auf den Boden, sondern blieb in der Luft hängen und einigermaßen trocken war ich auch wieder. Allerdings konnte ich mich nicht mehr bewegen, die Luft selbst schien mich festzuhalten.
„Wehr dich!“, forderte No-te Kadea und ich verfluchte im Stillen seine Lehrmethoden. Konnte er nicht wie jeder normale Mensch seinem Schüler erst alles erklären und es ihn dann langsam ausprobieren lassen? Mühsam versuchte ich, mir etwas auszudenken um mich aus dieser misslichen Lage zu befreien, doch leider erfolglos. Bei Anubis, wie schön es doch war, am Boden zu stehen, sicher auf der Erde.
Mit einem leisen Ächzen landete ich bäuchlings auf den dunklen Holzdielen, direkt vor No-te Kadeas Schreibtisch.
„Nicht schlecht, Kätzchen!“, meinte dieser und ich verstand nichts mehr.
Er streckte mir seine Hand hin und half mir auf, während er erklärte: „Du weißt ja, dass man Zauber grob in acht Kategorien einteilt“
„Feuer, Wasser, Erde, Luft, Schatten, Licht, Geist und Tod“, sagte ich brav auf, als er mich erwartungsvoll ansah.
Er nickte zufrieden und setzte seine Erklärung fort: „Wenn du mit einem Zauber angegriffen wirst musst du erkennen, um welche Art es sich dabei handelt und mit einem Zauber aus der jeweils gegenteiligen Kategorie antworten. Feuer gegen Wasser, Erde gegen Luft, Schatten gegen Licht, Geist gegen Tod und andersherum. Verstanden?“
Ich nickte brav. Jetzt war mir klar, wie ich es vorhin geschafft hatte, mich zu befreien. Ich hatte an Erde gedacht und dann auch noch nebenbei Anubis angerufen, den Gott, der mein Vater war und der mir versprochen hatte, mich mit Kraft zu unterstützen.
„Dann wollen wir doch mal sehen“, sagte mein Meister, „wenn ich versuche in deine Gedanken einzudringen und Kontrolle über dich zu übernehmen, um welche Art von Zauber handelt es sich und was tust du dagegen?“
„Geist, und dem müsste ich mit Tod begegnen. Aber ich weiß nicht wie“, gestand ich und gab mein Bestes um so schuldbewusst wie möglich dreinzusehen.
No-te Kadea seufzte genervt.
„Verdammt nochmal, überleg doch ein wenig, bevor du antwortest. Was gehört den zu der Kategorie Tod?“
Beinahe hätte ich unhöflich geschnaubt. Von wegen, wenn ich überlegt hätte, bevor ich geantwortet hätte, hätte er sich darüber beschwert, dass ich einfach zu langsam dachte. Leider kannte ich das schon zu genau. Aber statt meinen Meister darauf hinzuweisen gab ich mit lieber Mühe, seine Frage korrekt zu beantworten: „Zu Tod gehören Kältezauber ohne Wasser und Eis, Attacken auf den Körper des Gegners, wie zum Beispiel ein Versuch, sein Herz zum Stillstand zu bringen, und Leere“
„Na also, da haben wir es ja! Leere! Leere deinen Kopf und deinen Körper und er kann dich nicht kontrollieren. Auch gegen die unterschiedlichsten Illusionen hilft das. Wir werden es gleich ausprobieren“, sagte er und sein Gesicht nahm einen konzentrierten Ausdruck an. Schnell schloss ich die Augen, flüsterte das ägyptische Wort für Leere und stellte mir vor, was ich erreichen wollte. Glücklicherweise funktionierte das. Schon im nächsten Moment fühlte sich mein Körper seltsam anders an, wie ein einziges, großes schwarzes Loch und mein Bewusstsein war nur noch als winziger Funken darin vorhanden, der hin und her zu treiben schien. Trotzdem spürte ich die Angriffe der Macht No-te Kadeas und um sie zurückzuhalten wollte ich instinktiv meinen Zauber verstärken.
Eine sehr schlechte Idee. Denn dazu musste ich einen kurzen Moment die Leere aufgeben um genug Magie zusammenzubringen. Mein Meister nutzte das leider blitzschnell aus. Schon spürte ich seine Anwesenheit in meinen Gedanken, die ich eigentlich nicht mit ihm teilen wollte. Doch irgendwie fühlte sich das alles auch wieder gut an. Unwillkürlich musste ich daran denken, dass das beim Sex vielleicht gar nicht so übel war, es könnte das ganze Erlebnis ziemlich intensivieren, den anderen nicht nur körperlich zu spüren sondern auch geistig. Nicht, dass ich besonders viel darüber wüsste, schließlich war ich noch Jungfrau aber...
Verdammt! Was dachte ich da? Mit meinem Meister in meinem Kopf! Entsetzt riss ich die Augen auf. Er hatte sich wieder aus meinen Gedanken zurückgezogen und musterte mich fasziniert.
„Das ist eine grandiose Idee“, stellte er schließlich fest, „irgendwann werde ich das einmal versuchen!“
Ich verbarg nur mein glühendes Gesicht hinter meinen Händen. Warum dachte man auch immer an das, an das man nicht denken sollte. Aber es hätte schlimmer kommen können, wenn er zum Beispiel mitbekommen hätte, dass ich inzwischen jedes Mal bei seinem Anblick Mühe hatte, die übermütigen Schmetterlinge in meinem Bauch wieder auszurotten.
„Kätzchen, das muss dir nicht so fürchterlich peinlich sein“, meinte No-te Kadea schließlich ernst und zog mir die Hände vom Gesicht.
„Der Mann, der einmal dein Erster sein darf, muss sich als die glücklichste Person der Welt ansehen. Und wenn er es nicht tut, dann sorge ich höchstpersönlich dafür, dass er es bereut!“
Wunderbar, dass war jetzt noch besser dazu geeignet, mich nicht mehr vor Scham im Boden versinken zu lassen! Flammende Röte bedeckte meine Wangen.
„Wenn ich dich mit einer Stichflamme angreife, was tust du dann?“, fragte da mein Meister und ich riss mich zusammen. Allerdings war ich die ganze restliche Stunde über mehr als unkonzentriert und froh, als er mich endlich entließ.

Fünftes Kapitel


Gnade




„Gnade!“, war mein einziger Gedanke, als es am nächsten Morgen um fünf vor fünf an meiner Tür klopfte, beziehungsweise hämmerte.
„Kätzchen! Zeit schwimmen zu gehen!“, rief Meister Kadea und ich überlegte fieberhaft, ob es eine Möglichkeit gab, sich krank zu zaubern ohne ernsthafte Schäden davonzutragen, gerade genug um nicht schwimmen und nicht seinen Meister sehen zu müssen. Leider fiel mir nichts ein.
Brummend setzte ich mich auf, warf ein Kissen nach der Tür, rutschte aus dem riesigen Himmelbett und rief: „Ich komm ja schon!“
„Nächstes Mal wieder mit dem richtigen Fuß aus dem Bett steigen!“, kam die Antwort von draußen und seine Schritte verhallten auf dem Gang.
Missmutig putzte ich mir die Zähne und schlüpfte schließlich in den grässlichen Bikini mit den albernen Punkten. Dann huschte ich durchs Haus zum Pool.
No-te Kadea saß wieder am Beckenrand, diesmal verspeiste er allerdings gerade noch eine Orange von einem der zahlreichen Bäume hier.
„Du kannst auch eine haben“, sagte er, „aber erst wenn du geschwommen bist“
Gut, dass ich gar keine wollte. Langsam ließ ich mich ins Wasser gleiten, hielt mich aber am Rand fest. Ich würde sicher nicht schwimmen, solange mein Meister noch aß und somit viel zu abgelenkt war um mich zu retten. Wenn er sich zwischen seiner Orange und mir entscheiden müsste, würde er bestimmt die Orange nehmen.
Irgendwann hatte er sie zur Gänze vernichtet und legte die übrig gebliebenen Schalen einfach an den Beckenrand, frei nach dem Motto: „Wilson wird sie schon aufheben“ oder er dachte sich gar nichts dabei und folgte nur seinen Instinkten, die in seinem chaotischen Arbeitszimmer unverfälscht zum Ausdruck kamen. Leider machten in diese Angewohnheiten nicht weniger attraktiv. Elegant glitt er ins Wasser und schwamm zu mir herüber.
„Komm Kätzchen, du musst nur die Bewegungen machen, die ich dir gestern gezeigt habe!“, sagte er.
„Katzen sind wasserscheu“, brummte ich und machte mich daran, genug Mut zu sammeln um den Rand loszulassen.
Kadea lachte: „Soll ich dich lieber Meerkätzchen nennen? Kannst du dann besser schwimmen?“
Ich spritze nach ihm.
Er lachte, dann glitt eines seiner teuflischen Grinsen über sein Gesicht.
„Du hast es so gewollt“, knurrte er und tauchte mich.

„Das war gemein!“, klagte ich, nachdem er mir endlich Gnade erwiesen und mich wieder heraus gefischt hatte. Eine Hand an die Sandsteinbegrenzung des Beckens geklammert versuchte ich mit der anderen das Wasser aus meinen Augen, meiner Nase und vor allem meinen Ohren zu bekommen.
„Entschuldige“, lachte mein Meister und ich funkelte ihn wütend an. Noch einmal versuchte ich, nach ihm zu spritzen, aber leider erwischte ich ihn nicht. Das war so unfair, dass er so gut schwimmen konnte und ich nicht.
Jetzt trieb er gerade einfach mit geschlossenen Augen im Wasser, mitten im Pool. Nach kurzer Überlegung und einer genauen Abschätzung der Entfernung und meiner nautischen Fähigkeiten beschloss ich, dass ich es bis dahin schaffen konnte.
Mühsam und möglichst bemüht, leise zu sein stieß ich mich von Beckenrand ab und kämpfte mich die wenigen Züge bis zu ihm hin. Dann hing ich mich an ihn und versuchte, ihn mit meinem ganzen Gewicht unter Wasser zu ziehen. Es gelang mir sogar. Doch nur allzu schnell hatte er sich wieder befreit und knurrte: „Na warte, Kätzchen, wenn ich dich erwische!“
Hastig kletterte ich aus dem Pool, da meine Chancen gegen ihn abzukommen an Land doch noch etwas höher standen, als im Wasser. Er folgte mir bereits dicht auf, jagte mich um mehrere Palmen und Zitrusbäume herum, bis er mich schließlich eingeholt hatte. Ich wand mich in seinem tropfnassen Griff, kicherte und kreischte und er lachte. Dann ließ er mich in hohem Bogen zurück in den Pool segeln.
Als ich mich endlich gerettet hatte, kauerte er grinsend am Rand und beobachtete meine kläglichen Schwimmversuche.
„Langsam wird es doch!“, meinte er fröhlich, „du kannst schon fast richtig schwimmen“
Ich hustete zur Antwort nur, weil ich schon wieder Wasser geschluckt hatte.
Als ich endlich die Leiter erreicht hatte, sagte er: „Morgen machen wir weiter, dann wirst du schwimmen und tauchen wie ein Fisch“
Nach einen kurzen Moment des Überlegens fügte er schließlich noch hinzu: „Na ja, vielleicht wie ein toter Fisch“
Dafür liebte ich meinen Meister, er konnte so herrlich charmant sein! Wenigstens war er so freundlich, mir mein Handtuch zu reichen, als ich aus dem Pool stieg. Trotzdem war ich ihm noch für seinen Fisch-Kommentar beleidigt und schritt deswegen stolz davon. Er blieb lachend zurück. Einen seltsamen Humor hatte dieser Mensch!

Einige Zeit später ging ich geduscht und richtig angezogen hinunter in die Küche. Ich wollte mich an den Esstisch zu No-te Kadea setzen, doch ich konnte der Versuchung, vorher mein Spiegelbild in der Scheibe des hohen Fensters daneben zu betrachten, nicht widerstehen. Ich hatte mir heute Mühe gegeben und mein Haar zu einem etwas komplizierteren Zopf geflochten, der sich insgesamt dreimal wie ein Kranz um meinen Kopf wand. Bis auf ein paar kleine Fehler war mir das sogar ganz gut gelungen und das langärmlige, schwarze Oberteil mit den vielen, in allen Farben des Regenbogens schimmernden Pailletten gefiel mir auch erstaunlich gut, sogar an mir.
„Sie sehen fantastisch aus, Fräulein Lamont“, meinte Wilson lächelnd und schenkte Tee in meine Tasse. Ich dankte ihm mit einem fröhlichen Grinsen und strich noch einmal, bestimmt zum zwanzigsten Mal heute, meine Kleidung glatt. Dann setzte ich mich zum Frühstück.
Mein Meister bekam von all dem gar nichts mit, anscheinend war er viel zu sehr von der Zeitung fasziniert, die ausgebreitet vor ihm auf dem Tisch lag. Auf ein Gespräch mit ihm sollte ich wohl erst einmal nicht hoffen. Ich widmete mich also lieber dem Früchtequark, den Wilson mir hingestellt hatte.
„Verdammt!“, rief da plötzlich Meister Kadea und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Vor Schreck ließ ich meinen Löffel fallen und ein Stück Erdbeere mit Jogurt landete auf meiner dunkelroten Hose. Ich stöhnte. Wehe mein Meister hatte mir jetzt nichts Bewegenderes mitzuteilen als die aktuellen Börsenkurse.
Doch er schob mir einfach die Zeitung hinüber, begleitet von der Aufforderung: „Lies!“
Ich beugte mich über den Artikel, auf den sein Finger zeigte und überflog rasch die Zeilen. Es ging um einen Mord in einem Reihenhaus in Edinburgh, ein Mann war getötet und grausam verstümmelt worden, blutige Hieroglyphen bedeckten die Wand. Ich konnte mir schon denken, was sie bedeuteten. Wir mussten aber wohl trotzdem herausfinden, wo genau der Mord geschehen war und uns dann mit Totenbeschwörermethoden den Tatort ansehen.
Als mein Blick auf das Bild neben dem Text, das das Haus zeigte, fiel, wurde mit klar, dass wir uns das herausfinden sparen konnten. Ich kannte das Haus.
„Verdammt!“, keuchte jetzt auch ich.
Das war mein Elternhaus!
„Wir müssen da hin!“, rief ich und sprang auf.
No-te Kadea nickte und eilte mir voraus. In der Eingangshalle warf er mir meinen Mantel zu und schlüpfte selbst in seinen. Royce wartete wie immer mit dem Wagen vor dem Haus und hielt uns die Türen auf.
„Zum Hohen Rat?“, erkundigte er sich, als wir Platz genommen hatten.
„Nein“, entgegnete mein Meister, „zu Cailins Haus“
Royce nickte.
Wir schwiegen die ganze Fahrt über. Ich war viel zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt. Unruhig rutschte ich hin und her. Der Tote konnte nur mein Vater sein, wer sonst? Aber warum? Wieso er? Aber vielleicht war es, so unwahrscheinlich das auch klang, doch jemand anderes. Nervös wippte ich mit dem Fuß. Ich verbot mir, weiter darüber nachzudenken, bis ich nicht Klarheit über all das hatte. Und irgendetwas empfinden wollte ich erst einmal schon gar nicht.

Schließlich hielt Royce den Wagen in einer Querstraße an. Schon von weitem hatten wir die vielen Polizeiautos vor Vaters Haus entdeckt. Das war ein ganz neues Problem, dass ich bisher noch nicht bedacht hatte. Wie sollten wir uns den Tatort ansehen, wenn es dort vor Polizisten nur so wimmelte? Doch Meister Kadea schien sich da keine Sorgen zu machen. Ihn beschäftigte etwas anderes. Er wartete, bis ich ebenfalls ausgestiegen war und neben ihm auf dem Bürgersteig stand, dann legte er mir eine Hand auf die Schulter.
„Bist du sicher, dass du das schaffst, Kätzchen? Ich kann auch alleine gehen“, sagte er.
„Ich bin eine Totenbeschwörerin“, erwiderte ich und straffte die Schultern.
Er schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und meinte: „Dann hör mir jetzt gut zu. Wir müssen da rein ohne bemerkt zu werden und das funktioniert eigentlich ganz einfach mit einem schlichten Illusionszauber: gaukle den Leuten vor, dass du nicht da bist, lösche dich aus ihrer Wahrnehmung. Die einzige Schwierigkeit dabei ist, dass du deine Magie über einen guten Quadratkilometer weit aussenden musst, damit es jeden erreicht. Und mich solltest du nicht erwischen“
Anubis steh mir bei, das klang anstrengend. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich.
„Lege genug Kraft dahinter“, meinte mein Meister noch.
Ich stellte mir vor, was ich erreichen wollte, wie sich mein Zauber um mich herum ausbreitete und nur meinen Meister und mich aussparte. Hätte ja gerade noch gefehlt, dass ich mich selber nicht mehr wahrnahm. Dann breitete ich ruckartig die Arme aus und rief das ägyptische Wort für „nichts“.
„Dürfte gewirkt haben“, bemerkte No-te Kadea anerkennend, als ich die Augen wieder öffnete, „du hast es im Blut. So instinktiv wie du können nur wenige Schwarzmagier zaubern“
Erfreut grinste ich ihn an, doch er hob warnend den Zeigefinger.
„Bilde dir da jetzt bloß nichts drauf ein, Kätzchen. Ich kann das auch“, sagte er und präsentierte mir das übermütige, unverschämte Grinsen, das er immer trug, wenn er es wieder nicht hatte lassen können, mich zu necken.
Da mir keine passende Antwort einfiel schüttelte ich nur den Kopf und schritt dann neben ihm her den Bürgersteig entlang.
Als wir näher an die Polizeiwägen herankamen wurden wir wieder ernst. Ich begann unruhig mit dem Ersatzknopf zu spielen, der irgendwie in meiner Manteltasche gelandet war, als ich das Kleidungsstück zum ersten Mal getragen hatte und seitdem dort sein Dasein fristete.
No-te Kadea hob das blaue Absperrband an und bedeutete mir, darunter hindurch zu schlüpfen. Niemand würdigte uns auch nur eines Blickes. Anscheinend hatte der Zauber gewirkt. Niemand hinderte uns als wir durch die Eingangstür in den schmalen Flur traten. Dort mussten wir uns zwar kurz an die Wand drücken, um einen Polizisten vorbeizulassen, ansonsten kamen wir ungehindert bis ins Wohnzimmer, wo sich gerade keiner aufhielt.
Die Leiche war bereits mit einem Tuch verdeckt, bald würde sie wohl abtransportiert werden.
„Bist du bereit?“, fragte mein Meister und ich schluckte. Dann nickte ich. Er schlug den Stoff zurück.
Es war mein Vater, blutüberströmt und verstümmelt. Ich begann zu zittern. No-te Kadea untersuchte den toten Körper mit geübten Handgriffen, ich konnte nicht zusehen. Schnell wandte ich den Blick ab. Und begann dumerweise die Hieroglyphen an der Wand zu lesen. Diesmal stand etwas anderes dort.
„Ich erwische dich, meine Kleine, und dann wirst du um Gnade betteln“
Ich stieß einen leisen Schrei aus.
„Was ist?“, fragte mein Meister und sprang auf. Auch er las die Hieroglyphen.
„Er weiß es“, flüsterte ich panisch, „Er weiß, dass ich Anubis' Auserwählte bin!“
Meine Augen waren schreckensgeweitet und ich stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Nicht nur, dass der Mann tot war, den ich siebzehn Jahre meines Lebens für meine Vater gehalten hatte und wenn auch nicht geliebt, so doch irgendwie gemocht hatte, jetzt war auch noch sein Mörder hinter mir her, hatte ihn wahrscheinlich nur getötet, um mich zu treffen. Alle Totenbeschwörerideale halfen nicht, ich begann heftig zu schluchzen, wollte mich nur in die Ecke kauern und nie wieder aufstehen.
Doch plötzlich legte No-te Kadea seine Arme um mich.
„Alles ist gut, Kätzchen“, murmelte er und strich mir zärtlich übers Haar, „Ich werde dich beschützen und wenn ich dazu gegen sämtliche altägyptische Götter auf einmal kämpfen muss.“
„'Alles ist oder wird gut' ist glaube ich die häufig Lüge der Welt“, schluchzte ich an seine Schulter gelehnt.
Er lachte leise und ich konnte die Vibrationen in seinem Brustkorb spüren.
„Vielleicht Kätzchen. In Filmen und Büchern auf jeden Fall, aber darüber werde ich nicht mit dir an einem Tatort neben einem Toten diskutieren. Wir fahren jetzt erst einmal nach Hause“, sagte er und zog mich mit sich.
Widerstandslos ließ ich mich von ihm ins wartende Auto verfrachten.
„Wo soll es hingehen, Meister Kadea?“, erkundigte sich Royce, „Nach Hause?“
Zuerst nickte mein Meister, doch dann rief er plötzlich: „Nein, ich weiß etwas besseres! Warst du schon einmal im botanischen Garten, Kätzchen?“
Ich schüttelte nur müde den Kopf. Warum auch, wozu sollte ich mir langweilige Pflanzen ansehen? Doch ich erhob keinen Einspruch, Dort würde uns der Mörder wenigstens auf keinen Fall suchen.
Es war nicht weit. Bald darauf sah ich schon die hohen Bäume und die gewaltigen Gewächshäuser vor mir aufragen und No-te Kadea lotste mich hinein.

Die Pflanzen waren nicht langweilig. Es war fantastisch, diese Farbenpracht und Vielfalt, ich kam mir vor wie auf einer Reise um die Welt. Palmen, Kakteen, Seerosen, Schlingpflanzen und tropische Blumen und all diese Schönheit durfte ich auch noch am Arm meines Meisters genießen. Er hatte sich wie um mich zu stützen und mir Halt zu geben bei mir eingehakt und führte mich so durch die Glashäuser. Er wusste viel zu gut, wie leicht ich abzulenken und glücklich zu machen war. Bloß schade, dass es schon November war, zu gerne hätte ich die Außenanlagen früher im Jahr bewundert, wenn alles grün und lebendig war.
Ich betrachtete gerade gedankenversunken einen besonders hübschen Teich mit großen Koi-Karpfen, weißen Blüten und glänzenden runden Seerosenblättern darin, als eine andere Besucherin Meister Kadea plötzlich etwas fragte.
Er lächelte freundlich und erwiderte: „Noch nicht so lange, erst seit zwei Monaten und genau drei Tagen.“
Die alte Frau nickte.
„Schön, wenn man so jung und glücklich ist. Na ja, einen schönen Tag noch“, meinte sie und zwinkerte mir verschwörerisch zu, bevor sie langsam davonging.
Ich wandte mich verständnislos zu meinem Meister um und als die Frau außer Hörweite war wollte ich wissen: „Was hat sie Sie gefragt?“
Er grinste.
„Sie meinte nur, dass wie ein unglaublich hübsches Paar abgäben und ob wir verheiratet wären und wenn, wie lange“
Ich stöhnte. Dieser Mann hatte so einen eigenartigen Sinn für Humor! Natürlich dachte er jetzt erst recht nicht mehr daran, mich wieder loszulassen.
Ich hatte aber auch nicht vor, ihm mitzuteilen, dass ich wieder alleine gehen konnte. Inzwischen hatte ich beschlossen, dass ich nehmen würde, was ich von ihm bekommen konnte. Ich schaffte es nämlich einfach nicht, mir meine Gefühle für ihn aus dem Kopf zu schlagen. Jedes Lächeln, jedes Wort von ihm ließ die Schmetterlinge in meinem Bauch Tango tanzen. Und wenn er mich berührte schien mein Herz meinen Brustkorb sprengen zu wollen. Und dass er einfach fremden Leuten erzählte, wir wären verheiratet ohne mich zu fragen änderte daran natürlich auch nichts.
„Fast so schön wie meine Orangerie!“, bemerkte er schließlich, als wir die Gewächshäuser wieder verließen.
Ich kicherte und boxte ihn gegen die Schulter.
„Angeber“
„Leider. Ein unverbesserlicher“, lachte er, „Und weil ich so ein fürchterlicher Angeber bin werde ich dich jetzt in das teuerste Restaurant einladen, dass mir einfällt“
Erschreckt sah ich ihn an.
„Ich glaub Ihnen auch so, dass Sie außergewöhnlich reich sind, wir können auch irgendwo hingehen, wo es billiger ist“, erklärte ich.
Er lachte: „Ich möchte nicht da hin, um dich mit meinem Geld zu beeindrucken, ich möchte die anderen Menschen im Restaurant damit beeindrucken, dass so ein hübsches Mädchen wie du mit mir essen geht!“
Erst musterte ich ihn erstaunt und überlegte, ob er blind geworden oder den Verstand verloren hatte, dann wurde ich rot.
„Meister, meine Tischmanieren sind aber nicht dazu geeignet, Leute zu beeindrucken“, wandte ich schließlich ein.
Er legte die Stirn in Falten und gab vor, nachzudenken.
„Kein Problem!“, entgegnete er endlich, „Da du sowieso nichts schmecken kannst wählst du dein Menü einfach danach aus, wie leicht es zu essen ist“
„Nein!“, protestierte ich, um ihn von dieser dämlichen Idee abzubringen, „Da ich sowieso nichts schmecke wäre ein teures Restaurant für mich reine Verschwendung“
„Für mich aber nicht! Royce, du weißt wohin!“, rief No-te Kadea und ich konnte nur ergeben ins Auto steigen.

„Können Sie mir bitte die Speisekarte übersetzen?“, forderte ich meinen Meister auf nachdem wir von einem Pinguin ähnlich gekleideten Ober an unseren Tisch geführt und mit Karten versorgt worden waren.
Er bekam einen fürchterlichen Lachanfall, der sich für so ein nobles Restaurant sicher nicht schickte.
„Soll ich für dich bestellen?“, fragte er dann.
„Nein!“, protestierte ich entsetzt. Am Ende blieb ich noch auf Austern sitzen und ich glaube kaum, dass sich Austern im Mund gut anfühlten. Ihn würde ich sicher nicht für mich aussuchen lassen.
„Ich will einfach das billigste“, stellte ich also klar.
No-te Kadea nickte und irgendwie beschich mich ein ungutes Gefühl, aber der Ober tauchte gerade wieder neben uns auf und mein Meister begann bereits zu bestellen, Sachen die ich nicht kannte. Langsam bekam ich es mit der Angst zu tun.
„Meister...“, begann ich, doch schon war der dämliche Kellner wieder da und stellte bereits unsere Getränke vor uns hin.
„Was ist das?“, fragte ich skeptisch und beäugte kritisch die rote Flüssigkeit in meinem Glas.
„Portwein“, entgegnete mein Meister, „wenn du schmecken könntest würde dir das schmecken, süß und schwer.“
„Ein Wasser hätte auch gereicht!“, beschwerte ich mich.
„Wasser gibt es eine ganze Karaffe gratis dazu“, entgegnete er und hob sein Glas.
„Auf die Macht, das Geld und die schwarze Magie“, sagte er, mir zuprostend.
Ich kicherte. Man konnte sich, wenn man ihn so ansah regelrecht vorstellen, wie eine ganze Horde schwarzgekleideter, finsterer Männer ihre Gläser erhob und seinen Satz mit vollem Ernst wiederholte. Vielleicht bei der Totenbeschwörer-Jahreshauptversammlung im Hohen Rat.
„Ist das ein Totenbeschwörer Trinkspruch?“, fragte ich.
„Eher ein Toast, Kätzchen. Trinksprüche nennt man solche Sätze, auf die sich die ganze Mannschaft ihren Schnaps hinunterkippt. Aber ich finde es sehr beruhigend, dass du den Unterschied nicht kennst. Das zeugt von deiner Unschuld und davon, wie brav du bist“
Jetzt war es an ihm zu kichern. Ich lief nur rot an. Doch dann riss ich mich zusammen und erkundigte mich: „Kennen Sie denn Trinksprüche, Meister?“
Ich versuchte dabei so erstaunt und entsetzt wie möglich auszusehen und nebenbei noch unschuldig mit den Augen zu klimpern.
Entweder es gelang mir ganz gut oder es endete als absoluter Fehlschlag, beides ließ sich aus der Reaktion No-te Kadeas schließen, der beinahe an seinem Getränk erstickte.
„Natürlich“, erwiderte er schließlich immer noch grinsend, „aber ich weiß nicht, ob ich dir so etwas sagen kann, ich soll doch dein Vorbild sein“
„Bitte!“, flehte ich.
Er wartete einen Moment, wahrscheinlich um mich noch ein wenig zu ärgern, dann gab er nach: „Meinetwegen. Aber wenn ich dich jemals dabei erwische, wie du diesen dämlichen Spruch beim Saufen benutzt, dann...“
Er stockte und schien zu überlegen, was wohl eine adäquate Strafe für dieses Vergehen war, schließlich fuhr er fort: „Dann werde ich dafür sorgen, dass du am nächsten Morgen so unter deinem Kater leidest, dass du nie wieder auch nur einen Tropfen Alkohol anrührst“
„Damit kann ich leben“, erwiderte ich und lehnte mich gespannt nach vorne.
Mein Meister grinste, räusperte sich und begann dann zu meinem Erstaunen tatsächlich zu singen:
„Es war einst ein Totenbeschwörer, jung und hübsch von Angesicht,
mächtig war er, gut gebaut und auch an Geld fehlte es ihm nicht.
Doch, ach, wie grausam ist die Welt,
er verspielte all sein Geld.
Drum suchte er an Isis' Busen Trost,
1,2,3 Prost!“
Er hob sein Glas, prostete mir zu und nahm einen großen Schluck.
„Eigentlich müssten wir jetzt beide einen Schnaps trinken, aber da das Lied noch mehr Strophen hat, die du zweifellos auch noch hören willst und ich fürchte, dass du nicht so viel Alkohl verträgst, werden wir das bleiben lassen“, sagte er dann.
„Aber Sie werden mir die anderen Strophen schon noch vorsingen!“, rief ich und No-te Kadea kicherte.
„Doch Göttinnen sind wankelmütig, niemals treu,
und ist ein Spielzeug nicht mehr neu,
wollen sie's schon nicht mehr haben,
wollen es nie wiedersehn,
man sieht sie stolz von dannen gehn.
Schon war der Totenbeschwörer wieder allein,
drum ließ er sich mit Venus ein.
Suchte an ihren Lippen Trost,
1,2,3 Prost!“
Wieder hob er sein Glas und ich tat dasselbe mit meinem Wasser, allerdings ist es gar nicht so einfach zu trinken, wenn man eigentlich lachen muss.
Mein Meister schien sich auch sehr zusammenreißen zu müssen um noch singen zu können.
„Doch Göttinnen sind wankelmütig, niemals treu,
und ist ein Spielzeug nicht mehr neu,
wollen sie's schon nicht mehr haben,
wollen es nie wiedersehn,
man sieht sie stolz von dannen gehn.
Der Totenbeschwörer wollte nicht allein sein müssen,
drum ließ er sich von Aphrodite küssen.
Suchte in ihren Augen Trost,
1,2,3 Prost!

Doch Göttinnen sind wankelmütig, niemals treu,
und ist ein Spielzeug nicht mehr neu,
wollen sie's schon nicht mehr haben,
wollen es nie wiedersehn,
man sieht sie stolz von dannen gehn.
Der Totenbeschwörer lernte draus
und probierte etwas andres aus.
Suchte in Apollos Armen Trost,
1,2,3 Prost!

Doch auch Götter sind wankelmütig, niemals treu,
und ist ein Spielzeug nicht mehr neu,
wollen sie's schon nicht mehr haben,
wollen es nie wiedersehn,
man sieht sie stolz von dannen gehn.
Der Totenbeschwörer sah nun ein,
Sex konnte nicht die Lösung sein,
im Alkohol allein liegt Trost
und darum: Prost!“
Hoffentlich hatten uns die anderen Gäste nicht gehört, das hier war sicher kein Lied für so ein edles Restaurant. Aber es war lustig, vor allem, wenn ich mir dabei meinen Meister vorstellte, wie er es zusammen mit bereits sehr angetrunkenen Totenbeschwörerkollegen bei einer Betriebsfeier des Hohen Rates grölte.

Wir waren immer noch äußerst gut gelaunt, als wir wieder bei ihm zu Hause ankamen. Das Essen hatte sich als genießbar herausgestellt, obwohl ich schon wieder vergessen hatte, wie es hieß. Hoffentlich kam No-te Kadea nicht auf die Idee, mein Wissen diesbezüglich abzufragen. Aber im Moment sah es nicht danach aus. Er hielt mir höchstpersönlich die Haustür auf und Wilson kam sofort herbei um uns unsere Mäntel abzunehmen.
Doch anstatt sie wie gewöhnlich sofort an den Garderobenhaken zu hängen, blieb er stehen und meinte:
„Meister Kadea? Sie haben Besuch, die Dame erwartet sie im Wohnzimmer“
Besuch? Eine Dame? Ich konnte es nicht verhindern, dass Eifersucht in mir hochkochte. Hatte mein Meister eine Geliebte? Ich hatte daran bis jetzt noch keinen Gedanken verschwendet, aber es war eigentlich logisch. Er war nun mal ein verdammt gut aussehender, reicher, witziger Mann, der auch noch unglaublich charmant sein konnte, natürlich hatte er das.
Allerdings sprach sein verwunderter Gesichtsausdruck dagegen.
„Eine Dame?“, fragte er, „Wer ist sie?“
Bevor Wilson antworten konnte flog die Tür auf und eine junge, schöne Frau, höchstens drei Jahre älter als ich, kam mit einem fröhlichen Aufschrei in den Raum gestürmt. Der Butler konnte ihr gerade noch ausweichen, No-te Kadea hatte weniger Glück. Schwungvoll stürtzte sie sich in seine Arme, woraufhin beide, von der Wucht ihres Ansturms getrieben auf dem Boden landeten.
Die Frau hatte sich aber schnell wieder aufgerappelt und zog jetzt mich in eine mörderische Umarmung. Erstaunt schnappte ich nach Luft.
„Vorsichtig, du zerquetscht sie ja!“, ließ sich da mein Meister vernehmen, der es inzwischen auch geschafft hatte aufzustehen.
„Klappe, Wuffi!“, rief die Frau, ließ mich aber trotzdem los und musterte mich von oben bis unten.
Ich musste trotz meines stark erschütterten Zustandes lachen. Sie nannte No-te Kadea, „den schwarzen Hund“, mächtigsten Totenbeschwörer von Edinburgh „Wuffi“! Aber wer war sie?
Ich unterzog sie ebenfalls einer gründlichen Musterung und stellt fest, dass mich mein erster Eindruck nicht getäuscht hatte, sie war wirklich schön. Ihre Haare waren braun und fielen in sanften, glänzenden Wellen auf ihre Schultern, ihr Augen waren grau und strahlend, ihr Teint perfekt, genauso wie ihr dezentes Make-up und ihre Figur in der modernen, engen braunen Hose, der ebenfalls braunen Weste, der weißen Tunika und den schwarzen, hohen Schnürstiefelletten, um die ich sie wirklich beneidete. Und ihre Züge kamen mir irgendwie vage bekannt vor.
„Cailin, das ist meine Halbschwester Mia Mercy Faol“, sagte mein Meister.
„Hi, nenn mich bitte Mia, mein Bruder hat keine Ahnung davon, wie man jemanden richtig vorstellt“, sagte seine Schwester und zwinkerte mir zu.
No-te Kadea ignorierte ihren Zwischenruf und fuhr unbeirrt fort: „Mia, das ist meine Adeptin Cailin Lamont“
„Hi. Freut mich, dich kennenzulernen“, brachte ich mühsam hervor. Ich fühlte mich im Moment etwas überrumpelt von diesem fröhlichen, hübschen, leicht überdrehten, aber wirklich coolen Mädchen, dass die Halbschwester meines Meisters war.
Sie schien in diese Hinsicht keinerlei Probleme zu haben.
„Dann hab ich endlich vernünftige Gesellschaft, wenn ich hier bin und nicht nur meinen öden Bruder!“, rief sie begeistert aus.
„Untersteh dich!“, meinte mein Meister trocken, „Cailin ist nicht zum Spaß hier, im Gegensatz zu dir hat sie Aufgaben, die erledigt werden müssen und Stoff, der gelernt werden soll“
„Spielverderber!“, lachte seine Schwester, hakte sich bei ihm und mir ein und zog uns mit sich in Richtung Küche und Esszimmer.
„Was hast du vor?“, fragte No-te Kadea skeptisch.
Sie marschierte unbeirrt weiter, bugsierte uns durch die Tür und zum Esstisch.
„Ich habe Wilson gebeten, mir noch etwas zu Essen zu machen, ich habe Hunger“, ließ sie uns dann endlich ihre Pläne zu Teil werden.
Ich wollte entgegnen, dass wir gerade erst gegessen hätten, doch mein Meister kam mir zuvor.
„Gute Idee! Was gibt es denn? Es reicht doch sicher auch noch für uns“, meinte er und ließ sich auf einen Stuhl sinken.
Wie konnte er nur schon wieder etwas essen wollen? Und dann auch noch annehmen, dass ich ebenfalls etwas wollte.
Mühsam unterdrückte ich mein mit Entsetzen gepaartes Erstaunen und sagte: „Entschuldigen Sie, Meister, aber ich möchte nichts. Ich bin noch satt von vorhin“
„Setz dich doch trotzdem zu uns“, erwiderte er, „und keine Angst, ich werde dich schon nicht zwingen, von den Köstlichkeiten, die Wilson zweifellos aufträgt, zu nehmen“
Der Butler war natürlich bereits emsig in der Küche beschäftigt. Ich fragte mich, ob er, jetzt, da zwei Mitglieder dieser Familie im Haus waren, überhaupt noch Zeit für etwas anderes als Kochen finden würde, aber vielleicht war Mia ja nicht so schlimm wie mein Meister.
Der fragte gerade: „Was verschafft mir denn eigentlich die Ehre deines Besuchs, Schwesterherz?“
„Ob du es glaubst oder nicht, aber ich hab dich vermisst“, entgegnete sie und drückte ihm einen Kuss auf die Wange,
Er grinste.
„Ich weiß, jeder würde mich vermissen!“
Dafür verpasste sie ihm einen Schlag gegen den Hinterkopf und schnaubte:
„Einbildung ist auch eine Bildung, Wuffi. Ich habe gerade eine Rundreise durch Europa geplant, da dachte ich, ich schau mal vorbei“
„Eine Rundreise durch Europa?“, schaltete ich mich ein, „Wo fährst du überall hin?“
Es viel mir schwer, das Du über die Lippen zu bringen, es gab nicht viele Leute in meinem Leben, die ich duzen durfte. Genau genommen nur sie und meinen Vater und der war jetzt tot, Freunde hatte ich keine. Schon im Kindergarten war ich eher der einzelgängerische Typ gewesen und danach, ab meinem Schulbeginn, hatte Meister Ha-duri Na begonnen, mich auszubilden und ich hatte den Kontakt zu anderen Kindern gemieden, aus Angst, mich zu verraten. Eine höhere Schule hatte ich nie besucht, Totenbeschwörer löschten mithilfe einiger, nicht einmal sehr komplizierter Zauber ihre Adepten aus sämtlichen offiziellen Aufzeichungen und bildeten sie selbst weiter aus. Der Vorteil dabei war, dass man dann später auch keine Steuern zahlen musste.
„London, Paris, Madrid, Lissabon, Rom, Berlin, Wien, Kopenhagen, Prag und Budapest“, erzählte Mia inzwischen begeistert, „Ich mache eine Hauptstädte-Tour, zehn Wochen lang“
„Ich hoffe, du wirst dir auch ein wenig Kultur zu Gemüte führen“, brummte ihr Bruder, „du solltest dich wirklich mehr in Museen oder Bibliotheken aufhalten, statt dich in Einkaufszentren oder auf Partys herumzutreiben. Bildung ist wichtig“
Von weiteren, weltbewegenden Erkenntnissen wurde er glücklicherweise durch Wilson abgehalten, der einen großen Topf auf den Tisch stellte.
Mein Meister beugte sich quer über den Tisch um den Deckel zu heben und einen Blick auf den Inhalt zu erhaschen. Auch seine Schwester neigte sich neugierig nach vorne.
„Es ist leider nur ein Eintopf“, meinte Wilson bedauernd, „aber Fräulein Mia sagte, es solle schnell gehen“
„Das ist perfekt“, nuschelte No-te Kadea, den Mund bereits voll.

Ich hätte nie gedacht, dass sie es schaffen würden, den riesiegen Topf leer zu essen, doch es gelang ihnen tatsächlich. Mir wurde schon vom Hinsehen schlecht.
„Kann ich dir irgendwie helfen, Wilson?“, fragte Mia nachdem sie endlich ihren Teller von sich geschoben hatte.
„Sehr freundlich von Ihnen, junges Fräulein“, entgegnete der und reichte ihr ohne Umschweife ein Geschirrtuch.
Meister Kadea grinste zufrieden.
„Beschäftigen Sie sie nur möglichst lange, damit sie keinen Unsinn anstellt. Ich habe zu tun und kann nicht auf sie aufpassen“
Prompt flog ein Geschirrtuch durch die Küche, verfehlte No-te Kadea aber knapp, weil er sich rechtzeitig duckte.
„Komm mit“, sagte er zu mir und verließ die Küche, bevor seine Schwester einen neuen Angriff starten konnte.
„Das zahl ich ihm noch zurück“, meinte sie und zwinkerte mir zu. Ich konnte nicht anders, als sie anzugrinsen, dann musste ich mich beeilen, um meinen Meister einzuholen. Er hatte bereits die Eingangshalle durchquert und strebte der Tür zu, die in das Treppenhaus führte, durch das man in sein Arbeitszimmer kam. Doch er ging nicht, wie erwartet hinauf, sondern hinunter, in seinen Keller. Gespannt folgte ich ihm. Wenn man in den Häusern von Totenbeschwörer nicht immer extrem vorsichtig sein müsste, wäre ich vielleicht aus Neugierde schon alleine hinunter geschlichen, aber ich legte keinen Wert darauf, von irgendwelchen Schutzzaubern geröstet zu werden oder irgendeinen anderen scheußlichen Tod zu sterben.
Allerdings war mir bis jetzt noch keine derartige Sicherheitsvorkehrung aufgefallen und wir erreichten ungehindert den Fuß der Treppe. Mein Meister griff neben sich an die Wand und schaltete das Licht an. Nach einem kurzen Flackern leuchteten mehrere Neonröhren auf und erhellten ein riesieges Gewölbe voller Regale. Regale, gefüllt mit hunderten von Flaschen.
No-te Kadea bemerkte meinen leicht befremdeten Blick und erklärte stolz: „Mein Weinkeller, ich glaube ich verfüge über eine der größten Sammlungen der Welt“
Er grinste.
„Oder zumindest in Edinburgh“
„Und wer soll das alles trinken?“, fragte ich.
Er zuckte die Schultern.
„Darüber machen wir uns ein andermal Gedanken, jetzt komm“
Er führte mich schier endlose Regalreihen entlang, bis wir schließlich vor einer niedrigen Tür anlangten, die diesmal eindeutig mit einem Schutzzauber gesichert war. Leuchtend blaue Runen verbreiteten ein fahles Licht und ich blieb sicherheitshalber ein Stück zurück, als mein Meister sich davor stellte, darüber strich und einige leise Worte murmelte. Die Runen verblassten und die Tür schwang auf.
Wir betraten ein zweites Gewölbe, viel kleiner als der Weinkeller, aber dafür umso voller. Überall standen Tische voller Kolben, Gläser, Flaschen, Bücher, Schalen und andere Gefäße, teilweise sogar mit irgendetwas gefüllt. Oho, mein Meister war ein Hobby-Alchemist!
Aber anscheinend arbeitete er nicht allzu oft hier unten, sonst hätte er sich beim Umgang mit gefährlichen Substanzen sicher schon selbst in die Luft gesprengt. Chemie und Alchemie setzen nämliche Ordnung und Vorsicht voraus und wenn mein Meister hier genauso vorging wie in seinem Arbeitszimmer, wo sich alles überall stapelte und einfach vom Tisch gefegt wurde, wenn es im Weg war, na dann gute Nacht. Vielleicht sollte ich fliehen, solange ich noch konnte.
Doch No-te Kadea begann bereits seinen Unterricht: „Heute geht es um Gifte und Gegengifte und wie man sie erkennt. Sehr nützlich, wenn du deine Konkurrenten loswerden willst oder sie es auf dich abgesehen haben“
Ich starrte meinen Meister schockiert an.
„Sie vergiften irgendwelche Leute?“, rief ich bestürtzt. Das hätte ich nicht einmal ihm zugetraut.
„Nein“, lachte er, „ich nicht, aber es gibt durchaus Totenbeschwörer, die dieses Mittel gerne mal anwenden.“
Was hatte ich mir da nur für einen Beruf ausgesucht? Schon alleine die Ausbildung!
„Hier, riech mal“, sagte mein Meister und hielt mir einen Kolben mit einer klaren Flüssigkeit unter die Nase.

Ich hatte tatsächlich überlebt, drei Stunden mit No-te Kadea und gefährlichen Substanzen und obwohl es eigentlich schon ganz interessant gewesen war, schätzte ich mich glücklich, das Tageslicht wiederzusehen. Allerdings blieb ich, nachdem wir den Keller verlassen hatten, etwas unschlüssig in der Eingangshalle stehen, weil ich nicht wusste, was ich jetzt tun sollte. Ich war es nicht gewohnt Freizeit zu haben.
Doch mein Meister hatte da sowieso ganz andere Pläne.
„In meiner Bibliothek müsste sich irgendwo ein altgriechischer Band über verschiedene Pflanzengifte finden, den solltest du bis morgen im Kopf haben“, bemerkte er, bevor er die Treppe hinauf ging.
Als er mich nicht mehr hören konnte gestattete ich mir ein entsetztes Stöhnen. Wahrscheinlich hatte dieser „Band“ das Ausmaß eines gewaltigen Lexikons, die Schrift war winzig und Bilder gab es darin sicher überhaupt keine. Und mit „im Kopf haben“ meinte mein Meister sowieso auswendig können.
Wenn ich das bis morgen schaffen wollte sollte ich wohl lieber sofort anfangen. Langsam und missmutig stieg ich die Treppe hinauf und folgte dem Gang in die Bibliothek.
Es dauerte einige Zeit, bis ich das entsprechende Buch gefunden hatte, No-te Kadeas Büchersammlung war sogar so groß, dass man sich eines Schlagwortverzeichnisses bedienen musste. Leider hatte das Werk tatsächlich erwartete Ausmaße und schon als ich es aus dem Regal zog, war alles was mir dazu einfiel: „Gnade!“
Niedergeschlagen ließ ich mich damit in einem der bequemen Sessel vor dem Kamin nieder. Wenigstens würde mich das von dummen Grüblereien, der Trauer und meiner Angst vor dem Mörder ablenken, was mein Meister zweifellos auch bezweckte.
Ich vertiefte mich gerade in einen Test über Eisenhut, als plötzlich die Tür der Bibliothek aufflog und Mia hereinkam.
„Da bist du ja Caili!“, rief sie, wie selbstverständlich einen Spitznamen für mich benutzend, auch wenn der von der Länge her nicht wirklich viel Unterschied ausmachte, „Leg das Buch weg, wir gehen ins Kino!“
„Was?“, brachte ich nur verwirrt heraus.
„Mein Bruder konnte mir noch nie widerstehen. Wenn ich meinen Welpenblick aufsetze, bekomme ich immer was ich will“, kicherte sie, „Und ich hab ihn einfach ganz lieb gebeten, uns ins Kino einzuladen“
Ich musste unwillkürlich grinsen.
„Er zahlt auch das Popcorn“, fügte Mia noch hinzu.
Dann flog die Tür auf.
„Kommt ihr jetzt endlich?“, meinte Meister Kadea und zog ungeduldig die Augenbrauen hoch, „Wenn ich schon ins Kino muss, will ich es möglichst schnell hinter mich bringen!“
Und schon war er wieder weg. Mia und ich folgten ihm etwas langsamer die Treppen hinunter in die Eingangshalle, wo Wilson bereits mit unseren Mänteln stand. Nachdem der Butler ihr und mein Meister mir in das Kleidungsstück geholfen hatte, eilten wir zum wartenden Auto. Royce musterte No-te Kadea befremdet, als dieser ihm unser Ziel angab, startete aber gehorsam den Motor. Ich rutschte vor Vorfreude unruhig auf meinem Platz hin und her. Noch nie zuvor in meinem Leben war ich im Kino gewesen, Geld, Zeit und mangelndes Interesse waren der Grund dafür. Ich schenkte meinem Meister ein fröhliches Grinsen, als ich seinen Blick auf mir bemerkte.
„Was ist denn mit dir los, Kätzchen?“, fragte er und erwiderte unwillkürlich mein Lächeln.
Ich wollte ansetzen, ihm zu antworten, wurde aber durch Mia davon abgehalten.
„Du nennst sie tatsächlich 'Kätzchen', Wuffi?“, kicherte sie, „Der schwarze Hund und sein Kätzchen! Bruderherz, das ist grandios“
„Gnade!“, jammerte No-te Kadea, „Wieso muss ich mit so einer Schwester gestraft sein!“
Im nächsten Moment strich er ihr aber zärtlich die Haare aus dem Gesicht, dann wandte er sich an mich: „Willst du wissen, warum sie mit zweitem Namen 'Mercy', also 'Gnade' heißt? Als Baby hat sie den ganzen Tag und die ganze Nacht über nur geschrien und uns alle fast in den Wahnsinn getrieben. Irgendwann wurde es unserem Vater dann immer zuviel und er hat sich stöhnend die Ohren zugehalten. Aber da das gegen das durchdringende Gebrüll auch nichts half, wie ich selber schmerzhaft feststellen musste, ist er schließlich in ihr Zimmer gegangen, hat sie auf den Arm genommen und 'Gnade, Mia' geflüstert. Ab da war es dann einige Zeit lang still. Ihre Mutter beschloss deswegen, dass sie noch einen zweiten Namen braucht, nämlich 'Mercy'“
Mia stöhnte.
„Ich hasse meinen zweiten Vornamen und diese dämliche Geschichte auch“, meinte sie, aber ich musste grinsen.

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Texte: verval
Bildmaterialien: verval
Tag der Veröffentlichung: 07.07.2012

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